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Das Syndikat E-Book

Fran Ray

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Beschreibung

Ein Fall mit internationaler Brisanz und tödlichem Risiko: Der fesselnde Verschwörungsthriller »Das Syndikat« von Fran Ray als eBook bei dotbooks. Innerhalb kurzer Zeit erschüttert eine Reihe schrecklicher Ereignisse die Welt: Während in San Diego ein friedlicher Familienhund plötzlich zur brutalen Bestie wird, detoniert in Brüssel eine Bombe in einem Restaurant, in dem sich ein bekannter Enthüllungsjournalist aufhält. Und in Afghanistan hat eine Söldnergruppe ein grausames Massaker verübt – doch in den Wochen darauf stirbt einer der Männer nach dem anderen unter rätselhaften Umständen. Die junge Journalistin Karen Burnett glaubt nicht an einen Zufall. Sie ist sich sicher, dass es eine Verbindung zwischen den grausamen Morden gibt und fest entschlossen, diese ans Licht zu bringen. So kommt sie schon bald auf die Spur einer tödlichen Verschwörung – und gerät mitten ins Visier einer gefährlichen Organisation ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Das Syndikat« von Fran Ray wird Fans von Marc Elsberg und Don Winslow begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 579

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Über dieses Buch:

Innerhalb kurzer Zeit erschüttert eine Reihe schrecklicher Ereignisse die Welt: Während in San Diego ein friedlicher Familienhund plötzlich zur brutalen Bestie wird, detoniert in Brüssel eine Bombe in einem Restaurant, in dem sich ein bekannter Enthüllungsjournalist aufhält. Und in Afghanistan hat eine Söldnergruppe ein grausames Massaker verübt – doch in den Wochen darauf stirbt einer der Männer nach dem anderen unter rätselhaften Umständen. Die junge Journalistin Karen Burnett glaubt nicht an einen Zufall. Sie ist sich sicher, dass es eine Verbindung zwischen den grausamen Morden gibt und fest entschlossen, diese ans Licht zu bringen. So kommt sie schon bald auf die Spur einer tödlichen Verschwörung – und gerät mitten ins Visier einer gefährlichen Organisation ...

Über die Autorin:

Fran Ray (Pseudonym) wurde 1963 in Deutschland geboren und arbeitete nach dem Studium im Filmgeschäft. Mehrere Jahre lebte sie in München und Australien und schrieb unter dem Namen Manuela Martini mehrere Krimi-Reihen. Viele Jahre stand ihr Schreibtisch in einer Finca in Südspanien. Dort entstanden die Thriller »Die Saat« und »Das Syndikat«, sowie Jugendthriller und Kinderbücher. Inzwischen lebt sie mit ihrer Frau und zwei Hunden am Ammersee in der Nähe von München. Heute befasst sich weiter mit Menschen, ihren Schicksalen und Lebensläufen, indem sie hauptberuflich als Trauerrednerin tätig ist.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Thriller »Die Saat« und »Der Skandal«.

***

eBook-Neuausgabe März 2024

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com und Midjourney

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-060-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

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***

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***

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Fran Ray

Das Syndikat

Thriller

dotbooks.

Dieser Roman ist reine Fiktion.

Jede Ähnlichkeit mit Firmen, Institutionen, lebenden

oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Für meine Eltern

Kapitel 1

San Diego

Als Ann McLaughlin mit dem Saft für die Kinder und dem Tee für sich und ihre Freundin Virginia in den Garten ging und hinauf in den Himmel sah, spürte sie ein unangenehmes Schaudern. Vor einer Stunde waren die Wolken grau und weit weg gewesen, doch jetzt hatten sie sich über den Ozean herangeschoben, düster und im Innern violett schimmernd, ein gewaltiges Gebirge, das die Berge, die sich jenseits der Gartenmauer erstreckten, jeden Moment zu überrollen und zu erdrücken drohte. In den zwei Jahren, die sie und Marc mit der kleinen Liza hier lebte, hatte sie noch nie einen solchen Himmel gesehen. So gewaltsam und irgendwie unheimlich. Früher, in New York, da hatte man zwischen den Häusern und Mauern immer nur Ausschnitte des Himmels erkennen können. Als wäre er Hintergrund, Dekoration, nicht aber Gewalt.

»Hoffentlich gibt’s kein Gewitter. Der Kleine mag das überhaupt nicht. Nicht wahr, William?«

»Wie bitte?« Ann war so in Gedanken vertieft, dass sie ihre Freundin ganz vergessen hatte, die mit dem ihr eigenen sanften Lächeln ihr Baby betrachtete und den Kinderwagen schaukelte. »Ich sagte, hoffentlich gibt’s kein Gewitter. William mag das überhaupt nicht.«

Virginia James lebte seit fünf Jahren hier, nur ein paar Häuser weiter, mit ihrem Ehemann, dem inzwischen fünfjährigen Shaun und dem Baby William. Sie war es gewesen, die Ann mit anderen Müttern bekannt gemacht hatte, als sie und Marc von New York hierhergezogen waren, weil man ihm einen guten Job angeboten hatte.

»Und du magst auch keine Gewitter, was, Sam?« Ann blickte zu ihrem schokofarbenen Labrador, der gierig das Tablett betrachtete, das sie gerade auf den Gartentisch stellte. Sam machte sitz und sah Ann mit schiefgelegtem Kopf treuherzig und geduldig an. »Ja, du bist ein guter Hund.« Sie schenkte ihm einen liebevollen Blick. Sam war Teil ihres neuen Lebens. Marc hatte ihn mitgebracht. Der Hund hatte eines Tages einfach vor seinem Auto gelegen, als hätte er sich eine neue Familie ausgesucht. Marc wusste nicht, woher er kam. Ausgesetzt vielleicht, hatten sie gedacht. Ann hatte ihn gleich ins Herz geschlossen. Sie seufzte. Ja, sie war glücklich. In New York hätte sie nie daran gedacht, einen Hund zu haben. Aber hier war alles anders – ruhiger, friedlicher. Wenn heute nur nicht diese merkwürdige Spannung in der Luft läge ...

Ann setzte sich Virginia gegenüber an den runden Gartentisch. »Ich glaube, das ist was ganz Archaisches.« Sie goss den grünen Tee in die beiden Tassen. »Diese Angst vor Donner und Blitz.«

Virginia lachte und nahm ihre Tasse. Ann spürte, wie etwas in ihr rebellierte. »Ich meine das ernst«, sagte sie schroffer als gewollt. Sogleich bemerkte sie ein Zucken um Virginias Mundwinkel.

»Hast du ein bisschen Zitrone?«, fragte Virginia knapp. »Ich hol sie mir auch selbst.«

»Im Kühlschrank.«

Virginia stand auf und ging zum Haus. Ann sah ihr nach, wie sie über den gepflegten grünen Rasen ging, vorbei an den Terrakotta-Blumentöpfen, in denen Ann liebevoll Zitronen- und Orangenbäumchen gepflanzt hatte, die glücklicherweise alle angewachsen waren. Es musste an diesem Wetter liegen, dass sie heute so gereizt war, an dieser drückenden, schwülen Luft.

Sams feuchte Hundeschnauze stupste sie an ... Manchmal konnte sie ihrem eigenen Glück nicht trauen, dann war sie sicher, dass sie irgendwann dafür zahlen müsste. Dass sie so etwas wie eine Rechnung erhalten würde, auf der der Preis für ihr Glück stand. Aber war das nicht Unsinn? Sie sollte Vertrauen haben und das Glück einfach annehmen.

»Mom!« Die fünfjährige Liza und Shaun standen wenige Meter von Ann und dem Gartentisch entfernt vor dem Ahornbäumchen, das Marc beim Einzug gepflanzt hatte.

»Was ist, Honey?«

»Die hat den Ball da hochgeschossen!«, rief Shaun und deutete mit ausgestrecktem Arm hinauf in die Baumkrone. Ann stand lächelnd auf. Der kleine Wildfang, dachte sie zärtlich. »Na, Liza, du bist mir eine.«

»Was für eine, Mom?« Liza sah Ann mit Unschuldsmiene an. Genau so eine, dachte Ann, eine raffinierte kleine Lady. Aber das sagte sie nicht laut, sonst hätte Liza sicher gleich wieder gefragt, was das bedeutete.

Nur noch zwei Schritte trennten Ann von den Kindern und dem Ahornbäumchen, als Virginias Handy klingelte und im selben Moment ein lauter, schriller Schrei ertönte. Ann fuhr herum. Alles schien gleichzeitig zu passieren: Der Kinderwagen kippte, Virginia stürzte auf etwas Wildes, Dunkles zu. Liza schrie, Shaun schrie ...

»Sam! Sam!« Ann rannte auf den tobenden Hund zu, er zerrte an etwas, schleifte es übers Gras, und Virginia schlug auf ihn ein ...

»Nein!« Virginia stolperte, warf sich auf den Hund, der ein schreckliches Heulen ausstieß und sich losriss. Seine Beute hatte er immer noch nicht losgelassen ...

Ann bekam ihn an den Hinterläufen zu fassen, zog und zerrte. »Sam!«

»Mom!«, brüllte Liza und klammerte sich an Anns Beine. »Lass mein Baby los!« Virginia schlug auf den Hund ein.

Nein! Das war nicht möglich! Das nicht ... Ann versuchte, die Hinterläufe festzuhalten, doch der Hund wand sich mit unheimlicher Kraft. Ein wildes Tier, dachte sie. Die Läufe entglitten ihr. Der Hund ... Mein Gott, das ist nicht mehr Sam, das ist nur noch ein Hund ... Er flüchtete unter die Eibenhecke und kauerte sich zwischen die Stämme.

Ann warf sich auf die Knie und sah ihm in die gelb funkelnden Augen. Aus seinem Maul hing ... Anns Herz setzte aus ... etwas Blauweißes ... der Strampelanzug ... Nein! »Sam«, brachte sie flüsternd heraus. »Sam, bitte.« Eine gähnende Schwärze tat sich in ihrem Innern auf. Ihr Hund hatte Virginias Baby gerissen, wie ein hungriger Wolf ein schwaches Lamm ... Das Blut sackte ihr aus dem Kopf, ihr wurde schwindelig. »Bitte, Sam ...« Sie streckte die zitternde Hand nach ihm aus.

Der Hund gab ein grollendes, drohendes Knurren von sich, ihre Hand zuckte zurück. Was war aus ihrem Hund geworden?

Da hörte sie Virginia laut schluchzen. Mein Gott ... Virginia ... Sie wollte ihr nicht in die Augen sehen, aber sie musste es tun. Die Zeit dehnte sich unendlich, Ann drehte sich um. Virginia hatte sich aufgerichtet, sie hielt das nackte Baby an sich gedrückt.

»Virginia!«, stieß Ann hervor, so unendlich erleichtert. Sie wollte noch mehr sagen, aber es gelang ihr nicht, sie konnte sich nicht rühren, konnte nichts mehr denken, bis ihr Blick auf Liza und Shaun fiel, die sich hinter Virginia versteckten. Mein Gott, es hätte auch Liza treffen können ...

»Mom!«, heulte Liza, während sie sich an Virginia klammerte.

»Er hat mein Baby angefallen!«, kreischte Virginia und presste das nackte Baby noch fester an sich. »Dein verdammter Hund wollte mein Baby fressen! Diese Bestie! Töte ihn!« Ihre Stimme überschlug sich. »Du musst dieses Monster töten, sofort!«

Flecken bildeten sich auf Virginias Hals, das blonde Haar klebte ihr strähnig im Gesicht. Sie zitterte, ihr Atem ging stoßartig.

Alle starren mich an, als wäre ich an alldem schuld, dachte Ann. Dabei hat Marc ihn mitgebracht. Doch sie war sofort einverstanden gewesen, ihn zu behalten, als er sie mit seinen treuen Hundeaugen angesehen hatte. Nicht eine Sekunde hatte sie gezögert, und schnell wurde er ihr Hund, viel mehr als Marcs. Er wich ihr nicht mehr von der Seite. Ob sie in den Garten zum Blumengießen ging oder in die Küche. Und er schlief neben ihrem Bett.

»Dein ... dein verfluchter Köter!«, schrie Virginia wieder.

»Virginia! Hör auf!«, befahl Ann grob. Eine seltsame Verwandlung war in ihr geschehen. Sie fühlte nichts mehr.

»Geht ins Haus«, sagte sie mit ruhiger, entschlossener Stimme.

»Mom!«, wimmerte Liza.

»Es wird alles gut, Darling, geh mit Virginia ins Haus. Und zieht die Vorhänge zu.«

Virginia sah sie befremdet an, den Kopf des Babys schützend an ihre Schulter gepresst. Sie rührte sich nicht.

Das Knurren wurde lauter. Virginia wich zurück.

»Bitte, Virginia«, sagte Ann, und endlich bewegte Virginia sich und führte die Kinder ins Haus. Als sie die Terrassentür von innen geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, ging Ann zum Gartenschuppen. Sam kauerte noch immer unter der Hecke. Sein Knurren klang schauerlich. Fremd, wie von einem anderen Wesen. Nicht wie von Sam. Nicht wie von diesem gutmütigen Hund, der ihr so sehr ans Herz gewachsen war.

Ann wandte sich ab. Sie zog die quietschende Tür auf, ging zur rechten hinteren Ecke, in der neben dem Rasenmäher die Gartengeräte standen. Zwei Schaufeln, ein Rechen, ein Beil, eine Axt und dahinter die unscheinbare Kunststoffkiste mit alten Gartenpolstern und der stets geladenen Schrotflinte. Für Schlangen – und Notfälle. Sie nahm das Gewehr, verließ den Schuppen, ging zur Hecke. Plötzlich war es still. Kein Knurren, kein Wind, kein Vogellaut. Nichts. Eine zeitlose, raumlose Stille, wie sie sie nur aus Träumen kannte.

Als Ann vor dem Hund stand, blickte er auf. Die Pupillen hatten sich zu schwarzen Strichen zusammengezogen. Er hat doch nie solche Augen gehabt, dachte Ann. Wolfsaugen. Wilde Wolfsaugen. Als sei etwas Unbekanntes in ihn eingedrungen und habe Besitz von ihm ergriffen. Das ist nicht mehr Sam, sagte sie sich, als sie daran dachte, was sie gleich tun würde. Der Hund fing wieder an zu knurren, fletschte die Zähne, spannte den Körper zum Sprung.

Sie hob die Flinte, zielte genau zwischen die Augen und drückte ab. Einmal. Zweimal.

Blut spritzte auf ihr Sommerkleid und ihre nackten Beine.

Entsetzt starrte sie an sich hinunter, und erst jetzt fragte sie sich, wie sie so etwas hatte tun können.

Sie sank auf die Knie neben den toten Hund und fing an zu schluchzen. Über ihr hing ein schwarzer Himmel, und ihr war, als würde er jede Sekunde auf sie herabstürzen und sie neben Sam begraben.

Wie konnte so etwas nur passieren? Sam hatte noch nie ... Er hatte noch nicht einmal ein Kaninchen, eine Katze oder einen Vogel angegriffen. Ein ruhiger, friedlicher Hund war er gewesen ... Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, berührte seine Schnauze ... Es war so still, so unheimlich still.

Ein Donnerschlag machte der Stille ein Ende. Ein greller Blitz zuckte, und dann regnete es. Wassermassen schossen vom Himmel, doch Ann rührte sich nicht, immer wieder streichelte sie das schokobraune Fell vor ihr im Gras und weinte.

Kapitel 2

Brüssel

Karen Burnett trat von einem Bein aufs andere, aber ihr wurde nicht wärmer.

»Michael, bitte, das kann doch nicht so schwer sein«, sagte sie zitternd und schlang die Arme um den Körper, dabei trug sie schon ihren gefütterten Wintermantel. Eine Ewigkeit, so kam es ihr vor, versuchte er, den Mercedes anzulassen, und jetzt hatte er auch noch die Motorhaube geöffnet. Dabei wussten beide, dass er zwar eine komplizierte Rede auf Maltesisch simultan ins Englische übersetzen konnte, dass er aber keine Ahnung hatte von Anlassern, Autobatterien und Zündkerzen. Selbst Reifen wechseln konnte sie schneller als er. Sie zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. Eine Ewigkeit hatte sie gebraucht, um ihre Frisur einigermaßen hinzukriegen, und jetzt machte der Schnee alles wieder zunichte.

»Verfluchte Kiste!«, brummte er.

»Dieses bisschen Schnee wird uns doch nicht aufhalten, Michael!«, sagte sie gereizt. Warum hatte er seinen BMW auch gestern Abend in der Stadt stehen lassen müssen? Weil er mit Kollegen ausgegangen war und zwei Bier getrunken hatte. Während sie sich zu Hause mal wieder mit einer Flasche Brandy verkrochen hatte. Sie dachte an die Tabletten in ihrer Handtasche. Großartig, Karen, und dann schläfst du ein vor dem Mikro. Außerdem hast du erst vor einer halben Stunde eine Tablette genommen. Wenn es doch nur nicht so kalt wäre! Die Narbe in ihrem Gesicht brannte. Und ihre Füße in den Stiefeln kribbelten unangenehm. Sie würde sich eine Blasenentzündung holen, bestimmt. Seit ... der Sache – sie verbot sich weiterzudenken – war sie extrem kälteempfindlich. Nein, nicht nur kälteempfindlich, all ihre Nerven lagen blank, wie Drähte, von denen man die schützende Plastikhülle heruntergerissen hatte.

»Das bisschen Schnee?« Michael kam hoch und wies zum offenen Garagentor hinaus. Ein dichter Schneevorhang wehte von einem grauen Himmel.

Den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden. Als wäre die Erde plötzlich in eine andere, sonnenfernere Umlaufbahn geraten, dachte sie.

»Karen, das ist ein ... ein Blizzard.«

»Ein Blizzard in Brüssel? Ach, Michael, du hast noch keinen erlebt.« Der Blizzard in Toronto vor zwei Jahren fiel ihr ein. Zwei Stunden war sie im Auto eingeschneit. An den letzten Sommer hatte sie damals gedacht, an die Blumen und die Sonne und ob sie sie wirklich nie wiedersehen würde, und je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr bedauerte sie, dass sie so vieles nicht gelebt hatte.

»Aber du natürlich«, sagte er genervt. »Du hast ja schon alles erlebt.«

Nichts war mehr einfach zwischen ihnen. Und dieser Satz von ihm, der noch immer wie eingefroren in der kalten Schneeluft hing, zeigte ihr, wie zerbrechlich ihre Beziehung geworden war. Hastig steckte er den Kopf wieder unter die Motorhaube und murmelte etwas Unverständliches. Eine Entschuldigung?

Sie sollte netter zu ihm sein, er gab sich doch Mühe. Und wie so oft in letzter Zeit tat er ihr sogar leid.

»Ich ruf ein Taxi«, sagte sie. Sie rieb sich die Hände, die trotz der warmen Handschuhe eiskalt waren und sich anfühlten, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Ausgerechnet heute fuhr auch die U-Bahn nicht, wegen Gleisbauarbeiten. Warum nahm sie nicht einfach ein paar Tabletten, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf?

Er ließ die Motorhaube zufallen, sie zuckte zusammen.

»Wahrscheinlich die Batterie«, sagte er, »du hättest in den letzten Tagen den Motor öfter mal anlassen sollen.«

»Natürlich, ich setze mich jeden Morgen eine halbe Stunde in die Garage und lasse den Motor laufen. Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich sitze gern in der Garage! Da ist es so schön ruhig und ...«

»Mein Gott, Karen! Musst du immer so sarkastisch sein?«

Er hat ja recht, dachte sie. Der Schnee fiel immer dichter, als wollte er all die unsinnigen und überflüssigen Worte verschlucken und sie ungesagt machen.

»Es tut mir leid«, sagte sie und versuchte ein Lächeln.

Er nickte, aber sein Lächeln wirkte matt, als habe ihn das Zusammensein mit ihr erschöpft.

Versuchen Sie, in Ihren Alltag zurückzufinden, Freude an kleinen Dingen zu empfinden – sie versuchte es ja, jeden Tag, aber irgendwie erfolglos.

Sie streifte die Handschuhe ab, kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, zögerte kurz, als sie die Tablettenpackung sah, nahm dann aber doch nur das Handy heraus und wählte die gespeicherte Nummer des Taxiunternehmens.

Mozart. Eine kleine Nachtmusik. In einer endlosen Tonschleife. Mozart, Karen, kann jeder lieben. Beethoven dagegen muss man verstehen. Ja, Mom, wie du, dachte sie.

»Rechnen Sie mit zwanzig Minuten, überall ist Stau wegen dem Wetter«, sagte die Frauenstimme am Telefon.

»Zwanzig Minuten!«, brauste sie auf. »Bis dahin bin ich ja zu Fuß längst da! Es gibt ... Es wird doch wohl möglich sein ...«

»Es tut mir leid, wollen Sie nun einen Wagen bestellen oder nicht?«, unterbrach die Frau sie.

»Würde ich Sie sonst anrufen?«, gab sie zu patzig zurück, nannte aber dann doch ihre Adresse.

Zwanzig Minuten! Noch mal zwanzig Minuten Fahrt, macht vierzig Minuten ...

»He, wir schaffen’s schon!« Michael rieb sich die Hände so gründlich an einem Lappen ab, als hätte er gerade einen ganzen Motor auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Sie wusste nicht genau, was er meinte. Dass sie wieder zueinanderfanden oder dass sie rechtzeitig zur Preisverleihung kamen.

Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, aber sie wusste, dass er sich dazu zwang. Was hab ich nur gegen ihn? Er ist aufmerksam, intelligent, sieht gut aus mit seinen kurzen grauen Haaren und der olivfarbenen Haut, die Frauen drehen sich nach ihm um. Sie fühlte sich unwohl, ungenügend und gefangen. Warum bist du nicht ein bisschen fröhlicher, Karen? Ich kann nicht, es geht einfach nicht.

Sie machte einen Schritt nach draußen, hob das Gesicht zum grauschwarzen Himmel und spürte die wässrigen Schneeflocken wie Nadeln, die schmerzhaft in sie eindrangen. Schnell trat sie zurück in die Garage. Ausgerechnet heute. An ihrem wichtigen Tag. Ausgerechnet heute schneite es. Ausgerechnet heute sprang das Auto nicht an. Ausgerechnet heute steckte das Taxi fest. Es kam ihr vor, als hätten sich irgendwelche Kräfte verbündet, um sie von etwas zurückzuhalten. Sie griff in die Handtasche und tastete nach der Packung. Eine Tablette, und die Welt tritt einen Schritt zurück. So einfach war das. Manchmal. Michael warf ihr einen fragenden Blick zu, und sie machte die Tasche wieder zu. Sie würde es auch ohne schaffen. Die paar Stunden wenigstens.

Endlich näherten sich zwei gelbliche Scheinwerfer durch den tiefgrauen Schneevorhang, blieben schließlich in der Hecke vor dem Garagentor hängen. Das Taxi, endlich.

»Das ist ja ein Weltuntergangswetter!«, sagte der Taxifahrer gut gelaunt, während sie sich auf die Rückbank schoben. »Am besten, man bleibt zu Hause.«

»Ja, aber wir müssen weg«, sagte Michael. Auf einmal war auch er gut gelaunt. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg zur BA Banque & Assurance, Place de la Bourse, meine Frau bekommt dort in genau ...«, er sah auf seine Armbanduhr – eine Maurice Lacroix, von der er sich einfach nicht trennen wollte, obwohl Karen sie nicht mochte, für sie war es eine Altherrenuhr, »... vierzig Minuten den Press Award verliehen. Und wenn sie nicht rechtzeitig kommt, dann ist das eine ...«

»... eine Katastrophe«, beendete der Taxifahrer den Satz. »Alles klar.«

Michael lächelte erst den Taxifahrer an, dann sie. Wenn Michael so leutselig wurde, kam es ihr vor, als machte er das absichtlich, um ihr zu demonstrieren, was für ein netter Kerl er doch war und wie verquer sie sein musste, wenn sie nicht genauso empfand. Karen stöhnte leise auf, während sie sich mit dem Sicherheitsgurt abmühte.

»Kenn ich Sie nicht aus dem Fernsehen?« Der Taxifahrer musterte sie im Rückspiegel.

»Karen Burnett«, antwortete Michael für sie, »sie ist es, ja.« Er warf ihr ein Lächeln zu. Dieser blöde Sicherheitsgurt, sie stocherte immer noch am Verschluss herum.

»Aber ...« Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um. »Waren Sie nicht ... vermisst?«

»Sie meinen Jane Burnett, meine Mutter.« Sie klang unfreundlicher, als sie wollte. Michael drückte ihr beschwichtigend die Hand.

»Oh, entschuldigen Sie, aber diese Ähnlichkeit«, sagte der Taxifahrer erschüttert. »Fürchterlich! Meine Frau und ich haben alle ihre Reportagen gesehen, und wenn sie in den Nachrichten kam ... Sie war immer so ... so mutig, ich hab sie bewundert. Es tut mir leid, das mit Ihrer Mutter.«

»Könnten Sie sich bitte beeilen«, sagte Karen nur, und Michael drückte ihr wieder die Hand.

»Ich tu, was ich kann«, sagte der Taxifahrer rasch, »aber das Wetter ... Alle Straßen sind verstopft, und die Tram hängt an jeder festgefrorenen Weiche fest. Tja, höhere Gewalt.« Dann gab er endlich Gas, und der Wagen schlitterte über die vereiste Straße.

Höhere Gewalt ... Gewalt ...

In letzter Zeit tauchte dieses Wort ständig in ihrem Leben auf. Sie hatte sich eine Sig Sauer besorgt. Handlich. Zuverlässig. Schießübungen hatte sie schon vor Afghanistan gemacht. Nach ihrer Rückkehr aus Kabul war sie vier Tage lang nicht mehr ohne die Waffe aus dem Haus gegangen, hatte sie in ihrer Handtasche sogar zum Einkaufen mitgenommen. Bis sie ihr rausfiel, an der Kasse, als sie gleichzeitig nach ihrem Portemonnaie und dem klingelnden Handy kramte. Die Leute in der Schlange hatten sie entsetzt angesehen, und die Kassiererin war bleich geworden. Karen hatte sich wortlos gebückt und die Waffe wieder in die Handtasche gesteckt.

Dann hatte sie gezahlt, ihre Tüten genommen und war gegangen. Natürlich ließ sie sich dort nicht mehr blicken.

Und selbst heute, sie war schon fertig angekleidet, war sie noch mal ins Arbeitszimmer gegangen, hatte unter den Schreibtischsessel gegriffen und den Lauf berührt. Ruckartig hatte sie die Hand weggezogen und die Zimmertür zugeknallt. Wenn sie sie in der Handtasche hätte, würde sie den ganzen Abend an dieses Schießeisen denken.

»Warum bleiben die Leute nicht einfach zu Hause?« Michael pochte gegen das Seitenfenster. Das metallische Geräusch kam von seinem Ehering. Unwillkürlich berührte sie ihren. Ihren neuen, nachdem sie ihr den alten weggenommen hatten. Michael hatte ihn gleich am Tag nach ihrer Rückkehr aus Afghanistan gekauft. Als hätte sich nichts verändert.

Ketten von gelben und roten Autoscheinwerfern zogen sich über die Fahrbahnen. Auspuffqualm stieg auf. Weiter vorn glühten Neontafeln im feuchten Nebel.

»Gibt’s keinen anderen Weg?«, fragte sie ungeduldig.

»Nein«, der Taxifahrer ließ die Hände aufs Lenkrad fallen. »Wir müssen hier durch.«

Eine Weile konzentrierte sie sich auf den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr. Sie zählte. Doch das machte sie noch nervöser. Seit sechs Minuten schon steckten sie fest. Obwohl die Ampel regelmäßig auf Grün schaltete, bewegten sich die Autos vor ihnen nicht.

Eingeklemmt ... ein Fahrzeug vor ihnen, eines hinter ihnen, drei Männer, keine Möglichkeit auszuweichen ... Sie hat es kommen sehen, alle haben es kommen sehen, befürchtet ... und dann passiert es. Das vordere Auto bremst, das hintere rammt sie, da schießen sie schon, der Fahrer sackt zusammen, sie kommen, zerren sie aus dem Auto ...

Sie spürte, wie sich etwas Schweres auf ihre Brust legte und ihr die Luft abdrückte. Ihr brach der Schweiß aus. Sie musste ... musste raus.

»Ich steig aus.« Die eine Hand löste den Gurt, die andere schnappte nach dem Türgriff.

»Hier?«, Michael hob übertrieben die Brauen.

»Du kannst ja hier drin sitzen bleiben!« Sie stieß die Tür auf. Schneeregen klatschte ihr ins Gesicht. Egal.

»Warte!« Michael zahlte den Taxifahrer und stieg aus. Er lief hinten um das Taxi herum und folgte ihr über einen Wall aus Schneematsch.

Sie stolperte, trat in eine Pfütze, fluchte, ihr Haar löste sich unter der Kapuze, Schneeregen peitschte ihr ins Gesicht. Das Make-up hätte sie sich sparen können. Sie musste aussehen, als wäre sie gerade aus dem Überlebenscamp geflohen. Ausgerechnet heute.

»Karen«, rief Michael hinter ihr, »wahrscheinlich ist sowieso keiner pünktlich. Die stecken alle im Stau. Warum schickst du nicht eine SMS? Sie sollen dir das Ding per Post senden.«

Abrupt blieb sie stehen. »Ich geh da rein und hol mir dieses verfluchte – wie du es nennst – Ding! Und nichts und niemand hält mich davon ab!«

Er lachte kurz auf. »So kennen und lieben wir sie alle: Die Burnett, trotzt sogar einem Blizzard! Stürzt sich in jedes Abenteuer!«

»Es ist kein Blizzard, Michael«, sie sah ihn herausfordernd an und stapfte wieder los, »und ich bin nicht die Burnett, Herrgott noch mal!« Das war ihre Mutter, immer noch, nein – noch mehr, seitdem sie tot war. Starjournalistin für die Londoner Times und die New York Times, und dann im Fernsehen bei CNN. Jane Burnett, die immer eine Lösung parat hatte, die Auszeichnungen und Preise abräumte, für die es nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gab, wie sie gar nicht bescheiden – das war sie nie gewesen – ihre Autobiographie genannt hatte.

Und natürlich hatte das Buch sechs Wochen oder sogar sieben auf der New-York-Times-Bestsellerliste gestanden, und natürlich hatte sie den Booker Prize gewonnen und noch ein paar andere Auszeichnungen. Sie hatte es geschafft, sich zu inszenieren, ob wort- und weltgewandt in Talkrunden oder zornig mit zerzaustem dunklen Haar auf brennenden Ölfeldern in Kuwait und vor traurigen Trümmern im Kosovo. Jane Burnett hatte sich stilisiert zur Ikone der Kriegsberichterstattung.

»Karen, he, das war ein Spaß!«, rief er und versuchte, mit ihr Schritt zu halten. »Ich wollte dich ein bisschen locker machen.«

»Danke, darin bist du wirklich gut«, sagte sie.

»Ich verstehe überhaupt nicht, was du gegen deine Mutter hast – und überhaupt gegen deine Eltern. Wirklich. Warum bist du nicht einfach stolz auf sie? Deine Mom, die kompromisslose Journalistin! Und dein Vater: ein Held! Im Krieg für Amerika gestorben! Du hast echte Patrioten als Eltern. Meine waren mittellose Immigranten.«

Sie erwiderte nichts. Ihre Mutter war eine Egozentrikerin gewesen, hatte sich schon immer um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gekümmert anstatt um ihre kleine Tochter. Und ihren Vater, Major John Kelly, hatte sie gar nicht erst kennengelernt. Sie, Karen, war nicht mehr als eine kurze, sehr kurze Episode während einiger kalter Wüstennächte gewesen, in denen zwei Menschen mit viel Adrenalin im Blut zueinanderfanden, erleichtert und dankbar, dass sie wieder einen Tag überlebt hatten.

Er war ein sehr tapferer, intelligenter und liebenswerter Mann, Karen. Ihr hättet euch sicher gut verstanden. Er war viel, viel geduldiger als ich. Er konnte gut zuhören, wusste etwas zu erzählen, besaß Charakter, Autorität, Verständnis, wurde ihre Mutter nicht müde zu betonen, und manchmal fügte sie noch hinzu: Er war im Grunde ein besserer Mensch als ich. Und das aus dem Mund ihrer Mutter!

Nur einen Monat nach ihrer gemeinsamen Zeit in der Wüste, ihre Mutter war schon längst in einem anderen Teil des Landes, wurde Major John Kelly bei einem Angriff in Kuwait getötet. Geheiratet hatten sie nie.

Wahrscheinlich habe ich deshalb so früh geheiratet, dachte Karen manchmal, weil ich nicht sein wollte wie sie. Journalistin wollte sie eigentlich auch nie werden. Und so schlug sie sich mit Politik- und Wirtschaftswissenschaft herum, bis sie begriff, dass sie eigentlich die Nähe zu Journalismus-Kommilitonen suchte, weil sie sie beneidete.

»Karen – du bist diejenige, die heute einen Preis bekommt. Nicht deine Mutter. Du hast keinen Grund, dich schlecht zu fühlen«, hörte sie Michael sagen.

Als bräuchte man immer einen Grund, Michael.

Er schob den Arm unter ihren. »Jetzt geht es um dich, okay? Allein um dich. Du kriegst diesen Preis für deine Reportage über das Flüchtlingslager in Patras. Du hast ihn verdient.«

Sie schüttelte seinen Arm nicht ab, ja, sie war ihm sogar dankbar für diese Geste. Er hatte recht. Sie sollte endlich mal nicht an ihre Mutter denken.

»Okay«, sie nickte. »Es geht um mich.«

»Genau.« Er lächelte. »Und jetzt gehen wir da rein ...«

»... und ich hol mir dieses Ding.«

»Jawohl!«

Für ein paar Sekunden fühlte sie sich wieder mit ihm verbunden, so wie früher.

Mit Schneeflocken auf den Haaren und Mänteln und mit nassen Schuhen, aber fünf Minuten vor der Zeit stapften sie ins golden glänzende Foyer. Im Toilettenraum versuchte Karen, nicht vor dem Gesicht zu erschrecken, das ihr da entgegensah. Rote Nase und Wangen, verschmierter Lidschatten, nasse blonde Strähnen.

Und ihr Blick erst. Sie versuchte ein Lächeln. Komm schon, Karen!

Sie machte sich daran, zu retten, was zu retten war. Ein bisschen Puder, ein bisschen Lippenstift, Haare unter den Händetrockner halten, dann raus. Michael gab gerade ihre Mäntel ab, da kam schon eine ausgestreckte Hand auf sie zu.

»Madame Burnett! Sie haben es geschafft! Aber wir haben sowieso keinen Moment daran gezweifelt! Kommen Sie! Wir bedauern es sehr, dass wir Ihnen kein besseres Wetter bestellt haben.« Er stellte sich als Jean-Michel Lamoriniere vor, hager, mit der gebeugten Haltung vieler großer Menschen. Er gab sich offenbar Mühe, ihre Narbe zu übersehen, aber seine kurze Befangenheit entging ihr nicht. Nach siebenundzwanzig Jahren hatte sie sich an die Reaktion ihrer Mitmenschen gewöhnt, aber seit Afghanistan spürte sie die Narbe wieder öfter, jeden der sechzehn Zentimeter, die vom Ende ihrer rechten Augenbraue in einer gebogenen Linie am Haaransatz entlang über die Wange bis zum Unterkiefer verliefen.

Sie setzte ihr charmantes Lächeln auf und folgte Lamoriniere in den Saal.

Kapitel 3

Ganz schwarz gekleidet, die Mützen tief in die Stirn gezogen, waren die drei Männer im Dunkel des Wagens fast unsichtbar. Auch der Wagen selbst, eine drei Jahre alte dunkelblaue Peugeot-Limousine, fiel im nächtlichen Brüsseler Stadtverkehr nicht auf. Aber wer hätte auch schon vermutet, dass in der schwarzen Sporttasche auf dem Rücksitz keine Sportschuhe verstaut waren, sondern zwei Handgranaten?

»Und du bist sicher, dass du das schaffst, wenn wir nicht schneller fahren als zwanzig?«, fragte Gilles vom Steuer aus und warf einen Blick über die Schulter nach hinten.

Auch Gaddafi, der so genannt wurde, weil er angeblich eine gewisse Ähnlichkeit hatte mit dem Libyer vor dreißig Jahren – breites, flächiges Gesicht mit Pockennarben, die früher vollen schwarzen Haare kurz geschoren, aber die dunklen Augen mit demselben intensiven Brennen wie früher –, drehte sich zum Rücksitz um, sagte aber nichts.

»He, ihr traut mir wohl gar nichts zu, was?«, gab Tiger Kaugummi kauend von hinten zurück.

Nicht viel, hätte Gaddafi am liebsten geantwortet, aber er war Profi genug, um zu wissen, dass sie nur zusammen funktionieren würden. Und wenn dieser schlaksige Tiger auch nicht viel konnte – er war ein exzellenter Werfer. Gaddafi begriff nicht, wie man einen solch schmächtigen Typen mit dünnen Armen und Beinen und mit dem knochigen Pferdegesicht Tiger nennen konnte. Mücke wäre passender oder noch besser Arschloch, aber Tiger? Wahrscheinlich hat er sich den Namen selbst ausgesucht, dachte Gaddafi, eingebildet wie er ist.

Kapitel 4

Karen fühlte sich auf ihrem Stuhl in der ersten Reihe des großen holzgetäfelten – und vollbesetzten – Saals, als wäre nur ihre körperliche Hülle anwesend. Stressbewältigung kannte sie: Dissoziation, die Distanzierung von sich selbst, das Sich- woandershin-Denken. Doch die Selbstanalyse half ihr heute nicht, noch eine Tablette war ihr zu riskant, sie war sowieso schon gestolpert und hatte sich an Lamorinieres Arm festhalten müssen – und die Drinks gab es erst später, und dann auch nur Sekt und Orangensaft, fürchtete sie. Da vorne sprechen sie von dir, Karen, machte sie sich klar. Zuerst der Präsident des Presseverbands, dann der Pressevertreter der Bank. Sie hätte stolz sein können. Aber sie sehnte sich nach einem Drink und danach, unsichtbar zu werden, sich einfach aufzulösen.

»Jeden Abend konnten wir im Fernsehen ihre Reportagen und Berichte über Afghanistan sehen. In vielen ihrer Reportagen hat sie sich den Schwachen gewidmet, insbesondere den verfolgten Frauen. Sie hat ihr Leben riskiert in Flüchtlingscamps im Sudan, hat eine tief bewegende Reportage über Frauen und Mädchen in Afghanistan verfasst und wurde dann selbst Opfer. Sie wurde gekidnappt, aber glücklicherweise nach drei Tagen freigelassen. Die Jury ehrt die Tochter der berühmten Journalistin Jane Burnett, Karen Burnett, für ihre engagierte, bewegende Reportage über die schrecklichen Verhältnisse im Flüchtlingscamp im griechischen Patras.«

Na, jetzt haben sie dich doch erwähnt, Mom, zufrieden? Karen atmete tief durch, stand auf, ging zum Rednerpult, schaffte es, nicht zu stolpern, zitterte zwar, aber dann hielt sie endlich den Preis in der Hand, ein vergoldetes Papierknäuel. Ein Papierknäuel, weil in den zusammengeknüllten verworfenen Ideen die größte Wahrheit stecke, hieß es in der Erklärung des Preises. Dann könnte sie ja jetzt die Wahrheit sagen, dass sie eine Pistole hatte, dass sie jeden erschießen würde, der es noch einmal wagen sollte, ihr Gewalt anzutun.

Was würden sie tun? Das Mikrofon abstellen? Oder klatschen? Was würde morgen in den Zeitungen stehen?

Mehr als zweihundert geladene Gäste sahen sie an, erwartungsvoll, neugierig, was Karen Burnett, die Tochter der bekannten Jane Burnett, zu sagen hatte. Sie schluckte, umklammerte das vergoldete Papierknäuel und merkte, wie es in ihre Handflächen schnitt. »Ich danke Ihnen«, hörte sie ihre Stimme durch den Saal hallen, »und ich fühle mich sehr geehrt. Ich wollte den Menschen – den Frauen und Kindern, über die ich berichtet habe, in Darfur oder in Afghanistan, den Flüchtlingen in den Camps in der Ukraine oder in Patras – Gehör verleihen. Ihnen, die keine Papiere haben, keine Rechte, die man einsperren und abschieben kann, denen man Gewalt antun kann, ohne dafür belangt zu werden.«

So etwas haben sie erwartet, Karen, bravo! So kennen sie dich!

So lieben sie dich.

Die Pause nach dem Ende ihres Satzes erschien ihr unendlich lang, sie glaubte schon die Zuhörer auf ihren Stühlen herumrutschen zu sehen, runzelten Einzelne nicht schon die Stirn, fragten sich womöglich, ob sie einen Blackout hatte? Die Arme, sie war sicher immer noch traumatisiert, würden sie denken. Sie räusperte sich, und dann, endlich, sagte sie: »Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie durch diese Ehrung auch diesen Menschen entgegenbringen. Möge die Zeit kommen, in der solche Preise nicht mehr nötig sind.«

Stille. Dann Applaus. Erst zögernd. Dann zustimmend. Überzeugt. Empathisch. Für einen kurzen Augenblick spürte sie ein Gefühl von Verbundenheit mit der Welt und den Menschen, dann aber verkrampfte sich wieder ihr Magen.

Kaum nahm sie wahr, dass man ihr einen Scheck über fünftausend Euro überreichte, dazu einen Blumenstrauß aus Grünzeug, roten Tulpen und Blumen, die sie weder kannte noch mochte, sie schüttelte Hände, versuchte zu lächeln und auf ein paar Fragen zu antworten. Dann war es endlich vorbei.

Michael hielt ihr den Wintermantel hin. »Und, wie fühlt man sich mit so einem goldenen Ding, Karen Burnett? Du hättest da oben ruhig ein bisschen freudiger klingen können.«

Sie war schon froh, dass sie es wenigstens so geschafft hatte.

»Außerdem haben wir uns gar keine Gedanken gemacht, wo wir feiern.« Er zog seinen Mantel an.

»Ich ... ich glaube, ich will nach Hause, Michael.«

»Okay, wir holen’s nach, oder?«

Ihr entging nicht, wie viel Mühe er sich gab, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. »He, dein Handy.« Er deutete auf ihre Handtasche. »Wäre peinlich geworden!«

Sie hatte tatsächlich vergessen, es auszuschalten.

»Hier ist David«, meldete sich eine vertraute Stimme. »French.«

»David!«

»Herzlichen Glückwunsch. Ich hab’s nicht geschafft, eine Einladung zu kriegen.« Seine Stimme tat ihr gut, holte etwas zurück, ein altes Gefühl von ... Nähe. Sie mochte David, sie vermisste die Arbeit mit ihm und die Art und Weise, wie sie mit ihm reden konnte.

»Na ja, ich hab nicht gerade die Rede meines Lebens gehalten.« Sie musste sogar ein bisschen lächeln.

»Karen ... Ich ... würde dich gern sehen. Ich bin in Brüssel, leider nur heute ... aber wenn du mit Michael ...«

Nein, er sollte jetzt nicht wieder auflegen, nicht wieder verschwinden, wo er doch gerade erst aufgetaucht war. »Nein ... Wo bist du?«

»Fast um die Ecke. Im Le Chameau Noir, Rue des Poissoniers.«

»Ich komme«, sie zögerte, »... mit Michael.«

Michael wartete, bis sie fertig war. »David. Er schnippt mit dem Finger, und du springst. Wenn du mit ihm sprichst, bist du ganz verändert. Keine Spur mehr von dieser verfluchten depressiven Stimmung, von dieser Last und Qual, mit der du dich durchs Leben schleppst und alles um dich herum niederdrückst. Geh allein hin.«

Sie wollte David sehen. Jetzt. Plötzlich erschien ihr Davids Anruf als die einzige Rettung aus diesem bodenlosen Sumpf aus Depression, in dem sie schon wieder zu versinken drohte. »Warum willst du nicht mitkommen?«, fragte sie lau.

»Ich wollte den Abend mit dir verbringen. Nicht mit dir – und ihm.« Er knöpfte seinen Mantel zu. »Und wenn du ehrlich bist, willst du gar nicht, dass ich mitkomme.«

Sie antwortete nicht. Ein Mann im schwarzen Anzug wollte sie ansprechen, doch sie tat so, als bemerkte sie es nicht. Nein, sie konnte jetzt nicht über ihre Arbeit diskutieren.

»Siehst du«, sagte Michael, »ich hab recht. Und trink nicht so viel. Alkohol verträgt sich nicht mit deinen Medikamenten.« Er zuckte resigniert und gekränkt mit den Schultern. »Ach ... Soll ich dieses ...«, er zeigte auf den Preis in ihrer Hand, »... dieses Ding mit nach Hause nehmen?«

»Nein.« Sie sagte ihm nicht, dass sie sich daran festhielt.

»Wie du willst.« Mehr sagte er nicht. Dann ließ er sie stehen.

Sie sah ihm nach, wie er einfach ging.

Davon hätte sie eben im Saal auch sprechen können. Wie ihre Arbeit ihre Ehe zerstörte. Aber vielleicht stimmte das ja gar nicht. Vielleicht hatten sie nie zusammengepasst. Vielleicht hatten sie sich beide von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Er, der von ihrem Wagemut und ihrer Leidenschaft fasziniert war – sie, die genoss, dass er sie bewunderte, sie umsorgte und ihrem vorher so unsteten Leben Halt gab.

Ohne die Blicke der Menschen zu erwidern, eilte sie zum Ausgang. Eisig kalte Luft sprang sie aus der Dunkelheit an. Sie zog die Schultern hoch und stapfte über den von schmutzigen Schneeinseln bedeckten Bürgersteig die Rue Auguste Orts hinunter. Die Kälte legte sich wie eine Messerklinge auf ihre Luftröhre, ihre Augen tränten, und ihre Narbe tat weh. Ein Wagen fuhr vorbei, schmutziges Eiswasser spritzte auf ihre Stiefel. Egal. Sie spürte, wie Leben in sie zurückkehrte.

Kapitel 5

Metz, Frankreich

Neblig, feucht und kalt war die Nacht herangekrochen, hatte das letzte schwache Sonnenlicht verschluckt, seine Wärme erstickt, und nun herrschte sie über die Menschen und Wesen, bis zum Morgengrauen. Bedrohlich nah war das tagsüber harmlose Wäldchen, das sich hinter der Reihenhaussiedlung erstreckte, herangerückt, hatte seinen kalten Schatten über die Einfamilienhäuser gelegt, in denen sich Eltern und Kinder mit ihren Hamstern, Hunden und Spielsachen verbarrikadierten und auf den nächsten Morgen warteten. So jedenfalls empfand es Thierry Traessart, wie er da im Garten seines Hauses stand, die Hände geballt in den Taschen der Adidas-Trainingshose. Und er konnte nichts dagegen tun! Nichts gegen die Nacht, die sich gewaltsam die Herrschaft sicherte, und nichts gegen dieses andere Dunkle in ihm. Und wenn es nur in seinem Kopf war? Mit beiden Händen fuhr er sich durch die kurz geschorenen Haare, rieb über den Kopf, als könnte er die Gedanken wieder an ihren richtigen Ort schieben, Ordnung in seinem Gehirn schaffen. Und wenn er es sich nur einbildete? Wenn er ... Er gab auf, denn er wusste, es waren immer wieder dieselben trügerischen Hoffnungen. Die Wirklichkeit war hart und deutlich, und sie war schwarz auf weiß zu lesen.

»Thierry, willst du nicht eine Jacke ...?«, kam es von drinnen.

Marie. Sie versteht das alles nicht, wie sollte sie auch? Auch er verstand es ja nicht. Wusste nur, dass irgendwas nicht stimmte mit ihm und dass es mit Afghanistan zu tun haben musste.

Doch da war dieser Zeitungsartikel. Hundert Mal hatte er ihn schon gelesen. Rausgeschnitten aus der Tageszeitung von vorvorgestern. Zigaretten und die Tageszeitung. Bei Gerard in seinem Laden mit den nikotingelben Wänden gekauft. Im Café hatte er die Zeitung durchgeblättert. Im Café, weil er verflucht noch mal nicht nach Hause wollte. Nicht in Maries vorwurfsvolles Gesicht sehen und nicht mit Schuldgefühlen kämpfen. Die hatte er sowieso schon.

Thierry spannte alle Muskeln an in seinem hart trainierten Körper, aber es half nichts, das Böse kämpfte sich nach oben, machte sich breit, durchströmte und vergiftete ihn ...

Das war ja nicht sein erster Einsatz gewesen, er kannte Wut und Rache, blindwütige Wut auch, wenn vor ihm ein Kamerad fiel, so wie Yves, der zum letzten Mal den Job machen wollte, nur noch ein Mal Afghanistan, weißt du, und dann Schluss. Ich hör auf. Such mir was anderes. Will meine Familie um mich haben. Will das Töten vergessen. Als ob man das jemals vergessen könnte! In die unterste Schublade schieben, ganz nach hinten, aber nicht vergessen.

Aber dieses Mal war es anders gewesen. Da war mehr als diese Wut, viel, viel mehr ... Gewalt und ... Rausch ... Blutrausch ...

Thierry rieb sich übers Knie. Diese verfluchte Kälte machte alles noch schlimmer.

Er kann die Kinder nicht mehr ansehen, sie machen ihm Angst, ihre großen Augen, die ihm Fragen stellen, auf die er nichts antworten kann, er weiß nichts mehr, kann sich nicht mehr erinnern ...

Er trat von einem Bein aufs andere, auch auf das kaputte, und zündete sich eine Zigarette an.

Kann die Kinder nicht mehr ansehen ... Kann nicht sagen, steckt dem anderen das Messer in den Bauch, bevor der es tut, es geht ums Überleben, um nichts anderes geht es, tut es, bevor der andere es tut!

Er pumpte den Rauch mit der kalten Winterluft so lange in die Lungen, bis der Husten ihn schüttelte. Husten war gut, verlangsamte das Programm, so kam es ihm jedenfalls vor. Es muss mit einer Uhrzeit zu tun haben, oder mit irgendwelchen komplizierten Vorgängen im Körper, von denen er nichts weiß. »Thierry, du hast nur ein T-Shirt an, und es schneit!«

»Ja, ja.« Er winkte ab. Marie, sie wusste doch langsam, dass ihm das nichts ausmachte, nicht Kälte, nicht Hitze, gar nichts. Er fühlt nichts und fürchtet nichts. Wie schön! Das wollen doch alle, nichts fürchten, nichts spüren, wenn es wehtun müsste. Aber nichts ist nichts, also ist es auch nicht das Gute und Schöne. Nichts ist nichts ist nichts.

Die Zigarette brannte an seinen Fingern, er warf sie weg, in den Schnee, darunter war Gras, grünes Gras, es war grün, bevor er in die Hölle ging, grün, so grün und unschuldig, und als er zurückkam, war es braun, braunrot, wie getrocknetes Blut, und überhaupt war alles anders, und Marie und die Kinder starrten ihn mit großen Augen an, und er konnte keine Antworten geben.

Manchmal überkam es ihn ohne Vorwarnung. Als wäre eine Zeitschaltuhr in ihm, die etwas anknipste. Er musste zum Gartenschuppen, Tür auf, Axt raus und los. Hacken, hacken, hacken, bis aufs Blut ...

Das Hämmern seines Herzens. Es geht los, es geht los, es geht endlich los, sagte es atemlos und erregt, es will loslegen, seine Muskeln füllen sich mit Blut, spannen sich, werden dick und fest. Wie sie zucken, wie sich alles bewegt und atmet und dehnt, lebendig wird und wild und ... animalisch.

Genau so hat es sich angefühlt, während er da im Gebüsch lag ... und jetzt spürte er wieder den Geschmack von Eisen in seinem Mund. Jetzt!

Er lief an der Seite des Hauses vorbei in den hinteren Garten, zum kleinen Schuppen aus Kunststoff, drehte den Schlüssel im Schloss, riss die Tür auf und schnappte sich im Dunkel die Axt. Wog sie in den Händen, stürmte hinaus, ins Freie, in den Schnee, zum Holzpflock neben dem Schuppen, hob ein schweres Stück Eiche von dem Holzhaufen, stellte es aufrecht auf den Pflock, hob die Axt über den Kopf, ließ sie niedersausen, exakt in die Mitte des Scheits, zwei Hälften flogen durch die Luft, landeten im Schnee. Gespalten mit einem Schlag.

Er riss das nächste Stück vom Haufen, stellte es auf, spaltete es, stellte auf, spaltete, stellte auf, spaltete, einen Scheit nach dem anderen, einen Schädel nach dem anderen, einen Knochen nach dem anderen ...

Einen Menschen nach dem anderen ... und all das Blut und all das Leben, das in den Kampf geworfen war ... Er hackte und hackte, bis die Lungen brannten und das Herz langsamer schlug. Dann sah er hinauf zum schwarzen Himmel über sich, hinauf zur kalten Mondsichel.

Kapitel 6

Brüssel

Das Le Chameau Noir existierte schon seit dem siebzehnten Jahrhundert, Anfang des letzten Jahrhunderts war das Gebäude neu errichtet worden, wobei man darauf geachtet hatte, so viele Details wie möglich zu erhalten.

In der ersten Zeit, als sie wegen Michael nach Brüssel gezogen war, waren sie öfter dorthin gegangen, zum Abendessen oder auf einen Drink. Immer wenn sie von irgendwo aus gefährlichen, schmutzigen Ecken der Welt zurückgekommen war, hatte sie das luxuriöse Ambiente besonders genossen. Wer weiß, woher David gerade mit seiner Kamera zurückgekehrt war? Aus brasilianischen Rubinminen? Aus dem kongolesischen Busch? Oder aus dem Washingtoner Intrigendschungel?

Durch die großen Scheiben fiel warmes Licht auf die vereisten Schneereste am Bordstein, sodass sie weiß glitzerten.

Sie entdeckte ihn an einem Fensterplatz. Und er winkte ihr von drinnen zu. Sein Lachen – als wollte er die ganze Welt damit anstecken. Er würde nie alt werden, würde immer der jungenhafte, neugierige Fotojournalist sein, der optimistisch blieb, auch wenn er so oft das Böse sah.

Wärme, gedämpfte Stimmen und der besänftigende Duft von gutem Essen empfingen sie, und sie fühlte sich plötzlich, als kehrte sie heim. Was für ein Unsinn, dachte sie, denn zu Hause hatte es selten nach Essen geduftet. Ihre Mutter hasste es, zu kochen, sie hatte nie Zeit gehabt und war selten zu Hause gewesen. Michael kochte auch nicht gern. Und sie selbst – sie war eine miserable Köchin.

»Karen!«

Als er sie umarmte, wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen.

»Meinen herzlichen Glückwunsch!«, sagte er lächelnd, als sie sich voneinander lösten. Und mit Blick auf ihre Trophäe, die sie aus der Manteltasche zog: »So sieht er also in Wirklichkeit aus, der Press Award. Darf ich ihn mal anfassen?«

Sie hielt ihm das vergoldete Papierknäuel entgegen.

»Du hast es verdient«, sagte er und nahm es vorsichtig in die Hand.

»Es gibt viele, die ihn verdient hätten. Ich hab ihn halt bekommen.«

»He, nicht so bescheiden.« Er gab ihr den Preis zurück, und sie stellte ihn mitten auf den Tisch.

»Wo ist Michael?«, fragte er und sah sich um.

»Nach Hause gefahren.«

»Hm.« Er hob die Brauen, nur ein wenig, und sie brauchte nicht hinzuzufügen, dass sie sich fast gestritten hätten.

Es war nicht richtig, dass sie jetzt hier war. Es war nicht richtig, und doch fühlte es sich richtig an. Es fühlte sich besser an als alles, was sie in der letzten Zeit gefühlt hatte.

Der große Raum hinter ihr irritierte sie. All die Menschen an den Tischen, die Bedienungen, das Klappern von Geschirr ... »David ... Können wir ...«

»... den Platz tauschen?«, beendete er ihren Satz.

Sie nickte. »Ich hab ständig das Gefühl, dass hinter mir einer ... «, ... einer auf mich zielt, dachte sie. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch, als würde das etwas ändern.

Auf dem neuen Platz fühlte sie sich besser. Jetzt lag das Restaurant vor ihr, im Rücken hatte sie die schützende Wand, rechts die große Fensterscheibe. Sie hatte alles im Blick. Es kann nichts passieren, Karen, es ist alles okay. Du bist nicht in Afghanistan.

Er musterte sie im warmen Licht des Restaurants. »Dir geht’s nicht gut, was?«

»Ich könnte als Erstes einen Drink vertragen«, sagte sie ausweichend und bestellte zwei Scotch. Das war schon immer ihr gemeinsamer Drink, mit dem sie einen überstandenen Tag feierten.

Sie hätte eigentlich mit Michael hier sitzen und ihren Preis feiern sollen, sagte ihr Gewissen, und zugleich war sie froh, dass sie nicht mit ihm hier saß, sondern mit David.

»Also, wie geht’s dir wirklich?«

»Oh, ich dachte, wir verbringen einen lustigen Abend.«

»He«, er lächelte aufmunternd, »so schlimm? Wir kennen uns lange genug, oder?«

Sie hatte ihm noch nie etwas vormachen können, dafür hatten sie schon zu viel miteinander erlebt. »Ach, David, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Erzähl lieber von dir. Wo warst du?«

»Später«, sagte er ernst. »Karen«, er beugte sich vor und sah ihr in die Augen, »du brauchst mir nichts vorzumachen, Karen, ich ...« Er brach ab.

Der Kellner brachte den Scotch. Sie kippte ihn auf einmal hinunter. David hatte Geduld, er konnte warten. Sie spielte mit ihrem Glas.

»Ich bin noch ein bisschen ... mitgenommen. Kann schlecht schlafen, nerve Michael. Ich darf mich nicht wundern, dass er in letzter Zeit öfter die Geduld verliert ...«

»Das ist alles?«, fragte er ungläubig.

»Na ja, ich hab wohl so was wie Depressionen.« Sie zögerte. »Ehrlich gesagt, ich dreh langsam durch. Ich trinke zu viel, nehme Tabletten, habe das Gefühl, nie wieder etwas auf die Reihe zu kriegen, ich habe Angst vorm Einschlafen, schalte das Licht nicht mehr aus, ich habe eine Pistole in meinem Nachttisch, manchmal auch in meiner Handtasche, ich fühle mich verfolgt, manchmal gehe ich tagelang nicht aus dem Haus, ich habe Angst, wenn das Telefon klingelt ... Ich habe Angst vor dem Tod – und vor dem Leben, ich kann nicht mehr arbeiten, und mein früherer Idealismus, meine hehren Prinzipien erscheinen mir nur noch lächerlich. Und meine Albträume, uralte von früher, suchen mich fast jede Nacht heim. Und weißt du was?« Das Paar am Nebentisch wandte sich ihr zu, und sie merkte, dass sie lauter geworden war. »Ich denke jeden Tag daran, mich zu rächen.«

Seine Hand griff nach ihrer.

»Verflucht, David!« Rasch zog sie die Hand weg und wischte sich über die Augen. »Ich nehme mich zusammen, dass es keiner merkt, aber dann lasse ich meine ganze Wut an Michael aus, dabei kümmert er sich um mich ...« Sie schüttelte den Kopf. »Warum musste es mir passieren?«

Er lehnte sich zurück, und sie folgte seinem Blick zum Fenster. Es schneite wieder, im Licht der Laternen leuchteten die Schneeflocken wie Funken. Sie glaubte, er wollte etwas sagen, und wartete. Als er sie wieder ansah, wirkte er unsicher. »Denkst du noch an deine Mutter?«

Diese Frage hatte sie am wenigsten erwartet. »Ja, klar«, sagte sie lapidar. Dass sie sich ihretwegen heute schon wieder mit Michael fast gestritten hatte, erwähnte sie nicht. Auch nicht, dass sie das Wort Wahrheit am liebsten aus ihrem Wortschatz streichen würde.

Er zeigte auf das vergoldete Knäuel, ihre Trophäe. »Sie wäre stolz auf dich.«

»Ich glaube, sie würde als Erstes die Zusammensetzung der Jury kritisieren.«

»Auch wenn es dich nervt, Karen, sie war eine gute Journalistin.«

»Ja, das war sie.« Sie wollte noch einen Schluck vom Scotch trinken, aber sie hatte vergessen, dass das Glas leer war. Wieder fielen ihr die unzähligen Telefonate ein, mit der australischen Polizei, der Küstenwache und verschiedenen Organisationen, die Menschen halfen, vermisste Angehörige wiederzufinden.

Karen war erleichtert, dass der Kellner in diesem Moment an den Tisch kam. Sie bestellten einen französischen Cabernet Sauvignon und das Rinderfilet.

»Ich hab’s immer noch nicht zur Vegetarierin geschafft«, sagte sie.

»Tut mir leid«, sagte er nach einer Pause.

»Was?«

»Ich hätte mich melden sollen.«

Ja, hättest du. Nach alldem, was wir gemeinsam erlebt haben, dachte sie und wartete.

»Ich wusste einfach nicht, was ich dir hätte sagen können. Es wäre alles so banal gewesen.« Er lächelte unbeholfen.

Der Kellner brachte den Wein. Karen betrachtete das Glas. Lava, wollte sie denken, aber sie dachte: Blut. Sie trank einen großen Schluck. »Du hast dich also gedrückt.« Er wollte etwas einwenden, doch sie redete weiter. »Ich hab mich sicher gefühlt, David, endlich, nach all den Tagen der Ungewissheit, ob sie mich nicht vielleicht doch erschießen oder köpfen oder sonst was Grausames mit mir anstellen. Und dann sagen sie, ich bin frei, man hat das Lösegeld gezahlt. Ich sehe noch den Jeep heranfahren. Zwei Soldaten steigen aus, helfen mir auf den Rücksitz. Und da sitzt Paolo, du weißt schon, der italienische Journalist. Er sieht völlig fertig aus. Auch ihn hatten sie als Geisel genommen. Aber das wusste ich nicht. Am Flughafen soll eine Maschine bereitstehen, um uns nach Brüssel zu fliegen. Und dann fragt der Beifahrer, ob wir’n Kaugummi wollen. Ich beuge mich vor, und im selben Augenblick schlägt was durch die Heckscheibe. Ich ducke mich, schreie, Kugeln prasseln, es ist aus, denke ich, jetzt haben sie uns doch gekriegt. Doch da startet der Jeep durch, die Soldaten sind total hektisch, reden was von friendly fire, dass das doch ihre Leute waren, und Paolos Kopf ist ...«

»Karen ...«

... eine breiige Masse. Haut, Knochen, Blut, Gewebe ... seine Augen ... Die Bilder ließen sich nicht zurückdrängen. Sie griff zum Glas und merkte, dass ihre Hand zitterte. »Weißt du, was mir in dem Moment klar wurde?« Noch immer war sie entsetzt über diese Erkenntnis. »Wir sollten nicht lebend zurückkommen. Und ich hatte einfach nur ...« Sie wollte einen Schutzengel sagen, aber sie sagte: »Glück.«

David runzelte die Stirn. »Aber ... Wieso, welchen Sinn hätte es gehabt? Sie haben ein Lösegeld gezahlt ...«

»Das wird behauptet, ja, aber niemand hat mir gesagt, wie viel und wer es bezahlt hat. Die Redaktion? Irgendein Staat? Welcher? Wer hat das Lösegeld gezahlt?« Sie war wieder laut geworden, am Nebentisch sah man wieder zu ihnen herüber.

Je länger sie über ihre Freilassung nachdachte, desto mehr Ungereimtheiten fielen ihr auf. Sie beugte sich über den Tisch und sagte etwas leiser: »In so vielen Nächten hab ich mich gefragt, was ich wohl gesehen habe – und nicht sehen durfte.«

»Und was?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben das Feldlazarett besucht und wollten wieder zurück nach Kabul. Das war alles. Es gab nichts – nichts, was irgendwie merkwürdig gewesen wäre.«

»Aber du meinst trotzdem, es gab einen Plan, dich auszuschalten?«, fragte er nachdenklich.

»Genau.« Sie trank ihr Glas leer und sah ihm ernst in die Augen. »Ich nehme mich vielleicht zu wichtig, David, aber ich kann einfach nicht glauben, dass wir zufällig in dieses friendly fire geraten sind.« Genau das hatte sie auch Michael gesagt, aber er hatte gleich wieder davon angefangen, dass in unserer chaotischen Zeit die Menschen dazu tendierten, in allem einen »Sinn« zu suchen, nur um nicht einsehen zu müssen, dass ihr Leben nichts weiter war als ein Zufallsprodukt miteinander verschmolzener Zellen, die einer Kette zufälliger Ereignisse ausgeliefert waren.

»Ich hätte sterben sollen, David. Ich muss irgendwas gesehen haben.«

David betrachtete sie aufmerksam, und auf einmal klangen ihre eigenen Worte absurd. So erging es ihr öfter in der letzten Zeit. Solange sie die Gedanken in ihrem Kopf behielt, waren sie logisch und nachvollziehbar. Doch sobald sie mit Michael darüber sprach, verwandelten sie sich in verschrobene Ideen einer kranken Psyche.

David erwiderte noch immer nichts, und Karen nahm wieder das gedämpfte Gemurmel der Gäste an den Nebentischen wahr, das Klirren von Gläsern, ein Lachen, das Scheppern von Tellern, die die Bedienung gerade am Nebentisch abräumte. Es war alles so ... unglaublich normal – wenn bloß ihre Gedanken nicht wären.

Eine Bewegung lenkte ihren Blick zum Fenster. Es schneite immer noch, Schneematsch spritzte hoch, wenn Autos vorbeifuhren. Obwohl es schon weit nach elf war, gingen noch immer Menschen vorüber, gerade schlenderte ein Pärchen vorbei, beide sahen kurz herein und blickten sich dann an, zwei blasse Gesichter, verfroren – aber war das nicht Glück in ihren Augen, dachte Karen, Liebe?

Davids Stimme holte sie zurück. »Haben die uns beobachtet?«

»Wieso?« Reflexartig drehte sie sich wieder zum Fenster, doch die beiden waren verschwunden. Warum sollten sie uns beobachtet haben, wollte sie fragen, doch er räusperte sich.

»Hör zu, Karen. Ich muss dir etwas sagen ...« Sein Gesicht veränderte sich, er wirkte auf einmal besorgt.

Kapitel 7

»Ich hatte einen Termin in Val d’Isère«, sagte David langsam.

»Du warst beim Skifahren?«

Er sah zum Fenster und sagte knapp: »Es hat sich so ergeben.«

Sie wartete.

»Ich hatte mich mit einem Informanten verabredet, an einem der Skilifte«, fing er an, »wir fuhren zusammen den Berg hinauf, oben trennten wir uns wieder. Als ich runtergefahren bin ins Tal, hab ich meinen Informanten noch mal gesehen. Er lehnte an einem Baum. Tot, in der Hand eine Pistole ohne Schalldämpfer. Zwei tödliche Schüsse in den Kopf. Ich hab ihn fotografiert. Es heißt, er hätte sich selbst erschossen.

»Zwei Schüsse in den Kopf? Wie soll das gehen?«

Mit gesenkter Stimme fuhr er fort: »Die Information, die er mir gegeben hat, war noch nicht einmal konkret. Oberst Grevy. Er sollte vor Gericht aussagen, wegen einer Sache in Afghanistan.«

»Grevy?« Nein, den kannte sie nicht.

»Er hatte angekündigt, dass er etwas Ungeheuerliches enthüllen würde. Er hat wohl geglaubt, wenn er das in den Medien ankündigt, ist sein Leben versichert. Weil niemand wagen würde, ihn anzugreifen, im Licht der Öffentlichkeit.«

»Wieso hat dieser Grevy sich an dich gewandt? Kanntest du ihn?«

»Nein, nicht persönlich, Karen ...«, er beugte sich noch weiter über den Tisch und sah sie eindringlich an. »Karen, lass uns wieder Zusammenarbeiten. Ich hab noch keine Ahnung, wohin das alles führt, aber wenn es jemanden gibt, der den Mut dazu hat, dann du. Und zusammen sind wir unschlagbar ... oder nicht?« Er lächelte.

»David, ich ...« Karen verspürte plötzlich ein Frösteln. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.

»Karen, ich hab dich was sehr Wichtiges gefragt.«

»Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl, dass ich nichts mehr zustande bringe. Ich ...« Ihre Hände begannen zu zittern, und sie wunderte sich, dass ihre Stimme so ruhig klang. »Panikattacken, sie überfallen mich ... und ich ... ich kann nichts dagegen tun ...« Sie versuchte, mit der einen Hand die andere festzuhalten. »Ich muss immer an meine Mutter denken. Sie hätte eine Story daraus gemacht, hätte einen neuen Bestseller geschrieben ...«, sie konnte ihre Verbitterung nicht verbergen, »während ich mir Tabletten reinpfeife ...«

»So darfst du nicht denken.«

Wie oft hatte sie das schon versucht.

»Es tut mir leid, Karen. Ich verstehe. Es ist zu früh ... Ich hätte es wissen müssen. Und eigentlich wollte ich dir etwas anderes sagen ... Karen, ich ...« Sein Blick wurde weich, und er legte seine Hand auf ihre. »Als du in Afghanistan warst ... als sie dich gefasst hatten ... da ... da hab ich nur eins gedacht ...«, er schluckte, und Karen spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, »...da hab ich nur eins gedacht«, redete er weiter, »... warum hab ich dir nie gesagt, dass ich dich ... ach, Karen, ich hab begriffen, du bist der einzige Mensch, den ich ...«

»Nein!«, sagte sie schnell, bevor er etwas aussprechen würde, das alles zwischen ihnen verändern, das ihre Freundschaft vielleicht zerstören könnte.

Lass dir von niemandem in dein Herz sehen, liefere dich niemals einem Menschen aus! Dieser verfluchte Satz ihrer Mutter hatte sich in ihr festgehakt.

Sie war dreiunddreißig, er fünfunddreißig, sie waren zusammen im Irak gewesen, in Afghanistan, hatten unzählige Reportagen zusammen gemacht, sie verstanden sich, sie fühlte sich gut in seiner Nähe – aber ...

»David, wir sollten damit aufhören ...« Sie zog ihre Hände zurück.

In seinem Blick lag etwas Trauriges. »Ich hab nachgedacht, Karen. Da passiert so was wie in Afghanistan oder ... auf dieser Skipiste ... oder wer weiß wo. Wie viele Jahre bleiben uns wohl noch? Die Hälfte unseres Lebens ist vielleicht schon vorbei. Wir werden alt und einsam und ...« Er brach ab, sah sie nur noch an.

Das war alles zu viel. »Entschuldige mich, ich ...« Sie schob den Stuhl zurück.

»Ich hab dich überfallen, ja?«

»Nein, oder ja, ich ... Ach, was soll’s David, ja – ja, du hast mich überfallen. Ich ... ich kann das jetzt nicht ...«

»Aber warum?«

»Warum?« Sie konnte nicht weitersprechen, konnte ihm nicht diese Leere, dieses Bodenlose, diese Orientierungslosigkeit erklären, die sie in sich spürte. Sie hatte Herzklopfen, und ihre Lippen waren trocken. Hastig stand sie auf und bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch in den hinteren Teil des Restaurants. Sie stieß die Tür des Toilettenraums auf. Zu heftig, die Tür schlug mit einem dumpfen Knall gegen den Gummistopper.