Das Sündenhaus - Antonia Hodgson - E-Book
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Antonia Hodgson

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Beschreibung

Mörderische Rache in Fountains Abbey - Antonia Hodgson setzt ihre preisgekrönte historische Thriller-Serie um den Ermittler Tom Hawkins ("Das Teufelsloch", "Der Galgenvogel") fulminant fort. London, Spätfrühjahr 1728. Auf eine "Bitte" von Englands Königin Queen Caroline reist Tom Hawkins, mit allen Wassern gewaschener Gentleman, zum Herrenhaus von John Aislabie in Yorkshire. Doch die ländliche Idylle entpuppt sich für Tom schnell als Hexenkessel: Die Queen wird von Aislabie erpresst, denn der ehemalige Schatzkanzler war mitverantwortlich für die "Südseeblase", den größten Finanzskandal des 18. Jahrhunderts. Aislabie wiederum erhält seit einiger Zeit zunehmend blutigere Drohbriefe. Ehe Tom es sich versieht, gerät er zwischen alle Fronten und mitten hinein in einen mörderischen Racheplan. Britischer (Galgen-)Humor, Tempo und authentische Einblicke in die Intrigen des 18. Jahrhunderts - das ist Antonia Hodgson! »Inspiriert von realen Ereignissen, Menschen und Schauplätzen, knisternd vor Spannung – und mittendrin das attraktivste Schlitzohr der historischen Krimiliteratur.« Daily Express Alle Bände der "Tom-Hawkins"-Reihe der britische Erfolgsautorin Antonia Hodgson: Band 1 - "Das Teufelsloch" Band 2 - "Der Galgenvogel" Band 3 - "Das Sündenhaus"

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Seitenzahl: 555

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Antonia Hodgson

Das Sündenhaus

Historischer Thriller

Aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mörderische Rache in Fountains Abbey - Antonia Hodgson setzt ihre preisgekrönte historische Thriller-Serie fulminant fort:

Frühjahr 1728. Auf eine »Bitte« von Englands Königin Queen Caroline reist Tom Hawkins, mit allen Wassern gewaschener Gentleman, zum Herrenhaus von John Aislabie in Yorkshire. Doch die ländliche Idylle entpuppt sich für Tom schnell als Hexenkessel: Die Queen wird von Aislabie erpresst, denn der ehemalige Schatzkanzler war mitverantwortlich für die »Südseeblase«, den größten Finanzskandal des 18. Jahrhunderts. Aislabie wiederum erhält seit einiger Zeit zunehmend blutigere Drohbriefe. Ehe Tom es sich versieht, gerät er zwischen alle Fronten und mitten hinein in einen mörderischen Racheplan.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKartePrologSiebenundzwanzig Jahre späterDer erste TagKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtDer zweite TagKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnDer dritte TagKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigDanachKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigEpilogHistorische AnmerkungenDanksagung
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Für meine Eltern, in Liebe

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Ist jemals einem Menschen Derartiges zu Ohren gekommen? Wurde jemals ein Bürger Englands auf diese Art und Weise benutzt?

 

John Aislabie, 1721

 

 

 

Freudenfeuer loderten in der Stadt, als Mr. Aisleby sich auf den Weg in den Tower machte.

 

Thomas Brodrick, 1721

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Karte

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Prolog

Januar 1701 Red Lion Square, London

Es war nicht ihre Absicht gewesen, dass sich das Feuer ausbreitete. Es sollte eine Ablenkung sein, mehr nicht. Ein Täuschungsmanöver, um alle in Schach zu halten, während sie sich nahm, was ihr zustand.

Sie hatte geschrien – »Feuer! Feuer in der Mansarde!« – und leise gelacht, als das ganze Haus schließlich aus dem Schlaf hochgefahren war. Sie drängten sich auf der Treppe an ihr vorbei, um Wasser zu holen und zu retten, was noch zu retten war, und keuchten, als der Rauch ihnen in die Lunge drang.

Und dann sah sie ihn. Er drückte seine Tochter Mary an die Brust, um sie in Sicherheit zu bringen. John Aislabie. Er beachtete sie nicht weiter, als er an ihr vorbeihastete, so nahe, dass sie ihn hätte berühren können. Er beachtete sie bereits eine ganze Weile nicht mehr.

Sie reihte sich in den Strom der Dienstboten ein, die die Treppe hinabeilten. Und als sie schließlich auf den Platz hinausstürzten, bemerkte niemand, dass Molly Gaining nicht mehr unter ihnen war.

Stattdessen schlich sie auf Zehenspitzen den dunklen, menschenleeren Flur entlang, der zu Mr. Aislabies Studierzimmer führte. Leise und unsichtbar zu sein war die oberste Tugend eines Dienstmädchens.

Er hatte sie seinen Schatz genannt. Hatte ihr im Dunkel der Nacht Versprechen ins Ohr geflüstert. Schwüre, die er niemals hatte halten wollen. Ich werde dich mit Gold überhäufen, ich werde dich in Seide hüllen. Und sie hatte ihm geglaubt. Sie hatte ihm alles gegeben, wonach er verlangt hatte. Und als er mit ihr fertig gewesen war, hatte er sie beiseitegeschleudert, und sie war nicht mehr länger sein Schatz, sondern bloß noch ein elender Haufen Dreck gewesen, den er niemals wieder anrühren würde.

Aus einem der oberen Stockwerke drangen gedämpfte Schreie. Doch hier in seinem Studierzimmer war es, abgesehen vom Ticken der Uhr, herrlich still. Sie brauchte keine Lampe, um sich zum Tisch vorzutasten. Sie hatte dieses Zimmer die letzten fünf Jahre jeden Tag gefegt und auf Hochglanz gebracht. Sie öffnete die Schublade und schob Schreibfedern und Unterlagen zur Seite, um schließlich nach dem Schlüssel zu greifen, der versteckt in einer Ecke lag. Dann kroch sie auf Knien auf den Kamin zu und tastete mit gespreizten Fingern nach der losen Diele, die sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Hier. Sie hob die Diele hoch und ließ die Hand daruntergleiten. Ihre Finger berührten kaltes Metall. Es war eine Eisenschatulle. Sie war so schwer, dass sie beide Hände benötigte, um sie aus ihrem Versteck zu heben.

Der Schlüssel drehte sich mit einem sanften Klicken. Ein Schauer durchfuhr sie. Es war so falsch – und doch so aufregend. Sie musste sich beeilen, bevor das Feuer gebändigt war und man sie womöglich entdeckte. Sie hob den Deckel.

Er hatte ihr Gold und Diamanten versprochen, und sie würde dafür sorgen, dass er sein Versprechen hielt.

Sie hob eine Handvoll Schmuck hoch, und die Goldketten baumelten zwischen ihren Fingern hinab. Sie ertastete, was ihre Augen im Dunkeln nicht erkennen konnten, und erinnerte sich: cremig weiße Perlenketten, goldene Ringe mit wertvollen Edelsteinen, eine mit Diamanten und Rubinen besetzte Brosche, die nun kalt und schwer in ihrer Hand lag. Säckchen mit Goldmünzen. Sie steckte alles in die weite Tasche, die sie in ihr Kleid eingenäht hatte, und griff erneut zu. Genug für das Leben, von dem sie träumte. Genug für das Leben, das ihr zustand.

In diesem Augenblick hörte sie laute Stimmen, unmittelbar vor der Tür. Sie hatte sich zu lange aufgehalten. Sie fluchte leise und ließ eine weitere Handvoll Münzen in ihre Tasche gleiten, ehe sie sich aufrichtete. Sie strich gerade ihr Kleid glatt, als ein junger Mann die Tür aufdrückte und ins Studierzimmer eilte. Sie sah sein wohlgeformtes, entschlossenes Gesicht im orangefarbenen Schein seiner Kerze.

»Die Rechnungsbücher. Schnell!«

Jack Sneaton, Aislabies Sekretär. Sie zog sich tiefer in den Schatten zurück und betete, dass er sie nicht entdeckte, während er Bücher und Schriftstücke zusammenraffte und sie seinem Lehrburschen auf die hingehaltenen Arme schichtete. Auf Jack war eben Verlass. Es gab so vieles, das vor dem Feuer gerettet werden musste, doch ihn kümmerten bloß seine wertvollen Rechnungsbücher.

Er wandte sich der Tür zu.

»Sir?« Sneatons Lehrbursche deutete mit dem Kopf in Richtung Kamin.

Man hatte sie entdeckt. Die Angst packte sie mit eiserner Faust.

Sneaton türmte dem Lehrburschen einen weiteren Stapel Schriftstücke auf die Arme. »Molly? Was machst du denn da unten …?« Er hielt inne und starrte ungläubig auf die Münzen und glitzernden Edelsteine hinab, die sie in der Eile auf dem Boden verstreut hatte. Dann blinzelte er mehrere Male hastig, als hoffte er, dass sich das Bild vor seinen Augen verflüchtigen würde.

»Diebin!«, zischte der Lehrbursche.

Sneaton zuckte zusammen, als würde ihm die Anschuldigung körperliche Schmerzen bereiten. Er warf einen letzten, wohlüberlegten Blick auf die leere Schatulle, dann packte er Molly am Arm und zog sie hoch.

»Nein!«, schrie sie, während er sie aus dem Zimmer zerrte. »Ich wollte nichts stehlen, das schwöre ich. Bitte, Jack … Mr. Sneaton, Sir. Ich wollte den Schmuck und das Geld bloß vor dem Feuer in Sicherheit bringen.«

Er umfasste mit einer Hand ihren Nacken, während er sie durch das Haus und schließlich hinaus auf die Straße schob. Auf der Treppe stolperte sie, ging zu Boden und schrie auf; ein Glassplitter hatte sich in das weiche Fleisch ihres Daumenballens gebohrt. Überall lag zerbrochenes Glas verstreut.

Als sie den Splitter herauszog, sog sie scharf die Luft ein. Auf Händen und Knien kroch sie über das Kopfsteinpflaster, während ihr Blut über das Handgelenk lief.

Dann hob sie den Blick und sah, was sie angerichtet hatte.

Das Feuer wütete im gesamten Obergeschoss des Hauses, und die Flammen hatten bereits das Dach erfasst und loderten aus den zerborstenen Fenstern. Dicke Rauchwolken wogten über dem brennenden Haus und verdeckten den Nachthimmel.

Die Dienstboten bildeten eine Reihe, die ins Haus und die Treppe hochführte, und reichten Eimer mit Wasser weiter, während ihnen immer mehr Nachbarn zu Hilfe eilten. Sie alle versuchten verzweifelt zu verhindern, dass das Feuer auf die anderen Häuser am Platz übergriff.

Ein Diener brach in der Tür zusammen, sein Gesicht war rußgeschwärzt. Er atmete hastig ein wenig saubere Luft ein, ehe er sich einen weiteren Eimer griff und erneut ins Haus zurückstürzte.

»Es war doch bloß ein kleines Feuer«, flüsterte sie, während sie vorwärtstaumelte, magisch angezogen von den Flammen. Sie spürte die gewaltige Hitze auf ihrem Gesicht. »Ich wollte doch nicht …«

Sneaton zerrte sie mit sich. »Mr. Aislabie. Mr. Aislabie, Sir.«

Aislabie stand einige Schritte entfernt, nah bei den Flammen, und hielt immer noch seine Tochter Mary im Arm. Jane, die jüngere Tochter, klammerte sich an seinem Bein fest. Die beiden Mädchen waren starr vor Angst.

»Mr. Aislabie«, rief Sneaton erneut, und Aislabie wandte sich um und sah sie.

»Molly«, sagte er. »Du bist wohlauf. Dem Herrn sei Dank.«

Kummer und Wut schnürten ihr die Kehle zu. Jetzt siehst du mir endlich wieder ins Gesicht, John. Jetzt nennst du mich endlich wieder beim Namen.

»Ich habe sie in Ihrem Studierzimmer ertappt, Sir«, erklärte Sneaton. »Sie war dabei, sich an Ihrer Schatulle zu bedienen.«

Er starrte sie an.

»Ich wollte nichts stehlen«, stammelte sie. »Ich wollte das Geld und den Schmuck vor dem Feuer in Sicherheit bringen. Sie kennen mich doch, Sir …«

Sie sah Zweifel in seinen Augen aufflackern. »Darum kümmern wir uns später«, meinte er schließlich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Flammen zu. Er setzte Mary auf dem Boden ab und übergab die beiden Mädchen einer Nachbarin. »Harry!«, rief er einem seiner Diener zu, der gerade aus dem Haus taumelte. »Wo ist Mrs. Aislabie? Ist sie in Sicherheit?«

Doch Harry hatte zu viel Rauch in der Lunge und konnte nichts erwidern. Keuchend holte er Luft.

»Um Himmels willen, Mann. Wo ist mein Sohn?«, rief Aislabie, den mit einem Mal das Entsetzen packte. »Und wo ist Lizzie? Wo ist mein kleines Mädchen?«

Harry schüttelte den Kopf.

Einen Augenblick lang war Aislabie zu erschüttert, um etwas zu erwidern. Dann fuhr er herum, rannte blindlings in das brennende Haus und brüllte ihre Namen. Anne. William. Lizzie.

»Verdammt!«, fluchte Sneaton. Er drückte Molly wie ein Bündel schmutziger Lumpen in die Arme seines Freundes. »Pass auf sie auf, Harry. Sie ist eine verdammte Diebin.«

Also noch schlimmer. Sie hob den Blick und sah die Flammen, die über das Dach schlugen, und den Rauch, der aus sämtlichen Fenstern drang. Lizzie, die Jüngste, die gerade erst laufen lernte. Mrs. Aislabie. William, vor kurzem geboren.

Was hatte sie getan? Eine Leere ergriff von ihr Besitz, und sie fühlte sich mit einem Mal so leicht, als könnte sie in den Himmel hochsteigen und sich in Luft auflösen …

»Molly!« Sneatons Stimme brach den Bann.

»Es war doch bloß ein kleines Feuer, Jack. Ich hatte doch niemals vor …«

Sie würde den Blick, den Jack Sneaton ihr in jenem langen Moment, in dem plötzlich alle Geräusche verstummten, zuwarf, niemals vergessen.

»Du warst mein Ein und Alles, Molly«, sagte er leise.

Der Boden unter ihren Füßen gab nach. Sie hatte nichts davon geahnt. Er hatte nie etwas gesagt. Könnte sie die Zeit doch bloß eine halbe Stunde zurückdrehen. Das wäre alles, was nötig wäre, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen – bloß eine halbe Stunde. Aber es war zu spät.

Sneaton griff nach einem Eimer und tauchte sein Taschentuch ins Wasser. »Wo sind sie, Harry?«

Harry deutete auf ein Fenster im zweiten Stockwerk. »Du kommst niemals zu ihnen durch, Jack. Der Rauch ist viel zu dicht.«

Sneaton legte sich das feuchte Tuch über Mund und Nase und rannte ins Haus.

Harry zerrte sie mit sich. Sie stolperte neben ihm her, bis zu einer Gruppe von Nachbarn, die sich entsetzt aneinanderklammerten, während das Haus vor ihnen in Flammen stand. Sie sahen mit an, wie die Diener Mr. Aislabie mit leeren Händen herauszerrten, während er den Namen seiner Frau brüllte. Sahen zu, wie auch die letzten Männer von dem Rauch und den Flammen zurückgedrängt wurden.

»Es bleibt nichts mehr zu tun. Gott sei ihren Seelen gnädig«, meinte eine Nachbarin. »Beten wir, dass sich das Feuer nicht ausbreitet.«

Harry grub seine Finger tiefer in ihre Schulter.

Dann stieß jemand einen Schrei aus und deutete auf ein Fenster im zweiten Stockwerk. »Dort! Seht nur!«

Jack Sneaton stand im Fenster und drückte ein winziges Bündel an seine Brust. Er kletterte auf den Sims, und der Rauch bauschte sich um ihn wie ein dicker grauer Mantel. Es gab keine Möglichkeit hinabzuklettern, dafür war es zu hoch. Mit der freien Hand bedeutete er den Männern unter ihm eindringlich, näher heranzutreten, und sie nahmen geschlossen Aufstellung. Dann hob er das Bündel behutsam von seiner Brust und ließ es fallen.

Jemand fing es auf. Der Junge war in Sicherheit. Jubel brandete auf. »Ihr Sohn! Mr. Aislabie! Ihr Sohn ist gerettet!«, rief jemand.

In diesem Augenblick schlugen neue Flammen durch das Fenster und umfingen Jack Sneaton. Er stieß einen lauten Schrei aus und fiel vom Sims zwei Stockwerke in die Tiefe.

»Jack!« Harry stürzte nach vorn, um seinem Freund zu Hilfe zu kommen, und vergaß Molly in seiner Eile völlig. Sie konnte Jack nicht erkennen, doch sie sah, wie die Männer versuchten, die Flammen mit ihren Mänteln zu ersticken, und wie ein Mann mit einem Eimer Wasser herbeistürmte. Und sie hörte Schreie.

Molly blickte sich verstohlen um. Niemand wusste, was sie getan hatte. Sie war bloß ein weiteres Dienstmädchen, das Opfer dieser Tragödie geworden war. Die Menge drängte vorwärts, denn alle wollten sehen, ob der Held des Tages den Sturz überlebt hatte. Mr. Aislabie hielt weinend seinen neugeborenen Sohn in den Armen. Und Molly stand allein und vergessen inmitten des Tumults, während Menschen um Hilfe riefen und Männer noch mehr Wasser herbeischleppten.

Sie trat einen Schritt zurück. Dann wagte sie einen zweiten.

Niemand hielt sie auf.

Niemandem fiel auf, dass sie vorhatte zu verschwinden.

Wie betäubt und halb blind vom Rauch wankte sie schließlich davon. Nachdem sie die Menge der Schaulustigen hinter sich gelassen hatte, erschien es ihr auf der Straße unheimlich still. Traumverloren schlich sie an dem steinernen Wachturm am Rande des Platzes vorbei.

Hinter dem Red Lion Square befand sich eine dunkle Gasse. Sie war zu eng für die großen Fuhrwerke und zu schmutzig und schändlich für die bessere Gesellschaft. Hier wurde die wöchentliche Kohlefuhre angeliefert und der Unrat abgeholt. Und hier stolperte nun auch Molly Gaining ihres Weges, die schweren Taschen voller Schmuck und Goldmünzen. Wie lange würde es dauern, ehe ihr Verschwinden auffiel? Wie weit konnte sie kommen, wohin sollte sie gehen?

Mittlerweile hatte sie die Rückseite von Mr. Aislabies Haus erreicht, die genauso lichterloh brannte wie die Vorderseite. Niemand hatte daran gedacht, das Feuer auch von hier aus zu löschen. Vielleicht gab es aber auch nicht genügend Männer, die zu entbehren waren. Die Flammen begannen bereits, auf das Dach des Nachbarhauses überzugreifen. Sie dachte an das Große Feuer, das London heimgesucht hatte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass es tagelang in den Straßen gewütet hatte.

»Ich wollte doch niemandem weh tun«, flüsterte sie den Flammen und dem Rauch zu. Die Leere war zurückgekehrt, diese Aushöhlung tief in ihrer Brust. Sie ahnte noch nicht, dass sie dieses Gefühl nie wieder loswerden würde.

Sie starrte auf das Haus, das sie zerstört hatte, als sie mit einem Mal einen Blick auf ein kleines, blasses Etwas in einem der Fenster im Erdgeschoss erhaschte.

Und Molly wusste, worum es sich handelte. Sie wusste es einfach.

Erlösung.

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Siebenundzwanzig Jahre später

Der erste Tag

Kapitel eins

John Aislabie steckte in Schwierigkeiten.

»Ich fürchte um mein Leben«, schrieb er am 22. Februar in einem Brief an die Königin. Und als er auf seinen ersten Brief keine Antwort erhielt, versuchte er es am 6. März erneut.

Er erinnerte Ihre Hoheit an die außergewöhnlichen Dienste, die er ihrethalben geleistet hatte, und an die Opfer, die er gebracht hatte, um sicherzustellen, dass die Ehre der königlichen Familie – und somit auch jene der Krone höchstselbst – gewahrt blieb. Dabei unterstrich er die Worte Ehre und Krone, sodass seine Drohung nicht ungehört verhallte. Nur ein äußerst entschlossener Mann wagt es, der königlichen Familie zu drohen. Entschlossen und verzweifelt.

Die Königin gab bereits eine Woche später Antwort. »Wir entsenden einen jungen Gentleman nach Yorkshire, dass er sich der Angelegenheit annehme. Wir wünschen nicht, erneut von Ihnen zu hören.«

Es war ein untrügliches Zeichen dafür, wie schlecht es um Mr. Aislabies Ansehen am königlichen Hof bereits bestellt war, dass es sich bei besagtem jungen Gentleman ausgerechnet um mich handelte.

 

»Mr. Hawkins?« Der Kutscher sprang vom Bock, und seine Stiefel kamen mit einem dumpfen Poltern auf den Pflastersteinen auf.

Ich zog die Hände aus den Taschen und nickte ihm zur Begrüßung zu. Ich war am Tag zuvor spätabends in Ripon angekommen und hatte mir ein Zimmer im Royal Oak genommen, anstatt die letzten Meilen zu Aislabies Haus in der Dunkelheit zurückzulegen. Heute Morgen nach dem Frühstück hatte ich schließlich Nachricht von meiner Ankunft ausgesandt. Die Kutsche aus Studley Hall war innerhalb einer halben Stunde hier gewesen. Offensichtlich konnte es mein Gastgeber kaum erwarten, mich zu empfangen.

Eine Ehre, die ich ihm leider nicht erweisen konnte.

Ich war auf Geheiß von Königin Caroline nach Yorkshire gereist, die ihren unumstößlichen Befehl als Wohlwollen getarnt hatte. Es wäre doch über die Maßen angenehm, non? Ein kurzer Ausflug aufs Land? Die Möglichkeit, sich vom Ungemach der letzten Wochen zu erholen? Frische Luft und lange Spaziergänge? Und das von einer Frau, die sich kaum jemals von ihrem Kanapee erhob. Ich lehnte das Angebot ab. Also sprach sie eine offene Drohung aus. Und so bereitete ich mich nun – gegen meinen Willen – auf ein Treffen mit dem meistgehassten Mann Englands vor.

John Aislabie war Schatzkanzler gewesen, als vor acht Jahren die große Südseeblase platzte. Er hatte das Programm ins Parlament eingebracht, und auf sein Betreiben hin investierten Tausende ihr Geld in Anteile der South Sea Company. Schließlich handelte es sich gewiss um ein sicheres Geschäft, nicht wahr? Immerhin hatte Mr. Aislabie auch sein eigenes Geld in die Gesellschaft investiert. Und außerdem Zehntausende Pfund aus König Georges Vermögen.

Einige verrückte Sommermonate lang schoss der Wert der Aktien tatsächlich in schwindelerregende Höhen. Lehrburschen wurden über Nacht reicher als ihre Herren, und Diener verließen ihre Dienstherren, da sie inzwischen über ein Vermögen verfügten, das sie in fünf Leben nicht hätten verdienen können. Tausende weitere beschlossen, sich dem Irrsinn anzuschließen, und so stieg der Wert der Anteile stündlich. In den Kaffeehäusern der Change Alley wurde wie von Sinnen gehandelt, und Dichter und Richter, Schneider und Schließer, Priester und Puffmütter kratzten ihr letztes Geld zusammen und beteiligten sich am landesweiten Wahnsinn.

Doch schließlich zerplatzte die Blase, wie es Blasen nun einmal gemein ist. Einige wenige Glückliche hatten rechtzeitig verkauft und konnten sich ihr Vermögen erhalten, der Rest schlitterte auf katastrophale Art ins Verderben. Wie viele sich das Leben nahmen, um sich nicht den Folgen ihrer unvorstellbaren Schulden stellen zu müssen, ist unmöglich zu sagen. Fest steht jedoch, dass die Südseeblase einer pekuniären Pestplage glich – und es war Mr. Aislabie gewesen, der die Krankheit verbreitet hatte.

Die Nation forderte brüllend Gerechtigkeit, und so wurde Aislabie der Korruption schuldig gesprochen und in den Tower geworfen. Als sich die Meute schließlich neuen Skandalen zuwandte, wurde ihm allerdings gestattet, sich heimlich nach Studley Royal in sein Landhaus zurückzuziehen. Vollkommen bankrott, wie er versicherte. Er hatte offenbar kaum genug, um seine arme Familie zu ernähren. Denn er hatte alles geopfert, um die adeligen Männer über ihm zu verschonen.

Doch niemand hörte ihm zu, und niemanden kümmerte es.

Ich war damals achtzehn Jahre alt gewesen und hatte in Oxford Theologie studiert. Ich war mit Leib und Seele dem Glücksspiel verfallen, doch ich hatte nicht genug Geld, um auf dilettantische Weise auch am Aktienmarkt mein Glück zu versuchen. Stattdessen investierte ich den Zuschuss meines Vaters lieber auf traditionelle Weise in Bordellen und Wirtshäusern. Unterdessen beobachtete ich erstaunt und auch ein wenig ernüchtert, wie zwei meiner Freunde innerhalb weniger Wochen ein schwindelerregendes Vermögen anhäuften. Einer der beiden war schlau genug, seine Anteile vor der endgültigen Zeichnung abzustoßen, was ihm einen Ertrag von zehntausend Pfund einbrachte. Der andere, ein junger Bursche namens Christopher D’Arfay, verlor alles, was er hatte. Kurz darauf trat er in die Armee ein, und ich sah ihn nie wieder. Aber ich dachte oft an ihn, als ich auf dem Weg in den Norden war. Ein Leben von Tausenden, die zerstört worden waren.

Mr. Aislabies Kutscher war ein fröhlicher, strammer Kerl namens Pugh, dessen Wangen noch die Narben einer alten Pockeninfektion trugen. Er war wohl bereits an die fünfzig, doch er packte meinen gewaltigen Handkoffer, als wäre er leer, und verfrachtete ihn schwungvoll in den Wagen. »Wir haben Sie gestern bereits erwartet, Sir.«

Ich ließ die Schultern kreisen und verzog das Gesicht, als mein Rückgrat knackte. Meine Reise hatte fünf beklagenswerte Tage gedauert, in denen ich in einer Vielzahl abgetakelter Kutschen über schlechte Straßen geholpert war, bis sich auch wirklich jeder einzelne Knochen in meinem Körper gelockert hatte. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Anfall von Rheuma hinter mir, so sehr schmerzte es. »Die Straßen waren in einem fürchterlichen Zustand«, erwiderte ich, als wäre das der einzige Grund für meine Verspätung gewesen.

Pugh grunzte mitleidsvoll. »Hab Mr. Aislabie einige Male nach London und wieder zurück kutschiert. Das Stück zwischen Leicester und Nottingham ist so erbärmlich, dass es einen beinahe umbringt. Und im Frühling ist es auch nicht viel besser als im Winter.«

»Ja, es ist tatsächlich erbärmlich.« Es liegt in der Natur langer und anstrengender Reisen, dass sie nach der Ankunft in einem langen und anstrengenden Gespräch noch einmal durchlebt werden müssen. Ein einfaches »Ich habe eine Reise gemacht. Es war fürchterlich. Aber jetzt bin ich da« genügt offensichtlich nicht.

Pugh verschnürte eine Kiste hinten an der Kutsche. Sie enthielt Bücher, Tabak, Spielkarten und Würfel. Und ein Paar Pistolen. Ich hatte sie während der Reise an meinem Gürtel getragen, für den Fall, dass wir angegriffen würden, doch ich hoffte, dass ich sie nun nicht mehr benötigen würde.

»Vor ein paar Wochen ist ein junger Gentleman auf der Straße nach Nottingham zu Fall gekommen«, fuhr Pugh fort. »Der arme Kerl hat sich den Arm und das Handgelenk gebrochen. Ich hoffe, Sie waren nicht ebenfalls in einen Unfall verwickelt, Sir?«

»Nein, keine Sorge.«

Er verstaute meine restlichen Gepäckstücke. »Das freut mich zu hören, Mr. Hawkins. Ich würde sagen, Sie haben in den letzten Wochen bereits genug erlitten.«

Ich umfasste unwillkürlich meinen Hals, ließ die Hand aber eilig wieder sinken. Vor einigen Monaten war mein Nachbar erstochen in seinem Bett aufgefunden worden – und das, nachdem ich am Tag zuvor gedroht hatte, ihn umzubringen. Während des Prozesses urteilten die Geschworenen nicht aufgrund der Beweise, sondern aufgrund meines Charakters und meiner Reputation über mich. Ich wurde schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strang verurteilt. Doch aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz hatte ich letztlich überlebt – allerdings nicht, ohne zuvor zehn lange, qualvolle Minuten am Galgen zu hängen und langsam zu ersticken, während mir Hunderttausende Schaulustige zujubelten. Seitdem litt ich unter Alpträumen: die weiße Kapuze über meinem Kopf, der Karren unter mir, der sich plötzlich vorwärts bewegte, die Schlinge, die sich um meinen Hals zuzog. All diese Schrecken suchten mich im Schlaf heim und sorgten auch bei Tag für einen dumpfen Schmerz in meiner Brust – ein Gefühl des Grauens, das ich nicht abschütteln konnte.

Ich war über die Maßen dankbar, noch am Leben zu sein. Es gab Momente, in denen die bloße Tatsache, dass ich noch auf dieser Erde weilte, mich in vollkommene Euphorie versetzen konnte – gerade so, als hätte ich drei Krüge Punsch nacheinander hinuntergestürzt. Dennoch hatte ich an jenem Tag mit der Schlinge um den Hals dem Tod ins Auge geblickt. Ich hatte die Grenze zu seinem Königreich überschritten, wenn auch nur für einige Augenblicke. Ich hegte die Befürchtung, dass mich diese Erfahrung für immer verändert hatte. Und ehrlich gesagt, fürchtete ich auch, dass der Tod immer noch hinter mir her war.

Ich hatte mich der Hoffnung hingegeben, dass meine Geschichte nicht bis in die Yorkshire Dales vorgedrungen war, denn im Laufe der Zeit hatte ich mich langsam vom nichtsnutzigen Halunken zum strahlenden Helden gewandelt – womöglich sogar zum Märtyrer. Zumindest hatten sie mich in den Londoner Zeitungen so genannt, als noch alle geglaubt hatten, ich sei tot. Ich wollte kein Held sein. Denn ein Held wurde von der Königin von England auf geheime Mission geschickt, obwohl er sich viel lieber in einem Kaffeehaus betrunken und dabei Balladen gesungen hätte.

Meine Hoffnung, unerkannt zu bleiben, wurde allerdings bereits beim Frühstück zunichtegemacht, als die Dienstmagd, die mir das Essen servierte, mich bat, meinen Hals berühren zu dürfen. Sie glaubte, es würde ihr Glück bringen. Ich scheuchte sie aus dem Zimmer, aber es war eine bedrückende Erfahrung gewesen.

Hätte sie dich gebeten, deinen Schwanz berühren zu dürfen, würdest du dich jetzt gewiss nicht so bedrückt fühlen.

Kittys Stimme in meinem Kopf.

»Können wir los?«

»Ja, Sir«, erwiderte Pugh und deutete mit einem Nicken in Richtung Wirtshaus. »Wenn Sie noch Ihre Frau rufen würden?«

Meine Frau. Womit er Kitty meinte, die weder meine Frau noch in Hörweite war. Um Kittys Ansehen zu wahren und einen angemessenen Empfang auf Studley Hall zu gewährleisten, hatte ich Mr. Aislabie vorab in einem Brief mitgeteilt, dass mich meine Frau, Mrs. Catherine Hawkins, auf meiner Reise begleiten werde. Wie wunderbar ehrenwert das doch klang. Unglücklicherweise hatte ich weder die Zeit gehabt noch den Wunsch verspürt, ihm erneut zu schreiben, um ihm mitzuteilen, dass meine Frau und ich uns in Newport Pagnell fürchterlich in die Haare geraten waren, was zu Mrs. Hawkins’ umgehender Rückkehr nach London geführt hatte.

»Verpiss dich!«, hatte sie mitten im Gastraum gebrüllt. »Verpiss dich nach Yorkshire, aber gib nicht mir die Schuld, falls du dort auf furchtbare Weise draufgehst. Erstochen, verbrannt, erdrosselt oder zerstückelt. Ich werde nicht um dich trauern. Nicht eine Sekunde lang. Ich werde auf deinem Grab tanzen und dabei singen: ›Ich hab’s dir ja gesagt, Thomas Hawkins, du verdammter Idiot.‹ Darauf kannst du dich verlassen.«

»Mrs. Hawkins musste in einer wichtigen Angelegenheit nach Hause zurückkehren.«

»Tut mir leid, das zu hören, Sir. Dann reisen Sie also alleine?«

Nun, nicht ganz. Eine dunkle Gestalt glitt hinter einem mit Lumpen beladenen Karren hervor. Der Junge trug ein Paar alte, schlammig braune Beinkleider und einen schwarzen Mantel, dessen Ärmel ihm bis über die Handgelenke reichten. Tatsächlich war es mein schwarzer Mantel, der ihm mehrere Zentimeter zu lang war. Seine schwarzen Locken waren mit einem Band zusammengebunden und steckten unter einem ramponierten Dreispitz.

»Ja, wer ist denn das?«, fragte Pugh und beugte sich zu Sam hinab, als wäre er ein kleines Kind. Ich hatte denselben Fehler gemacht, als ich ihm das erste Mal begegnete. Dem Jungen aus St. Giles, der Dunkelheit entsprungen und kleiner, als er sein sollte.

Sams Augen – schwarz und unergründlich tief – fixierten mich.

»Das hier ist Master Samuel Fleet.« Sohn eines Bandenführers, Neffe eines Auftragsmörders und mit vierzehn Jahren auf dem bestem Weg, eine tödlichere Gefahr darzustellen als beide zusammen. »Ich bin sein Vormund.«

Nun, jemand musste doch ein Auge auf ihn haben.

 

Der Marktplatz war voller Buden für den donnerstäglichen Markt, und ein warmer, beißender Geruch nach Wolle und Schafsfell erfüllte die Luft. Die Händler und Kunden erkannten unsere Kutsche sofort und traten eilig beiseite. Mr. Aislabies Ansehen schien hier in seiner Heimat bedeutend höher. Er war vor vielen Jahren einmal Bürgermeister der Stadt Ripon gewesen, und sein Sohn vertrat die Stadt als Abgeordneter im Parlament. Solche Dinge brachten einem Mann Respekt, wenn nicht sogar Liebe ein.

Bald darauf hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und holperten eine Landstraße entlang, die von dichten Hecken gesäumt war. Bei der Kutsche handelte es sich um einen eleganten, offenen Wagen, der von den vier besten Pferden gezogen wurde, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Sonne ließ das rotbraune Fell der Tiere glänzen, während sie in Richtung Studley Hall, Mr. Aislabies Landsitz, trabten. Anscheinend kannten sie den Weg und genossen die Ausfahrt. Pugh nannte ihre Namen und auch die Namen ihrer Väter und hätte wohl so weitergemacht, hätte ich ihn nicht mit einer Frage über das Wetter unterbrochen. Er war der Stallmeister auf Studley und kannte den Stammbaum der Pferde vermutlich besser als seinen eigenen. Er war ein redseliger Geselle, und ich begriff schnell, dass eine Antwort weder erwartet noch sonderlich geschätzt wurde. Er sprach, wie manche Männer vor sich hin pfiffen, und es schien am besten, ihn dabei in Ruhe zu lassen.

Also lehnte ich mich zurück und genoss den Sonnenschein. Insekten summten im Gras, Sperlinge bearbeiteten den Boden mit ihren kurzen Schnäbeln, und in den Ästen über uns saß eine Amsel und sang uns ihr Lied. Nach allen Seiten erstreckten sich, so weit das Auge reichte, Felder auf sanften Hügeln, gesäumt von niedrigen Steinmauern und Hecken. Eine herrliche, frühlingsgrüne Landschaft, die bis zum Horizont reichte.

Sam hockte auf der gegenüberliegenden Bank und betrachtete die Umgebung mit misstrauischem Blick, als würde sie sich jeden Augenblick erheben und ihn verschlingen. Ich war an der Küste Suffolks inmitten kleiner Dörfer und unter endlosem Himmel aufgewachsen. Sam hingegen war in London geboren, wo er auch seine Kindheit verbracht hatte, und er fühlte sich in dem Gestank und dem Durcheinander der heruntergekommensten Viertel der Stadt am wohlsten. Er kannte jede diebische Gasse, jeden verderblichen Ginladen und jeden verlassenen Keller, der vorübergehend als Bordell diente. Er gehörte zum Gesindel, und er war stolz darauf.

Eine dicke Hummel flog summend zwischen uns hin und her, und Sam erstarrte – ein Junge, der, ohne mit der Wimper zu zucken, auf ein Messer hinabblicken konnte, das ihm auf die Brust gesetzt wurde. »Die tut dir nichts.« Ich murmelte die Worte, um ihn vor Pugh nicht in Verlegenheit zu bringen. Sam zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, selbst wenn ihn die Hummel mehrmals ins Gesicht stäche, doch er wirkte einigermaßen erleichtert, als sie davonflog.

Auf unserer langen Reise nach Norden war Sam jeden Morgen vor mir in die Kutsche geklettert und hatte sich mit dem Rücken zu den Pferden und somit gegen die Fahrtrichtung niedergelassen. Das kam uns beiden zupass, denn hätten wir nebeneinandergesessen, wären wir bei jeder scharfen Kurve aneinandergekracht. Dennoch schien seine Platzwahl seltsam durchdacht, sodass ich schon bald einen tieferen Beweggrund dahinter vermutete. So etwas tat Sam nicht aus einer plötzlichen Laune heraus.

Am Tag meiner Hinrichtung hatte man mich, in Ketten geschlagen, auf einen offenen Karren gesetzt und durch die Straßen gezogen. Verurteilte Verbrecher werden stets gegen die Fahrtrichtung zum Galgen gekarrt. Die Reise war schrecklich gewesen: die Menschenmengen entlang der Straßen; der Matsch, der auf den Karren geschleudert wurde; der Hass, der in der Luft lag. Und dazu noch meine eigene Angst, die mir die Kehle zuschnürte. Wir alle gehen unserem Tod blind entgegen, doch dem Gefühl, dass er mit jeder Umdrehung der Räder ein Stück näher rückt, wohnt ein unvorstellbarer Schrecken inne.

Schon die Fahrt auf einer Kutsche reichte aus, um mich in Sekundenschnelle wieder an jenen Morgen zurückzuversetzen, und offenbar hatte Sam genau das gespürt und sich für den Platz gegen die Fahrtrichtung entschieden, um mir diese Erfahrung zu ersparen. Ich hatte keine Ahnung, woher er wusste, was ich tief im Innersten fühlte – und es hatte auch keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Ich konnte mich glücklich schätzen, wenn der Junge in fünfzig Meilen zehn Worte mit mir sprach. Aber wir waren nun vier Tage ohne jemandes Gesellschaft unterwegs und hatten uns dabei ständig im Blick, während die Kutsche über die Straßen holperte. Womöglich hatte er die Wahrheit einfach in meinen Augen gelesen. Es war ein beunruhigender Gedanke, dass er mich so genau beobachtete.

Du kannst ihm nicht trauen, Tom. Schon wieder Kittys Stimme in meinem Kopf. Du weißt doch, was er ist.

 

Wir waren kaum eine Viertelstunde unterwegs, als ich bereits die Grenzmauer vor mir sah, die sich, etwa drei Meter hoch, bis in die Ferne erstreckte. Die Pferde zogen nun schneller und waren so erpicht drauf, bald nach Hause zurückzukehren, dass keine Peitsche mehr vonnöten war. »Ist das hier Mr. Aislabies Anwesen?«

Pugh wandte sich auf dem Kutschbock um. »Ein Teil davon. Und es heißt Aizelbie, Sir.« Ich hatte es französisch ausgesprochen. Ailabie.

Ich vergrub mich tiefer in meinem Mantel. Der Morgen war sonnig, doch es wehte ein scharfer Ostwind. Sam hatte sich auf seine Hände gesetzt, um sie warm zu halten. Wir waren wahrlich verweichlichte Städter.

»Kommen wir auch an Fountains Abbey vorbei?« Ein anderer Gast im Wirtshaus hatte das uralte Kloster beim Nachtmahl erwähnt. Dem – zugegeben etwas voreingenommenen – Wirt zufolge war Fountains Abbey eine der größten und prächtigsten Ruinen des Landes. Und sie wurde natürlich auch von einem Geist heimgesucht.

»Nein, Sir«, erwiderte Pugh und verfiel mit einem Mal in Schweigen.

Wir fuhren durch ein winziges Dorf namens Studley Roger. Sam zog seine Hände unter dem Hintern hervor und klammerte sich an den Rand der Kutsche, während er sich sämtliche Details einprägte. Die Größe der Fenster, die Form der Kamine. Die Haustüren, die geöffnet blieben, um frische Luft ins Haus zu lassen. Ein paar matschige Straßen. Aber nichts, was uns an zu Hause erinnerte. Und keine Schenke, wie ich enttäuscht feststellte. Kein lautes Kaffeehaus, die Luft voller Pfeifenrauch und die druckfrische Zeitung auf dem Tisch.

»Zweites Haus links. Wie viele Gänse im Garten?«

Sam blinzelte. »Sieben.«

Es war ein Spiel, mit dem wir uns während unserer Reise vergnügt hatten. Zumindest hatte ich mich damit vergnügt, und Sam hatte sich mir ergeben. Er war dazu erzogen worden, seine Umgebung ständig im Auge zu behalten. In den anrüchigen Vierteln der Stadt lauerten hinter jeder Tür Gefahren – aber auch besondere Gelegenheiten. Die richtigen Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen, konnte für einen Jungen ein gutes Nachtmahl bedeuten oder ihm sogar das Leben retten. Dennoch vermutete ich, dass Sam über eine ganz besondere Beobachtungsgabe verfügte, die ihm bereits von Geburt an zu eigen war. Sein Gehirn arbeitete sehr viel präziser als meines – und auch als das der meisten anderen Leute, wo wir schon dabei sind.

Wir hielten vor einem Eisentor mit Wappen, das von zwei Steinhäuschen eingerahmt wurde. Ein alter Mann eilte aus einem der beiden Unterstände und schwenkte den Hut zum Gruß, während er das Tor öffnete. Wir fuhren im flotten Trab eine mit Eichen gesäumte Straße entlang. Die dicken Äste reichten bis über unsere Köpfe, sodass ein Gewirr aus Schatten auf uns fiel. Die Sonne, abgemildert durch die Blätter, tauchte unsere Haut in ein sanftes, grünes Licht.

Ich warf Sam ein Lächeln zu, denn die Äste erinnerten mich an den Krähenhorst von St. Giles, wo die Dächer der Häuser durch Planken und Leitern miteinander verbunden waren, sodass sich ein eigenes Netz an geheimen Wegen über das Viertel spannte. »Wie zu Hause.«

Er verzog ablehnend das Gesicht.

»Mr. Aislabie hat vor, die Bäume zu fällen«, erklärte Pugh und deutete auf die Eichen. »Linden sind für eine Allee besser geeignet, denn sie wachsen gerade. Die hier sind viel zu knorrig.« Als wir den höchsten Punkt erreicht hatten, hielt er die Pferde an. »Wenn Sie sich vielleicht umdrehen wollen, Sir.«

Ich wandte mich um, und ein herrlicher Anblick eröffnete sich mir. Die langgezogene Eichenallee führte geradewegs zurück zum Eingangstor, und man sah das dahinterliegende Tal und schließlich die Stadt Ripon, die sich über zwei benachbarte Hänge erstreckte. Aufgrund einer optischen Täuschung erschien es so, als müsste man nur die Hand ausstrecken, um sie zu fassen. Die Allee war so angelegt, dass die Kathedrale den krönenden Abschluss darstellte.

Pugh lächelte und wartete offensichtlich auf ein angemessenes Kompliment, als wäre er höchstselbst für diesen Ausblick verantwortlich.

»Wundervoll«, sagte ich schließlich pflichtschuldig.

Er grinste. »Das schönste Anwesen Englands. Und ganz Europas, wenn Mr. Aislabie erst einmal fertig ist.«

Ich fragte mich, wie Mr. Aislabie für all die Verschönerungen aufkam. War er denn nicht bankrott? Womöglich war er ja auf eine Wunderlampe gestoßen.

Wir bogen nach rechts auf einen Kiesweg, der bereits von den zu bevorzugenden Linden gesäumt wurde. Der Weg wurde immer steiler, und die Pferde stemmten sich in ihr Geschirr. Als wir oben angekommen waren, reckte ich den Hals, um einen ersten Blick auf das Haus zu erhaschen.

Ich hatte mir einiges an Pracht erwartet. Ein riesiges Herrenhaus in diesem neumodischen, palladianischen Stil. Die Aussicht hatte etwas Derartiges versprochen. Die Lindenallee hatte es angekündigt. Doch Studley Hall war ein äußerst unscheinbares Gebäude, das kaum erwähnenswert erschien. Während sich an der Vorderseite ein prachtvolles Wildgehege erstreckte, wurde der Rest des Hauses von dem dichten Wald, der es umgab, beinahe erdrückt. Das ursprüngliche Gebäude mit dem ausladenden, bogenförmigen Eingang und den hohen Fenstern war früher vermutlich ein Banketthaus gewesen. Es schien mindestens dreihundert Jahre alt und hätte dringend einer Renovierung bedurft. Im Laufe der Zeit war das Gebäude um weitere Flügel erweitert worden, ohne dass man jedoch auf Proportionen oder Symmetrie Rücksicht genommen hätte.

Bald darauf wurde mir klar, warum Mr. Aislabie zugelassen hatte, dass sein Haus in einen derart beklagenswerten Zustand geraten war. Etwas weiter links und etwa dreißig Meter vor dem Haupthaus war ein ganzer Haufen Männer mit der mühevollen Errichtung eines neuen Gebäudes beschäftigt. Von schweren Arbeitspferden gezogene Karren rollten hin und her, und auf der fertigen Fundamentplatte stand ein großer, schwitzender Mann und fluchte lautstark in Richtung der Arbeiter.

Aislabie ließ sich offensichtlich ein neues Haus bauen, das besser zu seinem gewaltigen Anwesen passte, denn es war bereits zu erkennen, dass es ebenfalls sehr weitläufig werden würde. Ich runzelte die Stirn, als wir an der Baustelle vorbeifuhren. Lärm, Schmutz und eine verdorbene Aussicht, und das alles nur dreißig Meter von dem Ort entfernt, an dem ich mich heute Nacht zur Ruhe begeben würde. Der Bauführer fing meinen Blick auf und entgegnete ihn ebenso missmutig, wobei er die Arme über seinem fetten Bauch verschränkte.

Pugh hielt die Kutsche unmittelbar vor der Haupteingangstreppe an. Sam sprang sofort hinaus und kam beinahe lautlos auf dem Kies auf. Auch aus der Nähe betrachtet machte das Haus keinen besseren Eindruck. Die Fensterrahmen bedurften eines neuen Anstrichs, nachdem der Frost des Winters ihnen anscheinend ordentlich zugesetzt hatte, und das Dach war in einem wahrlich bemitleidenswerten Zustand. Ich zerbrach mir den Kopf, was ich Nettes über das Haus sagen konnte.

»Reizend.«

Pugh warf zuerst einen Blick auf mich und dann auf das Haus, als sähen wir nicht dasselbe Gebäude.

Die Eingangstür zum großen Saal schwang auf, und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Eine seiner Schultern hing seltsam nach unten. »Guten Tag, Sir«, rief er die Treppe hinab und klammerte sich am Türrahmen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als er ins Freie humpelte, sah ich, dass er das rechte Bein verloren hatte und stattdessen ein Holzbein trug. Ich eilte ihm entgegen, um ihn zu begrüßen, und konnte gerade noch verhindern, dass ich vor Entsetzen nach Luft schnappte.

Sein ganzes Gesicht war verbrannt. Die rechte Seite hatte den größten Schaden davongetragen und war von einem dicken Netz an Narben überzogen, die sich über seinen Hals bis unter seine Krawatte erstreckten. Sein rechtes Auge war erblindet und die Iris nur noch verschwommen grau, und seine rechte Hand war ebenfalls arg in Mitleidenschaft gezogen und bis auf den Daumen und den Zeigefinger verkrüppelt.

Ich bemühte mich redlich, ihn nicht anzustarren, doch es war unmöglich, das nicht zu tun. Es musste ein schrecklicher Unfall gewesen sein, der solche Verletzungen nach sich gezogen hatte. Der Mann selbst blieb vollkommen ruhig – offensichtlich war er diese Wirkung auf Fremde gewöhnt. Als ich mich so weit gefangen hatte, um mich bei ihm vorzustellen, neigte er den Kopf.

»Willkommen auf Studley Hall.« Seine Stimme war leise und klang gebrochen und rauh. Er hörte sich an wie ein niederträchtiger, erbärmlicher Schurke.

Ich folgte ihm in die Eingangshalle, die früher wohl als Bankettsaal genutzt worden war. Der Raum war zwei Stockwerke hoch und verfügte über eine Stuckdecke, doch die vergitterten Fenster sperrten die Frühlingssonne aus, und der riesige Steinkamin war nicht beheizt. »Danke, Mr. …«

»… Sneaton. Wenn Sie mir bitte folgen würden? Mr. Aislabie wartet bereits.« Er stammte offensichtlich aus dem Süden und sprach den Namen anders aus als Pugh: Aizlabie anstatt Aizelbie. Also wirklich, wenn sich schon die Dienerschaft nicht einigen konnte, wie der Name ihres Herrn auszusprechen war, welche Hoffnung durfte ich mir diesbezüglich machen?

»Vielleicht sollten wir zuerst noch unser Gepäck …« Ich deutete auf die Kutsche, denn ich hegte die Hoffnung, mich vorher noch ein wenig in meine Gemächer zurückziehen zu können.

Ein etwa fünfunddreißigjähriger Kerl mit missmutigem Gesicht eilte an uns vorbei auf die Kutsche zu. Er trug einen grünen Samtmantel, makellos weiße Strümpfe und eine sorgsam gepuderte Perücke. Der Butler, wie ich annahm. Zwei jüngere Lakaien folgten ihm eifrig. Auch sie traten in derselben Aufmachung auf, wenn auch etwas weniger elegant. Augenblicke später eilten die drei Männer mit meinen Koffern auf dem Rücken durch die Halle. Oder besser gesagt, die beiden Lakaien trugen mein Gepäck, während der Butler gebieterisch hinter ihnen herschritt, als spielte in seinem Kopf eine Fanfare, während er von dannen zog.

»In den Westflügel, Bagby«, rief Sneaton der Person mit dem königlichen Auftreten schroff hinterher. »Ins Eichenzimmer.« Bagby ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Stattdessen eilte er die Treppe hinauf und an einem großen, ausgebleichten Wandteppich vorbei und war gleich darauf verschwunden.

Sam hatte das rege Treiben genutzt, um den Raum auf seine ihm eigene Art zu betreten: unbemerkt. Er stand mit dem Rücken zu uns und starrte zu den Hirschgeweihen und den Waffen – den Schwertern, Musketen und Pistolen – empor, welche die hochaufragenden Steinwände schmückten.

Sneaton, der ihn offensichtlich jetzt erst bemerkt hatte, zuckte bei seinem Anblick überrascht zusammen. Sam hatte die verstörende Fähigkeit, mit der Umgebung zu verschmelzen, und Sneaton war nicht der Erste, den er damit überraschte. »Ihr Kammerdiener?«, fragte er ungläubig.

Waren es die nicht zusammenpassenden Kleider, die sein Misstrauen erregten? Oder die schwarzen Locken, die sich trotzig gegen sämtliche Perücken zur Wehr setzten? Oder spürte Sneaton womöglich etwas, das tiefer reichte als diese augenscheinlichen Bagatellen?

»Mein Mündel.«

Sam streckte die Hand aus und strich mit dem Finger über die Abschussvorrichtung einer alten Muskete. Sneaton runzelte die Stirn. Meine offensichtliche Lüge brachte ihn aus der Fassung, doch er war sich offenbar nicht sicher, wie er sich dazu verhalten sollte. Während er versuchte, hinter dieses Rätsel zu kommen, trat ich neben Sam. »Mach dich auf den Weg zu unseren Gemächern«, flüsterte ich. »Und sieh dich wenn möglich gleich noch ein wenig um.«

Sam schlüpfte die Treppe hoch.

Ich folgte Sneaton in ein Gesellschaftszimmer mit durchhängenden roten Samtsofas und vergoldeten Beistelltischen. In einer Ecke stand ein Cembalo, dessen Deckel mit dem klassischen Motiv der an einem Bach tanzenden Nymphen verziert war. An den Wänden hingen Familienporträts mehrerer Generationen. Das eleganteste prangte über dem weißen Marmorkamin und zeigte einen jungen Mann in einem braunen Samtmantel. Er strahlte Selbstvertrauen und Stärke aus und lächelte ungezwungen, als wäre er mit der Welt im Einklang und auch ein wenig stolz auf sich selbst. Neugierig blieb ich vor dem Gemälde stehen.

»Mr. Hawkins«, drängte mich Sneaton, der mittlerweile ein wenig keuchte.

»Ist das hier Mr. Aislabie?«

»Ja. Das Bild entstand vor dreißig Jahren.« Seine verkrüppelte Hand schwebte über meinem Ellbogen. »Bitte, Sir. Er kann es kaum erwarten, Sie zu empfangen.«

Ich folgte ihm in einen schmaleren Flur. »Ist denn etwas vorgefallen, Mr. Sneaton?«

Er klopfte an die Tür von Mr. Aislabies Studierzimmer. Sein Gesicht unter dem Netz aus Narben wirkte mit einem Mal ernst. Das eine Auge war blind, das andere brannte vor Zorn.

»Ja, Mr. Hawkins, es ist in der Tat etwas vorgefallen. Etwas Teuflisches.«

Kapitel zwei

Ich roch das Blut, kaum dass ich den Raum betreten hatte. Die Luft war davon geschwängert. Vor einigen Monaten war ich in meiner Zelle aufgewacht und musste feststellen, dass in dem Bett neben mir ein Mann ermordet worden war. In Aislabies Studierzimmer herrschte derselbe Gestank: der unverwechselbare Geruch eines gerade erst getöteten Lebewesens.

»Mr. Hawkins. Sie kommen spät, Sir. Ich hätte Sie bereits heute Morgen gebraucht.« Aislabie stand hinter einem mit Rechnungen und anderen Unterlagen übersäten Schreibtisch. Er war ein großer, gepflegter Gentleman mit exzellentem Gebaren. Er hatte den Blick aus dem offenen Fenster gerichtet und beobachtete die schuftenden Männer, die sein Haus bauten. In seinem Profil erkannte ich den jungen Mann aus dem Porträt im Nebenzimmer wieder, auch wenn er älter geworden war – dasselbe hagere Gesicht und dasselbe Kinngrübchen. Seine Kieferpartie war ein wenig weicher und seine Augenbrauen bereits grau, doch in Anbetracht seiner mittlerweile sechsundfünfzig Jahre hatte es die Zeit offensichtlich gut mit ihm gemeint.

Vor dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes befand sich ein aufgebockter Tisch. Darauf lag ein ausgestreckter, etwa zwei Meter langer, lebloser Körper. Jemand hatte ein Bettlaken darübergebreitet, das jedoch bereits blutdurchtränkt war. Ich ließ den Blick darübergleiten.

Draußen erklang ein aufgebrachter Schrei, dann das Rumpeln von Steinen, die von einem Karren polterten. »Dämlicher Drecksack!« Die Worte drangen ins Zimmer, obwohl der Mann etwa dreißig Meter entfernt war. »Du hättest mich beinahe umgebracht, du verdammter Idiot!«

Aislabie atmete tief durch die Nase ein und wandte sich dann an mich. Seine Augen waren groß und dunkel, und er taxierte mich mit einem schnellen Blick vom Scheitel bis zu den Silberschnallen an meinen Schuhen. Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie aufeinander. »Wie alt sind Sie?«

»Spielt das denn eine Rolle?« Angesichts seiner sehr unhöflichen Begrüßung sah ich keine Notwendigkeit, ihm meinerseits höflich zu begegnen. Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die blutdurchtränkten Laken. Das Lebewesen darunter war noch nicht lange tot. Das Fleisch war noch frisch und stank nicht.

»Fünfundzwanzig. Allerhöchstens«, murmelte Aislabie.

Tatsächlich war ich sechsundzwanzig. Ich hatte meinen Geburtstag entlang des Weges mit ein paar Flaschen Rotwein gefeiert, voller Staunen darüber, dass ich so lange überlebt hatte. »Das Alter, in dem Sie ins Parlament eintraten, Mr. Aislabie.«

Ich hielt mich an Sneatons Aussprache – Aizlabie – und legte Wert darauf, das Wort Mister besonders zu betonen. Aislabies öffentliche Schmach hatte dafür gesorgt, dass er niemals einen Adelstitel verliehen bekommen würde. Er biss die Zähne aufeinander. Vielleicht war es aber auch, weil ich seine Zeit im Parlament angesprochen hatte. Alte Schmach und alter Groll, die noch immer unter der Oberfläche brodelten.

Ich deutete mit dem Kopf auf den aufgebockten Tisch und das blutige Laken. »Was ist das?«

Seine Nasenflügel bebten angewidert. »Eine wahre Greueltat.«

»Es wurde heute früh vor der Treppe abgelegt«, erklärte Sneaton. Er begann, das Laken zurückzuschlagen, doch dann hielt er inne, das Leinen in seiner verkrüppelten Hand. »Sie fallen doch nicht wie ein Weib in Ohnmacht, wenn es um Blut geht, nicht wahr, Mr. Hawkins?«

Wie ein Weib. Ich sah Kitty vor mir, die jubelnd am Rand der Hahnenkampfarena stand, während sich die Hähne mit ihren silbernen Spornen gegenseitig in Stücke rissen.

»Es ist kein schöner Anblick«, fügte er hinzu und zuckte im selben Augenblick zusammen. Offensichtlich war ihm gerade bewusst geworden, wie seltsam etwas Derartiges aus dem Mund eines Mannes klang, der selbst vollkommen entstellt war.

»Wenn Sie bereit sind, bin ich es auch«, erwiderte ich.

Sneaton schlug das Laken etwas zurück, und darunter kamen eine rotbraune Keule und ein eleganter schwarzer Lauf zum Vorschein. Eine Hirschkuh. Ich atmete erleichtert aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unbewusst den Atem angehalten hatte. Ich hatte bei weitem Schlimmeres erwartet. Wie schnell kamen mir in diesen Tagen doch Mord und Totschlag in den Sinn.

Am Bauch des Tieres war der Blutverlust wohl am größten gewesen, und das Laken klebte an der Wunde. Sneaton schob seine Hand darunter, um es zu lösen.

Die Hirschkuh war von der Kehle weg über den gesamten Bauch bis zu den Hinterläufen aufgeschlitzt, und die Innereien waren entfernt worden, doch an ihrer statt hatte jemand etwas in die Bauchhöhle gestopft.

Ich schlug eine Hand vor den Mund. Das Tier war trächtig gewesen.

Ich beugte mich nach vorn und zwang mich, mir die Sache genauer anzusehen. Das Hirschkalb war aus dem Bauch seiner Mutter geschnitten und dann wieder zurückgeschoben worden, und sein winziger Kopf ragte aus dem Bauch heraus – die obszöne Parodie einer Geburt. Nur noch wenige Wochen in Frieden, und es wäre auf natürliche Weise zur Welt gekommen und hätte seine ersten Schritte auf wackeligen Beinen gemacht. Es musste gelebt haben, als es aus dem Bauch seiner Mutter geschnitten worden war. Wer auch immer das getan hatte, musste es einen Moment lang im Arm gehalten und die weiche Haut und das schlagende Herz gespürt haben. Bevor er ihm den Hals umdrehte.

»Wer hat das gefunden?«

»Sally Shutt. Unser jüngstes Dienstmädchen.«

Ich rieb das Laken zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie haben ein gutes Laken verschwendet, um das Tier hier hereinzubringen.«

Er nickte in Richtung der Hirschkuh. »Sie lag bereits auf dem Laken, als wir sie fanden.«

Ich richtete mich auf. Keiner der beiden Männer schien sich der Bedeutung dieses Umstandes bewusst zu sein. Ich war mir nicht einmal sicher, ob mir Aislabie überhaupt richtig zugehört hatte. Sein Blick blieb starr auf das tote Hirschkalb gerichtet. »Darf ich fragen, welche Position Sie hier bekleiden, Mr. Sneaton?«

»Ich bin der Sekretär von Euer Ehren – und der Vorsteher der Dienerschaft. Sowohl im Haus als auch in den Gärten.«

Das hatte ich mir bereits gedacht. Aufgrund seines geschundenen Körpers war er nicht als Hausverwalter geeignet. Studley Royal war ein riesiges Anwesen, und ein Mann musste kräftig und gesund sein, um sämtliche Felder und Wälder zu Fuß im Blick behalten zu können. Dennoch war es offensichtlich, dass Aislabie Sneaton mehr als allen anderen vertraute. »Ich würde vorschlagen, Sie bitten die Haushälterin, sämtliche Laken zu zählen und nachzusehen, ob eines fehlt.«

Aislabie erwachte ruckartig aus seiner Starre. »Sie verdächtigen also jemanden aus der Dienerschaft?«

Ich zuckte mit den Schultern. Jeder konnte ein Laken aus einem der Wäscheschränke entwenden: ein Diener, ein Gast, aber auch ein Familienmitglied. »Ich brauche die Namen sämtlicher Personen, die hier auf dem Anwesen wohnen und arbeiten. Mr. Sneaton, wenn Sie so freundlich wären, mir eine Liste anzufertigen, dann können wir sie uns nach dem Essen zusammen ansehen.«

»Mr. Sneaton ist mit Verwaltungsarbeiten beschäftigt«, unterbrach mich Aislabie. »Sie müssen schon Ihre eigenen Nachforschungen anstellen, Sir – deshalb habe ich immerhin nach Ihnen schicken lassen. Wären Sie zum versprochenen Zeitpunkt erschienen, würden Sie mittlerweile wissen, dass meine Diener allesamt ehrliche und anständige Seelen sind. Hier in Studley gibt es keine nichtsnutzigen Halunken. Solche Leute kommen mir nicht ins Haus.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu, als hätte ich dieses makellose Bild gerade empfindlich gestört.

»Aber wäre es nicht am besten, Sir, wenn wir uns Offenheit in alle Richtungen bewahren?«

Aislabie schnaubte. »Das hier ist doch eindeutig das Werk eines Verrückten.«

»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte ich, auch wenn mein Tonfall klarmachte, dass ich anderer Meinung war. »Aber wenn dem tatsächlich so ist, dann suchen wir nach einem Verrückten, der weiß, wie man eine Hirschkuh ausnimmt, und der das Gewicht des Tieres auf seinen Schultern tragen oder es zumindest unbemerkt bis zur Tür karren kann. Und zwar im Schutz der Nacht, wobei er sich auch im Dunkeln auf dem Anwesen zurechtfinden muss, ohne zu Fall zu kommen und sich womöglich den Hals zu brechen.«

Zum ersten Mal bedachte mich Aislabie mit einem anerkennenden Blick. »Die Gills. Ja! Das war auch mein erster Gedanke, nicht wahr, Sneaton?«

Sneaton verlagerte sein Gewicht, um sein schlimmes Bein zu entlasten. »Eine Familie von Wilddieben«, erklärte er. »Jeb und Annie Gill. Sie besitzen einige Meilen von hier einen kleinen Hof. Und sie hatten acht Kinder, als ich das letzte Mal gezählt habe.«

»Von denen jedes einzelne zweifellos zum Halunken herangezogen wird«, murmelte Aislabie. Er war an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und suchte nach irgendwelchen Unterlagen. »Mein ehemaliger Hausverwalter heuerte Jeb Gill als Gärtner an. Wann war das, Jack? Vor etwa zwölf Jahren? Aber das war das letzte Mal. Diebe und Wilderer, alle miteinander.«

»Aber die Laken«, wandte ich ein. »Wo haben sie die denn her …?«

»Hier, das ist wohl Beweis genug.« Aislabie drückte mir ein Bündel Papiere auf die Brust. »Wilddiebe.«

Ich faltete die Blätter auseinander, und sie entpuppten sich als vier Briefe, zwei davon blutbespritzt. Ich begann mit dem obersten Brief, der gleichzeitig auch der längste war.

»Das war der erste«, erklärte Aislabie und ließ mich nicht aus den Augen.

Verdammt Aislabie, begann er.

Verdammt mit deim Stolz du Schwenebock. Du bist nichts alls n Dib.

Ich betrachtete den Brief mit zusammengekniffenen Augen. Die Schrift war furchtbar und das Papier äußerst dünn. Der Verfasser musste jedenfalls sehr wütend gewesen sein, als er die Nachricht verfasste, denn sie wies an einigen Stellen Löcher auf, wo die Feder zu stark auf das Papier gedrückt worden war. Ich würde erst etwas damit anfangen können, wenn ich mir den Brief genauer angesehen hatte. Die Ausdrucksweise und die Schreibung waren verschroben, und es war kaum eine Bedeutung des Gesagten auszumachen. Das Ende hingegen war unmissverständlich.

Wenn wir nichts vo dir hörrn sei versichert dass du stirbst und dei Körper mit Blut besudelt sei wird. Verdammt bist du.

»Sehen Sie hier«, befahl Aislabie und deutete mit seinem langen Finger auf eine der weniger zusammenhängenden Stellen. »Sie verlangen freien Zugang zu den Mooren, damit ihre erbärmlichen Schafe dort weiden können. Sie verlangen es! Es ist eine verdammte Unverschämtheit.«

Ich bemühte mich, den Satz zu entziffern.

Sir, wir erbiten nur freien Zugang zu den Mooren. S’gibt doch genug Kaninchen für all. Und Wiesn für unsre Schaf. Wir verlangen nichts mer als unsre Väter und Großväter bekommen habn.

»Sie berufen sich auf ein altes Nutzungsrecht.«

Aislabie wurde rot. »Das Land gehört mir. Ich habe es gekauft und gutes Geld dafür bezahlt. Ich zeige Ihnen die Urkunden, wenn Sie wollen …«

Ich schüttelte eilig den Kopf. Jedes Mal, wenn ich als Kind für kurze Zeit von der Schule nach Hause zurückgekehrt war, hatte mein Vater mich gezwungen, die Urkunden zu lesen und vorzutragen, die sämtlichen Familienbesitz bis zum kleinsten Stück Land und Wäldchen regelten, das wir jemals gekauft hatten. »Das hier ist dein Erbe, Thomas«, wiederholte er immer wieder, wenn ich über eine besonders schwierige lateinische Stelle stolperte. »Du musst das alles tief in deinem Herzen tragen.« Mein Gott, all die Stunden, die ich in diesem bedrückenden, staubigen Zimmer vergeudete, während draußen die Sonne vom Himmel schien und der Sommer langsam vorüberzog. Würde ich mich ernsthaft bemühen, würde ich mich gewiss noch immer an jedes verdammte Wort in diesen Urkunden erinnern, bis hin zum letzten Stück Land. Was eine Ironie des Schicksals war, denn immerhin hatte ich – nach einem unglücklichen Missverständnis in einem Bordell in Oxford – mein ganzes Erbe an meinen Stiefbruder verloren.

Ich las die zweite Nachricht, die in derselben groben Handschrift verfasst war.

Gott der Almechtige verbannt dei Seel Aiselby. Warum antwortest du nicht auf unsre Brief du schurk?

Jeder weis es gibt kein gesez für arme Leut. Aber wenn es sich nicht ändert dann nehmen wir d Sach selbst ind Hand. Sag allen das die Kirkby-Moore sind für all da oder du lebst kein einzig Monat läng. Du wirst sterbe und dei Kadaver werfn wir dei Hund vor.

»Haben Sie denn Hunde, Mr. Aislabie?«

»Natürlich habe ich Hunde«, fuhr er mich an. »Aber das ist wohl kaum von Belang, Sir.«

Ich machte mich an die dritte Nachricht, die noch kürzer gehalten war. Die Schrift war erneut kaum zu lesen, unterschied sich aber von jener der ersten beiden Nachrichten. Der dritte Brief musste also von einem Spießgesellen verfasst worden sein, es sei denn, der Schurke verstellte sich absichtlich. Auf der Rückseite der Nachricht befand sich eine Menge Blut, aber das Papier war um einiges dicker, sodass sie dennoch gut zu entziffern war.

»Die beiden ersten Nachrichten wurden an die Eingangstür genagelt«, erklärte Sneaton. »Diese hier lag vor einer Woche auf der Treppe – sie war um ein Schafherz gewickelt.«

Aislabie – deine Verbrechen müssen gesühnt werden. Deine verdammte Gier hat gute und ehrliche Familien zerstört. Unser Zorn ist unerträglich geworden, und so haben wir beschlossen, dein Haus niederzubrennen. Wir werden dabei zusehen, wie dein Fleisch und deine Knochen brennen und schmelzen und der Wind deine Asche davonträgt. Nichts wird mehr übrig bleiben. Du bist der Gerechtigkeit schon viel zu lange entkommen.

Mein Blick schoss unwillkürlich zu Sneaton, der so offensichtlich das Opfer eines schrecklichen Feuers geworden war. Dennoch schien der Brief Aislabie noch viel mehr aus der Fassung zu bringen – und wer konnte es ihm verdenken? Er hatte vor vielen Jahren seine Frau und seine Tochter bei einem Brand verloren. Gewiss war das dem Verfasser der Drohbriefe bekannt, und er hatte beschlossen, diese alte, furchtbare Tragödie wieder ins Spiel zu bringen. Die dritte Nachricht hatte etwas besonders Grausames an sich – der hämische Unterton, das fehlende Mitgefühl und die Entschlossenheit waren mit jedem Wort spürbar.

»Die letzte Nachricht war an der Hirschkuh befestigt«, erklärte Aislabie matt.

Ich zog sie hervor und las.

Aislabie, du verdammter Verräter. Das ist erst der Anfang allen Leids. Wir werden dich und deine Tochter im Schlaf brennen sehen. Du bist nicht allein, weder bei Tag noch bei Nacht. Denn wir sinnen auf Rache.

Nun verstand ich, warum es Aislabie heute Morgen so eilig hatte, mich zu empfangen, und warum ihn meine verspätete Ankunft derart verärgerte, auch wenn es sich nur um einen Tag handelte. Seine Ungeduld und seine Unhöflichkeit lagen in einem zutiefst natürlichen und überaus zärtlichen Gefühl begründet, nämlich in der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter. Und nun sah ich auch die Hirschkuh mit anderen Augen. Das Kalb war aus ihrem Bauch geschnitten und getötet worden. Die Botschaft war eindeutig: Dein Kind. Wir werden dein Kind töten. Ihr werdet zusammen sterben.

»Wo befinden sich Ihre Töchter zurzeit, Sir?«

Aislabie seufzte sichtlich besorgt. »Jane ist zu Hause in Beaconsfield bei ihrem Ehemann, und Mary besucht ihren Bruder in London.«

»Dann sind sie also in Sicherheit.«

»Ja, durchaus«, erwiderte er seltsam gedankenverloren.

Ich warf einen Blick auf Sneaton, denn ich hoffte auf eine Erklärung. Er schwieg, beobachtete seinen Herrn jedoch überaus genau. Ich las die Nachricht ein weiteres Mal. »Gibt es …«, begann ich, doch dann brach ich ab. Wie konnte ich diese Frage möglichst feinfühlig formulieren? »Gibt es womöglich noch eine dritte Tochter, Sir?«

Aislabie wirkte erstaunt, als hätte ich gerade eine schwerwiegende und unerwartete Entdeckung gemacht. Doch dann begriff er wohl, was meine Frage zu bedeuten hatte, und warf mir einen finsteren Blick zu. »Einen Bastard? Auf keinen Fall.«

»Dann vielleicht eine Tochter, die Ihre Frau in die Ehe mitgebracht hat? Oder ein Mündel? Ein Mädchen, das Sie als Ihre Tochter ansehen, wenn auch nicht aus eigenem Fleisch und Blut?« Ich hob kurz die Nachricht hoch. »Die Drohung ist sehr deutlich.«

Sneaton räusperte sich. »Euer Ehren …«

»Alles zu seiner Zeit, Sneaton!« Aislabie goss sich ein Glas Branntwein ein. Seine Hand zitterte.

Ich holte meine Uhr heraus. Es war bereits nach Mittag. Ich hätte mich jetzt mit Kitty in der Cocked Pistol zum Mittagsmahl niederlassen können – oder noch besser: Sie nach oben ins Bett scheuchen. Ich steckte die Uhr zurück in meine Tasche. »Mr. Aislabie. Ich war fünf Tage hierher unterwegs. Ich bin müde, und mein ganzer Körper schmerzt, und um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was Sie sich von mir erwarten, Sir. Was ist das für eine Sache mit Ihrer Tochter? Wären Sie so freundlich, mir die näheren Umstände zu erläutern? Oder soll ich lieber nach einer Kutsche schicken und nach Hause zu meiner Frau zurückkehren?«

Aislabie wandte sich überrascht zu mir um. »Dann hat Mrs. Hawkins Sie also nicht begleitet?«

»Sie musste nach London zurückkehren. Die Nachricht, Sir?«

Er stellte sein Branntweinglas beiseite. »Wir haben einen Gast hier auf Studley. Eine junge Witwe aus Lincolnshire. Ich hatte gehofft, dass Ihre Frau ihr Gesellschaft leisten würde. Als Konfidentin. Sie wissen ja, wie Damen sind.«

Kitty – eine Dame? Eine Konfidentin? Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut loszulachen.

»Ihr Name ist Mrs. Fairwood. Mrs. Elizabeth Fairwood. Und ich fürchte, sie schwebt in großer Gefahr.«

»Wirklich? Wie das?«

Aislabie lächelte traurig. »Weil sie meine Tochter ist, Sir. Meine Jüngste, die aus dem Grab zu mir zurückgekehrt ist.«

Ich starrte ihn bestürzt an. Seine jüngste Tochter war gemeinsam mit ihrer Mutter bei einem Brand ums Leben gekommen. Mein Blick wanderte zu Sneaton, der jenen zurückhaltenden Gesichtsausdruck zur Schau trug, um den sich jeder kluge Diener bei solchen Gelegenheiten bemühte – was bedeutete, dass er so teilnahmslos aussah, dass man beinahe glauben konnte, er hätte das eigenständige Denken für immer und ewig aufgegeben.

Aislabie streckte wie in Trance die Hand aus und legte sie auf den Kopf des toten Kalbs. Er erschauderte und zog die Hand zurück.

»Mr. Aislabie, bitte verzeihen Sie … aber ich dachte, Ihre jüngste Tochter sei vor vielen Jahren von uns gegangen.«