Der Galgenvogel - Antonia Hodgson - E-Book
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Der Galgenvogel E-Book

Antonia Hodgson

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Beschreibung

Tom Hawkins ermittelt wieder: Nach "Das Teufelsloch" begeistert die britische Erfolgsautorin Antonia Hodgson mit ihrem neuen historischen Thriller "Der Galgenvogel". London, Frühjahr 1728: Der schwefelgelb flackernde Schein rußiger Öllampen, Übelkeit erregender Gestank frisch geleerter Nachttöpfe im Rinnstein, und in den schmalen Gassen das Zischen und Fauchen schwarzer Ratten … Durch diese Straßen wird ein gut gekleideter junger Mann zum Galgen nach Tyburn geschleppt. Die Menge am Straßenrand nennt ihn einen Mörder. Er versucht ruhig zu bleiben. Sein Name ist Tom Hawkins, und er ist unschuldig. Irgendwie muss er es schaffen, das zu beweisen, bevor der Strick sich um seinen Hals legt. Natürlich ist alles seine eigene Schuld. Das Leben war gut, nachdem er dem Schuldgefängnis "The Marshalsea" entronnen war. Er hätte dem gefährlichsten Kriminellen Londons ja nicht erzählen müssen, dass er "auf Abenteuer aus" sei. Er hätte niemals der Mätresse von King George Hilfe anbieten dürfen. Und vor allem hätte er nie der scharfsinnigen und berechnenden Queen Caroline trauen sollen. Sie versprach ihm für sein Schweigen einen königlichen Straferlass – doch letztlich schweigt niemand besser als ein Toter … »Tempo und Plot lassen niemals nach, und die historischen Einblicke sind geradezu eine Offenbarung.« Daily Mail »Hier wird Geschichte zu stinkendem, prallem Leben.« Sunday Express Alle Bände der "Tom-Hawkins"-Reihe der britische Erfolgsautorin Antonia Hodgson: Band 1 - "Das Teufelsloch" Band 2 - "Der Galgenvogel" Band 3 - "Das Sündenhaus"

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Seitenzahl: 576

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Antonia Hodgson

Der Galgenvogel

Historischer Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Schwefelgelb flackernde Öllampen, Übelkeit erregender Gestank frisch geleerter Nachttöpfe im Rinnstein, und in den schmalen Gassen das Zischen und Fauchen schwarzer Ratten …Mit lebhaften Eindrücken seiner Stadt tritt der junge Londoner Gentleman Tom Hawkins die Reise zum Galgen an – und stellt sich verzweifelte Fragen: Besteht noch irgendeine Hoffnung? Wie konnte es je so weit kommen?

Inhaltsübersicht

WidmungWorte vor einer HinrichtungPrologTEIL EINSKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5TEIL ZWEIKapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12TEIL DREIKapitel 13Kapitel 14Kapitel 15TEIL VIERKapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20TEIL FÜNFKapitel 21TEIL SECHSKapitel 22Kapitel 23EpilogDer historische Hintergrund des RomansDanksagung
[home]

Für David und Chris,

obwohl ihnen das zwanzigste Jahrhundert lieber ist.

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»Ihr alle, die ihr im Armesünderkerker ruht,

macht euch bereit, denn morgen harrt Euer der Tod.«

Die Worte, die am Abend vor einer Hinrichtung

im Verlies des Newgate Prison ausgerufen wurden.

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Prolog

Niemand glaubte, dass Tom Hawkins wirklich baumeln würde. Bis zum letzten Augenblick nicht.

Gentlemen kommen nicht an den Galgen – nicht einmal solche, die des Mordes für schuldig befunden sind. Hawkins war weder ein Mann von hohem Stand noch sonderlich ehrbar, aber er stammte aus einer ehrbaren Familie. Einer guten Familie mit guten Verbindungen. Die Begnadigung würde schon kommen. Manchmal versteckte der Marshal sie in der Tasche, um sie dann mit großer Geste hervorzuzaubern, wenn die Prozession den Galgen erreicht hatte. Ein bisschen Drama für den Pöbel. Und eine Lektion – ein Gnadenakt ist immer eine Lektion.

Das redet Hawkins sich ein, während der Karren langsam aus dem Newgate-Gefängnis rollt. Die Begnadigung wird kommen. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Ich habe geschwiegen. Aber Hawkins hat den Instinkt eines Glücksspielers und spürt förmlich, wie sich die Aussichten mit jeder Umdrehung der Räder verringern.

Er hätte schon vor Stunden freigelassen werden sollen. Wenn er doch nur jemanden auf sich aufmerksam machen könnte … Doch der Marshal führt die Prozession zu Pferde an, ganz vorne, gefolgt von einem Trupp Constables mit Knüppeln in den Händen. Auf dem Marsch den Snow Hill hinauf knallen ihre Stiefel laut aufs Pflaster. Hawkins kann sie nicht einmal sehen. Er ist zum Tode verurteilt, und Verdammte wie er müssen der Vollstreckung rücklings entgegenfahren. Der Karren ist mit schwarzem Krepp behängt, und er sitzt darauf mit dem Rücken zum Zugpferd, in Eisen geschlagen, die langen Beine vor sich ausgestreckt. Er sieht nur das, woran er schon vorbeigefahren ist: die schmutzige Straße hinter ihm, die Häuser, die Menschenmenge.

Die große Glocke von St. Sepulchre ertönt, tief und schwer wie der Herzschlag des Teufels, und ruft die ganze Stadt auf die Straßen. Hinrichtungstag. Er hat diese Glocke schon viele Male schlagen hören. Auch er ist solchen Karren zum Galgen gefolgt. Er hat Männer langsam sterben sehen, blind unter einer weißen Haube. Wie ihre Beine in der Luft zuckten. Und nun ist er an der Reihe, am Strick zu tanzen, während alle Welt seinen Tod bejubelt.

Nein. Er muss ruhig bleiben. In diesem Gedränge wird die Fahrt nach Tyburn zwei Stunden dauern. Noch ist Zeit. Er hat alles getan, was von ihm verlangt wurde. Seine Loyalität, sein Schweigen werden ihn doch gewiss retten? Eine dünne Stimme zischelt in seinem Kopf: Niemand schweigt besser als ein Toter.

Er schiebt den Gedanken beiseite und richtet seine Aufmerksamkeit auf seinen Atem. Wenigstens seines eigenen Atems ist er immer noch Herr. Am Knöchel seines linken Strumpfs bemerkt er einen verschmierten Fleck. Er hält den Blick darauf gerichtet, als der Karren die Stufen vor St. Sepulchre erreicht.

Das Pferd hält unvermittelt an, und Hawkins wird erst nach vorn, dann nach hinten geschleudert. Er verzieht das Gesicht vor Schmerz, als seine Schultern gegen die scharfe Kante seines Sarges prallen. Der legt den Weg gleich mit zurück, in seinem Rücken auf dem Karren festgezurrt.

Atme.

Vier Verurteilte werden heute gehängt. Higgs und Oakley sind Straßenräuber, die ein anderes Mitglied ihrer Bande verraten hat. Mary Green wurde in flagranti ertappt, als sie in einem Laden in Spitalfields mehrere Ellen Mantua-Seide entwendete. Kirschrot, stand in den Zeitungen zu lesen, als spielte das eine Rolle. Hawkins ist der Einzige, der wegen Mordes verurteilt wurde. Ihn will die Menge sehen. Selbst mit gesenktem Kopf spürt er, wie sie ihn anstarren. Leute drängen sich in jedem Fenster, säumen die schmalen Straßen in mehreren Reihen und sind kurz davor, in Tumult auszubrechen. Sie verfluchen ihn und rufen ihm zu, er werde hängen wie ein dreckiger Hund. Die zwei Wachen, die seinen Karren flankieren, haben ihre Knüppel fest umklammert und halten wachsam Ausschau.

Manchmal bekundet die Stadt auch Mitleid, heute jedoch nicht. Kein Erbarmen für einen Mann, der nicht bereit ist, sein Verbrechen zu gestehen. Gewaltbereitschaft schwelt über den Köpfen, als könnten jeden Augenblick Flammen hochschlagen. Es wäre sicherer, die Karren in Bewegung zu halten, aber der Weg zum Galgen von Tyburn hat seine Traditionen, und dies ist eine davon. Vielleicht werfen sie den Karren um. Seine Hände sind gefesselt, aber laufen könnte er trotzdem. Er hebt den Blick, schaut in die Menge und sieht nur Hass, Angst und Wut. Oh ja, er könnte weglaufen – diesem Mob schnurstracks in die Arme. Sie würden ihn in Stücke reißen.

Der Glöckner der Kirche erscheint auf den Stufen. Er ist ein schmal gebauter, verdrießlicher Mann, und die Handglocke ist zu groß für ihn. Er schlägt sie zwölfmal an, wobei er den Schwengel mit beiden Händen führen muss. Eine mühsame Angelegenheit, und er sieht erleichtert aus, als er fertig ist. Die Menge applaudiert ihm so begeistert wie einem Possenspieler im Sadler’s Wells Theatre. Er schaut finster auf die Massen herab. Dies sollte ein Augenblick feierlichen Ernstes sein, und sie verderben alles. »Betet zu Gott für diese armen Sünder«, ruft er mit dünner Stimme, die den allgemeinen Lärm kaum übertönen kann, »die nun dem Tod entgegengehen.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst«, brummt Hawkins. Der Wächter zu seiner Linken verbeißt sich ein Lächeln.

Der Glöckner ruft die Verurteilten dazu auf, ihre Sünden zu bereuen. Die anderen drei haben ihre Schuld gestanden – ruhig und ergeben sitzen sie da, was ihnen die Anerkennung der Menge einbringt. Junge Mädchen werfen weiße Blüten auf ihre Karren. Weiß für Vergebung, für die Erlösung. Oakley rechnet so sicher mit Gottes Gnade, dass er gleich im Totenhemd zum Galgen fährt. Das lange weiße Gewand und die gerüschte Haube zeigen deutlich, dass er es kaum erwarten kann, diese frevlerische Welt zu verlassen und gen Himmel zu fahren.

Hawkins trägt einen himmelblauen Samtrock, passende Beinkleider und ein weißes, mit Gold gesäumtes Seidenwams.

Ein plumpes, hübsches Mädchen nähert sich zitternd seinem Karren, als sei er ein Tiger im Käfig, und schiebt ihr letztes blühendes Zweiglein durch die Holzlatten. Als er es entgegennimmt, berühren sich ihre Finger. Das Mädchen zuckt halb erregt, halb angstvoll zusammen und bringt sich eilig wieder auf den Stufen vor der Kirche in Sicherheit. Hawkins seufzt leise. Vielleicht wird sie später ihren Freundinnen davon erzählen, wie sie dem berüchtigten Thomas Hawkins auf dem Weg zum Galgen begegnet ist. Wird sie dann sagen, der Teufel habe aus seinen hellblauen Augen geleuchtet? Seine Berührung habe ihre Haut verbrannt? Wird sie für einen Schilling einen Zoll von seinem Galgenstrick kaufen und als Glücksbringer aufbewahren?

Ich werde nicht hängen, ermahnt er sich. Die Begnadigung kommt. Doch er ist sich dessen nicht mehr so gewiss.

[home]

TEIL EINS

Kapitel 1

Alles begann mit einem Schrei in der Nacht.

Anfang Januar war das, und ich schleppte mich gerade durch Covent Garden nach Hause. Es war nicht mehr tiefste Nacht und noch nicht Morgen – die heimlichen Stunden vor dem Morgengrauen waren angebrochen, in denen Schwerenöter sich aus stockdunklen Schlafzimmern schleichen und Diebe sich wieder in den Elendsquartieren von St. Giles verkriechen. Eine Uhrzeit, zu der gute, achtbare Menschen in ihren verrammelten Häusern tief und fest schlafen.

Ungezählte Stunden zuvor war ich ausgegangen, um mir einen Krug Punsch und ein Kartenspiel zu gönnen. Ich gewann drei Guineen. Das musste gebührend gefeiert werden. Ich lud eine bunte Truppe neuer Freunde auf ein spätes Nachtmahl ein und auf eine ordentliche Menge Punsch. Die Nacht nahm ihren Lauf. Ich gab die drei Guineen aus. Und mehr. Irgendwann verlor ich einen Schuh.

Die ersten Händler zogen ihre Karren auf den Marktplatz, halb in sich gekrümmt gegen die Kälte. Auf der Suche nach ihren zugewiesenen Plätzen schwenkten sie ihre Laternen durch die Dunkelheit. Ich grüßte den einen oder anderen im Vorbeigehen, hielt mich jedoch nicht länger auf. Das Wetter war wieder einmal abscheulich und die Luft so feucht, dass sich ein kalter Film auf meiner Haut niederschlug. Nun ja – zumindest regnete es nicht.

Wenn man bedachte, dass ich einen Schuh und meinen Gewinn des Abends verloren hatte, war ich erstaunlich guter Laune. Ich holte meine silberne Taschenuhr hervor und hielt sie ins Mondlicht. Fast fünf Uhr. Kitty würde inzwischen wenigstens halb wach sein – sie stand gern früh auf. Wir folgten so unterschiedlichen Tagesabläufen, dass man sich fragen konnte, wie wir uns je begegnet waren. Ich stellte mir vor, wie sie gerade ihre wilden kupferroten Locken mit Nadeln bändigte. Vielleicht würde ich sie wieder ent-bändigen, die Nadeln herausziehen und ihr das Haar über die Schultern fallen lassen. Vielleicht würde sie mich aber auch anschreien, weil ich wieder einmal die ganze Nacht lang weggeblieben war. Ja – nun, da ich so darüber nachdachte, war das wohl eher anzunehmen. Kitty hatte ein fürchterliches Temperament. Wenn dereinst die Sanftmütigen das Erdreich besitzen, wird sie wahrscheinlich leer ausgehen.

Wir hatten uns im vergangenen Herbst kennengelernt, als ich wegen meiner Schulden im Marshalsea-Gefängnis gelandet war. Seit drei Monaten lebten wir nun unter einem Dach. Einige unserer Nachbarn fanden das skandalös. Die meisten jedoch verschwendeten keinen Gedanken daran – nicht in diesem anrüchigen Viertel. Während meiner ersten Wochen hier hatte ich mich von einer Krankheit an Körper und Geist erholen müssen, die mich sehr erschöpft hatte. Man hatte mich im Gefängnis gefoltert, geschlagen und verraten. Ich war Zeuge eines Mordes geworden und beinahe selbst ums Leben gekommen. Vor allem der Verrat nagte an mir wie eine Entzündung, die nicht ausheilen will. Ich hielt selbst zu alten Freunden und Bekannten argwöhnischen Abstand und fragte mich immerzu … Kitty hatte ihre Fehler, aber in diesem Punkt war ich mir ganz sicher: Ihr konnte ich vertrauen, auch wenn mein Leben davon abhinge.

Langsam kam ich wieder zu Kräften. Ich las und arbeitete still an meinem Schreibtisch, schlenderte tagsüber durch die Stadt und verbrachte die Abende und Nächte mit Kitty. Ich war zufrieden – eine Zeitlang. Jaja, nennt mich einen verdammten Narren, aber ein Mann von meiner Veranlagung wird auch guter Dinge irgendwann überdrüssig. Wenn man mich in den Himmel brächte, würde ich nach einem kleinen Weilchen der Seligkeit ans Tor der Hölle klopfen und fragen, ob jemandem der Sinn nach einem Kartenspiel stehe. Die harten Lehren, die ich bei meiner Entlassung aus dem Marshalsea so fest verinnerlicht geglaubt hatte, begannen zu verblassen. Was konnte ein kurzer Besuch im Kaffeehaus schon schaden? Ein kleiner Abstecher an die Spieltische? Und vielleicht noch einer? Ich war nicht mehr so ein übler Kerl wie früher – nun, nicht mehr ganz so übel. Das musste doch erst einmal reichen? Ich war schließlich kein verdammter Mönch.

Kitty hatte gar nicht viel dagegen. Es war ihr lieber, ich streifte durch die Stadt, anstatt mit finsterer Miene ins Feuer zu starren. Doch es gefiel ihr gar nicht, dass ich mich immer öfter allein davonmachte, ohne sie.

»Das ist nicht nett, Tom«, hatte sie gesagt, als sie mich letztes Mal dabei erwischt hatte, wie ich mich aus dem Haus schleichen wollte. »Ich bin kein hübsches Vögelchen, das du in einem Käfig hältst, damit es dir etwas vorsingt.«

»Das stimmt«, gab ich ihr recht. Ich hatte sie schon singen hören. »Aber was soll ich denn sonst tun, Liebste? Die Welt ist nun einmal so gemacht.«

»Du könntest dich etwas weniger darüber freuen«, brummte sie.

Ich hatte seufzend die Hände gehoben. Eine schwache Entschuldigung, aber es war doch nicht meine Schuld, dass diese Stadt für Junggesellen geschaffen war. Die Frauen in den Kaffeehäusern, an den Spieltischen und in den Schenken konnte man nicht als achtbar bezeichnen. Kitty war das gleich, aber mich bekümmerte es, dass ich sie in solchen Etablissements nicht schützen konnte. Zudem gefielen mir die gierigen Blicke der Männer nicht, die in ihrer Nähe wie Hunde zu sabbern begannen. Ich wusste, was sie sahen, wenn Kitty an meinem Arm den Raum betrat – ein reiches, unverheiratetes Frauenzimmer, das schamlos das Bett mit einem mittellosen Schurken teilte. Mit anderen Worten: eine Hure. Und im Allgemeinen behandeln Männer Huren nicht sonderlich gut.

»Aber wenn wir verheiratet wären …«, hatte ich schlau hinzugefügt.

Ich bog in die Russell Street ab und ließ den Marktplatz hinter mir. Schon hundert Mal hatte ich Kitty gebeten, meine Frau zu werden, und hundert Mal hatte sie mich abgewiesen – aus gutem Grund. Vor einigen Monaten hatte sie von ihrem Vormund Samuel Fleet ein Vermögen geerbt, das auch das Haus samt der Buchhandlung einschloss, in dem wir nun zusammen wohnten. Wenn sie mich heiratete, würde ich über das Geschäft und ihr gesamtes Vermögen verfügen können. Wie hätte sie sich darauf verlassen können, dass ich ihr Erbe nicht verspielte? Diese Bedenken hatte sie mir nie eingestanden, doch ich sah den Zweifel in ihren klugen grünen Augen, wenn ich um ihre Hand anhielt. Vor die Wahl gestellt, entweder reich oder achtbar zu sein, hatte sie sich dafür entschieden, ihr Geld zu behalten und ihren Ruf sich selbst zu überlassen. Das konnte ich ihr nicht verdenken. Ich hätte mich gewiss auch nicht geheiratet.

Ein Schemen sprang von einer Mauer dicht vor meine Füße und schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Eine Katze auf der Jagd. Sie machte einen Satz in einen stinkenden Müllhaufen. Eine kurze Balgerei war zu hören, und dann ein langgezogenes, grausiges Quieken. Gleich darauf trottete die Katze triumphierend an mir vorbei, und eine riesige Ratte baumelte aus ihrem Fang. Mit besorgtem Blick schlug ich einen Bogen um den Abfallhaufen. Beinahe wäre ich mitten hineingelaufen.

Die Russell Street ist wie eine junge Maid vom Lande, eben erst in London der Kutsche entstiegen. Sie beginnt mit den besten Absichten – elegante Kaffeehäuser, hübsche Wohnhäuser. Ein Stückchen weiter mutet sie pragmatischer, aber profitabel an – hier eine Apotheke, dort ein Krämer. Dann verkommt sie zusehends – eine schmuddelige Schnapskneipe, eine Spielhalle, ein Bordell mit kaputten Fenstern und verrottendem Dach. Und gegenüber dem Bordell eine Buchhandlung mit Druckerei, die schmutzige und aufrührerische Schriften unter der Ladentheke verkauft. Über der Tür hängt ein Schild, eine Pistole in einem anzüglichen Winkel. Und darunter steht: Inhaber S. Fleet. Doch S. Fleet war nicht länger der Inhaber – er war tot. Ob er wohl in der Hölle schmorte oder im Himmel für Aufruhr sorgte? Das Geschäft namens »Cocked Pistol« gehörte jetzt Kitty Sparks.

Das Haus steht ein wenig von der Straße zurückversetzt, als wollte es sich beim ersten Anzeichen von Ärger davonmachen. Es ist schmaler als die Häuser zu beiden Seiten, was den Eindruck erweckt, es werde langsam von seinen Nachbarn zu Tode gequetscht. Vor der dunkelgrünen Tür hielt ich kurz inne und wappnete mich für Kittys Zorn. Der konnte wahrlich furchterregend sein, und dabei durchaus erregend für uns beide. Mit gerötetem Gesicht und bebender Brust stand sie dann vor mir, die Fäuste in ihr Nachtgewand gekrallt. Sie schalt mich einen selbstsüchtigen Hund, einen Schurken, einen unzuverlässigen Hurensohn. Irgendwann verebbten dann die Fragen und Vorwürfe, sie packte mich oder ich packte sie, und wir hasteten die Treppe hinauf. Sie hatte eine einmalig betörende Art, die Finger unter mein Hosenband zu schieben, mich ins Bett zu ziehen und mir dabei tief in die Augen zu schauen. Eine Kleinigkeit eigentlich, aber bei Gott, die war all das Gekeife wert.

»Ein Dieb!«

Ein erstickter Schrei ganz in der Nähe. Ich fuhr zusammen und spähte die dunkle Straße hinauf und hinunter. Da war niemand – allerdings konnte ich kaum etwas sehen. Die Straße wurde ganz still, als hielte sie den Atem an. Mir sträubten sich die Härchen im Nacken. Verbarg sich da jemand in den Schatten? Ich griff nach dem Degen an meiner Seite und zog ihn blank.

Wieder gellte ein Schrei durch die Nacht, schrill und angstvoll. »Hilfe! Zu Hilfe! Gott, hab Erbarmen!«

Die Stimme einer jungen Frau – vermutlich ein Dienstmädchen. Sie kam aus dem Haus, an dem ich just vorbeigegangen war, Joseph Burdens Haus. Der letzte Ort in dieser Gegend, an dem ich irgendwelchen Tumult erwartet hätte. Es gab Kirchen, die weniger still und achtbar waren. Ich rannte dorthin zurück und hämmerte mit der Faust an die Tür.

»Hallo! Mr. Burden! Brauchen Sie Hilfe?«

Niemand antwortete. Ich hörte laute Rufe und Schreie von drinnen und Schritte auf der Treppe. Burden brüllte nach mehr Licht. Das Mädchen weinte und schrie immer noch. »Ich habe ihn gesehen! Ich schwöre es, er war hier!«

Offenbar ein Einbrecher. Januar war deren liebster Monat – lange, dunkle Nächte und niemand auf den eisigen Straßen, der sie sehen könnte. Bis auf Männer wie mich. Ich hämmerte noch energischer an die Tür. »Mr. Burden!«

Der Riegel knallte, die Tür sprang auf. Ned Weaver, Burdens Lehrling, stand mit einem Hammer in der Faust vor mir. Seine breiten Schultern versperrten mir die Sicht in den Flur. Er zog den Kopf ein, um nicht am Türrahmen anzustoßen.

»Ein Dieb?«, flüsterte ich.

»Jawohl.« Er deutete mit dem Hammer über die Schulter zurück ins Haus. Also noch drinnen.

»Ist jemand verletzt? Ich habe Schreie gehört …«

Er schüttelte den Kopf. »Das war Alice. Er hat sie nur erschreckt.« Sein Gesicht nahm einen seltsamen, recht säuerlichen Ausdruck an. »Er hat sie aufgeweckt. Der Dieb. Stand an ihrem Bett.«

Ich wandte mich in Richtung Marktplatz, um Hilfe zu holen.

»Warten Sie!« Ned packte mich am Arm und zerrte mich so heftig zurück zur Tür, dass er mich beinahe von den Füßen riss. Es fühlte sich an, als hätte ein gewaltiger Hund meinen Arm zwischen den Kiefern. Burden war Zimmermann und ließ seinen Lehrling hart arbeiten. »Er sitzt in der Falle. Bleiben Sie hier und bewachen Sie die Tür, Mr. Hawkins, bitte seien Sie so gut. Lassen Sie den Teufel nicht entwischen.«

Mit donnernden Schritten eilte er wieder die Treppe hinauf. Ärger, dachte ich und rieb mir den Arm. Tja – ich hatte eine besondere Begabung dafür, mich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich straffte die Schultern, packte meinen Degen ein wenig fester und wünschte, ich hätte nicht ganz so viel Punsch getrunken. Und nicht nur einen Schuh an. Aus einem der oberen Zimmer hörte ich lautes Schluchzen, und schwere Schritte rumpelten durch das ganze Haus, während die Männer offenbar den Dieb suchten – doch niemand erschien an der Tür. Je länger ich allein im Dunkeln ausharrte, desto mehr wunderte ich mich. Weshalb hatte sich der Dieb von allen Häusern in London ausgerechnet das von Joseph Burden ausgesucht? Sogar in dieser Straße gab es lohnendere Objekte, und Burden war dafür bekannt, dass er seine Fenster und Türen des Nachts fest verriegelte. Die ganze Nachbarschaft machte sich darüber lustig, dass er sein Haus im Winter schon um sechs Uhr abends für die Nacht verrammelte.

Die Tür der Buchhandlung ging auf, und weicher Kerzenschein fiel auf die Straße.

»Tom!« Kitty lehnte sich auf nackten Zehenspitzen aus der Tür. Sie war nur halb bekleidet – seidener Morgenmantel und weiße Nachthaube, unter der ein paar Locken lose hervorlugten. »Da bist du ja, du Hundsfott. Was treibst du da draußen? Wenn du wieder an die Fassade pinkelst …«

Mein Engel. »Ein Einbrecher. Ich bewache die Tür.«

Ihre Augen blitzten auf. Sie verschwand nach drinnen und kam gleich darauf in Stiefeln – meinen – und mit einer großen Bratpfanne in Händen wieder heraus. Während sie in den viel zu großen Stiefeln auf mich zustapfte, dachte ich daran, sie zu ihrer Sicherheit zurück in die Buchhandlung zu schicken. Dann stellte ich mir vor, wie sie diesen Vorschlag aufnehmen würde. Und hielt den Mund.

»Wie viele?«, raunte sie.

»Nur einer. Hoffe ich.«

Kitty eilte zurück zum Laden und rief die Treppe hinauf: »Sam! Sam! Bring meine Pistole.« Dann raffte sie ihren Morgenmantel, rannte zu mir herüber und spähte neugierig über meine Schulter in den schmalen Hausflur. Im Hause Burden herrschte immer noch Aufruhr, aufgeregte Stimmen riefen Fragen und Befehle durcheinander.

»Gefangen wie eine Ratte in einem Fass«, murmelte Kitty. »Was werden sie mit ihm machen, Tom?«

Ich stellte mir Joseph Burden vor – gottesfürchtig, sittenstreng, unerbittlich. »Ihn zu Tode predigen vermutlich.«

Kitty schnaubte.

»Sie werden ihn hängen«, sagte eine leise Stimme hinter uns.

»Sam«, zischte Kitty und gab dem Jungen einen Klaps auf den Arm. »Musst du so herumschleichen?«

Sam Fleet war vierzehn Jahre alt und nach seinem verstorbenen Onkel Samuel benannt, meinem ehemaligen Zellengenossen. Er sah auch aus wie der alte Teufel – der gleiche zierliche Körperbau, der gleiche durchdringende Blick aus beinahe schwarzen Augen. Sein Teint war ein wenig dunkler, wie der eines Spaniers. Die kräftigen schwarzen Locken waren mit einem schwarzen Band zurückgebunden, und er hielt uns eine Pistole hin.

Ich steckte sie unter meinen Rock. Schon war Sam an mir vorbeigeschlichen und schob den Kopf ins finstere Innere des Hauses. Nicht einmal die Nachbarn wussten, wie es dort drin aussah – Burden mochte keinen Besuch. Ich tippte Sam auf die Schulter. »Geh wieder ins Haus.«

Er blickte ein wenig verärgert drein, tat aber wie geheißen. Und schlenderte davon, als sei das sein eigener Entschluss gewesen. Ich lächelte ihm nach, denn ich erkannte diese trotzige Geste aus meiner eigenen rebellischen Jugend wieder.

Im Haus der Burdens war es still geworden. Ich tat einen Schritt in den Flur und rief die Treppe hinauf.

»Mr. Burden? Ned? Ist alles in Ordnung? Haben Sie ihn?«

»Mr. Hawkins?«, erwiderte eine leise Stimme von oben. Eine Gestalt kam langsam die Treppe herab – zarte bloße Füße, dann der Saum eines Nachtkleids, der die Stufen streifte, und eine schlanke Hand mit einem Kerzenleuchter. Zunächst erschien sie mir gar nicht ganz wirklich, denn sie bewegte sich mit einer langsamen, verträumten Anmut. Das war Judith – Joseph Burdens Tochter. Sie musste etwa in Kittys Alter sein, verließ jedoch kaum jemals das Haus, außer um zur Kirche zu gehen, und ich hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt.

»Herrgott noch mal«, murmelte Kitty. »Sogar im Schlaf wäre ich schneller als sie.«

Auf halbem Weg die Treppe herunter hielt Judith inne und umklammerte mit der freien Hand das Treppengeländer. Ihre Lippe war aufgeplatzt und blutete, das Gesicht war sehr blass. Sie starrte uns mit wirrem, entrücktem Ausdruck in den grauen Augen an. »Was tun Sie hier?« Sie sprach langsam und benommen, als erwache sie eben erst aus einem Traum.

»Miss Burden, Sie sind ja verletzt. Haben Sie den Einbrecher gesehen? Hat er Sie angegriffen?«

»Einbrecher? Ich … nein.« Sie tastete mit der Hand nach ihrer geschwollenen Lippe. »Ich habe nichts gesehen.« Sie lachte hohl. »Gar nichts.« Dann sank sie auf die Treppe nieder und lehnte die Stirn ans Geländer, als siechte sie hinter Gefängnisgittern dahin. Der Kerzenhalter entglitt ihrer Hand.

Kitty sprang vor und stellte ihn beiseite, ehe die Kerze das Haus in Brand stecken konnte. Ich kniete mich neben Judith. Sie zitterte am ganzen Leib und rang stoßweise nach Luft. Was immer sie gesehen haben mochte, es hatte sie fürchterlich erschreckt. Ich fürchtete, sie könnte in Ohnmacht fallen oder einen hysterischen Anfall erleiden, deshalb nahm ich ihre Hand und drückte sie sacht. Die Hand war klein und sehr zart – die Hand eines Mädchens, das seine Zeit damit zubrachte, Kissenbezüge zu besticken und Tee einzuschenken. »Keine Angst, Miss Burden. Jetzt kann Ihnen nichts mehr geschehen.«

»Wir haben eine Pistole«, fügte Kitty hinzu und bedachte meine Hand, die Judiths hielt, mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Und eine Bratpfanne«, ergänzte ich lächelnd.

Judith rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, murmelte sie, doch ihre Hand lag in meiner wie ein unbelebtes Ding.

»Ist Alice unversehrt?«, fragte Kitty. Alice Dunn war Burdens Haushälterin. Kitty hielt manchmal ein Schwätzchen mit ihr.

»Alice?« Judith entzog mir ihre Hand, kauerte sich auf der Treppe zusammen und barg das Gesicht in ihrem Morgenmantel. »Was kümmert es mich, wie es Alice Dunn geht? Sie ist nur eine Dienstmagd.«

»Judith.«

Joseph Burden stand am Kopf der Treppe. Er ragte über uns auf wie ein Bär, der zum Angriff bereit war. Ein alter, kampferprobter Bär, dessen beste Jahre lange zurücklagen – aber immer noch gefährlich. Er war ein riesenhafter Mann mit dicken, starken Armen dank seiner harten Arbeit. Sein gewaltiger Bauch spannte das Nachtgewand. Er polterte die Treppe herunter und zerrte seine Tochter grob auf die Füße. Judith stieß einen Schmerzensschrei aus, den sie jedoch sogleich unterdrückte. Ihr Vater packte sie im Genick und schleuderte sie förmlich die Treppe hinauf. Sie krabbelte hastig und ohne ein weiteres Wort davon.

Kitty biss die Zähne zusammen.

Burden donnerte die restlichen Stufen herab und blieb dicht vor mir stehen. »Sie. Wie können Sie es wagen, mein Haus zu betreten?«

Ich wich zurück, um seinem muffigen, heißen Atem auszuweichen. »Ihr Lehrling hat mich gebeten, die Tür zu bewachen. Haben Sie den Dieb gefunden?«

Sein Gesicht rötete sich. »Es gibt hier keinen Dieb. Alice hat sich getäuscht. Dieses dumme Luder kann nicht unterscheiden, ob sie wach ist oder schläft.«

Das kam mir reichlich seltsam vor. Ich hatte die Schreie deutlich gehört – Alice hatte hellwach geklungen und Todesangst gehabt.

»Mr. Burden, haben Sie Ihre Tochter geschlagen?«, fragte Kitty. Ihre Stimme war ruhig, doch sie hielt die Bratpfanne so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß geworden waren.

Burden verzog verächtlich die Lippen. »Hawkins, sagen Sie Ihrer Hure, dass sie ihre Zunge hüten soll. Sonst reiße ich sie ihr heraus.«

»Feigling«, zischte Kitty.

Burden warf sich herum und zielte mit einem Fausthieb auf sie. Kitty schwang die Bratpfanne wie ein Rakett, und Burdens Faust krachte mit einem lauten Schlag gegen das Gusseisen. Er jaulte auf vor Schmerz und hielt sich die Hand. Kitty hob die Pfanne über ihren Kopf und wollte zuschlagen. Ich packte sie um die Taille und bugsierte sie hinaus auf die Straße, ehe sie ihm den Schädel zerschmettern konnte.

»Arschloch!«, brüllte sie, als er uns die Tür vor der Nase zuschlug. »Komm raus und versuch noch einmal, mich zu schlagen – na los, versuch’s doch! Ich tret dir in die Fresse.«

Aus dem Bordell gegenüber wurde laut gejubelt. Joseph Burden war an diesem Ende der Russell Street nicht sonderlich beliebt. Kitty blickte zu den Huren auf, die sich aus den Fenstern lehnten, und bedankte sich mit einem Knicks für den Applaus. Ihr Jähzorn flammte so schnell und heiß auf wie ein Blitz, verflog aber ebenso rasch – Gott sei Dank, sonst hätte man es nie mit ihr ausgehalten.

Sie grinste mich an und zog mit beiden Händen an meinem Rock, bis wir eng umschlungen waren. »Wo warst du heute Nacht, Tom Hawkins?«

Ich küsste sie, strich mit den Händen über ihren Morgenmantel und ertastete die weichen Kurven darunter.

»Du stinkst nach Rauch«, bemerkte sie seufzend. »Und Schnaps.« Sie schmiegte die Wange an meine, und ich spürte ihre zarte Haut an meinen Bartstoppeln. Dicht an meinem Ohr flüsterte sie: »Küss mich noch einmal.«

Ich tat, was sie verlangte. Die Welt versank im Hintergrund wie stets, wenn ich Kitty küsste. Und ich vergaß Joseph Burden, das seltsame Benehmen seiner Tochter und den Dieb, der wohl nie da gewesen war.

Das war mein erster Fehler.

Kapitel 2

Ich erwachte zu ehrbarer Stunde – kurz nach dem Mittag. Kitty war längst aufgestanden, doch ihr Duft hing noch in den Bettlaken. Ich fuhr mit der Hand über die Matratze, wo sie gelegen hatte, und lächelte bei der Erinnerung an unser Gebalge in der vergangenen Nacht. Sie war immer noch Jungfrau – nun, um Haaresbreite. Kitty erklärte, sie hätte sich schon viel zu oft um schreiende Babys kümmern müssen und wolle nicht, dass ich ihr eines machte. Wenigstens nicht gleich – vielleicht in einem Jahr. Ich vermutete, dass sie noch andere, geheime Gründe hatte. Wahrscheinlich fürchtete sie, ich könnte sie sitzenlassen.

Wie dem auch sei, ich selbst hatte mir geschworen, dass sie eine Jungfrau bleiben würde, bis wir verheiratet waren. Ich hatte so eine alberne Vorstellung von unserer Hochzeitsnacht – frische Laken, ein knisterndes Feuer im Kamin, guter Wein, alles fein und behaglich. Die Kraft dieses ehrenhaften kleinen Traumes überraschte mich. Und ängstigte mich, um aufrichtig zu sein. Wo kann es noch hinführen, wenn ein Mann von solch niedlichen Dingen zu träumen beginnt? Was kommt als Nächstes, ein ehrbarer Beruf? Ein Haus in einem anständigen Viertel. Ein stilles, nüchternes Leben. Ebenso gut könnte ich nach Suffolk heimkehren und mich in ein Abbild meines Vaters verwandeln.

Kitty offenbarte ich nichts von alledem, denn ich fürchtete, sie würde sich darüber lustig machen oder – schlimmer noch – die Vorstellung reizend finden. Also hielt ich nur immer wieder um ihre Hand an, und sie wies mich ein ums andere Mal leichthin ab, als sei das Ganze nur ein Scherz. Ich wusste nie recht, wie ich sagen sollte: Schluss jetzt, Kitty, ich meine es ernst. Einen Korb holte man sich doch besser im Scherz als ganz im Ernst.

Nun, vorerst gab es genug andere sinnliche Freuden zu erkunden, und in die meisten davon hatte ich sie bereits eingeführt. Ihre seltsame Mischung aus Kenntnis und Unschuld war aufreizend. Das war ihr wohl bewusst, und sie ahnte auch, welche Macht darin lag, dass ich am Ende einer Nacht immer noch mehr wollte. Meine kleine Scheherazade. Seit über drei Monaten teilten wir nun das Bett, und ich fürchtete, es könnte eine Nacht kommen, in der ihre Entschlossenheit und meine Selbstbeherrschung im selben Moment nachgaben, und alles wäre vorbei. Letzte Nacht, als sie nackt unter mir lag, wäre ich der Versuchung schon beinahe erlegen. Himmel, wie hatte ich es geschafft, mich zu zügeln? Ich starrte mein Spiegelbild an. Kleine Blutergüsse an meinen Armen zeigten mir, wo sie sich an mir festgekrallt hatte. Meine Selbstbeherrschung grenzte an ein Wunder. Sankt Thomas, der Ewig Gehinderte.

Ich gähnte, streckte mich und rieb mir den Kopf. Der schmerzte von der kleinen Ausschweifung vergangene Nacht – zu viel Punsch und zu wenig Abendessen. Das würde dereinst auf meinem Grabstein stehen, dachte ich. Ich rief nach Jenny, unserer Dienstmagd, und verlangte nach einer Kanne Kaffee und einem Krug heißen Wassers. Als ich mich gewaschen und ein frisches Hemd samt Krawatte angelegt hatte, war ich bereit, mich dem Tag zu stellen – nun, zumindest dem, was davon übrig war. Ich öffnete die Fensterläden. Ein bleigrauer Himmel drohte Regen an, und die feuchte Luft drang einem bis in die Knochen. Der Winter war kalt und abscheulich gewesen, und ich hatte ihn gründlich satt. Meine Finger zögerten über einem tristen alten Wams. Nein, nein, das ging nicht an. Ich holte das neue mit den silbernen Knöpfen hervor, das Kitty mir geschenkt hatte. Viel besser. Ein Gentleman hat ein gewisses Niveau zu wahren, selbst an einem grauen, leeren Tag im Januar.

Ich schenkte mir den letzten Rest Kaffee ein, trat ans Fenster und wärmte mir die Hände an der Schale, während ich auf die Straße hinausschaute. Das Bordell lag still da, doch ein steter Strom Leute ging vorüber. Tagmenschen. Ned Weaver stapfte die Straße entlang, offenbar auf dem Rückweg von einem Kunden, mit seiner Werkzeugtasche über der Schulter. Er starrte gedankenverloren aufs Pflaster. Mrs. Jenkins, die Bäckersfrau, rief ihn von ihrer Tür aus an. Sie hatte eine Leidenschaft für Klatsch und schaffte es durch schiere Hartnäckigkeit, so manches Geheimnis aus einem herauszukneten. Ned war ein freundlicher junger Mann mit angenehmen Zügen und einem verschämten Lächeln. Wie hätte sie sich den Mittag angenehmer vertreiben können? Sie rief noch einmal nach ihm, doch Ned tat, als hätte er sie nicht gehört, und klopfte kräftig an Mr. Burdens Tür. Mrs. Jenkins verließ ihre behaglich warme Bäckerei, schlang ihr Tuch um Brust und Schultern und humpelte über die Straße. Doch bis sie Burdens Tür erreichte, war die schon wieder verschlossen und Ned drinnen in Sicherheit. Beleidigt blies sie die Wangen auf.

Ich rieb mir den Mund. Merkwürdig. Ned war ein gutmütiger Kerl. Es sah ihm gar nicht ähnlich, eine Nachbarin derart offen und unfreundlich zu ignorieren. Ebenso merkwürdig, dass Burdens Tür am helllichten Tag verriegelt gewesen war – das schien mir eine absurde Vorsichtsmaßnahme zu sein, wenn es sich doch nur um einen eingebildeten Dieb gehandelt hatte. Ich trat vom Fenster zurück, ehe Mrs. Jenkins mich entdecken konnte.

Kitty und ich wohnten in zwei Zimmern im ersten Stock über der Buchhandlung. Tagsüber ließen wir die Türflügel zwischen beiden Zimmern offen, so dass ein großer Raum entstand mit dem Wohnzimmer samt Herd vorne und dem kleineren Schlafzimmer hinten. Ich hörte Kitty unten mit einem Kunden schwatzen. Ihre Stimme klang fröhlich und freundlich. Sie liebte die Arbeit und hatte ein Händchen fürs Geschäft. So wie ich wohl fürs Geldausgeben.

Stirnrunzelnd betrachtete ich den kleinen Schreibtisch vor dem Fenster. Während der vergangenen Monate hatte ich viel Zeit damit verbracht, obszöne Literatur zu übersetzen, die dann in der Buchhandlung verkauft wurde. Das hatte mein Vater wohl nicht im Sinn gehabt, als er mich zur Schule geschickt hatte. Offen gestanden zweifelte ich auch daran, ob mir wirklich der Sinn danach stand, tagelang an einen Schreibtisch gefesselt zu sein. Da brachte ich so viele Stunden damit zu, über steife Schwänze zu schreiben, und bekam dafür nichts außer einem steifen Kreuz.

Ich blätterte in meinem jüngsten Meisterwerk, der intimen Unterhaltung einer erfahrenen Äbtissin mit einer naiven, aber wissbegierigen jungen Novizin, die ich aus dem Französischen übersetzt hatte. Unterweisung im Kloster hatte ich sie betitelt. Nun, da sie fertig war, musste ich sie zu einem Drucker in der Grub Street bringen, der die Seiten setzen und binden würde. Und wir würden das Werk dann verkaufen, wie all die anderen geheimen Bücher und Pamphlete, die unzüchtigen Gedichte, die intimen Zeichnungen und empörten, aber eigenartig detaillierten Abhandlungen über diverse sodomitische Praktiken. So hatte Fleet die Buchhandlung geführt, ohne dafür im Gefängnis zu landen. Im Gegensatz zu Edmund Curll, seinem bedeutendsten Konkurrenten, hatte er nie Anzeigen geschaltet oder sich öffentliche Wortgefechte mit Schriftstellern geliefert, um zweifelhaften Ruhm zu erlangen. Fleet war diskret gewesen, und hatte das einmal nicht ausgereicht, so hatte er alle bestochen oder erpresst, die ihn in Schwierigkeiten bringen konnten.

Als Kitty die Buchhandlung übernommen hatte, hatte sie erst einmal gründlich sauber gemacht und das Wirrwarr in den Regalen geordnet. Abgesehen davon hatte sie am Geschäft selbst nichts verändert. Misstrauische Stammkunden stellten rasch fest, dass sie noch immer dieselben skurrilen Machwerke erwerben konnten und nun sogar von einem verdammt hübschen Weibsbild bedient wurden. Sie konnten sogar viel seriösere Literatur kaufen, wenn ihnen der Sinn danach stand – politische Schriften, naturphilosophische Abhandlungen, Poesie. Kochbücher und Biographien von Verbrechern verkauften sich besonders gut. Mit einem mordlüsternen Koch als Autor hätten wir ein Vermögen verdienen können.

Ein kleiner Tumult draußen auf der Straße zog mich wieder ans Fenster. Ein halbes Dutzend Constables mit Knüppeln über der Schulter kam die Straße entlangmarschiert, ihnen voran eine zielstrebige Gestalt in einem braunen Rock mit altmodischen Rüschenmanschetten. Der Mann hielt das spitze Kinn entschlossen gereckt, und sein Gehstock knallte hart aufs Pflaster.

Verdammt. Verdammt noch mal.

Ich schnappte mir meine Perücke und polterte die Treppe hinunter in den Laden. »Gonson!«

Der ältere Herr an der Theke schnappte erschrocken nach Luft und wackelte auf seinen dicken Beinen zur Tür hinaus, nachdem er mir sein Bündel Bücher in die Arme gedrückt hatte. Ich ließ es durch eine Luke im Keller verschwinden, während Kitty herumsauste und sämtliches verfängliche Material zusammenraffte. Dann zog sie am verborgenen Hebel an einem der hintersten Regale, ließ alles in das Geheimfach dahinter fallen und hatte die Geheimtür gerade wieder zugeschlagen, als die Tür zur Buchhandlung aufflog.

John Gonson, der Stadtvogt, blieb auf der Schwelle stehen. Hinter ihm ragte Joseph Burden in seiner ledernen Schürze auf, die Hände zu Fäusten geballt. Die Büttel blieben draußen auf der Straße stehen, stocherten mit ihren Knüppeln im Schmutz herum und unterhielten sich. Also doch keine groß angelegte Durchsuchung, wie es schien. Kitty und ich wechselten einen erleichterten Blick.

»Mr. Gonson.« Ich verneigte mich so knapp, wie es ging, ohne beleidigend zu werden.

Gonson trat über die Schwelle, wobei er den Kopf einziehen musste, um durch die Tür zu passen. Er war ein schlanker, kerniger Mann mit einem schmalen Gesicht und einem klaren, reinen Hautton, der ihn jünger wirken ließ, als er mit seinen Dreißigern war. So sah ein Mann aus, der gut schlief, maßvoll trank und nie Geld verwettete oder Schmiergeld annahm. Unbestechlich und energisch.

Sein Blick huschte über die Regale, die schmalen Lippen bereit zu einem angewiderten Kräuseln bei der ersten Anmutung von Verkommenheit. Gonson war nicht nur der Vogt von Westminster, sondern obendrein mit Leib und Seele Mitglied der Society for the Reformation of Manners. Diese selbsternannte Sittenpolizei war vor vielen Jahren gegründet worden, um die Stadt von Huren, Dieben und Unzucht aller Art zu befreien. Man hätte ebenso gut versuchen können, den Himmel von Sternen zu reinigen, aber Gonson war geduldig und entschlossen. Er hatte neuen Elan und neue Ordnung in die Society gebracht. Seine Spitzel hatten Bordelle und Schwulenkreise infiltriert. Zwar wurden die meisten ihrer Berichte verworfen, doch einige Fälle kamen vor Gericht. Zwei arme Kerle waren dank eines Spitzels von Gonson wegen Sodomie zum Tode verurteilt und gehängt worden, und Dutzende Frauen waren seinetwegen in Bridewell gelandet.

Gonson war, mit anderen Worten, eine dieser besonders gefährlichen Kreaturen, die andere überrannten: ein Mann mit einer Vision. Und die Cocked Pistol verdarb ihm den Ausblick. Ja, die bloße Existenz der Buchhandlung war ihm ein Dorn im Auge, und seit einigen Monaten betrachtete er es als seine heilige Pflicht, sie auszulöschen. Viele unserer Kunden waren einflussreiche Männer, was uns einen gewissen Schutz bot. Doch Gonson ließ sich nicht davon abbringen, uns mindestens einmal wöchentlich einen Besuch abzustatten und die Kundschaft zu vergraulen.

Da er in den Regalen nichts Anrüchiges erspäht hatte, richtete er den missbilligenden Blick auf mich. »Ich muss mit Ihrem Burschen sprechen.«

»Dem Dieb«, knurrte Burden, der wie ein Raubtier hinter Gonson lauerte. Gonson war schon groß, doch Burdens Kopf streifte beinahe die Decke. Mit uns dreien war der Raum beinahe voll. Kitty hatte sich hinter die Theke zurückgezogen und tat gelangweilt. Sollten die brünftigen Hirsche sich doch aufspielen.

»Rufen Sie ihn her!«, brüllte Burden.

Ah, jetzt verstand ich. Burden suchte einen Sündenbock – und er wollte Rache. Auch er war ein Mitglied von Gonsons Sittlichkeits-Gesellschaft, und ein besonders pflichteifriges obendrein. Er verabscheute die Buchhandlung für ihre bloße Existenz und ihre unmittelbare Nähe zu seinem Haus.

Außerdem hatte er Samuel Fleet, den vorigen Eigentümer, zutiefst verabscheut. Und Sam war Fleets Neffe. Er wohnte nun seit einem Monat bei uns, auf Wunsch seines Vaters James – Samuel Fleets Halbbruder. Ich hatte die Anweisung, aus Sam einen Gentleman zu machen, doch offen gestanden wäre es leichter gewesen, einem Wolf den Pelz zu scheren und ihm dafür ein seidenes Wams anzuziehen. Wo war der Junge? Eine gute Frage. In irgendeinem Schrank versteckt? Oder vielleicht im Kamin? Der Junge war so leise und geschickt, dass er unter meinem Rock stecken könnte, ohne dass ich es bemerken würde.

»Er macht gerade eine Besorgung für mich«, sagte Kitty.

Gonson beachtete sie nicht. »Mr. Burden hat mich ersucht, ihn verhaften zu lassen. Aber vorher muss ich den Jungen verhören.« Burden wollte protestieren, doch Gonson brachte ihn zum Schweigen. »Ich halte mich an die Gesetze, Sir.«

»Gegenüber dem Abschaum von St. Giles?«, schnaubte Burden.

»Gegenüber allen Menschen.« Gonson blies sich auf, offenbar tief beeindruckt von seinem eigenen Edelmut.

»Mr. Gonson, mit dem allerhöchsten Respekt, Sir – das ist unsinnig. Ich selbst habe vergangene Nacht Mr. Burdens Tür bewacht. Niemand hat das Haus betreten oder verlassen …«

»Sie haben ihn entwischen lassen, verdammt!«, unterbrach Burden ihn.

»Sie haben mir gesagt, Ihre Haushälterin hätte nur geträumt. Sie hätte sich getäuscht.«

Burden lief rot an. »Mein Sohn Stephen schwört, dass er das Blag gesehen hat. Ich will ihn rasch holen, Sir.« Er eilte nach nebenan und rief laut nach seinem Sohn.

Gonson zückte stirnrunzelnd seine Taschenuhr.

»Mr. Gonson«, rief Kitty herüber. »Ich kann mich für Sam verbürgen. Er war hier letzte Nacht.«

Er sah sie zum ersten Mal an, mit festem Blick, die Lider schwer. »Und welchen Nutzen hätte das Wort einer Hure?«, fragte er gedehnt.

Ich tat einen halben Schritt vor. Kitty schlüpfte hinter der Theke hervor, packte meine Hand und drückte sie warnend. Ich zögerte und stieß langsam den Atem aus. Welche Strafe stand wohl auf die Misshandlung eines Stadtvogts? Ein paar Peitschenhiebe? Ein paar Stunden am Pranger? Gonson beobachtete mich mit hochgezogenen schwarzen Augenbrauen. An meinen Schläfen begann es schmerzhaft zu pochen.

Burden kehrte zurück und schob seinen Sohn vor sich her. Ich hatte den Jungen noch nie gesehen – er war eben erst von der Schule heimgekehrt. Er war fünfzehn und hatte die dünnen, langen Glieder eines ungelenken Kälbchens, und seine Wangen waren rot und leicht aufgescheuert. Offenbar rasierte er sich viel öfter, als nötig gewesen wäre. Doch er hatte die sturmgrauen Augen seines Vaters und dieselben kräftigen, kantigen Züge. In ein, zwei Jahren würde er ein gutaussehender Bursche sein. Ich lächelte in mich hinein, denn ich konnte den Ärger förmlich sehen, der sich hier zusammenbraute. Seine Kleidung war trist und altmodisch – zweifellos auf Anordnung seines Vaters –, doch hier hatten wir zweifellos einen künftigen Schwerenöter vor uns. Man kann aus der Art, wie ein Junge seine Krawatte legt, eine Menge über ihn erfahren.

Der Blick des jungen Burschen huschte kreuz und quer durch den Laden, als hoffte er, ein Aktporträt an einer Wand zu entdecken oder zwei Huren, die sich in einer Ecke befummelten. Ach ja … die Enttäuschungen der Jugend. Ich fing seinen Blick auf und zwinkerte ihm zu.

»Sag Mr. Gonson, was du gesehen hast«, befahl sein Vater, der nichts davon bemerkt hatte.

Stephen zögerte und reckte dann das Kinn. »Ich bin nicht sicher, was ich gesehen habe, Sir. Es war sehr dunkel.«

Burden starrte ihn mit offenem Mund an. Hatte sein Sohn sich ihm zum ersten Mal widersetzt? Und dann gleich dermaßen öffentlich. Er holte aus und versetzte dem Jungen einen grausamen Schlag auf den Hinterkopf. »Du unverschämter kleiner Schnösel! Sag es ihnen!«

Ich verzog das Gesicht bei dem Schlag, doch Stephen wurde darob nur noch trotziger. »Da war kein Dieb«, verkündete er. Dann bedachte er seinen Vater mit einem verschlagenen Seitenblick. »Willst du wirklich, dass ich ihnen sage, was ich gesehen habe, Vater? Was ich gestern Nacht wahrhaftig gesehen habe?«

Ich war sicher, dass Burden den Jungen für diese Aufsässigkeit erneut schlagen würde, doch auf einmal wirkte er wie erstarrt.

»Mr. Burden«, fragte Gonson streng, »haben Sie etwa meine Zeit vergeudet?«

Burden fand endlich die Sprache wieder. »Ich … bitte um Verzeihung, Mr. Gonson, Sir. Ein Missverständnis.«

»Nun«, warf ich fröhlich ein, »dann danke ich den Herren für Ihren Besuch. Möchten Sie vielleicht ein Buch kaufen? Ich empfehle Ihnen gerne …«

»Verfluchter Kerl!«, knurrte Burden. »Ich verfluche Sie und Ihre widerlichen Bücher.« Er griff nach dem nächststehenden Regal und fegte den Inhalt herunter. Aus einem Buch riss er mehrere Seiten heraus und zerknüllte sie in der Faust.

Gonson packte ihn am Arm und raunte ihm etwas ins Ohr. Burdens Schultern sanken herab. Er ließ die Seiten zu Boden fallen, stürmte hinaus und zerrte seinen Sohn mit sich.

Kitty fiel auf die Knie und sammelte Bücher und zerrissene Seiten in ihre Schürze.

Gonson griff nach seinem Gehstock. »Finden Sie das amüsant, Sir?«

»Nein, keineswegs.«

»Sie machen sich ein Spiel daraus, den Sohn gegen den Vater aufzustacheln. Einen anständigen Bürger so zu reizen, dass er ausfallend wird. Einen Nachbarn obendrein.« Er stupste mit seinem Stock ein Buch an, das mit gebrochenem Rücken auf dem Boden lag. »Wie ich höre, sollen Sie ein gebildeter Mann sein, Hawkins. Ein Student der Theologie. Der Schund und Schmutz feilhält. Die Unwissenden verdirbt. Schämen Sie sich denn gar nicht? Fehlt Ihnen jedes Bewusstsein für Ihre Christenpflicht? Diese abscheulichen Bücher und Pamphlete, die Sie verkaufen – pfui, sage ich, Sir. Leugnen Sie es nicht! Die Männer, die vor meinen Richtertisch kommen – und die ich zum Galgen schicke –, das sind Ihre Kunden, Hawkins. Sie haben dazu beigetragen, sie vom rechten Weg abzubringen. Erkennen Sie denn nicht, wie viel Schaden und Leid Sie damit anrichten? Wünschen Sie sich nicht auch, in einer Stadt ohne Verbrechen zu leben? Elend und Verderbtheit ein Ende zu bereiten?«

Er verstummte, und die Glut der Inbrunst in seinen Augen erlosch, als er sah, dass ich ungerührt blieb. Ich war der Sohn eines Pastors – über Predigten hinwegzuhören war eine der ersten Fähigkeiten, die ich im Leben erworben hatte. Mir war nicht zu predigen. Er runzelte die schwarzen Brauen und zog ein finsteres Gesicht. »Vielleicht sind Sie noch schlimmer, als ich es mir vorzustellen vermochte«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht ist es nicht diese Buchhandlung, die das Viertel verschmutzt. Vielleicht sind Sie es, Mr. Hawkins. Vielleicht stecken Sie hinter all dieser Verderbtheit und Lasterhaftigkeit. Eine schwarze Spinne in einem Netz aus Schmutz.«

Ich lachte ungläubig. Sollte ich etwa an sämtlichem Laster in London schuld sein? Beinahe war ich geschmeichelt – bis ich die stille Wut in seiner Miene gewahrte. »Mr. Gonson …«

»Ich habe finstere Geschichten über Sie gehört. Mr. Hawkins. Finster und schrecklich. Es heißt, Sie sollen einen Mann ermordet haben, unten im Borough.«

Kitty, die hinter ihm nach einem Buch griff, hielt kurz inne.

»Ich habe nichts auf diese Gerüchte gegeben«, fuhr Gonson fort, beinahe so, als spräche er mit sich selbst. »Da könnte ich mich geirrt haben. Ich werde der Sache nachgehen.« Er rückte seinen Hut zurecht und ging.

Kitty sank auf den nächststehenden Stuhl und blickte zu mir auf. Sie sah völlig verängstigt aus. Wir wussten beide, dass an den Gerüchten nichts Wahres dran war. Aber wenn Gonson die Ereignisse im vergangenen Herbst gründlicher untersuchte … wenn er unten im Marshalsea-Gefängnis mit den falschen Leuten sprach … dann könnte er die Wahrheit aufdecken. »Oh, Tom …«, hauchte Kitty und begann zu zittern.

»Er hat keinerlei Beweis, Kitty. Keine Zeugen.«

»Nein. Aber er wird graben und nachbohren, bis er irgendetwas findet.« Entschlossen straffte sie die Schultern. »Ich lasse nicht zu, dass er dich mir wegnimmt, Tom. Eher sterbe ich.«

Kapitel 3

Sam erledigte keineswegs einen Botengang. Kitty hatte gelogen, um ihm Gonsons Befragung zu ersparen. Aber wo steckte der Junge? Er war weder in seinem Zimmer ganz oben im Haus noch in der schmalen Abstellkammer, in der er sich manchmal herumdrückte – er verkroch sich gern in den unmöglichsten Winkeln, um ungestört zu lesen. Dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, und die Bücher waren nicht einmal verbotene Ware. Ich fand es sehr verwunderlich, dass ein Junge in seinem Alter Newtons Principia der Venus im Kloster vorzog.

Ich stützte mich im Türrahmen seines Zimmers ab, ohne es zu betreten, und ließ den Blick über die Porträts schweifen, die er in Kohle gezeichnet hatte. Zwanzig oder mehr davon waren an die Wände geheftet, wo sich die Ränder des Papiers vor Feuchtigkeit wellten. Zeichnungen von seiner Familie, von Nachbarn und Straßenhändlern. Ich erkannte seinen Vater James – aufrecht wie ein Soldat mit durchdringendem Blick. Eine schöne Frau im Profil, das Gesicht eingerahmt von schwarzem Haar: Sams Mutter, nahm ich an. Eine kleine Schwester mit fröhlich lächelnden Augen nuckelte an einer winzigen Faust. Ich suchte nach einem Ausdruck der Zuneigung in diesen Zeichnungen, aber Sams Striche waren eher präzise denn liebevoll. Ein Spiegel, der nicht immer die vorteilhafteste Seite zeigte. Mich hatte er an meinem Schreibtisch gezeichnet, eine Hand auf einem offenen Buch. Ich sah gelangweilt aus. Verdrießlich.

»Mr. Hawkins?« Jenny, unsere Dienstmagd, kam aus ihrer Kammer gegenüber. Sie hatte gelernt, sich rasch zu verstecken, wenn Gonson auftauchte. Sie besuchte dieselbe Kirche wie er, und er sollte nicht erfahren, wo sie arbeitete. »Stimmt es, was ich gehört habe? Werden sie Sam verhaften?«

Ich lächelte sie an. »Himmel, nein. Es gab gar keinen Dieb. Alice hat schlecht geträumt, nichts weiter.« Damit gedachte ich sie zu beruhigen, doch sie wurde eher noch unruhiger und trat nun von einem Fuß auf den anderen.

»Bitte um Verzeihung, Herr, aber Alice ist nicht dumm. Sie weiß, ob sie träumt oder nicht.«

Ich musterte sie einen Moment lang und fragte mich, wie Sam mit seinem Blick, der nichts beschönigte, sie wohl zeichnen würde. Sie wirkte nicht ganz gesund – ihr Hautton war beinahe grau, ihre Augen rot gerändert und entzündet. »Was macht dir Kummer, Jenny?«

»Sam, Herr, es ist Sam, er ist der Dieb«, stieß sie hastig hervor. »Er … schleicht oft im Haus herum.«

»Nun – so ist er eben, Jenny. Ich glaube nicht, dass er sich dabei irgendetwas Böses denkt.«

»Im Dunkeln, Herr. Wenn wir schlafen. Neulich Nacht bin ich aufgewacht, und da stand er an meinem Bett.«

Ich zuckte zusammen. Es sah Jenny nicht ähnlich, albernes Zeug zu reden. Sie war so schüchtern, dass sie kaum ihre Ansichten über das Wetter zu äußern wagte. »Ich habe nichts gehört, was …«

»Ich wollte schreien, aber er hat mir den Mund zugehalten. Und seine Augen – ich dachte, er bringt mich um! Aber dann war er so schnell wieder weg, und es war so dunkel, dass ich erst dachte, ich hätte das nur geträumt. Nur jetzt sagt Alice auch, dass sie etwas gesehen hat …« Sie verstummte und blickte hoffnungsvoll, ja erwartungsvoll zu mir auf, als könnte ich mit den Fingern schnippen und alles zum Rechten wenden.

»Das ist tatsächlich merkwürdig«, sagte ich verblüfft. »Ich werde mit Sam sprechen …«

»Nein, oh bitte, Herr! Bitte sagen Sie ihm nichts. Ich habe solche Angst vor ihm. Wie er mich anstarrt … Er würde mich im Schlaf ermorden, da bin ich sicher!« Sie brach halb zusammen und wischte sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen.

»Jenny, beruhige dich. Du übertreibst. Sam war gestern Nacht hier im Haus. Ich habe ihn selbst gesehen. Er kann doch nicht an zwei Orten zugleich sein.«

Sie schniefte und warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Der Teufel findet schon einen Weg, Herr.«

 

Ich versprach Jenny, der Angelegenheit nachzugehen. Und einen Riegel an der Tür zu ihrer Kammer anzubringen. Ihre Erzählung beunruhigte mich, aber was sollte ich tun, wenn nicht Sam zur Rede zu stellen, was sie auf keinen Fall wollte? Immerhin war es möglich, dass sie doch nur geträumt hatte. Ich hatte meine eigenen Gründe, dem Burschen nicht zu vertrauen, aber gestern Nacht hatte ich ihn mit eigenen Augen gesehen, während der Dieb angeblich nebenan herumgeschlichen war. Schatten im Dunkeln, weiter nichts.

Mit knurrendem Magen ging ich nach unten. Mittagessen – das würde helfen, diesen Trübsinn zu vertreiben. Ich steckte den Kopf durch die Tür zum Laden, doch Kitty war verschwunden. An ihrer Stelle … »Verdammt, da bist du ja.«

Sam las in einem Buch über Anatomie. Die schwarzen Locken fielen ihm ins Gesicht. Sein Blick huschte kurz zu mir hoch und richtete sich dann wieder auf eine Abbildung des Herzens mit detaillierten Bezeichnungen seiner Teile.

Ich tippte auf die Seite. »Du befasst dich also mit den Geheimnissen des menschlichen Herzens.«

»Ventrikel.«

Noch vor einem Monat hätte mich diese Antwort befremdet. Doch ich hatte gelernt, Sätze um die wenigen eigentümlichen Worte zu bilden, die er von sich zu geben geruhte. In diesem Fall: »Nein, Sir. Ich studiere nicht die Geheimnisse des menschlichen Herzens, sondern seine Mechanik. Zu der beispielsweise Ventrikel gehören, ein Wort, das ich zu meiner unbegreiflichen persönlichen Belustigung jetzt laut aussprechen werde.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.

»Wo ist Mistress Sparks?«

Nichts.

»Der Stadtvogt war hier. Mr. Burden hat dich beschuldigt, in sein Haus eingebrochen zu sein. Er behauptet, Stephen hätte dich gesehen – der streitet das allerdings ab. Was sagst du dazu?«

Nichts.

»Ich habe dich verteidigt. Miss Sparks hat für dich gelogen, Sam«, drängte ich entnervt. »Wenn ein Gentleman dich gegen den Vorwurf des Diebstahls in Schutz nimmt, gehört es sich, dass du deiner Dankbarkeit Ausdruck verleihst. Etwa so: Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Sir. Oder: Danke, Mr. Hawkins, dass Sie meine Ehre verteidigt haben. Ich stehe in Ihrer Schuld.«

Sam schlug sein Buch zu. »Kesehr.«

Da fehlte ja nur eine Silbe zu einem ganzen Wort. Welch Triumph. Als Sam bei uns angekommen war, hatte ich geglaubt, er sei furchtbar schüchtern gegenüber Fremden oder schwer von Heimweh geplagt. Im Laufe der Zeit war mir klargeworden, dass das einfach sein Temperament war. Ein seltsamer Junge, zweifellos – doch ich hatte ihn bisher nicht als Gefahr für dieses Haus eingeschätzt. War ich zu vertrauensselig gewesen?

Ich wollte gerade aufbrechen, um mir eine anständige Mahlzeit zu suchen, als ein Junge die Buchhandlung betrat. Seine Kleidung war schlecht geflickt, aber sauber, und er war gut genährt. Einer von James Fleets Burschen. Ich blickte zu Sam hinüber und bemerkte ein kurzes Aufflackern von Angst in seinen Augen. Angst vor seinem Vater? Nun – damit stand er nicht allein da.

Der Bursche drückte mir einen Zettel in die Hand.

Hawkins, ich habe etwas für Sie. Kommen Sie sofort zu mir und bringen Sie Sam mit.

Ich bezahlte den Jungen und schickte ihn fort. Quer durch den Raum war zu spüren, wie Sam den Zettel anstarrte.

»Dein Vater wünscht dich zu sehen.«

Seine Augenbrauen zuckten. Oh, diese Angst war mir nur zu vertraut. Wenn ein Junge zu seinem Vater zitiert wird, bedeutet das in neun von zehn Fällen Ärger. Ich hatte meine halbe Kindheit im Studierzimmer meines Vaters verbracht und zu Boden gestarrt, während er sich über meine vielen Makel ausließ. Schwach. Stur. Eitel.

»Ich zieh mich um«, sagte Sam.

Ich war im Geiste bei einem Sermon meines Vaters über meine Garderobe, und diese Bemerkung verwirrte mich – als hätte Sam meine Gedanken gelesen. Erst als er die Stufen zu seiner Dachkammer hinaufeilte, verstand ich.

»Du bist gut genug gekleidet«, rief ich ihm nach.

»Zu gut.«

Da hatte er recht. Ich ging in mein Zimmer und legte meine langweiligsten Beinkleider an, das passende Wams und einen ausgefransten, mausbraunen Paletot. Keine silbernen Knöpfe, keine Stickerei – nicht für einen Ausflug nach St. Giles.

 

St. Giles liegt kaum zehn Minuten Fußweg von Covent Garden entfernt, doch es könnte ebenso gut in einem anderen Land sein. Covent Garden hat seine Gefahren – vor allem bei Nacht. Doch die Straßen von St. Giles gehören zu den tödlichsten der Stadt. Als ich mich das letzte Mal dorthin gewagt hatte, war ich auf Händen und Knien wieder herausgekrochen, blutend und zerschlagen, und hatte mich glücklich geschätzt, mit dem Leben davongekommen zu sein. Hingeführt hatte mich ein junger Bursche, ein Fackelträger, der mir hätte nach Hause leuchten sollen. Stattdessen hatte er mich hereingelegt, mich durch diesen Irrgarten verlauster Straßen in einen Hinterhalt gelockt, wo man mich ausgeraubt und verprügelt hatte.

Derselbe Junge begleitete mich auch heute.

Sams Vater, James Fleet, war Hauptmann der mächtigsten Diebesbande von St. Giles. Ich hätte sie gern als berüchtigt bezeichnet, doch ihr Erfolg beruhte darauf, dass sie ihren Geschäften still und heimlich nachgingen. Fleet war sehr darauf bedacht, sich keinen Namen zu machen, außer dort, wo es darauf ankam: als Flüstern im Schatten. Während andere Banden in der Stadt mit ihren Taten prahlten, arbeiteten Fleets Männer verstohlen und verrieten niemals ein anderes Bandenmitglied, wenn sie erwischt wurden. Seit zehn Jahren herrschte James Fleet über St. Giles – und kaum jemand wusste davon.

Als wir von der Drury Lane in die St. Giles’ Road abbogen, legte ich Sam eine Hand auf die Schulter. Kaum mehr als drei Monate waren vergangen, seit er mich in das Elendsviertel geführt hatte. Ich war einigermaßen sicher, dass ich ihm vergeben hatte. Immerhin waren wir damals Fremde gewesen, und sein Vater hatte später Wiedergutmachung geleistet. Dennoch erinnerte ich mich nur zu gut an den Ausdruck von Stolz und Neugier auf Sams Gesicht, als ich zu Boden geschlagen worden war. An den Stolz darauf, seinen Vater zufriedengestellt zu haben. »Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du mich hierhergebracht hast?«

Er blickte mit kalten, ungerührten schwarzen Augen zu mir auf. »Ja.«

»Du hast dich nie dafür entschuldigt.«

Er dachte kurz darüber nach. »Nein.«

Ich gab es auf.

Die Straßen der Stadt sind niemals wohlriechend, doch St. Giles gewinnt jeden Wettbewerb um das am widerwärtigsten stinkende Viertel von London. Man kann nicht geradeaus gehen, sondern tänzelt um Haufen von Scheiße, Lachen halb geronnenen Blutes und Männer herum, die betrunken oder sterbend im Schmutz liegen. Sam schlängelte sich mit Leichtigkeit durch all den Abschaum, während ich bald in etwas so Widerliches trat, dass ich dem Unrat beinahe noch eine Pfütze Erbrochenes hinzugefügt hätte. Ich griff nach meinem Taschentuch, überlegte es mir dann jedoch anders. Ohne Zweifel wurden wir aus sämtlichen Gassen, von sämtlichen Dächern herab mit schmalen Augen beobachtet. Ich wollte mir auf dem Weg durch St. Giles nicht mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumwedeln wie ein alberner Geck.

Bei Sams Einzug waren seine Kleidung, sein Haar und seine Haut mit dem Parfüm von St. Giles getränkt gewesen. Wir hatten ihm frische Kleidung und saubere Laken gegeben und ihn mehrmals in ein nahes Badehaus geschickt, wo seine Haut geschrubbt und mit duftendem Öl eingerieben wurde. Ich hatte ihm vorgeschlagen, sich auch die Locken abzurasieren, um Läuse und anderes Ungeziefer abzuhalten. Verächtliches Schweigen. Jetzt trug er wieder seine liebsten »alten Klamotten« – eine schäbige alte Mütze, tief in die Stirn gezogen, einen abgetragenen, zerrissenen Rock, fadenscheinige Beinkleider. Sein Vater hätte den einzigen Sohn vom besten Schneider der Stadt einkleiden lassen können, doch damit hätte er nur Aufmerksamkeit erregt. Wie kann der sich so feines Zeug leisten, hm? Niemand in James Fleets Bande trug schöne Kleidung. Sauber und bescheiden – so lautete die Anweisung. Daran hatte ich auch den Jungen mit dem Zettel als einen von Fleets Burschen erkannt.

Hawkins, ich habe etwas für Sie. Kommen Sie sofort zu mir und bringen Sie Sam mit. In meinem Magen flatterte es.

Einige Nächte zuvor hatte ich einen furchtbaren, dummen Fehler gemacht. Ich war Sams Vater zufällig in der Nähe des St. James’s Park begegnet. Das war nicht sein angestammtes Revier, und er hatte auf seinem Weg durch ein so achtbares Stadtviertel irgendwie … kleiner gewirkt. Ja, geradezu verloren. Deshalb hatte ich ihn eingeladen, mir an den Spieltischen Gesellschaft zu leisten.

Ich war nicht darauf gekommen, mich zu fragen, was er in St. James’s zu suchen hatte. Einem Mann wie Fleet begegnete man nicht zufällig. Nun war ich sicher, dass er mir aufgelauert hatte, aber damals hatte ich nicht so weit gedacht.

Er hatte mich in einem schwachen Augenblick erwischt, und das wusste er auch, der verschlagene Bastard. Das Marshalsea-Gefängnis hatte einen langen Schatten auf meine Seele geworfen. Ich war beinahe umgekommen, und die Zeit dort hatte mich verändert – das erkannte ich deutlich, wenn ich mich selbst im Spiegel betrachtete. Auf »alles und alle werden gut sein« vertraute ich nicht mehr. Ich war nicht länger der sorglose Bursche, der ich einst gewesen war. Aber was war ich nun? Kein Geistlicher, den Wünschen meines Vaters zum Trotz. Also … was dann? Was war meine Aufgabe im Leben? Das vermochte ich nicht zu sagen. Und ein Mann ohne Ziel, ohne Vorsatz, ist leicht in die Falle zu locken.

Ich nahm James Fleet mit in den Spielsalon, als führte ich einen zahmen Löwen an der Leine vor. Seht her! Seht, was ich mitgebracht habe! Ich verspielte sämtliches Geld in meiner Börse und trank, bis der Boden unter meinen Füßen schwankte wie ein Schiffsdeck. All die Schwüre, die ich nach meinem Aufenthalt im Gefängnis geleistet hatte, wichen diesem billigen, verführerischen Gedanken: Zum Teufel mit den Bedenken – das Leben will gelebt werden! Ich war aus dem Gefängnis freigekommen. Ich hatte Kittys Herz erobert. Ich hatte selbst für meine Sicherheit gesorgt. Das Spiel war vorüber. Also – was nun?

Einmal mehr die Würfel rollen lassen, natürlich. Denn das Spiel musste weitergehen.