Die Saat - Fran Ray - E-Book
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Die Saat E-Book

Fran Ray

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Beschreibung

Wer ist für ihren Tod verantwortlich? Der packende Verschwörungsthriller »Die Saat« von Fran Ray jetzt als eBook bei dotbooks. Es ist ein Anblick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: In einem Labor in Paris findet man einen toten Wissenschaftler – gekreuzigt, geköpft und mit dem Kopf einer Ratte auf dem Halsstumpf. An der Wand prangt eine blutige Botschaft, die den Verdacht auf militante Umweltschützer lenkt. Zur gleichen Zeit findet der Schriftsteller Ethan Harris die Leiche seiner Frau: laut Polizei angeblich ein Selbstmord. Doch das kann und will Ethan nicht glauben. Er stellt Nachforschungen an, die umso dringender werden, als sich plötzlich immer mehr mysteriöse Todesfälle wie der seiner Frau rund um den Globus häufen. Dabei kommt Ethan einer großen Verschwörung auf die Spur, die das Leben auf der Erde für immer verändern könnte ... »Endlich mal wieder ein Thriller, wie ich ihn immer suche und viel zu selten finde: hervorragend geschrieben, gnadenlos spannend und mit einem Thema, bei dem man sich ständig fragt, ob das, was man liest, womöglich gerade tatsächlich irgendwo passiert.« Andreas Eschbach Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Die Saat« von Fran Ray wird Fans von Fans von Frank Schätzing und Andreas Brandhorst begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 653

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Über dieses Buch:

Es ist ein Anblick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: In einem Labor in Paris findet man einen toten Wissenschaftler – gekreuzigt, geköpft und mit dem Kopf einer Ratte auf dem Halsstumpf. An der Wand prangt eine blutige Botschaft, die den Verdacht auf militante Umweltschützer lenkt. Zur gleichen Zeit findet der Schriftsteller Ethan Harris die Leiche seiner Frau: laut Polizei angeblich ein Selbstmord. Doch das kann und will Ethan nicht glauben. Er stellt Nachforschungen an, die umso dringender werden, als sich plötzlich immer mehr mysteriöse Todesfälle wie der seiner Frau rund um den Globus häufen. Dabei kommt Ethan einer großen Verschwörung auf die Spur, die das Leben auf der Erde für immer verändern könnte ...

Über die Autorin:

Fran Ray (Pseudonym) wurde 1963 in Deutschland geboren und arbeitete nach dem Studium im Filmgeschäft. Mehrere Jahre lebte sie in München und Australien und schrieb unter dem Namen Manuela Martini mehrere Krimi-Reihen. Viele Jahre stand ihr Schreibtisch in einer Finca in Südspanien. Dort entstanden die Thriller »Die Saat« und »Das Syndikat«, sowie Jugendthriller und Kinderbücher. Inzwischen lebt sie mit ihrer Frau und zwei Hunden am Ammersee in der Nähe von München. Heute befasst sich weiter mit Menschen, ihren Schicksalen und Lebensläufen, indem sie hauptberuflich als Trauerrednerin tätig ist.

Fran Ray veröffentlichte bei dotbooks bereits »Der Skandal« und »Das Syndikat«.

***

eBook-Neuausgabe Februar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com und Midjourney

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98690-917-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Fran Ray

Die Saat

Thriller

dotbooks.

Dieser Roman ist reine Fiktion.

Jede Ähnlichkeit mit Firmen, Institutionen, lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Für Simona

Erster Teil

Kapitel 1

30. August

Johannesburg

Das Klima in Johannesburg ist sonnig und zumeist trocken. Die Temperaturen sind gewöhnlich sehr mild, und jetzt, im Winter, erreicht das Thermometer tagsüber oft angenehme zwanzig Grad.

Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über den Vororten, in die die meisten Unternehmen vor der explodierenden Kriminalität im Zentrum der Stadt geflohen sind.

Isaak Mthethwa kennt noch die Zeit, in der Schwarze wie er nicht ins Stadtzentrum durften. Jetzt darf er, aber jetzt fürchtet er sich davor. Viel zu gefährlich. Und er hängt an seinem Leben. Auch wenn all die Leute, die er seit vier Tagen von den Hotels zum Konferenzzentrum fährt, bestimmt nicht sein Leben leben wollten. Der Reverend sagt jeden Sonntag: Ihr dürft nicht aufgeben. Das hilft ein bisschen. Isaak Mthethwa biegt in die Einfahrt des Park Hyatt Regency im Stadtteil Gauteng ein. Das letzte Taxi fährt gerade los, und er nimmt seinen Platz ein. Er kommt noch nicht mal dazu, den Motor abzustellen, denn die nächsten Kunden winken schon. Zwei Männer und eine Frau. Weiße. Wie fast alle, die er in den letzten Tagen gefahren hat. Isaak springt hinaus, reißt die Türen auf. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, steigen sie ein. Der ältere der beiden Männer setzt sich nach vorn.

»Ubuntu Village«, sagt er mit einem seltsamen Akzent und legt eine Aktenmappe aus Leder auf seine Knie. Sein Haar ist lockig und grau. Er hat es mit Pomade nach hinten frisiert.

Sein Blick ist streng, wie der von einem Stammesführer, vor dem die Untergebenen sich furchten, weil er harte Strafen verhängt.

»Yes«, erwidert Isaak Mthethwa. Er wartet, bis sich der Mann und die Frau auf der Rückbank angeschnallt haben, legt den Gang ein und fährt auf die Jan Smuts Avenue. Viermal ist er heute schon nach Ubuntu Village gefahren, hat Konferenzteilnehmer zu Workshops gebracht, abgeholt, wieder in ihre Hotels gefahren oder hinaus zum Flughafen. Europäer, Asiaten und auch ein paar Afrikaner. Ganz ohne Scherereien ist das alles abgelaufen. Gott sei Dank! Letzte Woche noch haben ihm die Leute von Fly-Taxi eine Kugel durch die Scheibe geschossen. Er hat Glück gehabt, dass er sich gerade gebückt hat, weil ihm ein Kugelschreiber runtergefallen war. Als das Glas barst, hat Isaak nur noch Gas gegeben. Seitdem hat er sich nicht mehr in ihrem Revier sehen lassen. Doch jetzt können sie ihm nichts anhaben. Kein Taxikrieg mehr. Überall Polizei. Sicherheitskräfte. Und er ist einer der achthundert Fahrer, die vom Gauteng Taxi Council ausgewählt wurden. Weil er gut fährt und gut Englisch spricht. UN-Weltgipfel müsste das ganze Jahr lang sein.

Rot. Er ertappt sich dabei, dass er die Frau auf der Rückbank betrachtet. Sie trägt ihr langes, dunkles Haar offen. Auf Plakaten für Shampoos haben die Frauen solches Haar. Er stellt sich vor, wie es wehen würde, wenn er jetzt die Klimaanlage und den Ventilator voll aufdrehen würde. Wie ein seidiger Schleier. Er denkt kurz an Charlene, doch dann verdrängt er die Erinnerung. Es war besser so. Am Ende war sie nur noch ein Skelett.

Der Mann neben der Frau, im weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und Schlips, hat sein Haar kurz rasiert, wie ein Soldat. Seine Haut ist besonders hell und von Sommersprossen übersät. Ständig wischt er sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab, betrachtet es, faltet es zusammen

und steckt es wieder in die Hosentasche, um es gleich wieder herauszuholen. Als ob er prüfen muss, ob Afrika ihn schon beschmutzt hat! Grün.

»... in sechs Jahren wollen wir auf dem afrikanischen Kontinent fest im Sattel sitzen. Das lässt sich der Konzern mehrere hundert Millionen kosten.«

Isaak horcht auf. Hundert Millionen, hat die Frau gesagt.

»Allerdings muss, was die Akzeptanz von GVO angeht, in Afrika unbedingt noch der Boden bereitet werden.«

Isaak sieht nur kurz in den Rückspiegel, sie darf nicht merken, dass er sie anstarrt. GVO hat er noch nie gehört.

Pomadenhaar dreht sich nach hinten. »Keine Sorge, ich treffe heute nach dem NGO-Meeting den UN-Generalsekretär ... «

Wieder dieser seltsame Akzent, Isaak kann ihn nicht einordnen. »Wenn wir ihn ins Boot holen, kriegen wir die anderen Afrikaner auch - und die Europäer verehren ihn sowieso.«

»Die Europäer!« Der mit dem Taschentuch macht eine abwertende Geste.

»Nun, Ted«, schaltet sich die Frau wieder ein, »wir dürfen die öffentliche Meinung nicht unterschätzen, wie übrigens Bob immer betont. Deshalb will er unseren Konzern offiziell nicht unterstützen, sondern ... «

»Don’t forget Africa!«, fällt ihr dieser Ted ins Wort. »Ja, ja, ich weiß: Kampf gegen Aids, Tuberkulose, Malaria.«

Isaak ist fasziniert von der Arroganz dieser Menschen. Für sie sind es nur Wörter, für ihn sind es so viele Tote. Die Rücklichter des Mercedes leuchten auf, und er muss heftig auf die Bremse treten. Er murmelt »Sorry«, doch keiner der Fahrgäste nimmt von seinem unsanften Manöver Notiz.

Pomadenhaar dreht sich wieder nach hinten und sagt: »Bob hat gemeint, er könnte sich von dem Geld eine Fahrt in einem Heißluftballon rund um die Welt leisten, aber leider hat er Höhenangst.«

Die Frau lächelt und erwidert: »In dem Gespräch mit dem Generalsekretär solltest du betonen, dass wir selbstverständlich auf die Lizenzgebühren verzichten. Zunächst. Das hat sich schon immer ausgezahlt.«

Auf der Nebenfahrbahn beschleunigt ein LKW, und Isaak versteht nicht, was die Frau darauf erwidert, doch er schnappt noch einen Blick von ihr im Rückspiegel auf, bevor sie sich zum Fenster dreht und hinaussieht.

»Warum ist lames eigentlich nicht mitgekommen?«, fragt Ted.

»Er ist auf seiner Ranch geblieben und heizt lieber den Grill auf der Terrasse an«, antwortet sie.

»Und betrachtet ehrfürchtig seinen Namensvetter James Stewart auf den düsteren Schinken in seinen Gemächern!«

Alle lachen. Diesen James nehmen sie wohl nicht ernst, denkt Isaak.

»Kommst du morgen mit zur Safari, Ted?«, fragt sie dann.

Taschentuch-Ted schüttelt den Kopf. »Safari? Tiere fotografieren?« Er lacht verächtlich. »Vor zehn Jahren hab ich Löwen gejagt... Haben Sie schon mal Löwen gejagt?«

Pomadenkopf nickt. »Aber sicher! Als du noch in die Windeln gemacht hast. Da hab ich alles gejagt. Elefanten, Antilopen, Gnus, Löwen.« Er seufzt. »Das waren noch andere Zeiten.«

»Es werden wieder andere Zeiten kommen«, sagt sie leise und sieht zum Fenster hinaus.

Empire Road, beinahe hätte er die Kreuzung verpasst. Langsam wird er wütend, mag es nicht, wie sie über ihn und die Menschen und den ganzen Kontinent reden.

»Wir sollten dafür sorgen, dass wir das DRMA-Projekt vor den nächsten Wahlen unter Dach und Fach bringen«, meint Taschentuch-Ted und fährt sich wieder über die Stirn.

»Keine Angst, wir haben einen guten Mann in Afrika, nicht wahr?« Sie lächelt Pomadenkopf zu.

»Den besten«, erwidert der.

»Du kriegst auch genug Geld«, brummt Ted.

Pomadenkopf lächelt dünn. »Du kannst es ja selbst versuchen.«

»Wir sind überzeugt, dass du der Beste für diesen Job bist«, beschwichtigt sie.

Wieder schweigen sie. Isaak grübelt, was sie wohl gemeint haben, worüber sie überhaupt geredet haben, und wechselt die Spur.

»Denkt ihr auch manchmal daran, dass hier die Wiege der Menschheit stand?«, fragt sie plötzlich und sieht wieder gedankenversunken zum Fenster hinaus.

Isaak rätselt weiter, doch da tauchen schon die bunten Flaggen von Ubuntu Village auf. Er hält an, steigt aus und eilt zur hinteren Tür, reißt sie auf. Da sieht er ihr direkt in die Augen. Plötzlich kann er sich nicht mehr zurückhalten, er muss es tun, er kann nicht anders: »Ich bitte Sie im Namen Afrikas: Trampeln Sie nicht auf unserer Seele herum.«

Sie starrt ihn an, bis er es nicht mehr erträgt und den Blick senkt.

Er sieht nur noch ihre Beine mit den Nylonstrümpfen, die sich ohne Eile über die Türschwelle schwingen. Ihr Parfum ist das Letzte, das er von ihr wahrnimmt, dann flüchtet er hinters Steuer.

Zwei Asiaten heben die Hand. Er fährt vor, steigt aus, reißt die Türen auf. Als er den Gang einlegt, wirft er noch einen Blick zurück, doch sie ist schon längst unter den bunten Fahnen in der Menge verschwunden.

Fast zehn Stunden und unzählige Fahrten später steuert Isaak Mthethwa den Wagen mit einer Hand, lässt ihn langsam in Richtung Zentrale rollen. Es ist längst dunkel, und er ist müde. Sehr müde. Der Morgen liegt eine Ewigkeit zurück, aber er spürt immer noch ihren Blick, der sich in seine Augen bohrt. Er hätte es nicht sagen sollen. Es steht ihm ja gar nicht zu. Außerdem hat er ja gar nicht verstanden, worüber sie gesprochen haben. Es war nur so ein Gefühl ... Er muss nach Hause, etwas essen, vielleicht hat Miriam von nebenan etwas gekocht und ihm ein bisschen aufgehoben.

Er nimmt den dunklen Wagen, der sich langsam auf seine Höhe schiebt, zu spät wahr, genauso wie das heruntergelassene Fenster und den kurzen Lichtreflex auf Metall. Nein, das sind nicht die von Fly-Taxi!, denkt er noch, dann ist da nur noch der Knall, das Splittern von Glas und die Explosion in seinem Kopf.

Sechs Jahre später

Kapitel 2

Samstag, 22. März

Paris

Messerscharf schneiden die gläsernen Kanten des Turms der Université Pierre et Marie Curie in den nächtlichen Himmel. Trotz des plötzlich kalten und feuchten Windes streifen auch jetzt noch, um halb zwölf, Touristen am Rande des Quartier Latin umher, begierig jede Minute ihres Wochenendtrips ausnutzend. Drei Ehepaare, alle in den Vierzigern und alle aus einem kleinen Ort in Belgien kommend, haben eine Pension in der Nähe gebucht und wollen das Zubettgehen so lange wie möglich aufschieben, und so schlendern sie ein wenig fröstelnd und unschlüssig, in welcher Bar sie sich die nötige Bettschwere antrinken könnten, an der Métrostation Jussieu vorüber. Den Campus Jussieu mit dem Hochhaus, in dem sich das Mondlicht spiegelt, beachten sie nicht, auch nicht die vier Studenten, die nur ein paar Meter vom Fuß des Turms entfernt rauchen und darüber diskutieren, in welchen Club sie gleich fahren sollen. Niemand, weder die Studenten noch die belgischen Touristen, verschwendet einen Blick auf die um das Hochhaus gruppierten flachen Gebäude, in denen sich die Abteilungen und Labors für Zellbiologie, Ernährung und Immunologie befinden.

Im rechten Flügel, hinter der Tür mit der Nummer 1378, liegt der Raum von Professor Jérôme Frost, dem Leiter des Teams EA 21679. Helles Neonlicht leuchtet beinahe schattenlos das gesamte Labor aus. Professor Jérôme Frost, über eins neunzig groß, gertenschlank, fast mager, mit langen Gliedmaßen, lockigen blonden Haaren und trotz seiner erst neununddreißig Jahre bereits mit dem gebeugten Rücken eines alten Forschers, starrt auf die beiden in ihrem Käfig taumelnden weißen Ratten und streicht sich zum wiederholten Mal über die Wangen seines langen, glatt rasierten Gesichts, als hätte er einen Bart. Auf seiner hohen, fast senkrecht aufsteigenden Stirn, in die sich zwei große Locken kringeln, vertiefen sich die Längsfalten, wie immer, wenn er sich mit einem Problem herumschlägt. Nicolas Gombert, zwölf Jahre jünger, mindestens einen Kopf kleiner als Frost, dunkelhaarig, durchtrainiert vom regelmäßigen Besuch im Fitnessstudio, steht neben ihm, die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Auch er beobachtet die Ratten, die von Minute zu Minute orientierungsloser und schwächer werden.

»Nicolas, holen Sie meine Kamera, schnell«, sagt Frost, trotz des »schnell« nüchtern und ohne den Blick von den Ratten zu nehmen. Nicolas ist mit zwei Schritten an der Tür zum Nebenraum des Labors. Professor Frost ist ein strenger Arbeitgeber, der ihm oft auf die Nerven geht, aber Nicolas braucht dringend Geld, sein Leben ist teuer, und die Stelle als medizinisch-technischer Assistent sichert ihm die Miete für sein winziges, aber cooles Appartement unweit der Sorbonne. Die Kamera liegt im Regal hinter der Tür. Nicolas gibt ihr einen Schubs, sodass sie ins Schloss fällt. Er schnappt sich die Kamera und will gerade die Hand zum Türknauf ausstrecken, als er nebenan einen lauten Knall hört, als würde jemand die Eingangstür eintreten.

Schon will Nicolas zurück ins Labor, als er noch einen Schlag hört. Er weicht zurück. Er war noch nie mutig. Und ganz sicher wird er es jetzt auch nicht sein und Professor Frost beistehen. Nicolas drängt sich hinter die Tür. Jetzt hört er, wie etwas zu Boden poltert, dann folgen Schläge, es klirrt und scheppert. Die Käfige! Geh rein! Du musst ihm helfen, schreit sein Gewissen, doch Nicolas steht nur da, stocksteif, unfähig, sich zu bewegen. Jetzt ein Winseln und Ächzen, Schuhe scharren über den Boden, und endlich - urplötzlich - Stille. Nur das Brummen der Neonröhre über ihm. Nicolas starrt zur Tür. Alles Mögliche schießt ihm durch den Kopf. Junkies, die Drogen in den Labors vermuten, Vandalen, die nur zerstören wollen, Studenten, die durchs Examen gerasselt sind, Tierschützer ... Nicolas hält die Luft an, während seine Augen den Raum nach einem Versteck absuchen. Neben sich entdeckt er die Tischplatte und den ausrangierten Bürostuhl, auf der linken Seite der Tür ist das Waschbecken, vor ihm das Regal mit den Medikamenten und den Schubladen mit den Injektionsspritzen und Skalpellen, den Gläsern und Behältern mit Futtermitteln. Und direkt neben ihm die Tür zum Labor. Einen eigenen Ausgang auf den Flur hinaus hat dieser Raum nicht. Er denkt daran, ein Skalpell aus der Schublade zu holen, doch das würde Geräusche machen. Also tastet er zum Schalter neben der Tür und macht das Licht aus. Jetzt ist es dunkel bis auf den hellen Streifen unter der Tür und dem fahlen Licht, das durch ein schmales Fenster ganz oben in der Wand von draußen hereinfällt. Er lauscht. Seltsame Geräusche dringen zu ihm. Ein Bohrer? Dann ein schrill aufheulender Motor, dann kratzt Metall über Holz, dann knirscht es, schließlich ein Schmatzen und Klatschen, als würde jemand mit einem nassen Lappen über den Boden wischen. Er merkt, wie er zittert, wie ihm schwindlig wird vor Angst. Er gibt sich einen Ruck, kriecht unter die Schreibtischplatte und zieht lautlos den Bürostuhl zu sich heran. Er kauert sich zusammen, bis seine Stirn den Fußboden berührt. Rollt sich ein wie ein Igel. So hat er sich als Kind auch immer versteckt. Wenn er keinen sieht, sieht man ihn auch nicht. Was für ein Unsinn! Aber in diesem Moment ist er sein einziger Trost. Dann - ein metallisches Klirren. Ein Messer, das auf den Fliesenboden fällt?

Jean-Marie wollte heute Nacht kommen! Sein Handy ist in der Innentasche seines Jacketts, und das hängt im Labor im Wandschrank. Jean-Marie wird anrufen, dann werden sie wissen, dass sich noch jemand im Labor versteckt. Übelkeit steigt in ihm hoch. Nicht jetzt! Als die Tür aufgestoßen wird, kneift er die Augen zu. Ein Streifen Licht fällt auf den Boden, und jemand tritt in den Raum. Nicolas sieht zwischen den Wimpern den unteren Teil von zwei Beinen, die in einem weißen Schutzanzug stecken, und Schuhe, über die eine Plastikhaube gezogen ist. Das Neonlicht springt an. Nicolas hört auf zu atmen. Über das Weiß der Hosenbeine laufen rote Rinnsale, der Plastiküberzug der Schuhe ist dunkelrot verschmiert. Das ist Blut. Das muss Blut sein. Nicht mehr denken, du bist nicht da, du existierst nicht. Die Streben des Metallfußes drücken in seinen Unterschenkel, Nicolas fängt an zu zittern. Gleich wird ihn der Bürostuhl verraten, das Zittern wird immer heftiger, er kann es nicht kontrollieren, gleich - doch in diesem Moment geht das Licht aus, die Füße machen kehrt, und die Tür fällt ins Schloss.

Kapitel 3

London

»Ethan, wir sind auf dem besten Weg! Die Vorbestellungen laufen fantastisch, und dann auch noch die Filmoption! Ethan, diesmal schaffen wir es! He, nimm vom Biryani!«

Ethan Harris fragt sich, wann er seinen Lektor zum letzten Mal so euphorisch erlebt hat. Noch nicht einmal bei Ethans erstem, gleich von der Kritik gelobten Buch war Leon Woolfe so siegessicher und entspannt gewesen, obwohl sie damals auch eine Flasche Champagner geköpft hatten. »Du warst großartig! Totenstill war es! Nicht ein einziger Huster!«

»Na ja, ich war ziemlich nervös, und jetzt bin ich erledigt«, sagt Ethan. Früher hat er vor Lesungen Gin Tonic getrunken, um sich aufzuputschen. Früher, als er alles leichter genommen hat, als ihm schon 30 000 verkaufte Exemplare als Erfolg galten, als sei er ihm zugefallen, mühelos. Nicht hart errungen, sich selbst abgetrotzt. Das Schlimmste ist, wenn Zuhörer ihn aggressiv angehen. Provokante Fragen stellen. Er mag es harmonisch, wenn er ausnahmslos alle im Raum - und der im Londoner Southbank Center war weiß Gott groß - in seinen Bann ziehen kann, wenn sie still sind und sich von seinen Worten und mit seiner Stimme in eine andere Welt entführen lassen. Deshalb kommen sie doch, oder? Nicht um ihn anzugreifen, ihn fertigzumachen.

»Weißt du, was Patty zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt: Du hast die ganze Meute im Saal auf dein Boot eingeladen, ihnen ordentlich was geboten, hast sie prächtig unterhalten und dann ... dann hast du sie mit einem Schlag ... gekillt!« Leon lacht. »Ich hab gezählt. Ganze sechs Sekunden waren sie erledigt, bevor sie wie die Verrückten geklatscht haben.«

Ja, er hat es genossen, und gleichzeitig hat es ihn geängstigt. Die Stille verwandelte sich in einen Abgrund, der mit jeder Sekunde tiefer und dunkler wurde, bis ihn endlich der Applaus rettete.

Seit neun Jahren sind sie ein Team, Leon mit polierter Glatze und immer in schwarzem Rollkragenpulli - Ethan überlegt, was Leon im Sommer trägt - und er, Ethan, mit immer noch dichtem blondem Haar - trotz seiner zweiundvierzig -, das er gern etwas länger wachsen lässt, auch wenn es gerade nicht Mode ist. Markenzeichen und zugleich Erinnerung an seine Jugend in Sydney, als er die Farm seiner Eltern verlassen hat, um etwas anderes kennenzulernen als den Busch, Rodeos und die Ängste vor Dürre und wieder gefallenen Schafpreisen. Seine sorglosesten Jahre, so nennt er sie, als er mit seinen Kumpels im VW-Bus an der Küste entlangfuhr, zum nächsten Strand, zur nächsten Brandung, um über die Wellen zu fliegen, sich frei zu fühlen von jeglicher Verantwortung. Zwei ewige und doch viel zu kurze Jahre lang.

Leon winkt den indischen Kellner heran. »Bringen Sie uns das da, was sie gerade an den Nebentisch getragen haben.«

Der Kellner nickt, und Leon grinst Ethan an. »Man muss doch mal was Neues ausprobieren, was?«

Das Abendessen in der Bombay Brasserie zum Abschluss der Buchmesse ist im Lauf der Jahre zu einem gemeinsamen Ritual geworden.

»Pass auf, Ethan«, sagt Leon mit vollem Mund, »wir sollten gleich nach der Frankfurter Buchmesse deine Lesereise ansetzen. Hamburg, Berlin, Leipzig, Köln, München und auf jeden Fall noch Wien und Bern. Sylvie wird dich mal zwei Wochen entbehren müssen.«

Sylvie. Ethan tastet nach dem Handy in seiner Jacketttasche, drückt auf die grüne Wahltaste. Er wollte ihr schon vor der Lesung sagen, dass der Saal voll ist und der Verlag happy.

Wieder schaltet sich die Mobilbox ein. Hat sie nicht heute Notdienst? Er hat es vergessen. In letzter Zeit hat er viel vergessen, was sie angeht, war zu sehr mit sich und seiner Arbeit beschäftigt. Sie sollten endlich mal wieder einen langen Urlaub machen. Amerika vielleicht? San Francisco, da wolltest du doch längst schon mal hin, Sylvie.

»Ethan?« Leons Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. »Alles klar?«

»Ja, natürlich.« Er ist plötzlich unendlich müde. Als hätte eine jahrelange Anspannung endlich nachgelassen.

Kapitel 4

Sonntag, 23. März

Paris

Irgendwann wagt Nicolas, sein Handgelenk zu drehen, sodass er auf seine Uhr mit den Leuchtziffern sehen kann. Halb zwei. Seit fast zwei Stunden hockt er schon so da. Er hält es nicht mehr aus. Seine Beine kribbeln, sie sind längst eingeschlafen, er würde sich nicht wundern, wenn sie sogar abgestorben wären. Jean-Marie hat nicht angerufen. Unter anderen Umständen wäre er stinksauer deswegen. Er lauscht. Nichts, gar nichts. Langsam schiebt er den Stuhl weg und kriecht unter dem Tisch hervor. Mühsam richtet er sich auf. Noch immer kommt kein Laut von nebenan. Allmählich kommt wieder Gefühl in seine Beine, und er schleicht zur Tür, legt das Ohr an die weiße Lackschicht. Nichts. Absolute Stille. Er schluckt, Bilder durchfluten sein Hirn, zerbrochene Reagenzgläser, umgestürzte Regale, und Professor Frost? Das Blut fällt ihm wieder ein. Vielleicht hat er es sich ja auch nur eingebildet, vielleicht war es doch nur rote Farbe, mit der sie irgendwas an die Wand geschmiert haben. Eine blöde Parole oder so. Wieso hat er eigentlich so eine Angst gehabt? Nicolas hat die Türklinke umfasst. Er zögert, doch er vernimmt keinen Laut mehr. Jetzt. Er drückt die Klinke herunter und zieht die Tür ein Stück auf. Es ist dunkel, das Licht ist ausgeschaltet. Die Rollos sind heruntergelassen, natürlich, das hat er selbst getan, als sie am Abend um sechs anfingen. Durch die Ritzen zwischen den Alulamellen dringt diffuses Licht von draußen. Er lauscht wieder. Und wenn sich jemand hier verbirgt und auf mich wartet? Der wäre schon längst aufgesprungen. Entschlossen tastet Nicolas nach links an die Wand neben der Tür. Er spürt den kalten Kunststoff des Schalters, ein letztes Zögern, dann kippt er ihn nach unten. Flackernd springen die Neonröhren an. Zuerst sieht er die umgestürzten Käfige auf dem Boden, sie sind leer, nirgendwo eine Ratte. Freiheit allen Ratten und Mäusen! Er lacht auf, erschrickt vor seiner eigenen Stimme. Doch da ist noch etwas. Die dunklen Seen, die Lachen auf dem sonst grauen Fußboden. Blut, ja, das ist Blut, sein Gehirn funktioniert unendlich langsam, da war Blut auf dem Schutzanzug und auf den Schuhen, erinnert er sich, als sei es Jahre her. Auf einmal wagt er nicht mehr, aufzusehen, sein Blick klebt an den Blutlachen. Menschliches Blut, viel zu viel Blut für ein paar Ratten. Wie viele Milliliter sie haben, weiß er nicht, wieso weiß ich das nicht, das müsste ich doch wissen! Dann helfen diese Gedankenspiele nicht mehr, seine Augen scannen den Raum und bleiben an einem Gebilde hängen. Wie viele Sekunden starren sie darauf, ohne dass das Gehirn das, was die Augen sehen, zuordnen kann? Dann endlich ist das Muster erkannt, und Nicolas schreit und reißt die Tür auf, rennt durch die hallenden einsamen Flure, hinaus, vorbei am Empfang, stolpert über einen verdreht am Boden liegenden Körper, fängt sich, will die Chipkarte in den Schlitz stecken, damit sich die Ausgangstür öffnet. Verdammt, sie ist im Jackett, wie alles andere auch, Portemonnaie, Schlüssel, Handy. Er muss zurück, zurück in die Hölle. Sein Körper wird steif, doch Nicolas zwingt sich, zurück ins Labor zu laufen, dort reißt er, ohne sich noch einmal umzusehen, den Schrank auf und sein Jackett heraus, läuft wieder zum Ausgang und stürzt durch die sich öffnende Tür hinaus in die kalte Nacht, vorbei an den rauchenden Studenten, von denen einer beobachtet, wie er auf der anderen Straßenseite beinahe mitten in drei Touristenpärchen rast.

»He, gib acht!«, ruft jemand hinter ihm her.

Kapitel 5

Mein Gott! Als Inspecteur Irène Lejeune zusammen mit David Hazan vor knapp fünfzehn Minuten vom Commissariat Central in der Rue de la Montagne Sainte-Geneviève losgefahren ist, hat sie noch geglaubt, nach fünfundzwanzig Dienstjahren auf alles gefasst zu sein. Der Anführer der Putzkolonne in den Labors für Biogenetik hat ohne Zittern in der Stimme am Telefon gemeldet, in den Räumen der Universität sei ein Mann hingerichtet worden. Da schon hat sich Irènes Hoffnung auf einen ausnahmsweise ruhigen Wochenenddienst zerschlagen. Auf einen - wenn auch kalten und verregneten - Sonntagnachmittag und -abend mit Roland und den Kindern. Ein wenig Normalität. Doch was sie jetzt sieht, übersteigt jede Vorstellung.

Zuerst sind sie fast über den Wachmann mit der durchschnittenen Kehle gefallen, dann sind sie dem Iraker gefolgt, doch als Lejeune das Labor 1378 betreten hat, musste sie am Türrahmen Halt suchen, weil Schwindel und heftige Übelkeit sie überfielen. Nimm dich zusammen, oder willst du hier vor allen kotzen?

Seit Jahren ist sie an den Anblick von unterschiedlichsten Leichen in den unterschiedlichsten Verwesungsstadien gewöhnt, sogar an ihren Geruch, auch wenn er für sie immer noch grauenvoll ist und sie danach mindestens drei Tage lang Fleisch weder zubereiten noch essen kann. Sie war sicher, dass sie auch diesen Anblick einfach wegstecken könnte, aber sie hat sich geirrt. Hingerichtet. Dieser Ausdruck ist absolut korrekt für das, was sie jetzt sieht. David stürzt auf den Flur, sie hört, wie er sich übergibt. Sie hätte ihm einen verächtlichen Blick zuwerfen können, auch Maurice, der Fotograf, sonst immer angriffslustig, hätte ihn ein Weichei nennen und Paul, der Gerichtsmediziner, hätte ihn mit einem Kopfschütteln bedenken können, doch keiner von ihnen reagiert, alle sind damit beschäftigt, nicht selbst die Kontrolle zu verlieren.

Sie reißt sich zusammen, will nicht zulassen, dass das Böse sie in die Knie zwingt, steckt die Hände in die Taschen ihres kurzen Trenchcoats, ballt sie zu Fäusten, kämpft an gegen die eiskalten Schauer, als sie dem Grauen ins Gesicht blickt.

Was siehst du? Sie ist die Kommissarin, sie hat diesen Fall nun zu lösen. Sie greift zur Routine, scannt den Raum. Tu, was du gelernt hast. Los!

An die Wand links vom Fenster, vor dem die Rollos heruntergelassen sind, ist ein menschlicher Körper festgeschraubt worden. Er ist bekleidet mit Jeans und weißem Kittel. Metallbänder führen über Brust und Unterleib. Die Arme sind zur Seite gestreckt, ein Gekreuzigter. Etwas in Lejeune weigert sich, auch den Rest zu betrachten. Das Entsetzen treibt ihr kalten Schweiß aus allen Poren. Nein, so etwas hat sie noch nie gesehen.

Der Kopf fehlt. Auf dem blutigen Querschnitt durch den Hals sitzt stattdessen der Kopf einer weißen Ratte. Aus toten roten Rattenaugen starrt ihr der Horror entgegen. Der abscheuliche kleine Rattenkopf auf dem großen menschlichen Körper verhöhnt nicht nur diesen einen Menschen, nein, er verhöhnt alle Menschen, die ganze menschliche Rasse!

Sie überwindet sich, tritt näher an den Toten. Der Mörder hat den Kopf der Ratte mit ein paar Stichen auf den durchtrennten Menschenhals genäht, und zwar so, dass er auf der Luftröhre sitzt, aber nicht die durchtrennten Muskeln, die Wirbel und die Gefäße überdeckt. Prof Jérôme Frost steht auf dem Namensschild an der Brusttasche des Kittels.

Lejeune wendet den Blick ab, ignoriert das schwammige Gefühl in den Knien. In den dunklen Lachen aus getrocknetem Blut liegen geöffnete Käfige. Sie sind leer, genauso wie die Käfige am hinteren Ende des Raums. Sie sucht den Kopf. Den Kopf von Professor Frost, irgendwo muss er sein. Ein Räuspern lässt sie herumfahren. Der Iraker steht immer noch da, sie hat ihn völlig vergessen.

»So haben Sie ihn gefunden?«, fragt Lejeune ihn mit betont fester Stimme. Sie hat was gegen Iraker. Und gegen Farbige und gegen Asiaten und gegen arrogante Weiße und gegen Jugendliche und Ungebildete ... Sie hätte längst ihren Job aufgeben sollen. Er hat sie zum Menschenhasser gemacht.

»Ja. Das ist Professor Frost.« Unbeeindruckt betrachten seine dunklen Augen unter den buschigen grauen Augenbrauen die grausige Inszenierung.

»Was macht Sie so sicher?«

Jetzt erst sieht er Lejeune an. »Er hat gern in der Nacht gearbeitet, wir haben hin und wieder ein paar Worte gewechselt. Er war ein sehr ruhiger und belesener Mann.«

Lejeune ist beeindruckt vom präzisen Französisch des Irakers, dessen Namen sie sich nicht hat merken können. Der Mann zeigt zu den Händen der Leiche. »Seine langen Finger und der goldene Siegelring sind mir immer aufgefallen.« Er nickt, um seine Aussage zu bestätigen. Irène Lejeune betrachtet beides. Der Ring scheint fest zu sitzen, und die Hände sind tatsächlich außergewöhnlich schmal und schlank, genauso wie der ganze Körper.

»Danke erst mal, wenn wir weitere Fragen haben, wenden wir uns an Sie.«

Er lächelt und deutet eine knappe Verbeugung an.

»Ach«, fragt sie noch, »welchen Beruf hatten Sie eigentlich, ich meine, früher?«

Sein Lächeln verschwindet augenblicklich. »Ingenieur.« Er dreht sich um und geht. Mein Gott, denkt sie, ich an seiner Stelle würde dieses Land und diese Gesellschaft hassen, die mich nicht zu würdigen weiß.

Maurice tritt neben sie und richtet seinen Fotoapparat auf die Schrankwand neben der Leiche. In grüner Leuchtfarbe ist da aufgesprüht:

Schöne neue Welt der Genforscher

»Das wird die Ökos ganz schön Stimmen kosten«, bemerkt Lejeune trocken. Sie weiß, dass der Kommentar völlig daneben ist, aber er hilft ihr irgendwie, die Übelkeit lässt nach. Ökoterrorismus, das hat mir gerade noch gefehlt! Da schalten sich die von oben ein.

Paul dreht sich zu ihr um. Er hält einen Temperaturmesser in der Hand. »Ich weiß schon, warum ich die nie gewählt habe«, murmelt er.

Maurice lacht auf, verstummt aber sofort. David ist erschrocken zusammengefahren, er sieht Hilfe suchend zu Lejeune.

»Hat Professor Frost hier allein gearbeitet? David?« Lejeune lässt ihren Blick weiter durch den Raum wandern, keine Fotos, weder von Kindern noch von einer Frau. Nichts Persönliches.

»Ganz sicher nicht. Alle Profs haben Assistenten«, sagt David mit brüchiger Stimme, er weiß das, war selbst an der Uni. Jura. Er geht in den Nebenraum. Lejeune folgt ihm und beobachtet, wie er mit behandschuhten Händen in einem Kalender blättert, der auf dem Schreibtisch liegt.

»Hier steht ein Name. Nicolas Gombert«, sagt er. »Laut Kalender war er letzte Nacht hier.«

»Sein Assistent?«

»Könnte sein. Moment. Ich habe etwas über Professor Frost.« Er liest das Display seines Handys. »Er war neununddreißig, geboren in Lyon. Studium der Biologie und Medizin in Paris. Ist seit drei Jahren Dozent hier an der Université Pierre et Marie Curie. Beschäftigt sich mit«, er sieht auf und zuckt mit den Schultern, »Antibiotika- und Lebensmittelverträglichkeit.«

»Keine Genforschung?«, vergewissert sich Lejeune.

»Na ja, das eine muss das andere nicht ausschließen.«

Lejeune erspart sich eine Frage, das muss anders geklärt werden. Sie hat von diesen Dingen keine Ahnung. Sie weiß nur, dass Antibiotika Bakterien abtöten, keine Viren, das hat ihr der Arzt im November erklärt, als die Kinder die Grippe nicht mehr wegbekamen und sie auf Antibiotika bestand.

»Verheiratet?«, fragt sie weiter, während sie ins Labor zurückgeht.

»Nein, auch nicht geschieden, keine Kinder. Katholisch.« David klappt sein Handy zu und folgt ihr. »Sollen wir zu ihm nach Hause fahren?« Er ist bleich um die Nase, und seine Gesichtsfarbe geht ins Grünliche.

»Später. Ein Wissenschaftler ohne Privatleben hat jede Nacht und jede freie Minute mit seinen Ratten verbracht, und was hat er davon gehabt?«, spricht Lejeune ihre Gedanken aus. »Und was ist mit diesem Nicolas? War der am Abend da? Wann ist er weg? Okay, David, ich will wissen, woran Professor Frost gearbeitet hat, und mit wem. Besorgen Sie mir eine Liste seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter, Sekretärinnen, Sie wissen schon, welche Berührungspunkte gibt es mit der Öko- oder der Tierschutzbewegung? Ist er da schon öfter angeeckt? Gab es Drohbriefe, anonyme Anrufe?« Lejeune spult ihr Routineprogramm ab, ist froh über jedes einzelne ihrer fünfundzwanzig Jahre bei der Polizei. David nickt, ohne sie anzusehen. Ihn mag sie auch nicht. Er sollte im Büro bleiben, denkt sie manchmal, die Straße ist zu gefährlich für ihn. Was für ein Quatsch, jeden kann es treffen. Und meist überleben die Zauderer. »Ach ja, und natürlich, wer war gestern Abend noch hier im Gebäude. Wann hat der Wachmann seinen letzten Rundgang gemacht.«

Als sie den ermordeten Wachmann sah, hat sie für Sekundenbruchteile gedacht, das hätte auch Roland sein können. Bei Hewlett Packard haben sie auch schon mal eingebrochen, seitdem Roland dort die Nachtdienste schiebt. Er kam mit einem Schlag auf den Kopf davon. Was soll aus den Kindern werden, ist es nicht überhaupt unverantwortlich von ihr und Roland, solche Berufe zu haben? Oder mit solchen Berufen Kinder zu haben? Hör auf damit, konzentrier dich auf diesen Fall hier. Was siehst du? Was fällt dir auf? Los, mach schon, streng dich an. »Es ist wirklich eine Hinrichtung. Eine künstlerische Inszenierung, könnte man sagen.« Lejeune spricht mehr zu sich selbst. Der Fotograf wendet sich den blutigen Fußabdrücken zu. Lejeune kennt diese Art von unscharfen Abdrücken. Der Mörder hat einen Plastikschutz über seine Schuhe gezogen und zusätzlich seine Sohlen präpariert, denn die Abdrücke sehen aus wie die geteilten Hufe von Kühen, oder von Rehen, wenn sich Lejeune recht erinnert, ein bisschen größer nur. Die Tiere befreien sich selbst.

»Sieht nach einem Einzeltäter aus.« Sie starrt auf die Spuren und zeigt dann auf eine Stelle auf dem Boden. »Und hier hat er ihm den Kopf abgetrennt. Fragt sich nur, womit.«

Paul dreht sich um. »Ich will euch nicht den Appetit auf den nächsten Braten verderben, und wenn ihr den mit einem normalen Fleischmesser schneidet, habt ihr wahrscheinlich auch kein Problem damit, aber hier«, er zeigt auf den Hals der Leiche, »die Schnittkante sieht aus, als hätte der Mörder ein elektrisches Tranchiermesser benutzt.«

»Und den Stecker dahinten hat er benutzt?« Lejeune geht in die Hocke, damit sie die schmale Blutlinie näher betrachten kann, die sich von der Steckdose an der Wand quer durch den Raum zu der großen Blutlache zieht. »Maurice, hast du das?« Sie richtet sich wieder auf.

Der Fotograf nickt.

»Was ist mit Laborbuch, Computern, Laptop?« Lejeune hat nur einen PC im Raum gesehen. »Hat er keinen Laptop benutzt?«

»Stephane ist gleich da«, ruft David vom Flur. Stephane, die Computerspezialistin, blond, gut in Form und zwanzig Jahre jünger als Lejeune.

»Wo ist sein Kopf?«, murmelt sie.

Paul und Maurice halten einen Moment inne, als könnten sie so eine Antwort finden.

»Was hat er mit dem Kopf von Frost gemacht?« Lejeune wirft einen letzten Blick auf den hingerichteten Professor. »Der scheußliche kleine Rattenkopf auf dem schlanken menschlichen Körper. Eine Kreuzung von Mensch und Tier. Ein uralter Traum der Menschen - oder Albtraum. Der Minotaurus, der Teufel mit dem Pferdehuf.« Sie erinnert sich, gelesen zu haben, dass englische Forscher eine menschliche Eizelle mit der Zelle einer Kuh verschmolzen haben. Angeblich haben sie das Ergebnis nach einer Weile zerstört. Wer glaubt so etwas? Kann ein Forscher aufhören, zu forschen? Und das war bestimmt nur ein harmloses Experiment, eins, von dem die Öffentlichkeit erfahren hat. Die geheimen sind ganz sicher viel spektakulärer. Ob Professor Frost tatsächlich mit der Genforschung zu tun hatte, wird sich herausstellen. Antibiotikaverträglichkeit, denkt sie und erinnert sich an die roten Bläschen, die sie vor Jahren auf der Zunge plagten, nachdem sie zehn Tage lang Penicillinpillen geschluckt hatte.

»Wie kam der Kerl hier rein?«, fragt sie im Vorbeigehen und wendet sich an David, der erleichtert wirkt. »Haben Sie jemanden erreicht?«

Sein verständnisloser Blick sagt, wann hätte ich das tun sollen?

»Ich fahre, Sie telefonieren«, bestimmt sie und geht trotz ihrer Pumps schnell voraus.

»Wohin?«

»Zu diesem Nicolas. Kriegen Sie raus, wo er wohnt.«

Im Laufschritt folgt David ihr und befragt dabei sein Handy. Im Flur sind die Kollegen von der Streife eingetroffen, das Gebäude ist abgeriegelt, die beiden Beamten von der Spurensicherung nicken ihr zu, sie wissen, dass im Labor 1378 noch mehr Arbeit auf sie wartet.

Lejeune bleibt vor einem Mann im dunkelblauen Anzug stehen, dessen gleichmäßig gebräunter glatt rasierter Schädel im Licht der Deckenbeleuchtung glänzt.

»Und wer sind Sie?«

»Pierre Lautrec, Securité Parfaite.« Er wirft einen hastigen Blick in Richtung des Wachmanns, der gerade in einen Leichensack gelegt wird. »Igor war bei mir angestellt.« Er räuspert sich, holt Luft und fährt dann fort: »Ich habe gerade das System überprüft. Professor Frosts Chipkarte hat um 23 Uhr 48 die Tür geöffnet.«

»Danke.« Er oder sie sind also einfach durch den Eingang nach draußen spaziert. »Gibt es sonst noch Sicherheitsmaßnahmen im Gebäude?«

Er räuspert sich. »Wir haben die Leitung des Instituts einige Male darauf angesprochen, dass auch die Fenster gesichert werden müssen. Aber man wollte diese Investition erst im nächsten Jahr angehen.«

»Was ist mit dem Dach, dem Keller?«

»Sollen wir ...« Er hebt den Daumen, dabei klimpert seine schwere silberne Armbanduhr, und sieht zur Decke.

Sie nickt. »Wo geht’s rauf?«

Pierre Lautrec weist zu einer schmalen Tür in einer Nische am Ende des Eingangs. Sie geht voraus, bleibt stehen.

»Sie ist nicht verschlossen«, bemerkt er, »Fluchtweg.«

Jetzt sieht Lejeune das grüne Zeichen über der Tür, sie lässt Lautrec den Vortritt. Die Treppe aus Beton macht zwei Kehren, dann stehen sie vor einer weiteren Tür. Auch die ist nicht verschlossen.

»Wozu haben Sie dann unten das Chipkartensystem?«, fragt Lejeune. Der Sicherheitsmann hebt nur die Augenbrauen. Irgendetwas sagt ihr, dass sie sich jetzt zusammenreißen muss, dass der Täter auch hier gewesen ist, hier, genau an dieser Stelle, an der sie jetzt steht. Lautrec drückt die Klinke herunter. Ein Windstoß fährt ihnen entgegen, und ein Sonnenstrahl schießt durch einen Riss in den Wolken.

Lejeune hat Mühe, ihr Haar aus dem Gesicht zu halten. Sie macht ein paar Schritte auf dem Kies, mit dem das Flachdach bedeckt ist. Dahinten, ist das wirklich das, was sie zu sehen glaubt?

Der Sicherheitsmann kommt hinter ihr her. Plötzlich spürt Lejeune, wie seine Hand ihren Arm packt. Dort, an der Brüstung, kaum vier Meter von ihr entfernt, wuselt ein Knäuel aus weißem Fell und nackten roten Schwänzen. Als Lejeune erkennt, worüber sich die Ratten hermachen, muss sie ein Würgen unterdrücken.

»Du lieber Gott!«, murmelt Lautrec. Ratten zerren die letzten Reste von blutigem Fleisch von einem menschlichen Schädel. Das lockige blonde Haar ist blutverschmiert, da, wo die Augen waren, sind nur noch blutige schwarze Löcher, die Lippen sind abgefressen, der Mund ist eine klaffende Höhle, aus der die Zähne wie fahle Tropfsteine ragen. Keine Ohren, keine Nase, kein Kinn. Der Kopf von Professor Frost.

Lejeune tritt den Rückweg an, sieht, dass David wie gebannt auf den Horror starrt.

»Na, so was kommt in Ihren Videospielen nicht vor, oder?«

Er dreht sich zu ihr, sieht sie verständnislos an, die sonst glatte Stirn in Falten. Sie zuckt nur mit den Schultern, sie musste Wut und Schock einfach loswerden, sie weiß, dass David nicht die richtige Person dafür ist.

Erst beim Hinuntergehen spricht Pierre Lautrec wieder. »Man kann ganz einfach auf das Dach gelangen. Es gibt im Innenhof eine Leiter, die am Gebäude hochführt.« Seine Stimme klingt belegt, auch er hat so etwas noch nie gesehen, denkt Lejeune.

»Und wie kommt man in den Innenhof?«, will sie wissen.

Lautrec zögert. »Ich habe den Grundriss der Anlage nicht genau im Kopf.«

»Egal, wo ist diese Leiter?« Leitern und unverschlossene Türen. Idiotisch - da hätte man gleich das Gebäude offenstehen lassen können!

Als sich die Spurensicherung an die Überprüfung von Innenhof, Leiter und Dach macht, ist es kurz nach acht.

»David?«

»Ja.«

»Wir fahren!«

Er beeilt sich, vor ihr die Eingangstür zu erreichen, und stößt sie auf. Sofort drückt der Wind ihr den Mantel zwischen die Beine, zerrt an ihrem rotblonden Haar, reißt es in alle Richtungen, sie hätte sich das Frisieren am Morgen wirklich sparen können. Sie schreit gegen den Wind in ihr Handy, dass sie noch zwei Leute braucht. »Ja, sofort, ist mir egal, dass Sonntag ist!«

»Nicolas Gombert, siebenundzwanzig«, hört sie Davids Stimme hinter sich. »Student der Biologie, wohnhaft in der ...«, David hält inne, verzieht das Gesicht und niest.

»In der ...?« Sie klimpert ungeduldig mit den Autoschlüsseln in der Hand.

Er muss noch mal niesen. »Pardon, die Pappeln blühen.« Er bekommt einen Niesanfall, seine Augen sind rot und tränen.

»Pappeln, wo?« Lejeune sieht sich um, sie kennt sich nicht sonderlich gut aus in der Botanik, kann gerade mal Ahorn von Birken unterscheiden. Na ja, sie weiß auch, wie eine Eiche aussieht. Aber hier ist nur Beton.

»Hasel, Erle, Pappel, Ulme, Weide«, David macht eine ausgreifende Bewegung mit dem Arm, als sei Paris keine Stadt, sondern ein Wald, »sie blühen alle gleichzeitig, und bei diesem Wind ...«, erklärt er schniefend und deutet nach links. »Wer weiß, was da drüben im Jardin des Plantes noch alles seine Pollen in die Luft schickt.«

Lejeune seufzt, Sophie hat zwar keinen Heuschnupfen, aber eine Laktose-Allergie. Das arme Kind versteht einfach nicht, dass sie weder Eis noch Sahne und Milch zu sich nehmen darf wie alle anderen Kinder - und wie ihr Bruder Thierry.

Das Leben ist ungerecht, das weiß Lejeune mit ihren achtundvierzig Jahren, aber wie soll sie das einer Elfjährigen erklären?

Gegenüber der Métrostation Jussieu erspäht Lejeune eine Bar. David hat schon die Hand zur Beifahrertür des silberfarbenen Peugeot ausgestreckt, er sieht erbärmlich aus mit seinen tränenden Augen.

Sie zeigt über die Straße. »Fünf Minuten.« Sie fröstelt. Und das liegt nicht nur an dem überraschenden Temperatursturz gestern.

Kapitel 6

Als Ethan aus der Air-Europa-Maschine steigt und die brünette Stewardess ihn bewundernd ansieht, lächelt er kurz zurück und geht eilig weiter. Plötzlich ist alles anders geworden. Eine Last ist von ihm genommen. All die Jahre ist jedes Buch ein Stein gewesen in der Mauer, die er gegen die äußere Bedrohung aufgerichtet hat. Gegen die Angst vor dem Tod. Die Angst vor dem Versagen. Die Angst, nichts zu sagen zu haben - ein sinnloses Leben zu führen. Mit Ein Sommer hat er endlich den Ton getroffen, etwas angerührt...

Womit schieben wir nach?, wollte Leon folglich gestern nach dem Hauptgericht wissen. Mit einer Geschichte über einen Mann, dessen Frau eines Tages verschwindet, grundlos offenbar, einfach nicht mehr nach Hause kommt, hatte Ethan erklärt. Die Suche nach ihr ist zugleich die Suche nach ihrer verlorenen Liebe. Großartig, meinte Leon, und Ethan war schließlich bester Laune zum Taxi gewankt.

Der Himmel über Paris ist grau, genauso grau wie der in London vor zwei Stunden. Er stellt den Kragen seiner wollenen dunkelblauen Marinejacke hoch, obwohl er einen Rollkragenpulli trägt. Regen und sechs Grad Höchsttemperatur hat schon der Pilot angesagt.

»Rue Dugay-Trouin 71.« Ethan lässt den Taxifahrer seine Reisetasche in den Kofferraum stellen. Den Laptop behält er. »Sechstes Arrondissement«, fügt er noch hinzu, weil er keinem zutraut, die Straße zu kennen.

Er lehnt sich auf dem Rücksitz zurück. Was wird Sylvie zu seinem Erfolg sagen? Auf einmal läuft alles so leicht. Abgesehen von einem etwas misslungenen Interview mit einem amerikanischen Journalisten, der Ethans Bücher offenbar nicht mochte und ihn persönlich offenbar auch nicht, hat er nur positive Resonanz bekommen.

Die Schilder Bordeaux, Nantes fliegen vorbei, es herrscht kein Stop and Go wie oft, der Verkehr auf der A3 vom Flughafen in die Innenstadt hält sich in Grenzen, die Sonntagsausflügler sind schon weg, sind beim Mittagessen irgendwo, am Meer vielleicht. Am Meer, so heißt sein Buch, das er geschrieben hat, nachdem er nach Paris gezogen ist. Und nachdem er Ruth und seinen Sohn verlassen hat.

Für einen Moment sieht Ethan den weiten Atlantikstrand vor sich, die kleine Bucht unten bei Biarritz. Es regnete, damals, vor sieben Jahren, und er und Sylvie mit nassen Regenmänteln und tropfendem Haar suchten im erstbesten Lokal Zuflucht. Sie blieben, obwohl sie die einzigen Gäste waren, der Wirt drehte die Heizung hoch und hängte ihre Mäntel zum Trocknen auf, und dann kam dieser unglaubliche Duft nach frischer Fischsuppe aus der Küche. Die Decken auf den kleinen Tischen waren aus rot-weiß kariertem Wachstuch, daran erinnert er sich genau, und der Wirt hatte rissige, trockene Hände vom Fischen. Nach fast drei Stunden hatten sie ein Menü mit sechs Gängen genossen und zwei Flaschen Wein getrunken, und als sie die Tür aufstießen, regnete es nicht mehr, und die Sonne schien zwischen den Wolken hindurch.

Das Taxi biegt in die Périphérique ein, der Verkehr wird schlagartig dichter. Sie passieren den Boulevard Vincent Auriol, den Boulevard Auguste Blanqui. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, überall, wohin er kommt, die Straßennamen zu lesen, auch auf der Strecke vom Flughafen Roissy nach Hause, die er schon unzählige Male gefahren ist. Sie erreichen die Place Denfert Rochereau, schließlich den Boulevard Raspail, wo ihn auch jetzt wieder ein besonderes Gefühl der Vertrautheit überkommt. Sie könnten heute Abend essen gehen, in ein nettes, romantisches Lokal. Da fällt ihm ein, dass Sylvie ungern sonntagabends ausgeht, da sie am Montag um halb acht in der Klinik sein muss. Er klopft auf die Rückenlehne des Fahrers.

»Halten Sie hier an.«

»Wo?«

»Da, am Blumenstand.«

Ethan steigt aus und kauft einen großen Strauß rote Rosen. »Besondere Züchtung«, versichert ihm der Verkäufer und hält ihm den Strauß unter die Nase.

»Sie duften nach Rosen - und Veilchen«, stellt Ethan verwundert fest.

»Sag ich doch!« Der Verkäufer grinst und steckt das Geld ein.

Rosen. Der erste Blumenstrauß, den er Sylvie geschenkt hat, war aus Tulpen. Kreischend bunte und absolut geruchlose Tulpen. Er hatte Probleme, ihn zu tragen, weil er an zwei Krücken ging. Sylvie war rot geworden, als er ihn überreichte, erinnert er sich lächelnd.

Kapitel 7

Seit einer halben Stunde steht Nicolas zwischen nach kaltem Zigarettenqualm stinkenden älteren Männern am Tresen der Bar in der Rue Le Prince und trinkt seinen zweiten Cognac. Und das am Morgen! Eine Tüte Tortilla-Chips hat er auch schon verdrückt, weil sein Magen verrücktspielte. Macht er sonst nicht. Zu fett. Zu ungesund. Er zittert, und seine Finger sind blass und bläulich vor Kälte. Von hier aus hat er den Eingang zu dem sechsstöckigen Haus im Blick, in dem er im Erdgeschoss ein Apartment gemietet hat. Irgendetwas hat ihn abgehalten, gleich in seine Wohnung zu gehen, so ist er durch die Stadt gerannt, hat mit sich gekämpft, ob er zur Polizei gehen soll. Er hätte auch anrufen können, aber er kann auch jetzt noch nicht reden. Nur mühsam hat er den Cognac bestellt. Und nun beobachtet er seine Wohnung. Er weiß, dass er einen Schock hat. Kalter, klebriger Schweiß, zitternde Knie, Unruhe, panische Angst. Die Symptome sind unleugbar und unverwechselbar. Dass er noch immer nicht die Polizei verständigt hat, ist ein weiteres Indiz für den Schock, sagt er sich. Sein Handy klingelt. Mit zittrigen Händen fischt er es aus der Jackentasche und stößt dabei den Cognac um. Das Glas bleibt heil, doch der Rest Cognac durchnässt seinen Jackenärmel. Die Nummer kennt er nicht, nein, er geht nicht dran, lässt das Handy wieder in die Tasche gleiten. Der Wirt zieht scharf die Luft ein und sieht ihn mit dieser fiesen Visage an, klatscht dann den Lappen auf den Tresen. Dieses Klatschen, es erinnert ihn an letzte Nacht, jetzt weiß er, es hatte mit dem Blut zu tun! Er starrt den Wirt an, der sich murmelnd von ihm wegdreht.

Proleten, denkt Nicolas mit Abscheu. Sein Blick streift die drei anderen Gäste. Er ist nicht der einzige mit einem Cognac morgens um acht. Allesamt Proleten wie sein Vater. Fünfunddreißig Jahre lang Arbeiter bei Renault. Immerhin. Sein Geruch nach Schweiß, wenn er nach Hause, in die enge Wohnung kam, die die Mutter peinlichst aufgeräumt und sauber hielt. Die plötzlich aus ihm herausbrechende Wut. Die Schläge. Grundlos. Aus dir wird nie was! Nein, Nicolas hat es ihm nie gesagt. Dass er schwul ist. Da hätte Nicolas ja gleich selbst sein Todesurteil unterschrieben. An Weihnachten vor zwei Jahren hat er seine Eltern zum letzten Mal besucht. Jetzt ruft er nur noch hin und wieder an, weil er weiß, dass nur seine Mutter ans Telefon geht.

Nicolas schiebt die Münzen über den Tresen und geht hinaus. Es waren militante Ökos. Und was hätte er tun sollen?

Mehrmals sieht er nach links und rechts und will gerade den Fuß auf die Straße setzen, als ein dunkelblauer Peugeot angeschossen kommt und direkt vor dem Hauseingang in der zweiten Reihe anhält. Am liebsten würde er wegrennen, doch er zwingt sich, langsam ein paar Schritte den Bürgersteig hinaufzugehen, immer noch auf der anderen Straßenseite. Ein junger Typ mit Babyface und eine attraktive Endvierzigerin steigen aus dem Auto, sie erinnert ihn an eine Schauspielerin, wie heißt sie noch, ja, Isabelle Huppert, richtig. Klein, dünn, rötliches Haar, helle Haut mit Sommersprossen und dieser arrogante, genervte Blick. Die Bullen, er ist sicher. Sie verschwinden im Hauseingang. Verdammt! Was soll er jetzt tun? Reingehen und sagen, er konnte nicht früher zur Polizei? Da würden die wissen wollen, warum nicht. Ich hatte einen Schock! Ah, Sie sind doch der, der letztes Jahr wegen Besitz von Kokain festgenommen worden ist. Was haben Sie im Drogenrausch angestellt, Monsieur Gombert? Nicolas’ Herz stolpert. Haben Sie plötzlich Mitleid mit den armen Tieren gehabt, die Sie quälen? Oder wollten Sie sich an Ihrem Professor rächen?

Er bleibt stehen und tut so, als würde er eine Nummer in sein Handy tippen, behält dabei den Eingang im Blick. An seinem Fenster im Parterre nimmt er keine Veränderung wahr. Er hat die Jalousien heruntergelassen, aber selbst wenn sie das Licht einschalten würden, könnte er es jetzt, bei Tag, kaum sehen. Niemanden hat er bisher angerufen, noch nicht einmal Jean-Marie. Er muss jemanden fragen, was er tun soll!

Nachdem sich Nicolas weder auf seinem Handy gemeldet noch nach mehrmaligem Läuten die Haustür geöffnet hat, versuchen sie es an der gegenüberliegenden Wohnung. Als sie das stattliche Haus aus dem 19. Jahrhundert betreten, fällt Lejeune sofort der Geruch nach Bohnerwachs auf, mit dem man selbst das Geländer pflegt. Die Stuckdecke ist frisch gestrichen, und auch die Steintreppe glänzt. Lejeune erinnert sich kurz an den ständigen Geruch nach Essen und die Kinderwagen im Flur in ihrem Wohnhaus, Rue d’Alésia. Ein Haus aus den Sechzigern, mit niedrigen Decken und kleinen Fenstern. Es hat andere Zeiten gegeben, da hat auch sie in einem anderen Haus gelebt, aber darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Man muss das Leben nehmen, wie es ist.

»Ja?« Die junge Frau im Türspalt trägt einen grauen Jogginganzug mit dunkeln Schweißflecken am Bauch und unter den Achseln. Ihr Gesicht ist erhitzt. Im Hintergrund hört Lejeune eine anfeuernde Stimme. Wahrscheinlich läuft ihre Pilates-DVD. Wieder so eine mit perfekter Figur und viel jünger als sie. Lejeune klappt ihren Ausweis auf.

»Wir suchen Nicolas Gombert.«

»Hat er was verbrochen?« Die Nachbarin wirkt feindselig. Sie ärgert sich, dass sie ihre verdammten Pilates-Übungen unterbrechen muss, denkt Lejeune, lässt sich aber nichts anmerken.

»Er kann uns womöglich weiterhelfen. Er ist nicht zu Hause. Wissen Sie, wo er sein könnte? Bei seiner Freundin vielleicht?«

Die Nachbarin schüttelt den Kopf. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt. »Wenn schon, dann bei seinem Freund.« Abschätzend mustert sie erst Lejeune, dann David.

»Aha, kennen Sie den Namen von dem Freund?« Lejeune bleibt freundlich, obwohl sie nach dem musternden Blick keine Lust dazu hat.

»Tut mir leid. Wir sehen uns nur ab und zu im Treppenhaus, und wenn ich wegfahre, gebe ich ihm die Schlüssel, wegen der Blumen und so.« Der Türspalt wird schmaler, die Nachbarin will sie loswerden.

»Haben Sie auch seine Schlüssel?«, mischt David sich ein.

»Ja, zur Sicherheit, wenn er sie mal vergessen hat.« »Würden Sie uns aufschließen?« David lächelt sie an.

»Ich weiß nicht, brauchen Sie da nicht einen Durchsuchungsbefehl?«

»Wir möchten uns nur vergewissern, dass ihm nichts zugestoßen ist«, erklärt Lejeune.

Die junge Frau legt den Kopf schief und sagt skeptisch: »Aber eben haben Sie doch noch gesagt, er könnte Ihnen weiterhelfen ...«

David nickt. »Das ist richtig, sofern ihm nichts zugestoßen ist.« Er lächelt wieder.

So einfach ist das, ja?, denkt Lejeune missmutig. Er hat die Frau überzeugt. Die zögert nur kurz, dann dreht sie sich weg und hält gleich darauf einen Schlüssel mit einem goldenen Fußball als Anhänger in der Hand.

»Bringen Sie mir ihn wieder, wenn Sie gehen.« Sie lässt ihn in Davids aufgehaltene Hand fallen, schenkt ihm noch einen tiefen Blick, und knallt die Tür zu.

Es riecht nach herbem Parfüm, fällt Lejeune gleich auf, und sie entdeckt das Fläschchen mit dem Raumduft auf dem niedrigen Sideboard, das modern und teuer aussieht.

»Wie viel verdient ein Assistent an der Uni?« Lejeune lässt ihren Blick durch das Einzimmerappartement gleiten, das in einer Einrichtungszeitschrift hätte abgebildet sein können. Dunkles Parkett, in der Mitte eine Sitzgruppe aus rotem Leder, am Rand eine minimalistische Küchenzeile mit den modernsten Geräten. Sie denkt an ihren Herd, an die gesprungene Ceranplatte und den unzuverlässigen Ofen. Das Einzige, was immer funktioniert, ist die Mikrowelle. Dabei weiß Lejeune, dass die Strahlen nicht gesund sind und die Fertiglasagne und Fertigpizza, die sie darin erhitzt, genauso wenig.

»Vielleicht hat er ja auch reiche Eltern.« David kniet neben dem Plasmabildschirm und sieht die DVDs durch. Er grinst unbeholfen. Die ersten zwei Monate hat er herumgedruckst, wollte nie, dass sie seine Wohnung sieht. Einmal war es unvermeidlich, da musste sie für ihn etwas daraus holen. Die Zweizimmerwohnung im Marais ist mindestens eine halbe Million Euro wert. Sein Vater ist Immobilienmakler. David hätte ins Geschäft einsteigen können. Doch er hat Jura studiert und ist zur Polizei gegangen. Bisher hat er Lejeune noch nicht verraten, warum. Vielleicht mag sie ihn auch deshalb nicht, weil er den bequemen Luxus, nach dem sie sich sehnt, einfach so weggeschmissen hat.

»Was ist mit dem Laptop?« Lejeune macht mit dem Kinn eine Bewegung zu dem Gerät auf dem aufgeräumten kleinen Schreibtisch aus dunklem Holz.

»Wir dürfen doch ohne ...«

Lejeunes Handy meldet sich. Es ist Roland. Er will wissen, ob sie pünktlich um drei zu Hause ist. Die Kinder wollen so gern ... Sie lässt ihn nicht ausreden. Verflucht, wann komme ich schon pünktlich nach Hause? Nie! Warum muss er auch noch fragen?

»Sieht nicht so aus, Roland.«

»Also nein.«

Oh, sie weiß schon, wie seine Stimmung gerade in den Keller rutscht. Warum muss er auch ausgerechnet jetzt anrufen?

»Ja, also nein«, wiederholt sie. »Roland?« Aber er hat schon aufgelegt. Der Sonntagabend ist gelaufen. Wieder mal. Davids erwartungsvoller Blick erinnert sie an seine Frage.

»Nein, wir dürfen natürlich nicht.« Sie versucht sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, jetzt ist keine Zeit für die Familie. Nirgendwo ein Kalender, ein Adressbuch.

»Er wird alles auf seinem Computer und in seinem Handy gespeichert haben«, sagt Lejeune.

»Schwulenvideos.« David steht auf.

»Und«, herrscht sie ihn an, »haben Sie was gegen Schwule?« »Nein, nein«, antwortet er hastig, »nein, überhaupt nicht.« Sie nickt nur. Die Bemerkung hätte sie sich sparen können. Warum muss sie ihre Wut an ihm auslassen? Weil gerade kein anderer zur Stelle ist, ganz einfach.

»Womöglich ist er wirklich bei einem Freund«, sagt sie. »Fahren wir. Ich hasse diese Fälle am Sonntagmorgen. Nie ist einer zu Hause.«

In der Spiegelung des Schaufensters vom Elektroladen kann Nicolas die beiden sehen, wie sie aus dem Haus kommen und in den Wagen steigen. Erst als er losfährt, wagt Nicolas, sich langsam umzudrehen und hinter ihm herzusehen. Waren das wirklich die Bullen? Wollten sie wirklich zu ihm? Wieder versucht er, Jean-Marie anzurufen. Endlich meldet er sich.

»Warum gehst du nicht ran? Wir wollten uns doch gestern Abend ...«

Jean-Marie fällt ihm ins Wort. »Mir ist was dazwischengekommen.«

Nicolas kann es sich denken. Ein junger Typ, der samstagabends nicht in Labors rumsteht, sondern ordentlich vögelt. Warum auch nicht? Sie sind befreundet, aber sie tun beide, was ihnen Spaß macht. Nicolas muss es wegstecken. Und eigentlich hat es Nicolas das Leben gerettet, dass sein Handy nicht geklingelt hat. Er holt Luft, er muss sich immer überwinden, wenn er jemanden um etwas bitten will.

»Kannst du kommen?«, fragt er.

»Jetzt?« Jean-Maries Stimme klingt überrascht.

»Ja.« Weitere Erklärungen hebt er sich für später auf. »Oder liegt er noch bei dir im Bett?«

Ein kurzes Lachen. »Nein. Es war eine schnelle Nummer.«

»Dann kannst du ja kommen und ein paar Croissants mitbringen.«

Als er auflegt, fühlt er sich erleichtert, er wird Jean-Marie alles erzählen, wirklich alles. Dann kann er ja immer noch zur Polizei gehen. Gerade als er die Schultern strafft, fällt eine Hand schwer darauf.

»Nicolas Gombert? Wir haben Sie überall gesucht.«

Er dreht sich um und sieht sich einem jungen Mann gegenüber, demselben, der gerade mit der Frau in seinem Haus war. Auf dem Ausweis steht etwas von Commissariat.

»Wie haben Sie mich gefun...«

Babyface grinst und deutet auf Nicolas’ Handy.

Die Polizei ist das kleinere Übel, denkt Nicolas. Er überlegt kurz, ob er Jean-Marie Bescheid geben soll, doch dann fällt ihm ein, dass der einen Schlüssel hat.

»Ich, ich wollte ... Ich stehe unter Schock!«

»Verständlich. Am besten steigen Sie ein.« Der Bulle zeigt auf den Peugeot, der mit laufendem Motor am Bordstein hält. Am Steuer sitzt die genervte Kommissarin. Nicolas seufzt und steigt ein.

Kapitel 8

Ethan schlägt die Taxitür zu. Als er mit seinem Handkoffer und dem Strauß Rosen vor dem sechsstöckigen Haus in der Rue Dugay-Trouin 71 steht und hinaufsieht, bemerkt er, dass die Japanische Kirsche auf ihrem Dachgarten angefangen hat zu blühen, während er verreist war. Ein Zeichen, denkt er. Er schließt die Tür auf und fährt in dem altmodischen offenen Aufzug nach oben. Es ist still, wie meist in diesem Haus, Gott sei Dank, sonst könnte er hier nicht leben und arbeiten. Der Duft der Rosen ist in der Tat außergewöhnlich.

Mit einem leichten, federnden Ruck hält der Aufzug im obersten Stockwerk. Ethan schiebt die Tür auf und geht die wenigen Schritte über den knarrenden polierten Dielenboden zu der kassettenverzierten hohen Wohnungstür mit dem goldfarbenen Knauf. Ihre gemeinsame Wohnung, die sie sich gesucht haben, als er sein Leben auf der anderen Seite der Erdkugel aufgegeben hatte. Sylvie wohnte damals in einem winzigen Appartement in der Nähe des Krankenhauses. Obwohl ihre Eltern reich waren. Oder gerade deshalb. Wenn sie ins Bett wollte, musste sie den Couchtisch verrücken und das Sofa ausziehen. Er muss lächeln, wenn er an den ersten Besuch bei ihr denkt. Da malte Sylvie ihm ein rotes Herz auf sein Gipsbein.

Er klingelt, wartet. Die Wohnung ist riesig mit ihren fast zweihundert Quadratmetern. Wenn man auf der Dachterrasse steht, braucht man ein paar Sekunden bis zur Tür. Sylvie öffnet nicht. Vielleicht ist sie spazieren gegangen. Vielleicht ist sie auch zu einem Notfall gerufen worden. Die Wohnung erstreckt sich über das gesamte oberste Stockwerk, sie haben daher keine Nachbarn. Glücklicherweise. Die ältere Dame unter ihnen ist schwerhörig und hat sich noch nie über zu laute Musik beschwert. Er und Sylvie allerdings auch nicht über ihren Fernseher. Ethan sucht am Schlüsselbund den richtigen Schlüssel und schließt die beiden Schlösser auf, ärgert sich, dass Sylvie nicht abgeschlossen hat. Wozu haben wir denn die Sicherheitsschlösser einbauen lassen? Er stößt die Tür auf. Der bekannte Duft nach Sylvies Parfüm weht ihm entgegen. Aber es ist kalt. Warum hat Sylvie nicht die Heizung angeschaltet? Er stellt Tasche und Laptop neben die Tür aufs Parkett.

»Sylvie?«