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Ostpreußen 1945. Emma Hoffmann ist eine von vielen Deutschen, die vor der russischen Armee fliehen. Doch wenig später wird sie von russischen Soldaten gefangen genommen. Ajoscha Iwanow, ein ranghoher Offizier, sucht nach einer Frau, die einen ihrer Spione verriet. Als Christ führt er jedoch selbst ein gefährliches Leben in der UdSSR ... Als die Ereignisse sich zuspitzen, wird Emma vor die Frage gestellt, ob sie vergeben kann. Denen, die sie am meisten verletzt haben - und sich selbst. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte und ein Roman über die alles verändernde Liebe Gottes.
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Seitenzahl: 641
Veröffentlichungsjahr: 2023
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7590-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6183-1 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2023 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Lektorat: Christina Bachmann
Fachlektorat: Prof. Dr. Wolfgang Heinrichs
Umschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.biz
Titelbild: Bilder Composing: AdobeStock und Shutterstock
Autorenfoto: © Tabea Rompf
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für alle Menschen, die in ihrem Leben Flucht und Vertreibung sowie Verfolgung und Unterdrückung aufgrund ihrer Religion, politischen Denkweise, Ethnie, Herkunft oder sonstigen Anschauungen erlebt haben und immer noch erleben.
Für meinen Opa Roland, der vor der Roten Armee fliehen musste.
Über die Autorin
Prolog
TEIL 1
TEIL 2
TEIL 3
TEIL 4
TEIL 5
Anmerkungen der Autorin
Danke
Anmerkungen
TABEA ROMPF (Jg. 2002) lebt in Ludwigshafen am Rhein. Sie ist Studentin und besucht regelmäßig eine überkonfessionelle Freikirche. Wenn sie nicht gerade selbst Geschichten schreibt, liest sie – gerne und viel.
Königsberg, Ostpreußen29. August 1944
Die Sirenen des Fliegeralarms rissen die Einwohner von Königsberg aus den Betten.
Emma Hoffmanns Herz raste, als sie schnell aus dem Bett sprang, sich ein Kleid überwarf und dann nach ihren Halbschuhen griff. Verärgert biss sie die Zähne aufeinander. Vor drei Tagen hatte es bereits einen Luftangriff durch die Royal Air Force gegeben. Sie hatten immer noch nicht alle Toten geborgen und viele Straßen waren noch von Trümmern übersät und unpassierbar. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie nicht in der Lage war, ihre Schuhe zuzubinden. Sie stopfte die Schnürsenkel seitlich in den Schuh und hoffte, dass das halten würde. Im Dunkeln tastete sie nach ihrem handlichen Notfallkoffer, als die Tür aufflog und ihre Schwester hereinstürmte.
»Wenn du noch länger brauchst, können wir auch gleich hierbleiben!«, schimpfte Charlotte und griff nach Emmas Arm.
»So wie du hereingestürmt bist, dachte ich schon, dass du ein Brite bist oder gar ein Russe«, gluckste Emma, auch wenn ihre Lippen und ihre Stimme vor Angst zitterten.
Ihre Schwester knurrte verärgert. »Darüber macht man keine Witze«, stieß sie hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. »Außerdem würden sie wohl kaum in ihrem eigenen Bombenabwurfgebiet rumlaufen.«
Gezwungenermaßen musste Charlotte an der Treppe langsamer gehen und den Arm von Emma loslassen, um sich am Geländer festzuhalten, damit sie im Dunkeln nicht hinunterfiel. Es sollten keine Lichter angezündet werden und es brannten auch keine Straßenlaternen. Zusammen mit den anderen Menschen, die aus ihren Häusern strömten, rannten sie in Richtung des Luftschutzbunkers zwei Straßen weiter. Hier draußen waren die Sirenen noch lauter und schmerzten in den Ohren.
Emma schnappte nach Luft und hielt sich mit einer Hand die stechende Seite. Die Angst machte ihr bereits das Atmen schwer und das Rennen verschlimmerte das noch. Sie und Charlotte blieben dicht zusammen. Trotz ihres Altersunterschieds von sechs Jahren hatten sie ein enges Verhältnis, das auch nicht von Charlottes Heirat gestört worden war.
»Emma!« Charlotte winkte ihre Schwester zu sich. Vor ihr stand in einem Hauseingang ein kleines Mädchen und weinte bitterlich.
»Hey, Kleine«, sagte Charlotte schnell atmend und ging vor dem Mädchen auf die Knie. Sonst schien es niemand wahrzunehmen. »Wo ist deine Mama?« Sie musste schreien, damit man sie über das Heulen hinweg hören konnte.
Das Kind, das kaum älter als acht Jahre sein konnte, hatte engelsblonde Haare und blaue Augen.
Das perfekte arische Kind, dachte sich Emma leicht spöttisch, die neben ihrer Schwester zum Stehen gekommen war.
»Mama. Mama«, schluchzte das Kind immer wieder.
»Kommen Sie oder wollen Sie Kanonenfutter werden?«, schrie ihnen ein vorüberrennender Mann zu, der sein Tempo allerdings nicht drosselte. Emma warf einen sorgenvollen Blick Richtung Himmel und dann die Straße hinunter. Bis zum Bunker war es nicht mehr weit, aber wenn sie nicht bald weitergingen, würde das auch nichts bringen. Noch waren keine Flugzeuge zu sehen.
»Charlotte«, drängelte sie unruhig. Ihre Schwester warf ihr einen mahnenden Blick zu, der dafür sorgte, dass Emma die Augen verdrehte.
»Wohnst du hier, Kleine?«
Das Kind nickte.
Charlotte hob das Mädchen hoch und drückte es Emma in die Arme, die es perplex entgegennahm. »Geh zum Bunker! Ich schaue nur nach, ob noch jemand im Haus ist! Die Mutter wird wohl kaum ohne sie weitergerannt sein!«, schrie Charlotte und stieß die Haustür auf.
»Du bist verrückt! Lass das! Charlotte!«
Charlotte nahm sich nur eine Sekunde Zeit, um über ihre Schulter zu schauen. »Bring Sie in Sicherheit«, sagte sie, bevor sie zaghaft lächelte und ins Haus verschwand.
Emma blickte sich um. Auf einmal war die Straße wie leer gefegt. Sie schlang den Arm fester um das Mädchen und rannte. Ihre Lungen brannten und sie sah erneut zum Himmel empor. Doch diesmal suchte sie nicht nach Bombern, sondern betete, dass ihre Schwester rechtzeitig wiederkommen möge. Das Kind in ihren Armen zitterte und drückte schwer auf Emmas Hüfte. Selbst wenn die erste Detonation sie nicht treffen sollte, würde das Beben der Erde ihr wortwörtlich den Boden unter den Füßen wegreißen. Mit dem Kind, das sich fest an sie klammerte, konnte das fatale Folgen haben. Eine Verletzung würde es ihr unmöglich machen, Schutz zu suchen. Sie hatte im Lazarett Menschen gesehen, die ein Bombardement überlebt hatten. Es waren höllische Schmerzen, die kaum gelindert werden konnten, und als wäre es nicht schon genug, dass die Menschen durch die Hölle gingen, würden sie früher oder später auch sterben. An einer Infektion oder einer der anderen tausend Möglichkeiten.
Endlich erreichten sie das Gebäude, auf dessen Außenwand mit weißer fluoreszierender Farbe der Hinweis LSR für Luftschutzraum angebracht war. Sie folgte dem weißen Pfeil um die Hausecke und erreichte dann den Eingang zum Bunker.
Emma holte Luft und als sie die sichere, dicke Tür durchquert hatte, setzte sie ihren Koffer und die Kleine ab, die sich die ganze Zeit über die Ohren zugehalten hatte. Doch sofort schlang das Mädchen ihre Arme um Emmas Beine. Ihr Zittern steckte Emma an.
»Wie heißt du?«, fragte sie mit heiserer Stimme und versuchte, sich von dem Gedanken abzulenken, dass jeden Moment die Bomben fallen konnten.
»Eva.«
Emma zwang sich zu einem Lächeln. »Ich heiße Emma.«
Plötzlich fiel ihr Blick auf drei Männer, die mit vereinten Kräften die schwere Schutztür zuzogen.
»Halt! Meine Schwester kommt noch nach, sie müsste jeden Augenblick …« Sie deutete während des Sprechens in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Tut uns leid, Fräulein, aber sie hatte lange genug Zeit, wir können nicht länger warten.«
Emma schaute den Mann fassungslos an und musste hilflos zusehen, wie die Tür verriegelt wurde. Sie schluckte ihren Unmut herunter und kämpfte gegen die Tränen der Wut und der Angst an, als sie die Hand von Eva nahm und sich einen Platz zwischen den vielen anderen Menschen suchte. Evas Weinen war in einen Schluckauf übergegangen. Immer noch flossen heiße Tränen über ihre Wangen, die Emma immer wieder abwischte. Am liebsten hätte sie mit eingestimmt.
»Ihre Schwester findet sicherlich Zuflucht in einem Keller oder einem anderen Bunker«, sagte auf einmal ein Mann, der neben ihr saß. Er hatte ein Knie angezogen, den Kopf gegen die Wand gelehnt und ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen. Er war attraktiv. Ein Mann, mit dem Emma ohne zu zögern tanzen würde, wenn er sie dazu auffordern würde. Sein Kinn zeigte vereinzelte Bartstoppeln, während ihm sein etwas zu langes schwarzes Haar in die Stirn fiel. Er war schätzungsweise Mitte oder Ende zwanzig.
»Ich hoffe es«, murmelte Emma.
Als die erste Bombe fiel, der kalte Boden erschüttert wurde und ein Krachen ertönte, presste sie fest die Lippen aufeinander. Ihre Schwester würde in so einer Situation anfangen zu beten, und vermutlich tat sie in diesem Moment genau das, denn natürlich war sie noch am Leben und im Nachhinein würde Emma sich über ihre alberne Angst lustig machen – das zumindest redete sie sich ein. Besonders für ihren Mann Louis, der Franzose war und für sein Land kämpfte, betete Charlotte immer. Seit Beginn des Krieges hatten die beiden sich nicht mehr gesehen. Sechs verdammte Jahre.
»Ist das Ihre kleine Schwester?«, fragte der Mann.
Sofort musste Emma daran denken, dass sie selbst Charlottes kleine Schwester war – die sich wahrscheinlich gerade irgendwo da draußen in großer Gefahr befand.
Auch Eva schien die Frage gehört zu haben, denn sie hörte auf zu schluchzen, offenbar, um der Konversation folgen zu können.
»Nein«, sagte Emma nur und strich über das blonde Haar von Eva. Die Kleine kuschelte sich eng an sie.
Nach einem Moment des Schweigens fragte der Fremde: »Woher kennt ihr euch?«
Die Frage überraschte sie genauso wie die Tatsache, dass er sie plötzlich duzte. Doch als sie aufschaute, sah sie, dass sein Blick auf Eva und nicht auf ihr ruhte. Emma hätte sich niemals getraut, diese Frage an Eva zu richten, doch der Mann schien sehr direkt zu sein.
»Diese Frau wollte nach meiner Mama sehen«, begann Eva schüchtern zu erzählen. »Und ich sollte mit Emma schon in den Bunker gehen.«
»Sie stand weinend und allein in einem Hauseingang«, fügte Emma leise hinzu und musste schlucken, um den dicken Kloß in ihrem Hals loszuwerden.
»Warum ist deine Mama denn nicht mit dir rausgegangen?«
»Sie ist nicht aufgewacht. Dabei hat sie immer gesagt, sobald das Geheule losgeht, müssen wir sofort aufstehen.«
Emma erstarrte. Sie warf dem Mann neben sich einen Blick zu und sah, dass er anscheinend dieselben Rückschlüsse gezogen hatte wie sie. Evas Mutter wäre nicht die erste Person, die wegen des Krieges Selbstmord begangen hätte. Auch wenn Emma nicht verstand, wie man sein Kind völlig allein zurücklassen konnte.
»Vermutlich ist sie in den Keller eures Hauses gegangen, nachdem meine Schwester ihr gesagt hat, dass du hier in Sicherheit bist«, versuchte Emma die Kleine zu beruhigen.
Eva nickte. Sie schien das Zittern in Emmas Stimme nicht bemerkt zu haben.
»Und wie ist dein Name, kleines Fräulein?«, fragte der dunkelhaarige Mann. Er lehnte sich beim Sprechen wieder in Evas Richtung.
»Eva.«
»Ich habe hier etwas, ich glaube, das könnte dir gefallen, Eva«, entgegnete er in einem sanften Tonfall. Er kramte in seinem Rucksack, sodass es raschelte. Dann faltete er Papier auseinander und zum Vorschein kam eine Tafel Schokolade. Nicht nur Evas, sondern auch Emmas Augen wurden groß. Er brach ein Stück ab und gab es Eva. Sie nuschelte ein Danke und steckte es sich schnell in den Mund, so als könnte es ihr gleich jemand wieder abnehmen. Die anderen Kinder wurden auf sie aufmerksam und er gab jedem von ihnen auch ein Stück ab. Die Mütter bedankten sich und er schaffte es tatsächlich, ihnen genauso wie ihren Kindern ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
»Wie heißt du?«, fragte Eva, die sich die Reste der geschmolzenen Schokolade von ihren Fingern leckte.
»Andreas.« Er wandte sich an Emma und streckte die Hand aus. »Andreas Moslehner.«
Emma schüttelte seine kräftige Hand. »Emma Hoffmann.«
»Fräulein Hoffmann?« Er wartete, bis sie bestätigend nickte. Angesichts der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, flatterte es wild in Emmas Magen. »Nun gut, Fräulein Hoffmann, sollen wir uns das letzte Stück Schokolade teilen?«
»Gerne«, sagte sie und hatte das Gefühl, dass ihre Stimme ungewöhnlich schrill klang. Sie erwartete, dass er das Stück auseinanderbrach, doch stattdessen hielt er es ihr an den Mund. Etwas verwirrt biss sie ein Stück ab und er schob sich die andere Hälfte mit einem breiten Grinsen in den Mund. Sie ließ die Kostbarkeit auf ihrer Zunge schmelzen und genoss die Süße. Wann war das letzte Mal gewesen, dass sie so etwas hatte kosten dürfen? Sie konnte sich nicht erinnern.
In den nächsten Stunden unterhielten sie sich leise. Sie erzählte ihm, dass sie Hebamme war und gerne die Welt bereisen würde. Sie war nie über die Grenzen von Ostpreußen hinausgekommen. Er erzählte ihr von seinen Reisen, die bis nach Nordafrika reichten, und dass er wegen einer Verletzung, die er sich als Junge zugezogen hatte, ausgemustert worden war.
»Meine Fähigkeit zu tanzen, ist davon aber nicht eingeschränkt. Ganz im Gegenteil.« Seine Augen funkelten. In Emmas Bauch begann es wieder zu kribbeln. Durch den Krieg war die Anzahl von Männern in ihrem Alter deutlich gesunken und jeder Junggeselle war hart umkämpft. In den folgenden Stunden hing sie an seinen Lippen. Nur ab und zu döste sie kurz ein, aber wirklich schlafen konnte sie nicht.
Als die Nacht zu Ende ging und der Morgen kam, hörten auch die Erschütterungen und der Krach auf. Die Angst um ihre Schwester, von der Andreas sie in den vergangenen Stunden erfolgreich abgelenkt hatte, gewann wieder die Oberhand. Sie machte sich auch darauf gefasst, dass sie ihr Elternhaus verloren haben könnte. Vor drei Tagen hatten bereits Zehntausende ihr Zuhause verloren und nach dem, was die Männer im Bunker kommuniziert hatten, war der Angriff in dieser Nacht noch heftiger gewesen. Mehr Obdachlose, mehr Tote.
Als die Bunkertür wieder geöffnet wurde, reichte Andreas ihr die Hand und half ihr aufzustehen. Er nahm Eva auf die Schultern und Emma nahm sein Angebot an, mit ihr nach Charlotte zu suchen.
Nach diesem Angriff wurden zweihunderttausend Königsberger obdachlos. Die Zahl der Toten wurde auf über fünftausend geschätzt. Zwei Tage nach der Nacht im Bunker wurde Charlotte Duponts Leichnam aus den Trümmern des Wohnhauses von Evas Eltern geborgen, ebenso der von Evas Mutter.
Aus Emmas Trauer wurde Wut und Hass. Von wegen, Königsberg wäre außer Reichweite der alliierten Bomberflotten! Sie hasste diesen Krieg. Sie hasste die Allliierten und ihre Angriffe genauso wie die Nazis und den Führer selbst.
Außerhalb von Königsberg, OstpreußenMitte Januar 1945
Die Welt glitzerte. Eisblumen zierten die dünnen Fensterscheiben und Eva machte sich einen Spaß daraus, an ihnen zu lecken. Am Anfang hatte Emma es ihr noch verboten, aber mittlerweile lächelte sie darüber. Sie waren bei einem alten Mann namens Heinz auf seinem Bauernhof außerhalb der Stadt untergekommen, nachdem Königsberg im August dem Erdboden gleichgemacht worden war. Im Gegenzug für die Unterkunft und das Essen half Emma ihm, so viel sie konnte.
»Pass auf, sonst friert noch deine Zunge fest«, sagte Heinz und lachte röchelnd in sich hinein. Erschrocken wich Eva von der Scheibe zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen, den sie sich vor das Fenster gestellt hatte.
Emma lächelte und schob neues Holz in den Ofen. »Es ist Zeit für das Bett«, sagte sie und klopfte die Hände an ihrem Kleid ab, als sie wieder aufstand. Heinz hob das kleine Mädchen hoch und imitierte Flugzeuggeräusche, als er sie auf ihr Bett setzte. »Wenn das kleine Fräulein jetzt nicht schläft, kommt am Ende noch ein großer Schneemann und nimmt sie mit in die Kälte.«
Emma trat an das Bett und zog Evas Decke bis zu ihrem Kinn hoch.
»Aber Klaus ist doch ein lieber Schneemann«, nuschelte Eva mit piepsiger Stimme und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Heute Nachmittag hatten sie einen großen Schneemann vor dem Haus gebaut, der auf den Namen Klaus getauft worden war.
»Klaus schon, aber da draußen gibt es viele andere böse Schneemänner«, erklärte Emma mit gespielt ernster Mimik.
»Müssen wir deswegen morgen von hier weggehen?« Tränen glänzten in Evas Augen. Ein Schatten zog über die Gesichter der Erwachsenen und Emma schluckte, bevor sie der Kleinen beruhigend über das Haar strich. Sie hätten dem Mädchen mit den Schneemanngeschichten nicht solche Angst machen sollen. Sie wuchs im Krieg auf, sie hatte schon genug Angst. »Wir müssen morgen gehen, weil es böse Menschen gibt, die uns wehtun wollen. Aber vor Schneemännern musst du dich nicht fürchten. Die sind harmlos.«
»Die meisten zumindest. Der, der dich holen kommt, wenn du jetzt nicht schläfst, ist weniger harmlos«, sagte Heinz und hob wichtigtuerisch den Finger in die Höhe. Seine Geste ließ Eva kichern. Während die beiden noch etwas miteinander herumalberten, ging Emma in das vordere Zimmer des Hauses, in dem sich die Küche und Sitzgelegenheiten befanden. Es gab nur zwei Zimmer. Sie schlief zusammen mit Eva in dem Schlafzimmer, das früher Heinz und seiner Frau gehört hatte. Doch sie war schon vor Jahren verstorben. Heinz hatte sie mit offenen Armen bei sich aufgenommen. Er hatte nie eigene Kinder gehabt und war jetzt froh, mit Eva einen Wirbelwind im Haus zu haben.
Seufzend ließ sich Emma auf einen Stuhl fallen, schlüpfte aus ihren Schuhen und legte ihre Füße auf einem weiteren Stuhl ab. Sie nahm die Tasse mit Brennnesseltee in die Hand, die nur noch leicht dampfend auf dem massiven Tisch stand.
Sie hatte Angst, was die Zukunft bringen würde. Sie hatte in diesem Krieg ihre Familie und ihr Zuhause verloren und jetzt musste sie auch noch den Grund und Boden verlassen, den sie ihre Heimat nannte. Wer weiß, ob sie je wieder zurückkehren und wie lange dieser Krieg noch dauern würde. Sie nahm den letzten Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie dann etwas zu laut auf die Tischplatte zurück. Sie horchte kurz, aber Eva und Heinz schienen sich davon nicht gestört zu fühlen.
Schlurfende Schritte ertönten, als Heinz in den Wohnraum kam und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Sie hat wieder nach Andreas gefragt«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Emma schloss mit einem schmerzlichen Ausdruck die Augen und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. »Ich frage mich, wann das aufhören wird«, murmelte sie. Andreas hatte sie zwei Monate lang mindestens zwei Mal in der Woche hier auf dem Hof besucht, doch dann waren seine Besuche ausgeblieben. Als Emma fast krank vor Sorge gewesen war, war sie in die Stadt gegangen und hat nach ihm gesucht, doch er war weg. Er war einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen; hatte sie verlassen, obwohl er gesagt hatte, er würde sie lieben. Bei einem ihrer letzten Treffen hatte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte, doch er war ihren Fragen ausgewichen. Wieder kam die Wut in ihr hoch und sie presste die Lippen fest aufeinander.
Heinz streckte seine von Altersflecken übersäte Hand aus und legte sie auf ihre. Diese zärtliche Geste ließ Emma aufschauen. »Was ist, wenn er nie wiederkommt? Wenn er gestorben ist?« Ihre Stimme war heiser. »Wie soll er uns finden, wenn wir von hier weggehen? Warum ist er überhaupt gegangen? Habe ich etwas getan, was ihn dazu veranlasst hat?« Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte gegen die Tränen an.
»Das glaube ich nicht«, begann Heinz. Sein Gesicht verzog sich mitfühlend. Sicherlich dachte er gerade an Gertrud. »Du bist eine wundervolle Frau und jeder Mann, der das nicht erkennt, hat dich auch nicht verdient.« In gewisser Weise war das ein Affront gegen Andreas. Als die beiden Männer sich kennengelernt hatten, hatte Heinz Emma gegenüber klar kommuniziert, dass er ihn nicht für vertrauenswürdig hielt, doch um ihrer und auch um Evas willen hatte er die Treffen toleriert. »Wäre ich fünfundvierzig Jahre jünger …«, begann er und lächelte zufrieden, als die Worte ihre Wirkung erzielten und Emma lachte.
Sie drückte seine Hand. »Ich will dich ja nur ungern enttäuschen, doch du bist nicht der Mann, den ich mir wünsche.«
Mit gespielter Entrüstung zog Heinz seine Hand zurück und stemmte die Hände in die Seite. »Ich bitte dich. Heut mag ich zwar alt sein, aber als ich noch so jung war wie du, war ich ein wahrer Prachtkerl.« Mit einem schiefen Grinsen fuhr er sich durch sein lichter werdendes Haar. »Ich hatte auch mehr Haare.«
Wieder kicherte Emma, was schließlich in ein wehmütiges Seufzen überging. »Dann muss ich wohl aufpassen, dass sich auf dem Weg in den Westen keine Frau unsterblich in dich verliebt.« Sie zog schelmisch die Augenbrauen hoch.
Heinz nickte kurz und zwinkerte ihr zu, als sie aufstand, um ins Bett zu gehen. »Das gilt wohl eher für dich. Du wirst wohl einigen Soldaten den Kopf verdrehen, sodass sie ihre Frauen zu Hause vergessen.«
Doch Emma schüttelte den Kopf. Sie war im Gegensatz zu ihrer Schwester keine Schönheit. Emmas Haar war dunkelblond und keinesfalls so golden wie das von Eva. Oft war es schon als straßenköterblond betitelt worden.
»Süßholzraspler«, trällerte sie mit gedämpfter Stimme über ihre Schulter und huschte dann zu Eva ins Zimmer, um zu Bett zu gehen. Für einen kurzen Moment dachte sie daran, dass auch Andreas, manchmal in übertriebener Weise, ein Süßholzraspler gewesen war. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken. Ihr Körper zitterte vor Kälte, als sie in ihr Nachthemd schlüpfte und sich dann zu Eva unter die Decke kuschelte. Diese grummelte kurz angesichts von Emmas kalter Haut, doch mit der Zeit wärmten sie sich gegenseitig.
Auch wenn Emma womöglich nie heiraten würde, wäre da immerhin noch Eva. Doch was war, wenn ihr Vater aus dem Krieg zurückkehrte? Oder ein anderer Verwandter sie zu sich holen wollte? Dann würde sie den Menschen, dem sie am nahesten stand, verlieren. Genauso war es, wenn Heinz sterben würde. Er war schon alt und auch wenn er es nicht sagte, wusste sie, dass er Angst hatte, die Reise nicht zu überstehen. Oft war es bis zu minus zwanzig Grad kalt. Die Temperaturen und der Schnee würden sicherlich beträchtliche Hindernisse auf ihrer Flucht darstellen. Und sie wussten ja auch noch gar nicht, wohin es gehen würde.
»Hauptsache erst mal Richtung Westen«, hatte Heinz eines Abends zu ihr gesagt. »In Allenstein soll es ein Flüchtlingslager geben. Dort werden wir vorerst unterkommen.«
Allenstein lag im westlichen Ostpreußen, doch Emma war sich unsicher, ob das weit genug weg war. Von Tag zu Tag, besonders seit dem 12. Januar, an dem die russische Großoffensive begonnen hatte, rückte die Front immer näher.
Die NS-Behörden hatten die Flucht verboten und propagierten: »Die Russen? Aber nein. Die kommen nicht bis zu uns! Unsere Wehrmacht, die hält und steht!«
Doch sowohl Heinz als auch Emma glaubten dieser Aussage nicht. Zwar hatte Heinz 1933 die NSDAP, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, gewählt, doch er hatte sich schon des Öfteren über seine damalige Dummheit ausgelassen. Emma hingegen war nie in den Genuss gekommen, wählen zu dürfen. Sie war noch zu jung gewesen und als sie alt genug dafür war, war das Deutsche Reich eine vom ach so tollen Führer regierte Diktatur geworden.
Daran, dass ihre Gedanken wieder ins Sarkastische abdrifteten, merkte Emma, dass es Zeit war, an etwas anderes zu denken. Sonst würde sie wohl nie einschlafen können.
Emma schlang ihren Mantel enger um sich, als sie durch den Schnee lief. Sie verzog das Gesicht, angesichts der Kälte, die ihre Beine erfasste, während sie immer wieder im weißen Pulver einsank. Die Schneeflocken, so schön sie auch sein mochten, schlugen ihr kalt ins Gesicht.
Heinz stand an dem kleinen zugefrorenen Teich, der ungefähr hundert Meter vom Haus entfernt einst angelegt worden war. Als sie näher trat, sah sie die Tränen, die über seine Wangen liefen. Er gab sich keine Mühe, sie vor ihr zu verbergen.
»Hier habe ich meiner Gertrud den Antrag gemacht«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. Eine neue Art von Schauer überkam Emma. Er war immer so bewegt, wenn er von seiner Frau erzählte, dass Emma ebenso eine tiefe Trauer über ihren Verlust empfand. Andererseits wünschte sie sich, dass einmal jemand so über sie sprechen würde, wie Heinz es über Gertrud tat.
»Ich habe auf das Land gezeigt, das ich kurz vorher gekauft hatte. ›Da baue ich dir ein Haus‹, habe ich gesagt und sie hat Ja gesagt.« Seine Mundwinkel zuckten. »Aber leider konnten wir es nie mit Kindern füllen.«
Emma wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Mittlerweile flossen auch bei ihr die Tränen. Heinz’ Gesichtszüge wurden sanft. Es war früher Morgen und noch nicht hell, nur der Mond und die Sterne spendeten ihnen Licht.
Emma schluckte. »Ich leide ja schon darunter, dass ich diesen Ort hier verlassen muss, aber für dich muss es noch viel schmerzhafter sein. Du bist hier geboren, aufgewachsen, hast deine Frau hier kennengelernt, ein Leben mit ihr aufgebaut, bist hierher zurückgekehrt, nachdem du vier Jahre lang im Krieg warst …« Sie stoppte. »Und du hast hier deine Frau beerdigt«, fügte sie leise hinzu.
Heinz nickte und wandte sich ihr zu. Er deutete auf ihre Tränen und Emma wischte sie mit einer Handbewegung weg. »Nicht, dass sie noch festfrieren«, flüsterte er.
»Spätestens wenn der Sommer kommt, würden sie auftauen«, lachte Emma leise und schniefte.
Der alte Mann ließ die Mundwinkel hängen. »Manchmal kommt der Sommer nie.« Seine Stimme war ungewohnt brüchig. »Versprich mir, dass egal, was passiert, du dich nicht davon unterkriegen lässt. Dieser Krieg … er hat euch jungen Leuten so viel geraubt. Viel zu früh musstet ihr erwachsen werden. Ich will gewiss sein, dass du das Beste aus deinem Leben machst. Auf irgendeine Weise ist man immer gesegnet und hat Möglichkeiten.«
Emma nickte. Bei Heinz war es ja nicht viel anders gewesen. In der Blütezeit seines Lebens hatte er 1914 in den Krieg ziehen müssen und wurde nun im Alter wieder mit einem solchen Ungeheuer konfrontiert. »Das werde ich«, antwortete sie. Für einen Moment hatte sie Angst, Heinz werde sagen, dass er nicht mitkomme Richtung Westen, doch dann klopfte er ihr auf die Schulter. »Lass uns aufbrechen.«
Heinz erzählte, dass er mal fünf Pferde gehabt habe. Bei Kriegsbeginn hatte er jedoch vier an die Wehrmacht verloren und so blieb ihnen nur ein alter Gaul, der den Wagen zog. Sie hatten schon alles aufgeladen, um am Morgen direkt aufbrechen zu können.
Eva weinte leise, als Emma sie fest in eine Decke wickelte und nach draußen trug. Sie gab sie kurz an Heinz weiter, während sie auf den Kutschbock kletterte, nur damit sie Eva dann wieder auf ihren Schoß ziehen konnte. Sie folgte Heinz mit dem Blick, als er zu dem Gaul namens Fritz ging. Sie verstand nicht alles, aber sie war sich sicher, dass er ihm gut zuredete. Als er um das Tier herum zu seinem Platz auf dem Wagen ging, wurde Emma erschreckend bewusst, wie alt er schon war. Der Rücken war gebeugt, niedergedrückt von all den Sorgen und Lasten, die er hatte tragen müssen. Er atmete schwer, als er aufsaß und die Zügel aus Emmas Hand nahm. Langsam setzte sich das Tier in Bewegung. Als sie fast außer Sichtweite des Hofes waren, drehte Heinz sich schließlich noch mal um. Seine Augen glänzten. Er drückte einen Kuss auf seine Finger und streckte sie dann seinem Zuhause entgegen, während sie sich immer weiter davon entfernten. Er würde es nie wiedersehen. Das war ihm bewusst. Das war ihnen beiden bewusst.
Emma döste eine Zeit lang vor sich hin, bis sie die Zügel nahm und Heinz an ihrer Stelle schlief. Immer wieder warf sie einen besorgten Blick auf die zwei Menschen neben sich, die ihr so sehr ans Herz gewachsen waren.
Mit dem Tag kam auch die Sonne, doch Wärme verbreitete sie kaum. Dem Schnee und dem Eis konnte sie erst recht nichts anhaben. Auf ihrer Route stießen sie auf weitere Flüchtlinge, denen sie sich anschlossen und zusammen weiterreisten. Immer wieder lagen umgestürzte Wagen am Wegesrand, manchmal sogar noch fast voll beladen. Tote Pferde, Hühner oder andere Tiere, die erfroren waren – und manchmal auch Menschen, Kinder. Emma hätte Eva so gerne diesen Anblick erspart, doch das war nicht möglich.
»Halt an«, sagte Heinz auf einmal.
Überrascht zog Emma die Zügel und schaute ihn fragend an. »Was ist los?«, fragte sie und legte ihm die Hand auf den Arm.
Heinz atmete tief ein. »Fritz ist nicht beschlagen und die Straße ist glatt. Wenn wir zu schnell oder unvorsichtig sind, dann kippt der Wagen um. Ich steige ab und führe ihn.«
»Das kann ich doch machen«, protestierte Emma. Sie wollte nicht, dass der alte Mann bei diesem Wetter so lange laufen musste.
Er schüttelte den Kopf, als er schwerfällig vom Kutscherbock kletterte. »Fritz vertraut mir. Er ist mein Freund. Es wird ihn beruhigen, dass ich so nah bei ihm bin.«
Hilflos musste Emma zusehen, wie Heinz seine letzten Kraftreserven aufbrauchte, um sie sicher durch die Steigungen und Gefällstrecken von Ostpreußen zu führen. Sie erzählte Eva unterdessen Geschichten, bis ihr keine mehr einfielen oder es der Kleinen zu langweilig wurde.
Immer wieder wurden sie von anderen Flüchtlingen überholt. Fritz hatte sich Heinz’ langsamem Schritttempo angepasst und irgendwann reichte es Emma und sie überredete ihn, dass sie neben dem Tier lief. Sie ließ dabei auch Eva neben sich laufen, damit sie ihre ungenutzte Energie verbrauchen konnte. Doch die ganze Zeit über fürchtete sie, dass entweder der Gaul schlappmachen oder dass sie Eva zwischen den anderen Flüchtlingen verlieren würde. Sie zwang sich dazu, ihr Tempo soweit zu drosseln, dass sie wenigstens noch bis zum Abend durchhalten würden.
Mittags machten sie eine Pause und sie schmolzen Eis über einem Feuer. Abends machten sie in einem kleinen Dorf Station. Obwohl es bereits voller Flüchtlinge war, erlaubte ihnen ein Bauer, in seinem Stall zu übernachten. Im Stroh und zwischen den Tieren war die Kälte wenigstens halbwegs zu ertragen. Früh am nächsten Morgen fuhren sie weiter.
Flüchtlingslager in Allenstein, Ostpreußen 20. Januar 1945
Das Zimmer, das Emma und Eva sich mit einer weiteren Frau teilten, war winzig. Der für die Zuteilung zuständige Beamte hatte sie eigentlich trennen wollen, da sie weder verwandt waren noch Emma als Vormund eingesetzt worden war. Nachdem Heinz ihm jedoch eine Packung Zigaretten zugesteckt hatte, war das Problem erledigt gewesen. Emma stellte keine Fragen.
Ihre Mitbewohnerin war Mitte vierzig und hieß Antonia Schmarowski. Sie hatte einen Sohn namens Roland, der mit seinen dreizehn Jahren in der Männerunterkunft untergebracht worden war. Als Emma, Eva und Heinz abends mit ihnen am Lagerfeuer saßen, erzählten sie einander ihre Geschichten. Antonia berichtete, dass ihr Sohn Heinrich in Russland und ihr Sohn Franz in Belgien gefallen seien. Ihr Mann war bereits 1939 eingezogen worden und immer noch an der Front. Im vergangenen Sommer waren sie schon einmal ins Rheinland geflohen, als es sich aber an der Front beruhigt hatte, waren sie zurückgekehrt. Doch schlussendlich mussten sie wieder fliehen. Sie kamen aus Lyck am großen Selmentsee.
»Ich habe noch zwei Töchter, die verheiratet sind. Eine lebt im Hunsrück, das wird voraussichtlich unser Ziel sein. Wir waren eine Woche lang mit dem Treck hierher unterwegs.« Antonia schluckte und in ihren glänzenden Augen spiegelte sich das Feuer. »Roland und ich haben uns aus den Augen verloren und erst zwei Tage später wiedergefunden. Hätte ich ihn nicht gefunden …« Ihre Stimme brach. Ihr Sohn streckte den Arm aus und legte ihn um seine Mutter. Er sprach nicht viel.
Instinktiv drückte Emma Eva an sich.
»Und woher kommen Sie?«, fragte Antonia und nahm den letzten Schluck der dünnen Suppe, die sie bekommen hatten. Den Hunger stillte sie kaum.
Emma warf Heinz einen Blick zu und hoffte, er würde zuerst antworten, doch das tat er nicht. Sie seufzte innerlich auf. »Wir kommen aus Königsberg.«
Überrascht hob Antonia die Augenbrauen. »Königsberg soll ja eine Festung sein.«
Emma gab sich keine Mühe, ihr verächtliches Schnauben zu unterdrücken. »Was davon übrig ist, wenn überhaupt.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und unterdrückte die aufkommenden Emotionen. Oh, wie sehr wünschte sie sich, dass ihre Schwester noch bei ihr wäre! Emma hatte sie immer damit aufgezogen, dass sie gerne Tante werden wollte. Doch damit war es jetzt vorbei.
»Mein Vater ist gefallen, meine Mutter vor einigen Jahren bei einem Unfall gestorben und meine Schwester ist den Luftangriffen letzten Sommer zum Opfer gefallen.« Sie schluckte. »Zusammen mit Evas Mutter. Seitdem kümmere ich mich um sie.« Sie fuhr mit der Hand durch Evas goldene Haare, die im schwachen Licht wunderschön glänzten. »Ich hasse diesen Krieg«, murmelte Emma, den Blick starr ins Feuer gerichtet. »Die Idee, junge und alte Männer einzusetzen …« Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Es war ihr egal, dass es gefährlich war, so etwas zu äußern.
Antonia warf einen Blick über ihre Schulter und vergewisserte sich, dass sie niemand belauschte. »Ich hasse den Krieg und das Jungvolk auch«, sagte Roland und spuckte auf die Erde. Für beides bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf, doch man sah in Antonias Augen, dass sie genauso fühlte. »Roland Hartmund Paul Schmarowski, so hast du dich nicht zu benehmen«, schimpfte sie. Doch ihre Erschöpfung raubte ihren Worten die Kraft.
Ihr Gespräch wandte sich einem anderen Thema zu. Bald aber gingen alle ins Bett, denn sie waren todmüde.
21. Januar 1945
Die Russen waren da. Panisch liefen die Menschen umher und versuchten zu fliehen. Verzweifelt suchte Emma die Menschenmassen nach Eva ab. Wo war die Kleine bloß hin?
Mit dem Geräusch der heranfahrenden Panzer im Rücken rannte Emma in Richtung ihrer Unterkunft. Sie hoffte, dass Eva irgendwie dorthin zurückgefunden hatte. Abrupt stoppte sie, als sie Rotarmisten auf der Straße vor sich sah. Sie huschte in einer Seitengasse durch die Eingangstür eines verlassenen Gebäudes. Ihr Herz raste. Sie hatte schreckliche Dinge gehört über die Sowjets. Emma versuchte sich einzureden, dass das sicherlich nur Übertreibungen gewesen waren, als Schüsse fielen und Menschen schrien. Ihren eigenen Entsetzensschrei versuchte sie dadurch zu unterbinden, dass sie sich die Hand auf den Mund drückte – doch das misslang. Zitternd lehnte sie sich gegen eine Wand. Stiefelschritte näherten sich. Sie waren viel zu laut und schwer, als dass sie einem einfachen Zivilisten gehören konnten. Emma schluckte. Ein kleiner Teil von ihr hoffte, dass es Männer der Wehrmacht waren, doch was würde das bringen? Die Deutschen waren den Russen von der Anzahl unterlegen. Sie machte einen vorsichtigen Schritt nach hinten, um möglichst kein Geräusch zu machen. Sie hielt sich am Türrahmen fest und sah dann einen Schatten, der durch die Eingangstür fiel. Die Silhouette mehrerer Männer, die stehen geblieben waren. Vorsichtig wagte sie den nächsten Schritt.
Plötzlich stieß sie gegen jemanden, der sie packte. Sie schrie auf und schlug nach dem Rotarmisten, um sich aus seinem Griff zu winden, doch erfolglos. Die nackte Angst und Panik raubten ihr den Atem. Das erste Mal seit der Nacht des Bombenangriffs betete sie wieder.
Rette mich, es wird doch so gerne gesagt, wie mächtig du bist!
Sie atmete zitternd ein, als der Mann sie um die Taille packte und sie mit ihren ein Meter siebzig mühelos hochhob, sodass ihre Füße über dem Boden schwebten. Er schubste sie gegen die Wand und nutzte den kurzen Augenblick, in dem sie außer Gefecht war, um ihre Handgelenke zu packen, sodass sie auch nicht mehr um sich schlagen konnte.
»Отпусти меня! – Lasst mich los!«, schrie Emma, als sie ihre Sprache wiedergewonnen hatte. Sie sah die Überraschung über das Gesicht des Mannes huschen, doch sie war nur von kurzer Dauer.
»Немецкая шлюха, говорящая по-русски. Это существует? – Eine deutsche Schlampe, die Russisch sprechen kann. Gibt es das denn?«, sagte er abfällig, fast belustigt. Er hatte ergraute Haare und einen mächtigen Körperbau. Als er näher kam, wollte Emma zurückweichen, doch das konnte sie nicht, weil sie bereits mit dem Rücken zur Wand stand. Schmerzhaft vergrub er eine Hand in ihren Haaren.
»Lassen Sie sie los!«
Der Kopf des Mannes fuhr zu der deutschen Stimme herum, genauso wie Emmas. Da stand Heinz und richtete einen Revolver auf den Mann, der sie festhielt. Ihr Gesicht brannte vor Schamesröte.
»Augenblicklich!«, donnerte seine Stimme ungewohnt kräftig.
Die Augen des Rotarmisten flackerten, und dann schrie Emma: »Renn!«
Doch gerade als sie ihren Mund aufmachte, sah sie, wie der Soldat, der schneller war als Heinz, seine Waffe zog und auf den alten Mann richtete. Dann knallte ein Schuss, der Heinz mitten in den Kopf traf. Augenblicklich brach er zusammen.
Ein entsetzter Schrei entwich Emmas Kehle. Ihre Stimme war heiser. Sie schluchzte auf, als sie zu Boden gestoßen wurde. Unsanft landete sie auf ihren Händen und keuchte auf. Er packte sie an der Schulter und drückte sie zu Boden. Benommen von dem Schlag und Sturz krallte sie ihre Fingernägel in die erstbeste Stelle, die sie bei dem Soldaten zu fassen bekam. Er schrie auf und schlug ihr den Kolben seines Gewehres gegen die Stirn.
Emma wurde schwarz vor Augen. Ihr Herz raste. Während sie noch spürte, wie ihr Mantel geöffnet und ihr Rock aufgerissen wurde, umfing sie die Dunkelheit. Wie von ferne durchfuhr sie ein stechender Schmerz.
Gott, ich will zurück zu meiner Mama.
Roland konnte nicht schlafen. Er verspürte die gleiche Angst wie damals, als er zum ersten Mal seine Mutter verloren hatte.
Nachdem die Russen in Allenstein die Kinder zusammengetrieben hatten, waren sie nun nach einem langen Fußmarsch in Richtung Osten in einer Scheune eingesperrt worden. Es war Nacht und furchtbar kalt. Viele hatten sich in den Schlaf geweint. Vereinzelt war noch Wimmern zu hören. Die kleine Eva hielt sich eng an Roland gedrückt und ließ ihn nicht los, die Augen fest zusammengekniffen.
Immer wenn er die Augen schloss, sah er die Leichen und hörte die Schreie der Frauen, die misshandelt wurden. Er versuchte, das Erlebte auszublenden, doch das gelang ihm nicht. Seine ängstlichen Augen flogen über die anderen Kinder, die hier zusammengepfercht waren. Das Jüngste war gerade einmal fünf Jahre alt, das Älteste sechzehn. Eins der größeren Kinder hatte gesagt, dass sie nach Russland gebracht würden, um Vieh zu treiben. Dann hatte er etwas vom Führer und Vaterland geredet. Das war der Moment gewesen, in dem Roland auf Durchzug geschaltet hatte. Dieser Krieg hatte seine Brüder und womöglich auch seinen Vater das Leben gekostet. Er verstand nicht, warum es diesen Krieg gab.
Die Nacht schritt voran, doch er wollte nicht, dass es Morgen wurde. Er wusste auch, dass er dringend schlafen musste. Er spürte Evas gleichmäßige, warme Atemzüge. Wenigstens einer von ihnen beiden konnte schlafen.
Dann ertönten Schritte, die ihn aufhorchen ließen. Es klang, als wäre es nur eine Person. Er blickte sich um. Anscheinend hörte es sonst niemand. Roland setzte sich auf und zischte dann Eva zu, die wach wurde, sie solle leise sein. Leise klimperte das Schloss und eine große Person huschte herein. Roland und Eva saßen am nächsten zu der Tür, doch sie konnten das Gesicht desjenigen nicht sehen.
»Verschwindet«, sagte der Mann. Er hatte den Blick direkt auf Roland gerichtet. Niemand rührte sich. Langsam stand Roland auf, während sein Herz raste. Er stützte sich mit den Händen an der Scheunenwand ab.
»Komm«, flüsterte er und zog Eva mit sich.
Einerseits hatte er Angst, dass es eine Falle war, aber andererseits bestand die Chance, dass sie entkommen konnten, und diese Hoffnung überwog. Fest umklammerte er Evas Hand und rannte los. Er blickte sich nicht um, sondern folgte dem Weg, auf dem sie hergekommen waren. Seine Lungen brannten, aber er drosselte das Tempo nicht. Er war frei! Mit jedem Meter brachte er mehr Land zwischen sich und die Russen und kam seiner Mama näher.
Roland wurde erst langsamer und drehte sich um, als Eva nicht mehr konnte. Der Schneefall würde ihre Fußspuren schnell verschwinden lassen. Es war niemand zu sehen. Niemand folgte ihnen – weder Russen noch andere Kinder. Seltsam.
Emmas ganzer Körper schmerzte und sie wünschte sich, wieder in die Dunkelheit gleiten zu können. Mehrere russische Stimmen, die lachten, entfernten sich. Die des Mannes, der Heinz getötet hatte, war nicht dabei.
Emma stöhnte. Als sie sich auf die Seite drehte, zog sich ihr Unterleib unangenehm und schmerzhaft zusammen. Obwohl sie kaum etwas im Magen hatte, musste sie sich übergeben. Sie wollte, dass es aufhörte. Ihr Körper zitterte und nur langsam traute sie sich, die Augen aufzumachen. Heinz lag immer noch da, wo der Mann ihn niedergeschossen hatte. Sie wollte weinen, doch es kamen keine Tränen. Da war nur Bitterkeit, die sie von innen heraus erfasste.
Diese Schweine.
Sie musste aufstehen, sie konnte nicht ewig hier liegen bleiben. Draußen war immer noch Gefechtslärm zu hören. Vorsichtig robbte sie zu einer Wand, gegen die sie sich lehnen konnte. Vor Schmerzen wurde ihr schwindlig, doch ihr Körper tat ihr nicht den Gefallen, ohnmächtig zu werden. Ihre Speiseröhre brannte von der Magensäure.
Die Knöpfe von Emmas Mantel waren abgesprungen und lagen auf dem Boden verstreut. Ihre Hand zitterte unkontrolliert, als sie vorsichtig ihren Rock glatt strich. Ihre Strumpfhose und ihr Unterrock waren bis zum Bund eingerissen. Ihr Überrock nur zur Hälfte, aber auf dem braunen Stoff waren dunkle Blutflecke zu sehen. Sie ließ den Stoff los. Ihre Armbanduhr war weg, aber Emma atmete erleichtert auf, als sie immer noch den Ring ihrer Schwester spürte, den sie sich in den Schuh gesteckt hatte, damit er nicht geklaut wurde. Wenigstens etwas.
Sie stützte sich an einer Kommode ab und stand auf. Scharf zog sie die Luft ein, als sie spürte, wie eine warme Flüssigkeit zwischen ihren Beinen hinablief. Ihr Mund öffnete sich, doch sie erlaubte sich nicht zu schluchzen. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen. Soweit es ihr möglich war, zog sie ihre kaputte Strumpfhose aus und nutzte den Stoff, um das Blut aufzufangen. Der Geruch ließ sie wieder würgen, doch es kam nichts. Nachdem sie sich sicher war, dass ihre Beine nicht wegknicken würden, ging sie ein paar Schritte.
Ausblenden. Ausblenden. Das Wort hämmerte in ihrem Schädel. Nur nicht darüber nachdenken, was geschehen war, und es erst recht nicht benennen. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung abzuschütteln, doch gleich meldete sich der Schmerz, der unangenehm hinter ihren Schläfen pulsierte. Als sie sich an die Stirn griff und dann ihre Finger ansah, entdeckte sie noch mehr Blut. Sie wischte die Hand an ihrem Rock ab. Um ihre Handgelenke hatten sich tiefviolette Blutergüsse gebildet, genauso wie an ihren Armen.
Emma schloss Heinz die Augen und murmelte ein Abschiedswort, bevor sie über seinen Körper steigen musste, um nach draußen zu kommen. Noch mehr Wut kam in ihr hoch, als sie sah, dass Heinz’ Taschen durchwühlt worden waren. Wut gegen das Regime, die Sowjets und Gott. Sie torkelte an die Eingangstür. Da draußen waren doch sicherlich noch mehr Russen.
Ach, was soll’s, schlimmer kann es doch wohl kaum werden. Hauptsache, ich finde Eva. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Und Hauptsache, Eva geht es gut.
Ajoscha ließ seinen Blick über die rund fünfundzwanzig Frauen gleiten. Einige von ihnen waren verletzt. Seine Einheit hatte sie in ihrer Unterkunft abgefangen. Nun durchforsteten seine Männer ihre Sachen.
Mit der Hand fuhr er sich über den blonden Vollbart. »Sie nicht. Sie passt nicht ins Schema«, sagte er kühl und zeigte auf eine Frau mit Bauchschuss. »Einer der Sanitäter soll sie sich ansehen und sie dann wegschaffen.«
Serschant Sergej Pawlow, der Ajoschas rechte Hand war, folgte ihm und gab seine Befehle weiter. Die Frauen senkten den Blick, als sie vorübergingen. Emma war die Einzige, die für einen Moment Ajoschas Blick standhielt, bevor sie ebenfalls den Kopf beugte. Der Major mit den grau-blauen kühlen Augen war mit seinen dunkelblonden Haaren und dem Bart sehr attraktiv und für diese Feststellung hasste Emma sich selbst. Er hatte harte markante Gesichtszüge und war wahrscheinlich keinen Deut besser als seine Kumpanen. Denn sein Äußeres spiegelte nicht unbedingt sein Innerstes wider.
Die gelben Schulterklappen auf seinem grünen Mantel wiesen ihn als Offizier aus, die Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. Autorität war ein Wort, das ihn passend beschrieb. In seiner dicken Soldatenkleidung war ihm wahrscheinlich nicht so kalt wie den Frauen.
Auf der Suche nach Eva war Emma unbemerkt zurück zu ihrer Unterkunft gelangt und hatte dort ihre wichtigsten Sachen in einen Rucksack gepackt, als die Soldaten gekommen waren. Sie und einige andere Frauen waren mit vorgehaltenen Waffen gezwungen worden, sich vor dem Gebäude zu versammeln, wo sie jetzt selektiert wurden. Sie konnte nicht hören, was die beiden Männer beredeten, doch sie sah, dass immer wieder Namen auf einer Liste durchgestrichen und die entsprechenden Frauen fortgebracht wurden. Ihre Ausweise waren verlangt worden, auf deren Grundlage die Liste entstanden war. Zumindest einige der ausgesonderten Frauen kannte Emma vom Sehen her. Sie stammten aus dem Gebiet von Königsberg.
Auf einmal ergriff der Helfer des Offiziers das Wort und fragte in seiner Landessprache. »Versteht hier jemand Russisch?«
Keine der Frauen rührte sich. Langsam hob Emma den Blick. »Немного. – Ein wenig.«
Aufgrund ihrer relativ guten Aussprache hob der Serschant eine Augenbraue, aber auf dem Gesicht des Offiziers war keine Gefühlsregung zu erkennen. Er schaute sie einfach aus seinen kalten Augen an. Dann nickte er.
Darauf hatte Sergej anscheinend gewartet. »имя? – Name?«
»Emma Hoffmann.« Sie ärgerte sich, dass ihre Stimme so schwach klang. Etwas wurde auf der Liste hinter ihren Namen geschrieben, doch das war es auch schon und sie wurde nicht weiter beachtet. Sie schnaubte leise. Die Russen würden noch überrascht sein, wie gut sie deren Sprache beherrschte. Sie drückte die Hand auf ihren Bauch, als sie die Beine an ihren Körper zog. Die Schmerzen ließen nicht nach.
Fünf Männer bewachten sie, während der Offizier und sein Unteroffizier außer Hörweite redeten.
»Was wollen sie von uns?«, flüsterte eine der Frauen. Sie war schätzungsweise Mitte zwanzig.
»Ja, was wohl?!«, zischte eine zweite zurück. »Unsere Körper. Hast du nicht gesehen, wie sie die Alten und Verletzten aussortiert haben? Sie haben sich schon einmal genommen, was sie wollten, und sie werden es wieder tun. Ich gehe jede Wette ein, dass sie uns nach Russland bringen.«
Es wurde unruhig zwischen den Reihen der deutschen Frauen. Emma beteiligte sich nicht an den Spekulationen. Sie hatte Angst, dass sich ihre Befürchtungen bewahrheiten könnten. Sie fröstelte. Wie viele Frauen hier wohl ihr Schicksal teilten?
Die leisen Gespräche verstummten plötzlich, als weitere Soldaten aus dem Gebäude kamen. Einer nach dem anderen warf Bücher, die sie trugen, in ein großes Feuer. Emma hörte einige Frauen entsetzt nach Luft schnappen, als sie sahen, dass ihr Mein Kampf von Hitler, das jeder Deutsche besitzen musste, verbrannt wurde. Sie selbst hingegen hatte nicht eingesehen, dieses als unnötigen Ballast mit auf ihre Flucht zu nehmen.
Auf einmal aber sah Emma, wie einer der Männer ein in schwarzes Leder eingebundenes Buch in das Feuer warf. An dem Goldschnitt identifizierte sie es eindeutig als ihre Familienbibel, in der ihre Schwester alle wichtigen Briefe aufbewahrt hatte.
Das Adrenalin schoss durch ihre Adern und ließ sie für einen Moment ihre Schmerzen vergessen. Als der Soldat, der ihr am nächsten stand, ihr den Rücken zukehrte, sprang sie auf und rannte zu dem Feuer. Sie ließ sich auf die Knie fallen und griff nach der Bibel. Sie ignorierte die warnenden Rufe der Soldaten und bemerkte auch nicht, dass Ajoscha den Lauf eines Gewehres, das auf sie gerichtet war, nach unten drückte. Er machte einen Satz nach vorne, packte sie unsanft um die Taille und stieß sie nach hinten in den Schnee, gerade als sich ihre Finger um das Buch schlossen und die Flammen an ihr leckten.
Angesichts des unangenehmen Schmerzes, der sie durchfuhr, zog Emma scharf die kalte Luft ein und kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Ihr Unterleib brannte. Sie blinzelte. Der Offizier starrte sie mit eiskalten und bösen Augen an. Ihm entfuhr ein Wort, das sie nicht verstand. Er beugte sich herunter und entriss ihr unsanft das Buch, sodass Emma unwillkürlich zusammenzuckte. Er schaute sich den Einband an und ließ es dann schnaubend zurück in ihren Schoß fallen. Emma keuchte und konnte es gar nicht fassen. Er erlaubte ihr tatsächlich, das Buch zu behalten! Ihr Herz raste vor Angst und Freude, die sie zeitgleich empfand.
Der Offizier ließ den Blick über die Frauen schweifen, die alle die Luft anhielten und abwarteten, was als Nächstes geschehen würde.
»Остальных женщин возьми с собой. – Nehmt die übrigen Frauen mit.« Die Stimme des Offiziers war emotionslos, genauso wie der Ausdruck in seinen Augen. Schließlich waren das hier nur Deutsche, dachte sich Emma. Die entsetzten Aufschreie der Frauen, die auf die Beine gezogen wurden, und die aufkommende Panik ignorierte er. Mit einer Kopfbewegung zeigte er in Richtung Emma und auch sie wurde unsanft auf die Beine gezerrt, die Bibel fest an sich gedrückt. Er beobachtete das Geschehen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, während er immer mal wieder ein paar Worte mit Sergej wechselte. Die Frauen durften eine Tasche mitnehmen und wurden dann auf die Ladefläche eines Lkw verladen.
Ajoschas Blick fiel auf einen leicht vergilbten Brief, der auf dem Boden lag, an derselben Stelle, an der Emma gerade noch gelegen hatte. Er bückte sich und klopfte mit seiner behandschuhten Hand den Schnee von ihm ab. Er wusste nicht warum, aber eine innere Stimme sagte ihm, er solle ihn einstecken. Also ließ er ihn in seine Manteltasche gleiten, bevor er seinen Männern zu ihren Wagen folgte.
Die Frauen hatten sich Tücher um den Kopf gebunden, um ihre Ohren vor der Kälte zu schützen. Über die Ladefläche, auf der sie saßen, war nur eine Plane gespannt und es war ungeheuer zugig. Der kalte Wind pfiff unangenehm durch jede Ritze.
Emma hatte fürchterliche Angst. Bei jeder Unebenheit, über die der Wagen fuhr, krallte sich ihre Hand in ihren Rock und sie presste die Lippen aufeinander. Nach einer Weile konnte sie nicht mehr verhindern, dass Tränen in ihren Augen brannten, denn jede Erschütterung ließ eine Schmerzwelle durch ihren Körper jagen.
Sie fuhren zwei Stunden, bevor sie zum Stehen kamen. Es wurden Befehle gerufen und dann trat ein Soldat, der sein Gewehr auf dem Rücken trug, an das Ende der Ladefläche und ließ die Klappe herunter, damit die Frauen aussteigen konnten.
Von der Kälte waren Emmas Gelenke ganz steif. Sie kletterte aus dem Wagen und hoffte, nicht zu stürzen. Doch als ihre Füße den Boden berührten, knickten für einen Augenblick ihre Beine ein, sodass sie unsanft auf den Knien landete. Sie unterdrückte einen Aufschrei und biss ärgerlich die Zähne aufeinander. Eine der Frauen half ihr hoch. Der Wind fuhr kalt unter Emmas Rock, weil sie keine Strumpfhose mehr hatte.
Sie standen vor einem verlassenen Bauernhofkomplex mit Haupthaus und einer Art Nebengebäude. Sie wurden zu Letzterem getrieben. Es bildete sich eine Schlange und nacheinander betrat eine nach der anderen das Haus. Als Emma an der Reihe war, durch die Tür zu treten, setzte ihr Herz für einen Moment aus, als ein Soldat sie packte und zurückhielt. »Du nicht«, sagte er auf Russisch.
Drei weitere Frauen wurden ausgewählt und sie mussten dem Serschant folgen. Er brachte sie in eine Küche. Seine Stimme donnerte mit so vielen Anweisungen auf Emma ein, dass sie glaubte, ihr Kopf explodiere gleich, als der Mann auf einmal stoppte. Ein weiterer Soldat stand im Türrahmen.
»Очередь Гофмана – Hoffmann ist an der Reihe«, sagte er und packte Emma am Arm. Sie war viel zu perplex, um sich zu sträuben, doch sie sah, wie sich ihre eigene Angst in den Blicken der anderen Frauen, die kochen mussten, widerspiegelte. Sie wurde in einen anderen Raum geführt. Bis auf zwei Stühle und ein kleines Kellerfenster war er komplett leer. Sie wollte sich aus dem Griff des Mannes winden, als er bereits ihren Arm losließ und dann die Tür hinter sich schloss.
Nun stand Emma allein in dem dunklen und kalten Raum. Sie schlang ihren Mantel enger um sich und wartete. Als ihre Kraft sie verließ, setzte sie sich auf einen der Stühle. Sie spürte, dass sie wieder zu bluten begann. Die Angst und der Druck taten ein Übriges und sie begann, leise zu weinen.
Doch plötzlich wurde die Tür aufgeschlossen. Emma zuckte zusammen und wischte sich schnell mit ihren Händen über die Wangen. Es war der Offizier, der hereinkam. In der Hand hatte er Papiere und einen Stift. Emma wagte nicht, sich zu bewegen, und war froh, dass er auf Distanz blieb.
Vielleicht hat er Angst, dass ich Läuse habe. Der Gedanke bereitete ihr für einen Augenblick Genugtuung.
Der Mann lehnte sich gegen die Wand direkt neben der Tür, die er offen ließ.
»Ich bin Oberst Iwanow. Sie und die anderen Frauen befinden sich in russischer Gefangenschaft. Da Sie die Einzige sind, die Russisch kann, haben Sie die Aufgabe, zu dolmetschen. Wenn Sie alle tun, was wir sagen, passiert Ihnen nichts.«
Ein Schauer überkam Emma angesichts seines kalten Tonfalls. Er hatte eine tiefe und raue Stimmlage. Sie konnte seinem ununterbrochenen Augenkontakt nicht lange standhalten und senkte den Blick. Ihre Wangen brannten und ihr war mulmig zumute. Er redete weiter, doch Emma konnte nicht mehr zuhören. Sie zuckte zusammen, als er mit einer vorher nicht dagewesenen Schärfe in seiner Stimme fragte: »Haben Sie das alles verstanden?«
Sie schluckte nur und nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht und hatte viel zu viel Angst zuzugeben, dass sie nicht alles mitbekommen hatte.
»Dann können Sie jetzt zurück zu den anderen gehen.«
Als er sich nicht von der Stelle rührte, erhob sich Emma langsam. Auf dem Weg zur Tür merkte sie, dass sie kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch stand. Sie versuchte, den Schleier vor ihren Augen wegzublinzeln, doch es funktionierte nicht. Sie war gerade durch den Türrahmen gegangen, als sie so sehr schwankte, dass sie zu stürzen drohte. Die Hand des Obersts schnellte vor und packte sie fest am Ellenbogen, sodass ein Schmerz ihren Arm heraufzuckte. Sie stieß einen Schrei aus und donnerte unangenehm gegen die Wand, als sie einen Satz weg von ihm machen wollte. Für einen Moment hatte sie gemeint, in ihm einen der Männer erkannt zu haben, die sie …
Als Emma genauso auf einen der Soldaten reagierte, den Ajoscha herbeigerufen hatte, stieß er ein Knurren aus und schließlich kam eine der Frauen aus der Küche ihr zu Hilfe. Sie zwang sich dazu, einen Schritt nach dem anderen zu machen, kämpfte sich durch den Schnee und eine steile Treppe hinauf, bis sie sich endlich wieder hinsetzen konnte.
In dem Raum befanden sich bereits die anderen Frauen. Er hatte keine Möbel und war nur mit Stroh ausgelegt. Es gab einen kleinen Ofen und ein paar Decken. Durch zwei winzige Fenster fiel das letzte Licht des Tages. Auch wenn der Schmerz höllisch war, erledigte Emma ihre Notdurft und legte sich danach auf eine der Decken.
Eine der ältesten Frauen, die aber gerade einmal Mitte dreißig sein mochte, kam und säuberte vorsichtig Emmas Kopfwunde. »Blutest du? Ich meine … unten?«, fragte sie leise und überrascht weiteten sich Emmas Augen. Mitfühlend verzog die Frau das Gesicht. »Es ist nicht zu übersehen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. Die plötzlichen Falten auf ihrer Stirn ließen sie älter wirken, als sie eigentlich war.
Emma presste die Lippen fest aufeinander und begann wieder zu weinen. Sie sträubte sich, als die Frau, die sich mit dem Namen Margarete vorgestellt hatte, sie in den Arm nehmen wollte, doch das schreckte Margarete nicht ab. Sie gab Emma von einer dünnen Suppe zu essen, die gebracht worden war.
Nach einer Weile fragte eine der anderen Frauen: »Was wollten die gerade von dir?«
Nur mit Mühe konnte Emma ihre müden Augen aufhalten. »Der Offizier hat gesagt, ich soll dolmetschen. Wir sind Gefangene, aber wenn wir tun, was sie sagen, geschieht uns nichts.«
Eine Frau schnaubte. »Von wegen. Diesen Schweinen ist nicht zu trauen!«
Die Stimmung war bedrückt. Auch wenn sich bald alle zum Schlafen hinlegten, blieb die Anspannung und fiel auch nicht während der Albträume von ihnen ab.
Irgendwo in Ostpreußen22. Januar 1945
Ajoscha sah aus dem Fenster des Zimmers, das er bezogen hatte. Er blickte direkt auf das Nebengebäude und den großen Hof. Seit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges und der daraus resultierenden Verdunklung von Moskau hatte er nun nachts wieder einen klaren Blick auf den Nachthimmel und die Pracht der Sterne. Auch hier auf dem Land, wo nur ein Feuer von dem aktuellen Wachdienst entzündet worden war, konnte er Stunden gen Himmel schauen und wurde nicht von anderen Lichtquellen gestört.
»Wenn ich den Himmel betrachte und das Werk deiner Hände sehe – den Mond und die Sterne, die du an ihren Platz gestellt hast –, wie klein und unbedeutend ist da der Mensch und doch denkst du an ihn und sorgst für ihn«, murmelte er leise einen Psalmausschnitt vor sich hin.
Von seiner Position aus sah er, wie die deutsche Dolmetscherin geholt und in das Haupthaus gebracht wurde. Es war sechs Uhr morgens. Ajoscha nahm eine Akte von seinem Schreibtisch und verließ dann mit großen Schritten das obere Stockwerk. Die anderen Soldaten teilten sich zu mehreren die anderen drei Zimmer. Als einziger Offizier stand ihm ein Einzelzimmer zu. Auf dem Weg in den Keller begegnete er zweien seiner Männer, die er im Vorübergehen grüßte. Sergej stellte sich stramm hin, als Ajoscha in den Kellergang kam. Die Tür zum Befragungsraum war geschlossen.
»Morgen. Stehen Sie bequem«, sagte der Oberst und gab die Akte, die er bei sich trug, an seinen Unteroffizier weiter.
»Morgen. Ich wollte Ihnen gerade Bescheid geben.«
»Ich habe durchs Fenster gesehen, dass Hoffmann geholt worden ist«, erklärte er und nickte einem weiteren Soldaten zu, der ihm die Tür aufschloss.
»Sind die Frauen durchsucht worden?« Er blickte über seine Schulter und sah Sergejs Nicken. »Lassen Sie es in mein Zimmer bringen.«
Ajoscha zog seine Handschuhe an, denn in dem Kellergewölbe war es sehr kalt. Er musste den Kopf einziehen, als er durch die Tür trat. Eine Glühbirne an der Decke leuchtete dämmrig. Emma Hoffmann saß wie gestern auf dem Stuhl in der Mitte des Raumes. Sie hatte krampfhaft die Hände ineinandergefaltet, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihre rechte Hand war rötlich verfärbt, vermutlich war das passiert, als sie gestern in die Flammen des Feuers gegriffen hatte. Ihre Handgelenke wiesen violette Striemen auf.
Ajoscha bezog seine Position an der Wand, während Sergej sich auf den Stuhl setzte, der der Deutschen gegenüberstand. Ein Protokollant hielt sich im Hintergrund und schrieb auf einer Schreibmaschine mit.
»Nennen Sie Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum und Alter«, sagte Sergej, während er die Blätter auf seinem Schoß sortierte.
»Emma Hoffmann. 10. November 1924. Zwanzig Jahre.«
Ihre Stimme war schwach. Ajoscha beobachtete ihre Gestik und Mimik, während er der Befragung zuhörte.
»Sind Sie Mitglied in der NSDAP?«
»Nein.«
»Jemand aus Ihrem engeren Familienkreis?«
Ein Muskel in ihrem Kiefer zuckte. Als sie nicht direkt antwortete, sah Sergej auf, doch sie hatte den Blick fest auf den Boden gerichtet. »Mein Vater war Mitglied«, sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte.
»War?«
Emma hob den Kopf und sah dem Serschant direkt in die Augen. »Bis er von einem Russenschwein ermordet worden ist«, zischte sie und kassierte dafür einen Schlag von Sergej. Der Schmerz zog durch ihre Wange und dann durch ihren ganzen Kopf. Ihre Kopfschmerzen waren über Nacht nicht verschwunden und die Platzwunde pochte unangenehm. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über den Mund. Ihre Lippe war aufgeplatzt. Ihre Augen funkelten böse, als sie Ajoscha anschaute. Er hatte die Arme verschränkt und reagierte auf keine Weise. Emma schnaubte leise. Von wegen, sie würden ihnen nichts tun. Sie waren nicht besser als irgendwelche anderen Russen.
»Sind Sie dem BDM vor 1936 beigetreten?« Das hieß, bevor eine Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel verpflichtend war.
Alles in Emma schrie. »Ja«, sagte sie. Weil ihr Vater es gewollt hatte, aber das würde für die Sowjets wohl kaum eine Rolle spielen.
»Waren Sie aktiv an der Ermordung von Juden, politisch Andersdenkenden oder von irgendjemand sonst beteiligt?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein.« Aber sie war mitschuldig. Sie hatte nichts dagegen unternommen.
So gut wie jede weitere Frage beantwortete sie mit Nein. Die ganze Situation, die Selektion der Frauen, der Transport hierher und die Befragungen wirkten geplant. Aber warum hatten sie dann keinen eigenen Dolmetscher, immerhin hätten sie wissen müssen, dass es Sprachbarrieren geben würde? Und wen suchten sie?
Als sie auf die nächste Frage nicht antwortete, stoppte das Klappern der Schreibmaschinentasten. Emma sah direkt an Sergej vorbei Ajoscha an. »Warum stellen Sie mir nicht die Fragen?« Aus ihrer Körperhaltung und ihrer Stimme sprach kein Selbstbewusstsein, allein ihre Worte strahlten es aus.
»Warum sollte ich? Würden Ihre Antworten dann anders ausfallen?«, fragte Ajoscha ruhig.
Emma zuckte leicht mit den Schultern.
Ajoscha wartete einige Sekunden ab und stieß sich dann mit dem Fuß von der Wand ab. Sergej stand auf und machte seinem Oberst Platz. Doch er setzte sich nicht, sondern stützte sich mit den Händen an der Rückenlehne ab.
»Woher können Sie Russisch sprechen?«, fragte er. Sie brach wieder den Blickkontakt ab. »Sie haben mich gefragt, warum ich die Fragen nicht stelle, jetzt tu ich es und Sie antworten mir nicht.« Er hob eine Augenbraue.
»Mein Vater war Russischlehrer«, sagte sie leise.
Zufrieden nickte Ajoscha. Er streckte die Hand aus und ohne, dass er etwas sagen musste, reichte Sergej ihm einige Fotos. Ajoscha setzte sich auf den Stuhl und ignorierte, dass Emma zurückzuckte. Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. »Kennen Sie eine von diesen Personen?« Er zeigte ihr nacheinander verschiedene Fotos, während er aufmerksam ihre Reaktionen studierte.