Das Tal der Oleanderblüten - Cornelia Zahner - E-Book
NEUHEIT

Das Tal der Oleanderblüten E-Book

Cornelia Zahner

0,0

Beschreibung

Im Sommer reist die Schweizer Studentin Coralia mit einer Freundin nach Griechenland, um die Sprache zu lernen. Ihre Abenteuerlust führt sie weit über das Klassenzimmer hinaus: In den malerischen Bergen der Insel entdecken sie hinter dichten Oleandersträuchern ein unbekanntes antikes Heiligtum. Sie erkennen einen Zusammenhang zwischen dieser Stätte und einer alten Statue im Museum, was ihre Neugier entfacht. Zudem fragen sie sich, woher die geheimnisvollen Wildpferde stammen, von denen auf der Insel niemand zu wissen scheint. Gemeinsam mit dem Einheimischen Philippos, der auf dem Reiterhof seines Onkels arbeitet, versuchen sie das Mysterium zu enträtseln. Ihre Spur führt sie zurück ins Jahr 1940, als merkwürdige Vorfälle um einen Pferdezüchter die Insel in Atem hielten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit



Ähnliche


Inhalt

Cover

Über das Buch

Impressum

Titel

Teil 1     Weiße Strandlilien

1

2

3

4

Kalainos, April 1930

5

6

7

Kalainos, März 1943

8

9

Kalainos, März 1943 italienisches Lager

10

Teil 2     Gelber Hibiskus

11

12

Athen, September 1946

13

14

15

Kalainos, Januar 1948

16

17

Kalainos, Mai 1989

18

19

Teil 3     Rosa Oleander

20

21

22

23

Kalainos, Februar 1940

24

25

26

Juni 1940

27

Teil 4     Lila Bougainvillea

28

Juni 1940

29

30

Juni 1940

31

32

33

34

35

36

Epilog

Über die Autorin

Backcover

CORNELIA ZAHNER

DAS TAL DER OLEANDERBLÜTEN

Der Verlag und die Autorin danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍nem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

© 2025 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Angelia SchwallerKorrektorat: Helga Loser-Cammann

Cornelia Zahner

DAS TAL DER OLEANDERBLÜTEN

Roman

Teil 1    Weiße Strandlilien

1

«Reist du für den ganzen Sommer nach Griechenland?»

Coralia nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse und nickte. «Ja, so sieht’s aus.»

«Du Glückliche!»

Coralia erwiderte das Lächeln ihrer Nachbarin. Sie kannte Bea seit Jahren, Coralia hatte früher deren Kinder gehütet, doch inzwischen waren diese so groß, dass sie keine Babysitterin mehr brauchten.

«Bist du nervös?»

«Ein wenig», gab sie zu, obwohl sie, seit sie aufgestanden war, hektisch herumschwirrte und nicht einmal die Ruhe gefunden hatte, sich zum Frühstück hinzusetzen. Morgen um diese Zeit wäre sie bereits irgendwo über den Wolken zwischen der Schweiz und Griechenland. Ihre Nachbarin bot ihr eine weitere Tasse Kaffee an, doch Coralia lehnte ab.

«Wie sind deine Prüfungen gelaufen?»

«Gut, glaube ich. Die letzte war die schwierigste, aber ich habe ein gutes Gefühl. Ob ich bestanden habe, erfahre ich im September.»

Ihre Nachbarin verzog das Gesicht. «Das ist eine lange Zeit, in der sie dich auf die Folter spannen.»

«Ja, aber immerhin kann ich sie sinnvoll nutzen.»

«Bis dahin sprichst du sicher fließend Griechisch.»

Coralia zuckte mit den Schultern. «Ich hoffe es. Es ist zwar keine einfache Sprache, aber zum Glück habe ich an der Uni bereits Altgriechisch und ein wenig Neugriechisch gelernt. Das macht es einfacher.»

«Wehe, du kommst nicht zurück!» Bea drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger, was Coralia ein Lachen entlockte.

«Keine Sorge, ich habe nicht vor auszuwandern.»

Bea grinste vielsagend. «Aber wenn du einen gut aussehenden jungen Griechen kennenlernst ...»

Coralia verdrehte die Augen.

«Sicher wirst du einen mitbringen.»

«Sicher nicht», widersprach Coralia. «Ich gehe nach Griechenland, um die Sprache zu lernen, nicht um einen Mann zu suchen.»

«Manche Dinge findet man auch, ohne dass man sie sucht», fuhr Bea fort und griff nach ihrer Tasse. «Du bist jung, hübsch und klug, und du wünschst es dir doch, oder?»

Coralia seufzte. Seit jener Bekanntschaft mit einem Mitstudenten vor einigen Monaten war sie sich nicht mehr so sicher. Damals hatte sie Bea ihr Herz ausgeschüttet, und seither zog diese sie damit auf.

«Mach dir keine Sorgen», sagte sie schließlich. «Ich werde wiederkommen.»

Die Luft war nicht so heiß, wie Coralia erwartet hatte. Ein kühler Wind wehte vom Meer her, als sie über den kleinen Flugplatz auf das Gebäude zuging, an dessen Fassade die Aufschrift Aerodrómio Kalaínou angebracht war.

Während des Flugs war ihre Nervosität verflogen, doch nun schlug ihr das Herz vor Aufregung wieder bis zum Hals. Auf der Reise war sie ihr Vokabelbuch durchgegangen, hatte sich aber nicht richtig konzentrieren können. Victoria hingegen, ihre Freundin, die mit ihr anreiste, hatte neben ihr seelenruhig in ihrem Archäologieführer gelesen. Sie hatten sich am ersten Tag zufällig an der Uni kennengelernt und waren sich von Anfang an sympathisch gewesen. Als sie wenige Monate zuvor erfahren hatten, dass der Neugriechischkurs nicht weitergeführt würde, den sie beide besuchten, hatten sie beschlossen, ihre Sprachkenntnisse in Griechenland zu erweitern.

Nachdem sie ihre Koffer in Empfang genommen hatten, suchten sie auf dem kleinen Vorplatz den Bus, der sie nach Xiróchora bringen sollte. Das Dorf lag an der Südküste und war der zweitgrößte Ort dieser nicht besonders touristischen Insel. Umso mehr hatte es Coralia erstaunt, dass hier eine Sprachschule Griechischkurse anbot. Sie hätten auch nach Athen gehen können, aber sie wollte nicht den ganzen Sommer in der Großstadt verbringen.

«Ein hübscher Ort», stellte Victoria fest, als sie aus dem Bus stieg und die Sonnenbrille aufsetzte.

Ein freudiges Kribbeln durchfuhr Coralia beim Anblick der weißen Häuser, deren Fassaden von leuchtender Bougainvillea überwuchert waren. Sie war zwölf gewesen, als sie zum ersten Mal nach Griechenland gereist war, und erinnerte sich gut daran, wie fasziniert sie damals gewesen war. Auch Victoria konnte sie die Begeisterung ansehen.

Der Weg zu ihrer Unterkunft führte sie durch enge Gässchen und über mehrere Treppen durch den Ort, vorbei an kleinen, bunten Läden und verwilderten Grünflächen. Als sie zwischen zwei Häusern hindurch den Strand erblickten, blieben sie kurz stehen und schauten aufs Meer hinaus. Der Strand erstreckte sich bis zum Hafen ein Stück weiter vorn und dahinter weiter bis zu den Bergen.

Coralia hatte sich die Karte genau angesehen und eingeprägt, sodass sie ihre Unterkunft ohne Mühe fanden. Vassiliki, ihre Gastgeberin, begrüßte sie freudig und wortreich, obwohl sie kaum Englisch sprach. Coralia mochte sie sofort. Vassiliki zeigte den beiden ihr Apartment, erklärte, wie Klimaanlage, Küchengeräte und Waschmaschine funktionierten, und verabschiedete sich schließlich, jedoch nicht, ohne ihnen einen Teller Kekse auf den Tisch zu stellen.

«In jeder griechischen Küche gibt es etwa drei verschiedene Geräte, um Kaffee zu kochen», sagte Victoria lachend und schloss den Küchenschrank wieder.

Coralia nahm einen Keks vom Teller. «Sie ist sehr freundlich, ich glaube, diese Unterkunft war eine gute Wahl.»

«Die sprichwörtliche griechische Gastfreundschaft», sagte Victoria, ohne sich umzudrehen. «Deshalb liebe ich dieses Land so sehr.»

Coralia ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte zur Decke empor. Hier würde sie die nächsten drei Monate wohnen.

Im Augenwinkel sah sie, dass Victoria eine Mappe aus ihrem Rucksack zog, sie öffnete und sorgfältig in den losen Papieren blätterte. «Wie spät ist es?»

«Keine Ahnung», antwortete Coralia, setzte sich auf und griff nach ihrer Handtasche, um ihr Handy zu suchen. «Halb vier.»

«Sehr gut, dann bleibt uns noch genug Zeit, um auszupacken und einen Rundgang im Städtchen zu machen. Ich würde gerne heute schon nachsehen, wo wir morgen hinmüssen.»

Coralia nickte. Sie hatte sich die Lage der Schule auf der Karte ebenfalls eingeprägt, doch sie wusste aus Erfahrung, dass ihre Vorstellung eines Ortes nie der Realität entsprach. Wirklich nie. Entschlossen stand sie auf, wuchtete ihren Koffer aufs Bett und begann, ihre Kleider in dem hohen Schrank zu verstauen. Von einem solchen Sprachaufenthalt hatte sie seit Beginn ihres Studiums geträumt. Irgendwann – wahrscheinlich kurz nach Beginn des Neugriechischkurses – hatte sich herausgestellt, dass Victoria dasselbe im Sinn hatte. Und hier waren sie nun – voller Neugier und Vorfreude, nicht nur auf den Kurs, sondern auch auf die Insel, von der sie zuvor noch nie gehört hatten.

Die Schule lag in einem zweistöckigen Haus in einem Sträßchen, das vom Meer ins Ortszentrum führte, über einem kleinen Café, das rund um die Uhr geöffnet zu sein schien. Coralia betrachtete das Metallschild an der Wand neben der schweren Tür. Wenn sie nicht gewusst hätten, dass sie hier suchen mussten, hätte sie es wahrscheinlich übersehen.

Als sie an der nächsten Kreuzung abbogen, standen sie auf der Platía, dem zentralen Platz, wo das Leben ebenfalls nie stillzustehen schien. Kleine Läden wechselten sich mit Cafés und Tavernen ab, deren Stühle und Tische alle unterschiedlich waren und so wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen aussahen.

Als die Sonne sich in einem leuchtenden Farbenspiel dem Meer näherte, erwachte auch der Hafen zum Leben. Coralia und Victoria setzten sich in eine Taverne und beobachteten das bunte Treiben. Da die Insel vom Massentourismus verschont geblieben war und zudem die Hochsaison erst begann, waren hauptsächlich Einheimische im Städtchen unterwegs. Coralia versuchte, die Sprachen der Passanten zu erkennen, hörte jedoch vor allem Griechisch. Es bereitete ihr nach wie vor Sorgen, dass sie zwar die griechische Grammatik kannte und anwenden konnte, aber häufig die Worte, die man an sie richtete, nicht verstand. Und wenn sie dann nachfragte, wiederholte der Sprecher sie oft auf Englisch.

«Hast du geklingelt?», fragte Victoria und betätigte den Knopf neben dem verwitterten Metallschild.

«Ja, hab ich», erwiderte Coralia leicht gereizt und warf einen Blick auf die Uhr. «Der Unterricht sollte um neun Uhr beginnen. Es ist jetzt 8:57 Uhr und noch ist niemand da.»

«Guten Morgen», wurden sie in diesem Moment auf Schweizerdeutsch angesprochen. «Seid ihr auch hier für den Griechischkurs?»

Die beiden wandten sich überrascht um und schauten in die freundlichen Augen einer braunhaarigen Frau mit Brille, die eine schlichte Tasche über der Schulter trug.

«Ja», antwortete Victoria. «Aber es scheint niemand da zu sein.»

Das erstaunte die Dame offenbar nicht. «Schweizer Pünktlichkeit», sagte sie nur und warf einen Blick auf die Uhr. «Ich bin Helga.»

Coralia und Victoria stellten sich ebenfalls vor.

«Und was treibt euch an, Griechisch zu lernen?»

«Victoria studiert Archäologie und ich Linguistik und Tourismus», erklärte Coralia.»

«Oh, spannend!» Helga schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln.

«Und was sind deine Beweggründe?», wollte Coralia wissen.

«Ich werde demnächst pensioniert und werde dann mit meinem Mann nach Griechenland auswandern. Er ist ebenfalls Archäologe.» Sie sah Victoria an, über deren Gesicht ein Lächeln huschte.

In diesem Moment kam eine Frau um die Ecke gerauscht, in der einen Hand hielt sie einen klimpernden Schlüsselbund, in der anderen einen Kaffeebecher mit Strohhalm. Irgendwie schaffte sie es trotzdem, die Sonnenbrille von ihrer Nase ins Haar zu schieben, bevor sie mit einem überschwänglichen «Kalimera!» bei der Tür stehen blieb, um diese aufzuschließen.

«Ich bin Maria», sagte sie in langsamem, deutlichem Griechisch, «die Schulleiterin. Kommt rein!» Sie führte die drei die Treppe hinauf, schloss eine weitere Tür auf und trat ein. Die Räumlichkeiten mussten früher eine Wohnung gewesen sein, die zu einer kleinen Schule umfunktioniert worden war. Maria deutete auf das größere der beiden Klassenzimmer und bat die drei, sich zu setzen, dann verschwand sie in ihrem Büro neben der Eingangstür. Sie hatten sich kaum hingesetzt, da betraten zwei weitere Personen die Wohnung und begaben sich wie selbstverständlich ins andere Klassenzimmer. Maria folgte ihnen, nachdem sie im Flur ein paar Worte mit einer jungen Frau gewechselt hatte, die ebenfalls gerade angekommen war und zielsicher das größere Klassenzimmer ansteuerte.

«Kalimera!», begrüßte diese die drei und stellte ihre Tasche am Kopfende des langen Tisches ab.

Coralia fragte sich, wer von ihnen wohl jünger sein mochte.

Die junge Lehrerin stellte sich ebenfalls in langsamem Griechisch als Evangelia vor und fragte dann jede einzeln nach ihrem Namen, ihrer Herkunft und ihren Vorkenntnissen.

«Móno lígo», antwortete Coralia auf die letzte Frage, «nur wenig», während Victoria in einem vollständigen Satz erklärte, dass sie an der Universität Altgriechisch und ein wenig Neugriechisch gelernt habe. Das Gleiche galt auch für Coralia, aber sie hatte sich angewöhnt, «nur wenig» zu sagen, um nicht mit griechischen Worten eingedeckt zu werden, von denen sie die Hälfte doch nicht verstand.

Gerade als Helga erklärte, dass sie ebenfalls bereits einen Kurs besucht hatte, öffnete sich die Tür. Maria streckte den Kopf herein und sagte etwas zu Evangelia, dann ging sie zur Seite und ließ eine weitere Schülerin eintreten. Etwas unsicher sah diese sich um und setzte sich dann neben Coralia. Evangelia fragte auch sie nach ihrem Namen.

«Ich heiße Steffi», sagte sie langsam auf Griechisch, «und ich komme aus der Schweiz. Mein Verlobter ist Grieche, deshalb bin ich hier, um die Sprache besser zu lernen.» Beim Wort Verlobter geriet sie ins Stocken und musste mehrere Anläufe nehmen, bis sie arravoniastikós fehlerfrei aussprechen konnte.

Victoria warf Coralia einen vielsagenden Blick zu. Sie erinnerten sich beide daran, dass das auch im Kurs an der Uni der am häufigsten genannte Grund gewesen war, warum ihre Mitstudenten Griechisch lernen wollten.

In der Pause bot Victoria an, für alle einen Kaffee zu holen und eilte die Treppe hinunter. Coralia blieb vor der Pinnwand im Flur stehen und sah sich die vielen bunten Blätter und Flyer an, die dort hingen.

«Kennst du die Insel schon?», fragte Helga, die unbemerkt hinter sie getreten war.

«Nein, ich bin noch nie hier gewesen, du schon?»

«Einmal, aber das ist einige Jahre her.» Sie deutete auf den Prospekt am rechten Rand der Pinnwand. «Potamiás hat einige interessante Ausgrabungsstätten. Die größte liegt etwas außerhalb, aber im Ort gibt es auch einige kleine Ruinen zu sehen.»

«Gibt es einen Bus nach Potamiás?»

«Ja, etwa zweimal pro Stunde, aber nicht immer zur gleichen Zeit.»

Coralia nickte nachdenklich, während sie Potamiás auf der Karte suchte und den Ort schließlich an der Nordküste fand. «Gut zu wissen.»

In diesem Moment kam Victoria zurück und reichte jeder einen Becher. «Steffi, dein Kaffee.»

Steffi, die im Türrahmen lehnte, schaute von ihrem Handy auf und griff nach dem Becher. «Danke.»

«Ich habe gerade Coralia von den Ausgrabungen in Potamiás erzählt», wandte Helga sich an Victoria, deren Augen vor Begeisterung aufblitzten. «Xiróchora hat ebenfalls ein archäologisches Museum.» Sie deutete auf der Karte auf einen Punkt mitten im Ort. «Es war ursprünglich das wichtigere, aber als vor einigen Jahren die antike Stadt bei Potamiás ausgegraben wurde, hat man dort ein neues gebaut, das nun das bedeutendere ist.»

«Wir werden uns beide ansehen», entschied Victoria. «Zeit haben wir ja.»

«Wie lange bleibt ihr?»

«Drei Monate, und du?»

«Nur zwei, aber in der Zeit werde ich mich hier nach einem Haus umsehen. Vielleicht wandern wir ja nach Kalainos aus», sagte Helga geheimnisvoll und zuckte mit den Schultern. «Obwohl mir Kreta auch sehr gut gefallen würde.»

«Ist dein Mann auch hier?»

«Nein, er ist auf einer Grabung in Jordanien.»

Coralia konnte ihrer Freundin die Begeisterung ansehen, als die beiden ein Gespräch über Archäologie begannen. Ihr Blick wanderte zu Steffi, die noch immer an derselben Stelle stand und auf ihr Handy starrte. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und fiel ihr in die Stirn, was sie offenbar nicht bemerkte. Auch den Kaffee in ihrer linken Hand schien sie vergessen zu haben.

Als sie sich nach der Pause wieder auf ihre Plätze setzten, betrat Maria den Raum. In der Hand hielt sie mehrere Blätter, die sie nun vor sich auf den Tisch legte. Evangelia lehnte neben der Tafel an der Wand und trank ihren Kaffee aus.

«Unsere Schule bietet neben dem Unterricht verschiedene Freizeitaktivitäten an», begann Maria langsam und deutlich. «Am Dienstagabend gehen wir gemeinsam in einer Taverne essen, am Mittwoch werden wir selbst ein griechisches Menü kochen, am Donnerstag findet immer unser Filmabend statt und am Freitag könnt ihr zwischen verschiedenen sportlichen Aktivitäten auswählen. Wir bieten Kajakfahren, Tennis und Reiten an.»

«Reiten klingt gut», flüsterte Victoria, als die Liste an sie weitergereicht wurde.

Coralia nickte. «Ich bin dabei.»

2

Fasziniert schaute Coralia aufs Meer hinaus, in dem sich die Abendsonne spiegelte. Maria hatte ihnen gestenreich erklärt, dass Reiten erst gegen Abend möglich sei, wenn die Hitze nachlasse. Den ganzen Tag hatte sie sich auf den Ausflug gefreut. Nun saß sie zwischen Victoria und Steffi auf der Rückbank eines alten geländetauglichen Wagens, der zweifellos schon bessere Zeiten gesehen hatte, sich aber für die Fahrt auf der unbefestigten Straße als äußerst nützlich erwies.

Aliki, die für die Sprachschule Reiten als Freizeitaktivität anbot, hatte sie in Xiróchora abgeholt. Sie und ihr Cousin führten einen kleinen Reiterhof nicht weit vom Dorf entfernt und arbeiteten schon lange mit der Sprachschule zusammen. Seit sie im Pick-up waren, wechselte nur Aliki ab und zu ein paar Worte mit Helga, die auf dem Beifahrersitz saß. Obwohl sie von Anfang an gesagt hatte, dass sie nicht reiten würde, war sie doch mitgekommen, weil ihre drei Klassenkameradinnen auch hingingen.

Die Woche war schnell vergangen, und Coralia hatte das Gefühl, schon sehr viel gelernt zu haben. Sie geriet bereits nicht mehr so schnell ins Stocken, wenn sie mehr als einen Satz sagen wollte, und es fiel ihr leichter, Wörter zu umschreiben, die sie nicht kannte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Steffi, die seit der Abfahrt eingehend ihre Fingernägel betrachtete. Sie trug eine weiße Leggins, auf der der Staub bereits einen bräunlichen Schimmer hinterlassen hatte. Die ganze Woche war sie ziemlich schweigsam gewesen. Coralia hatte sich mehr als einmal gefragt, ob sie nur scheu war oder ihre Klassenkameradinnen nicht mochte. Mehrmals hatte sie sie angesprochen, aber immer nur knappe Antworten erhalten. Das Knirschen der Räder auf Kies riss Coralia aus ihren Gedanken.

«Wir sind da!», verkündete Aliki fröhlich und stieg aus.

Coralia kletterte hinter Victoria aus dem Wagen. Sie standen vor einem weiß gestrichenen Haus, an dessen Fassade sich eine prachtvolle Bougainvillea emporrankte. Die Terrasse hingegen wirkte in die Jahre gekommen, sodass Coralia sich fragte, ob man sie überhaupt noch betreten durfte. Dann wanderte ihr Blick über den Hof zum Stall, einem lang gezogenen Gebäude mit vielen Fenstern, die alle offen standen. Gleich dahinter schlossen sich die Weiden an, auf denen ein paar Pferde grasten. Auf der anderen Seite des Hofes, im Schatten eines weiteren Gebäudes, waren vier Pferde angebunden, die neugierig die Ohren aufstellten, als die kleine Gruppe sich näherte.

Aliki steuerte zielsicher auf sie zu. «Wartet hier», sagte sie, als sie den Schatten ebenfalls erreicht hatte. «Ich rufe meinen Cousin und sage ihm, dass ihr hier seid.» Mit diesen Worten verschwand sie im Stall. Kurz darauf kam sie mit einem jungen Mann zurück, der sie um mindestens einen Kopf überragte. Sie schien ihm etwas zu erklären, doch sie sprach so schnell, dass Coralia kein Wort verstehen konnte. «Das ist Philippos.»

«Kalispera», begrüßte er sie und nahm die Sonnenbrille ab.

Steffi gab irgendeinen unklaren Laut von sich, und Coralia fragte sich, ob sie etwas zu sagen versuchte oder überwältigt war von seinen auffallend blauen Augen, die mit seinem tiefschwarzen Haar einen bemerkenswerten Kontrast bildeten.

«Oh, ihr seid zu viert?», fragte er und deutete mit dem Bügel der Sonnenbrille auf sie.

«Nein», erklärte Helga, «ich reite nicht.»

«Sie bleibt hier bei mir, ich zeige ihr den Garten», ergänzte Aliki und deutete zum Haus hinüber. Helga schien sich sehr zu freuen, dass sie nicht allein zurückbleiben musste.

«Gut», sagte Philippos und steckte die Sonnenbrille weg. «Wer von euch ist noch nie geritten?»

Niemand meldete sich.

Während Philippos ihnen ein paar Dinge über den Hof erzählte, ließ Coralia ihren Blick über die Umgebung schweifen. Auf den Hügeln dahinter standen unzählige Olivenbäume, das beinahe flache Gelände zum Meer hin sah hingegen ziemlich kahl aus. Unter dem Weidezaun hinter dem Stall entdeckte sie einen großen Hund, der flach auf dem Boden lag und die Pferde beobachtete. Einmal hob er kurz den Kopf und sah zu ihnen herüber.

«Das ist Lykos», hörte sie Philippos sagen, der offensichtlich bemerkt hatte, dass sie den Hund anstarrte. «Er traut den Zäunen nicht und hat es deshalb zu seiner Aufgabe gemacht, die Pferde zu hüten.»

Coralia konnte sich das Lachen nicht verkneifen.

«Nun», fuhr Philippos fort und wandte sich zu den Pferden um, die angebunden im Hof standen. «Das sind eure Pferde. Sagt mir doch kurz, wie gut ihr reitet, dann teile ich sie euch zu.»

«Wir reiten beide regelmäßig, aber nur zum Spaß, keine Wettkämpfe», antwortete Victoria für beide, als sie an die Reihe kam.

«Gut ...» Er schien einen Moment nachzudenken. «Dann nimmst du Ajía Triada und du Thálassa.» Er band das graue Pferd los und reichte Coralia die Zügel. «Ajía Triada ist eins meiner Lieblingspferde», flüsterte er und zwinkerte ihr zu.

Coralia erwiderte sein Lächeln, nahm die Zügel und schwang sich gekonnt in den Sattel. Victoria hatte inzwischen Thálassa losgebunden und tat es ihr gleich.

«Kannst du mir beim Aufsteigen helfen?», hörten sie in dem Moment Steffis Stimme, die noch immer neben ihrem Pferd stand.

«Natürlich.» Philippos stellte sich neben sie und verschränkte die Finger ineinander, um ihr hochzuhelfen. Theatralisch legte Steffi ihm die Hand auf die Schulter, wusste dann aber nicht mehr, wie sie die Zügel halten sollte, und lachte entschuldigend, als ihr Pferd einen Schritt nach vorn machte.

Coralia unterdrückte ein Lachen und schaute zu Victoria hinüber, die amüsiert eine Augenbraue hochzog.

Als schließlich auch Steffi im Sattel saß, schwang sich Philippos auf den Rücken des vierten Pferdes und schlug den schmalen Weg ein, der in westlicher Richtung vom Hof führte. Bevor sie um die Ecke verschwanden, drehte er sich noch einmal um und winkte Aliki und Helga zu, die noch immer im Hof standen.

«Viel Spaß!», riefen sie ihnen nach.

Eine Weile ritten sie schweigend hintereinander her, da der Weg für zwei Pferde nebeneinander zu schmal war. Amüsiert beobachtete Coralia Steffi, die vor ihr her ritt, und ununterbrochen damit beschäftigt war, ihr Pferd davon abzuhalten, von der kargen Vegetation am Wegrand zu fressen.

Philippos führte die kleine Gruppe zunächst über eine Kuppe und bog dann in ein kaum bewachsenes Tal ab. Zu beiden Seiten ragten die an manchen Stellen rötlichen Felsen auf, kaum ein Strauch war höher als ein Meter. Da die Sonne zu sinken begonnen hatte, wurde das Tal bereits in Schatten getaucht.

Coralia schloss die Augen und atmete die warme Luft ein. Sie liebte den Geruch des trockenen Landes gemischt mit einer Meerbrise.

Ein schmaler Bach, der zu dieser Jahreszeit bereits kaum mehr Wasser führte, schlängelte sich an der tiefsten Stelle durch das Tal, an seinem Ufer wuchs üppiger Oleander. Der Weg war noch schmaler geworden und führte den dichten Oleanderwald entlang, bevor er nach rechts abbog und in weiten Windungen bergauf führte. Niemand sagte ein Wort.

Als das Gelände mit zunehmender Höhe wieder flacher wurde, wagte Coralia es erstmals, sich umzudrehen. Inzwischen hatten die Schatten auch die andere Talseite erreicht.

«Hinter diesen Felsen liegt ein großes Naturschutzgebiet», hörte sie Philippos sagen. Er hatte sein Pferd gewendet und deutete auf die gegenüberliegende Talseite. «Den Bewohnern von Kalainos war dieser Teil der Insel in der Antike nicht geheuer, zu viele Sagen über Eris, die Göttin der Zwietracht, rankten sich darum. Vielleicht hat das dazu geführt, dass man bei der Erklärung zum Schutzgebiet beschlossen hat, dass keine Wanderwege hindurchführen dürfen. Das Gebiet ist komplett verwildert, niemand geht dorthin. Ursprünglich war es ein Sperrgebiet des Militärs, und da man die Gesetze nie geändert hat, ist es heute noch Sperrzone.» Er wendete sein Pferd wieder und deutete in die andere Richtung. «Auf dieser Seite der Berge kann man aber wunderbare Reit- und Wandertouren machen. Und wenn wir die Hochebene erreichen, habt ihr einen herrlichen Blick über die ganze Insel.» Er grinste. «Na ja, fast die ganze.»

Als sie wenig später auf der Hochebene die Stelle erreichten, an der sich der Weg nach Xiróchora und der nach Potamiás trennten, hielt Philippos sein Pferd wieder an. Die Sonne stand inzwischen tiefrot unmittelbar über der Meeresoberfläche, die in den verschiedensten Farbtönen leuchtete.

«Wow!», entfuhr es Coralia, als sie das Farbenspiel bemerkte.

«Das ist mein Lieblingsabschnitt dieser Tour», sagte Philippos, der sein Pferd neben das ihre gelenkt hatte.

«Es ist atemberaubend», flüsterte sie und zog ihr Handy aus der Tasche, um den Moment festzuhalten.

Philippos nickte. «Ich habe dieses Schauspiel schon so viele Male gesehen, und doch finde ich es jedes Mal wieder fantastisch.»

Coralias Blick wanderte hinüber zu Victoria, die mit den Augen der Sonne folgte, wie sie im Meer versank. Steffi hatte die Zügel losgelassen und hielt ihr Handy hoch, um das Bild ebenfalls einzufangen.

«Hier geht’s weiter», sagte Philippos, als die Sonne im Meer untergegangen war und das rotgoldene Licht mit einem Mal verschwand. Er deutete auf einen gut sichtbaren Weg, der den Hang hinunterführte und weiter bis zum Meer. «Dort folgen wir ein paar Hundert Meter dem Strand und biegen dann nach rechts ab zum Hof.»

Die Dämmerung war bereits fortgeschritten, als sie den Hof erreichten. Coralia ließ sich aus dem Sattel gleiten und klopfte Ajía Triada den vom Schweiß nassen Hals. Obwohl sie kleiner war als die anderen Pferde, hatte sie beim Wettrennen am Strand alle abgehängt.

Mit zitternden Knien landete Steffi neben ihr auf dem Boden und warf ihrem Pferd die Zügel über den Kopf. Der Schreck, als ihr Pferd am Strand plötzlich im gestreckten Galopp losgeprescht war, schien ihr immer noch in den Knochen zu sitzen.

An einem kühlen Morgen zwei Wochen später trieb Coralia ihr Pferd in Gedanken versunken über den staubigen Pfad vom Hof weg. Die Luft war frisch und roch nach Meer. Der Gebrauch der griechischen Sprache fiel ihr jetzt leichter, aber es ging nicht so schnell wie bei Victoria, was dazu führte, dass in Tavernen oder auf Ausflügen vor allem sie redete.

Ihr Blick wanderte über die Berge. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten gerade die höchsten Spitzen. Victoria hatte nicht mitkommen wollen, weil sie sich nicht überwinden konnte, so früh aufzustehen. Coralia musste schmunzeln. Philippos hatte ihr angeboten, sie auch morgens um fünf abzuholen, damit sie vor dem Unterricht einen Ausritt in die erwachende Natur machen konnte, doch bereits beim ersten Mal hatte er sie vergessen. Sie hatte am vereinbarten Treffpunkt gewartet und ihn schließlich angerufen. Mit verschlafener Stimme hatte er sich gemeldet und versprochen, sofort loszufahren, als er ihre Stimme hörte. Tatsächlich war er zwanzig Minuten später mit heulendem Motor angekommen und hatte sich wortreich entschuldigt. Heute war er pünktlich da gewesen.

Als sie auf einem großen Stein einige Meter vor ihr eine große grüne Eidechse erblickte, hielt sie ihr Pferd an, doch das Reptil hatte sie bereits bemerkt und flüchtete unter einen Strauch. Coralia trieb Ajía Triada wieder an. Schon bei ihrem letzten Ausritt hatte sie denselben Weg gewählt wie bei ihrer ersten Tour, und das tat sie auch heute.

Als sie das Tal mit dem Oleanderwald erreichte, brachte sie ihr Pferd erneut zum Stehen. «Was meinst du, ob man von da drüben einen Blick in das unberührte Naturschutzgebiet werfen kann?», fragte sie Ajía Triada, die jedoch nur durch die Nüstern schnaubte. Ohne weiter nachzudenken, lenkte Coralia sie nach links durch das unwegsame Gelände. Nach wenigen Hundert Metern fand sie sich zwischen hohen Felsen wieder und fragte sich, warum sie die bisher nie wahrgenommen hatte. Wenige Schritte weiter war sie plötzlich von hohem Oleander umgeben. Hier muss es Wasser geben, überlegte sie, doch sehen konnte sie es nirgends.

Obwohl ihr Bauchgefühl ihr zur Umkehr riet, ritt sie weiter. Ajía Triada trottete gehorsam vorwärts, selbst als rechts und links kaum noch Abstand zu den Felsen blieb. Mehrmals stellte sie neugierig die Ohren auf und hob den Kopf, doch Coralia konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Erst als riesige Steinblöcke ihr den Weg versperrten, beschloss sie umzukehren, doch in dem Moment erreichten die ersten Sonnenstrahlen die Felsen, die sie umgaben. Und plötzlich fiel ihr Blick auf einen schmalen Durchgang.

«Ich möchte nur noch um die Ecke spähen», sagte sie zu ihrem Pferd und schwang sich aus dem Sattel. Die Zügel band sie lose um einen dünnen Baum und kletterte über das Gestein. Tatsächlich ging die kleine Schlucht, der sie folgte, nach links weiter. Coralia warf einen prüfenden Blick zurück zu ihrem Pferd, das ihr neugierig nachschaute, und ging weiter. Der dichte Oleanderwald machte das Vorwärtskommen schwierig, doch zu ihrer Überraschung endete er nach wenigen Metern und die Schlucht öffnete sich. Mit offenem Mund blieb Coralia stehen und starrte auf den Bach, der neben ihr plätscherte, und auf die hohen Bäume. Verglichen mit dem schmalen Durchgang, durch den sie gekommen war, war dieses Tal unglaublich weit. Sie konnte zwar die andere Seite nicht sehen, da Bäume und Sträucher ihr die Sicht versperrten, aber sie wusste, dass sie in einem vom Wasser ausgewaschenen Tal stand, das über die Jahrhunderte entstanden sein musste.

«Was für ein Glück, dass man es zum Naturschutzgebiet erklärt hat ...», murmelte sie und ging einige Schritte weiter. Mit einem großen Sprung überquerte sie den Bach und versuchte einen Blick Richtung Süden zu erhaschen, um sich ein Bild zu machen, wie lang das Tal war. In dem Moment hörte sie hinter sich Ajía Triada leise wiehern. Abrupt blieb sie stehen. Selbst wenn Ajía Triada wieherte, wäre sie zu weit weg, um sie zu hören. Verwirrt drehte sie sich um und erstarrte.

Ein Stück bachaufwärts stand ein Pferd am Ufer, das sie aus seinen dunklen Augen anstarrte und den Kopf in ihre Richtung streckte. Seine Ohren waren aufmerksam nach vorn gerichtet. Fast glaubte Coralia in seinen Augen die Frage «Kennen wir uns nicht?» zu lesen. Am meisten faszinierte sie aber die Farbe des Tieres. Bis auf die grauen Nüstern war es schneeweiß.

Angestrengt dachte Coralia nach, doch sie war sich sicher, dass sie nirgends einen Zaun gekreuzt hatte. «Wo kommst du denn her?», fragte sie und machte langsam einen Schritt in seine Richtung. Das Pferd machte keine Anstalten wegzulaufen. Als sie nur noch wenige Schritte von dem Tier trennten, schnaubte das Pferd plötzlich und schüttelte den Kopf. Coralia blieb stehen. In dem Moment, als es auf sie zukam, erkannte sie, dass das Pferd nicht beschlagen war. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus. «Was machst du denn allein hier draußen?» Sanft streichelte sie das weiche weiße Fell.

Das Pferd beschnupperte sie, und Coralia bereute es, dass sie kein Leckerli eingesteckt hatte. Immer noch verblüfft musterte sie das Pferd, dann seine Umgebung. Dichte Pflanzen nahmen ihr die Sicht auf die kalten Felsen. Nach Norden hin schien das Tal ein bisschen weiter zu werden, die Lichtverhältnisse sprachen zumindest dafür. Irgendwo hörte sie Wasser rauschen, als befände sie sich in der Nähe eines Wasserfalls. Sie hatte gerade beschlossen, ein Stück weiter talaufwärts zu gehen, als einige Meter vor ihr ein weiteres schneeweißes Pferd zwischen den Bäumen hervortrat. Irritiert blieb es stehen und sah sie an. Seiner Größe nach zu urteilen war es knapp ausgewachsen, wie Coralia feststellte. Leise sprach sie das Tier an, während sie sich aber nicht von der Stelle bewegte. Den Ausdruck in seinen Augen vermochte sie nicht zu deuten, es konnte Unsicherheit, Furcht oder auch Neugier sein. Langsam näherte sich das junge Pferd dem anderen, ließ Coralia aber nicht aus den Augen. Plötzlich hörte sie hinter sich abermals ein Schnauben, gefolgt von Schritten auf dem mit losen Steinen übersäten Boden. Fünf weitere Pferde traten aus dem Schatten der Bäume und Felsen hervor und näherten sich dem Bach. Coralia trat zur Seite, lehnte sich gegen den Felsen hinter sich und beobachtete das Geschehen mit offenem Mund. Die Pferde sahen sie an, spielten kurz mit den Ohren und wandten sich dann dem Wasser zu, als wäre es nichts Ungewöhnliches, an diesem verlassenen Fleckchen Erde eine Touristin anzutreffen.

Wie lange sie dagestanden und die Tiere beobachtet hatte, wusste Coralia später nicht mehr, doch als sie das Sonnenlicht auf der gegenüberliegenden Talseite sah, fiel ihr plötzlich ein, dass sie um 9 Uhr in der Schule sein sollte. Erschrocken suchte sie nach ihrem Handy, klaubte es aus der Tasche und atmete auf, als sie sah, dass nicht so viel Zeit verstrichen war, wie sie im ersten Moment gedacht hatte.

«Ich muss los», flüsterte sie dem Pferd zu, das sie als Erstes gesehen hatte, und streichelte seinen Hals. Das Pferd ließ es geschehen.

So schnell die herumliegenden Steinbrocken und die dichten Pflanzen es erlaubten, rannte sie zurück zu der Stelle, an der sie Ajía Triada angebunden hatte.

In letzter Minute kam Coralia ins Klassenzimmer gerannt. Sie hatte Victoria unterwegs eine Nachricht geschickt, dass sie direkt komme und sie nicht auf sie warten solle. Außer Atem ließ sie sich auf den Stuhl neben ihr fallen und strich sich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten.

«Hast du dich in den Bergen verirrt?», fragte Victoria lachend.

Coralia schüttelte den Kopf. «Du glaubst nicht, was ich heute gesehen habe ...»

In diesem Moment betrat Evangelia das Zimmer, und Coralia verstummte.

«Erzähl es mir später», flüsterte Victoria und klappte ihr Buch auf.

3

«Bist du sicher?» Victoria hielt ihr Pferd an und setzte eine misstrauische Miene auf. «Hier kommen wir zu Pferd unmöglich durch. Außerdem betreten wir das Sperrgebiet.»

«Ich weiß», gab Coralia zurück und lenkte Ajía Triada vorsichtig um einen großen Stein herum. An derselben Stelle wie bei ihrem letzten Besuch stieg sie aus dem Sattel und band ihr Pferd an.

Victoria tat es ihr gleich. «Mir ist nicht wohl dabei», murrte sie, als sie über einen umgefallenen Baumstamm kletterten. «Und was genau willst du da gesehen haben?»

Coralia grinste. Sie wusste, dass die Neugier Victoria bis ans Ende der Welt getrieben hätte. «Ein Pferd.»

«Ein Pferd?!», rief Victoria aus. «Hier draußen?»

«Ja. Genau genommen waren es sogar mehrere.» Mit diesen Worten ging sie zwischen den Felsen hindurch in das verborgene Tal.

Für einen Moment schwiegen sie beide. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung sah Coralia die Verblüffung auf Victorias Gesicht.

«Wow!», hauchte diese. «Das ist ja ein wunderschönes Fleckchen Erde. Und hier hast du Pferde gesehen?»

Coralia nickte. Ihr Blick wanderte durch das Tal, doch die Pferde konnte sie nirgends entdecken. Der Bach plätscherte vor sich hin, im feuchten Sand konnte Coralia noch ein paar wenige Hufabdrücke erkennen.

«Wildpferde?»

«Keine Ahnung. Sie waren alle unbeschlagen, aber sie sind nicht weggelaufen, als ich mich näherte.»

Mit großen Augen sah sich Victoria die hohen Felsen und die üppig wuchernden Pflanzen an, während sie langsam ein paar Schritte in Richtung Bach machte.

Angestrengt lauschte Coralia, ob sie Hufgetrappel hörte, doch in dem verborgenen Tal blieb alles still. Ihr Blick schweifte über den Wald.

Sie folgte Victoria entlang der Felswand talaufwärts, immer noch fasziniert von der unberührten Wildnis, die seit langer Zeit kein Mensch betreten zu haben schien. Bald wurde das Tal weiter, die Hänge flacher und die Vegetation dichter. Vorsichtig bahnten die beiden sich einen Weg durch die Sträucher, kletterten über Felsen und erreichten schließlich eine offene Fläche am Waldrand.

«Da sind Hufabdrücke», sagte Coralia plötzlich.

«Tatsächlich.» Victoria ging in die Hocke, um sich die Spuren genau anzusehen. «Unbeschlagen, wie du gesagt hast.» Sie richtete sich wieder auf, sah sich um und deutete auf weitere Abdrücke in der trockenen Erde. Schwer hing der Duft von Pinien in der Luft. «Wir können nicht das ganze Tal absuchen», sagte sie und strich sich eine hellbraune Strähne aus dem Gesicht, die auf ihrer Stirn klebte.

«Ich habe es nicht eilig zurückzureiten», murmelte Coralia. «Sieh doch nur, wie schön es hier ist, besonders wenn es Abend wird.»

«Das stimmt, aber wie willst du Philippos erklären, dass wir so lange weg gewesen sind? Außerdem dürften wir gar nicht hier sein, du weißt doch, was er über das Naturschutzgebiet gesagt hat.»

Coralia wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment vernahm sie hinter sich ein Schnauben und fuhr herum. Zwischen den Bäumen in einiger Distanz stand das weiße Pferd, dem sie bei ihrem letzten Besuch begegnet war. «Da ist es», hauchte sie, ohne den Blick abzuwenden. Victoria drehte sich ebenfalls um. Aus dem Augenwinkel beobachtete Coralia die Faszination in ihren braunen Augen.

«Ich dachte, du bindest mir einen Bären auf», flüsterte Victoria plötzlich. «Aber du hattest recht, es ist unglaublich schön.»

Das Pferd stand immer noch an derselben Stelle und schaute die beiden neugierig an. Der sanfte Wind bewegte leicht seine lange weiße Mähne.

«Vielleicht lässt es sich ja wieder streicheln», meinte Coralia und setzte sich in Bewegung. Victoria zögerte einen Moment, ob sie sie aufhalten sollte, entschied sich dann aber, ihr zu folgen.

Leise redete Coralia auf das Tier ein, bis sie nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war. Das Pferd blieb stehen, als wäre es die Anwesenheit von Menschen gewöhnt, und streckte ihr die Nase entgegen. Vorsichtig streichelte Coralia seinen elegant gebogenen Hals.

Inzwischen hatte Victoria sie eingeholt. Schweigend streichelte auch sie das weiße Fell. «Wie es wohl hierhergekommen ist?», fragte sie nach einer Weile. «Hast du irgendwo einen Zaun gesehen?»

Coralia schüttelte den Kopf. «Wir befinden uns in einem Naturschutzgebiet ...»

«Genau deshalb passt dieses Pferd nicht hierher», unterbrach Victoria sie.

Coralia stimmte ihr zu. Langsam ging sie um das Pferd herum und betrachtete es genau.

«Gibt es hier überhaupt Wildpferde?»

Coralia zuckte mit den Schultern. «Ich denke, wenn das so wäre, hätten wir davon gehört. Philippos hat uns doch einiges über die Wildtiere der Insel erzählt, und wenn er von Wildpferden wüsste, hätte er das doch erwähnt, meinst du nicht?»

«Also muss das Pferd jemandem gehören», folgerte Victoria und streichelte die weichen Nüstern. «Aber wenn du mich fragst, hat sich der Besitzer nicht gut darum gekümmert. Schau dir die Hufe an, sie sehen eher abgenutzt als ordentlich gepflegt aus. Und auch Mähne und Schweif haben seit langer Zeit keinen Kamm mehr gesehen.»

«Das dachte ich auch, als ich ihm zum ersten Mal begegnete», gab Coralia zu und wickelte eine Strähne der langen weißen Mähne um ihren Finger.

In diesem Moment begann das Pferd mit den Ohren zu spielen und drehte den Kopf Richtung Wald.

«Schau», sagte Coralia und deutete auf den halbwüchsigen Hengst, der aus dem Wald trat und direkt auf sie zukam. Als er die beiden jungen Frauen erblickte, zögerte er kurz, setzte sich dann aber wieder in Bewegung. Ihm folgten mit ein wenig Abstand einige weitere Pferde.

«Ich glaube, jetzt träume ich wirklich», murmelte Victoria mit großen Augen. «Dieses Pferd ist Teil einer ganzen Herde.»

«Komm, lass uns ein paar Schritte weggehen, die anderen trauen sich nicht, näherzukommen.»

Langsam brachten sie einige Meter zwischen sich und die Pferde, woraufhin sich die Herde tatsächlich entspannte. Schweigend beobachteten sie das Verhalten der zwölf Tiere.

«Ich glaube, wir sind der Leitstute begegnet», flüsterte Coralia nach einer Weile. «Und der junge Hengst könnte ihr Sohn sein.» Victoria strahlte und steckte Coralia mit ihrer Begeisterung an.

Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Die Prüfungen an der Uni hatten sie beide viel Zeit und Energie gekostet, und die verbleibenden Tage bis zur Abreise waren viel zu schnell vergangen. Nach ihrer Ankunft hatten sie sich einleben und an die Sprache gewöhnen müssen. Aber jetzt, in diesem naturbelassenen Tal, wo alles so ruhig und gelassen zu sein schien, fiel die Anspannung der letzten Wochen endlich von ihnen ab. Coralia schloss die Augen und atmete tief durch. Endlich war sie ganz angekommen.

«Wir sollten uns auf den Rückweg machen», riss Victoria sie aus ihren Gedanken. Das Sonnenlicht kletterte immer höher an den bewaldeten Hängen, kühler Schatten breitete sich aus.

Coralia warf einen letzten Blick auf die Herde, die am Waldrand graste.

«Ich bin gespannt, ob wir herausfinden, wem die Pferde gehören ...»

«Falls sie jemandem gehören», unterbrach Coralia ihre Freundin und schob einen Ast beiseite, der ihr im Weg war.

«Glaubst du wirklich, dass es Wildpferde sind?»

Coralia zuckte mit den Schultern. «Ein Pferd, das jemandem gehört, sieht doch anders aus.»

«Ja ...», gab Victoria zu und kletterte über den großen Baumstamm am Eingang zum Tal. «Aber wir sind hier nicht in der Schweiz. Vielleicht hält hier wirklich jemand Pferde auf diese Weise. Eigentlich eine sehr artgerechte Haltung, oder?»

«Ja, allerdings», stimmte Coralia ihr zu und band ihr Pferd los. «Mich macht es aber misstrauisch, dass die Pferde ausgerechnet in einem Naturschutzgebiet leben, zu dem sogar Wanderern der Zutritt verboten ist. Und außerdem finde ich es erstaunlich, dass ausnahmslos jedes Pferd dieser Herde schneeweiß ist.»

Victoria hielt inne und sah zu ihr hinüber. Die Worte hingen zwischen ihnen in der warmen Luft. Langsam nickte sie. «Ich habe mich auch gewundert. Meinst du, diese Rasse ist einfach weiß? Wie die Camargue-Pferde zum Beispiel?»

«Keine Ahnung. Vom Körperbau her sehen sie aus wie Philippos’ Arravanis, vielleicht sind sie ein bisschen größer.» Sie klopfte Ajía Triadas Hals. «Außerdem hat er gesagt, es gebe auf der Insel nur eine Handvoll Pferde, die nicht dieser Rasse angehören. Kalainos sei ja die Insel der Arravanis.»

«Ja, das hat er gesagt ...», murmelte Victoria und lenkte ihr Pferd durch das unwegsame Gelände zurück zum Weg. «Und er hat auch gesagt, dass die Pferde, die keine Arravanis sind, alle in der Nähe von Potamiás stehen. Hier sind wir weit von der Stadt entfernt.»

Abrupt drehte Coralia sich zu ihr um. «Er weiß wohl nichts von dieser Herde ...», murmelte sie. «Vielleicht hält sie hier jemand versteckt.»

Inzwischen hatten sie den Weg erreicht und trieben ihre Pferde zum Trab an. Die Sonne stand schon so tief, dass Coralia auch ohne einen Blick auf die Uhr wusste, dass sie spät dran waren.

«Vielleicht sollten wir ihn nicht danach fragen», sagte Victoria, als sie in den Hof ritten. Die letzte Viertelstunde hatten sie kein Wort gesprochen.

«Das habe ich mir auch überlegt», gab Coralia zurück. «Lass uns zuerst einmal nachforschen, ob wir etwas herausfinden, und vielleicht noch einmal hinreiten.»

Victoria nickte zustimmend.

«Ihr wart lange unterwegs», begrüßte Aliki die beiden, als sie die Sättel in die Scheune brachten.

«Ja», lachte Coralia. «Der Weg hat uns nicht dahin geführt, wo wir hinwollten. Und dann war das Licht so schön, da haben wir getrödelt ...»

Aliki lachte. «Kein Problem. Wenn ihr fertig seid, kommt rüber zur Terrasse. Ich habe euch Wasser und Melone hingestellt.»

«Vielen Dank. Ist Philippos auch da?»

«Nein, er ist vorhin zu einem Freund an die Nordküste gefahren.» Sie deutete vage nach Norden. «Aber er wird bald zurück sein.»

Tatsächlich hörten sie den Motor von Philippos’ Auto, als sie sich auf die Terrasse setzten und die Gläser mit eiskaltem Wasser füllten. Zwei Autotüren wurden zugeschlagen, dann hörten sie Philippos drinnen mit Aliki sprechen.

Kurz darauf betrat er die Terrasse, gefolgt von einem jungen Mann, auf dessen T-Shirt das Bild eines Hufeisens und ein großes Delta prangten.

«Kalispera», begrüßte er die beiden, «guten Abend. Wie war euer Ausritt?»

«Fantastisch», antwortete Victoria und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

«Sehr gut», sagte er lachend. «Tut mir leid, dass ich euch nicht begleiten konnte, ich hatte zu viel zu tun. Und dann hat mich Nikos angerufen, ich solle mir eins seiner Pferde ansehen.» Er deutete auf den Mann, der neben ihm stand. «Nikos ist ein Freund, der ebenfalls mit Pferden aufgewachsen ist und jetzt sogar eine eigene Zucht hat.»

«Freut mich. Coralia», stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand.

Victoria tat es ihr gleich.

Philippos deutete auf den Stuhl neben Victoria.

«Was für Pferde züchtest du?», fragte Coralia interessiert.

«Arravanis natürlich», lachte Nikos. «Wie alle hier auf der Insel. Hier hat noch nie jemand eine andere Rasse gezüchtet.»

Coralia warf Victoria einen vielsagenden Blick zu und griff nach ihrem Glas.

«Thálassa zum Beispiel habe ich von ihm gekauft», erklärte Philippos und sah Victoria an.

«Ah», sagte diese. «Sie ist ein gutes Pferd.»

«Danke», erwiderte Nikos. «Philippos träumt ja auch seit Kindertagen davon, selbst Pferde zu züchten.»

«Wirklich?», fragte Coralia und sah ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. «Ja, das war mal mein Traum. Aber dann bin ich nach Athen gegangen, um zu studieren, und habe die Pläne begraben. Vor einem Jahr bin ich zurückgekommen, habe aber keine Stelle gefunden und deshalb bei meinem Onkel auf dem Hof angefangen.»

«Der Hof gehört deinem Onkel?», fragte Victoria und wischte einen Wassermelonenkern vom Tisch.

«Ja, Alikis Vater. Seine anderen Töchter sind alle weggezogen, nach Potamiás, nach Athen und eine nach Kreta. Nur Aliki ist geblieben, aber sie wollte den Hof nicht führen. Also hat Onkel Kostas mich eingestellt mit dem Gedanken, dass Aliki und ich den Hof gemeinsam übernehmen könnten. So ist mein Traum einer eigenen Zucht plötzlich in greifbare Nähe gerückt, aber bisher hatte ich keine Zeit, mich um den ganzen Papierkram zu kümmern. Aliki träumt zudem von einer Pension mit Taverne, aber dazu fehlen uns die finanziellen Mittel.» Er zuckte mit den Schultern. «Mal sehen, was die Zukunft bringt.»

Coralia hatte fasziniert zugehört, obwohl vor ihrem inneren Auge immer wieder das Bild des weißen Pferdes auftauchte. «Hast du auf dem Hof hier überhaupt genug Platz für eine Zucht?», hörte sie sich fragen, bereute ihre Worte aber gleich wieder.

«Wieso nicht?», fragte Philippos leicht irritiert.

«Hast du ihr etwa nicht von der großen Weide erzählt?» Nikos stupste ihn mit dem Ellbogen an.

«Nein, tatsächlich nicht», meinte Philippos lachend und deutete nach Norden. «Ein Stück in diese Richtung besitzt mein Onkel ein großes Stück flaches Land, das er nicht nutzt. Ich habe vor, es einzuzäunen und einige Bäume zu pflanzen, die Schatten spenden. Damit vervielfacht sich die verfügbare Weidefläche, und ich könnte mehr Pferde halten.»

Coralia nickte interessiert, beobachtete aber im Augenwinkel Victorias Miene.

«Vielleicht können wir mal dorthin reiten?», fragte diese plötzlich. «Heute sind wir wieder an der Grenze des Naturschutzgebiets entlanggeritten, auf dem Weg, den du uns gezeigt hast ...»

«Eine wunderschöne Route», stimmte Nikos ihr zu.

«Äh, dieses Naturschutzgebiet ...», meldete sich Coralia zu Wort. «Ist das eingerichtet worden, um etwas Bestimmtes zu schützen? Endemische Pflanzen oder so?»

Philippos runzelte die Stirn und blickte zu Nikos hinüber. «Nicht, dass ich wüsste. Als der Militärstützpunkt aufgegeben wurde, hat man es unter Schutz gestellt und Prásina Ori – grüne Berge – genannt, ich weiß aber nicht, wieso. Vielleicht ist dir etwas bekannt?»

Doch auch Nikos schüttelte den Kopf. «Als mein Großvater jung war, stand es schon unter Schutz, mehr weiß ich auch nicht.»

«Entweder sie wissen wirklich nichts oder aber sie sagen es nicht», fasste Victoria das Gespräch zusammen, als sie wenig später bei ihrer Unterkunft ankamen.

«Ich glaube, sie wissen wirklich nichts von den Pferden», murmelte Coralia. «Frag mich nicht, warum ich das glaube, ich kann es selbst nicht erklären.»

4

Kalainos, April 1930

Das kleine Schiff schaukelte gefährlich auf den Wellen. Ausgerechnet heute war das Meer so unruhig, dass es viele nicht wagten, in See zu stechen. Immer in Bewegung hielt es auf den kleinen Steg zu, auf dem eine in dunkle Kleidung gehüllte Gestalt stand. Das Wasser war an dieser Stelle bereits ziemlich flach, die Landung entsprechend riskant, doch in diesem Fall war es nicht möglich, den Hafen von Potamiás anzusteuern. Dort gab es zu viele neugierige Leute.

Die in dunkle Kleider gehüllte Gestalt auf dem Steg nahm einen Zug von der teuren Zigarre. Es war die letzte, aber bald würde sie sich wieder welche leisten können. Die reichen Europäer, die den Winter auf der unscheinbaren Insel verbrachten, waren bereits wieder abgereist, aber im Herbst würden die ersten wiederkommen.

Das Schiff legte an.

«Kyrie Thódore», sagte der Kapitän zu ihm und tippte sich an die Mütze. Man kannte ihn auf Kalainos, er unternahm Transportfahrten zwischen den Inseln so wie heute. «Eure Fracht.» Er winkte dem jungen Seemann zu, der an der Reling stand, woraufhin dieser im Inneren des Schiffs verschwand und bald darauf zurückkehrte. An einem alten Strick führte er ein weißes Pferd von Bord. Das Tier warf unruhig den Kopf hoch, als eine Welle das Boot gegen den Holzsteg schlagen ließ.

Der Kapitän nahm ihm den Strick wortlos ab und reichte ihn Thódoros, der ihm wiederum einen Umschlag übergab. «Wie vereinbart», sagte er. «Ich zähle auf Eure Verschwiegenheit.»

Der Kapitän tippte abermals seine Mütze an, wandte sich um und ging wieder an Bord.

Thódoros betrachtete das Pferd von allen Seiten. Es war zweifellos das schönste Exemplar seiner Rasse. Und sicherlich war es mehr wert, als er bezahlt hatte. Dazu hatte er sein ganzes Verhandlungsgeschick angewandt und seine Beziehungen spielen lassen, die man auch als Drohung hätte auffassen können. Anerkennend nickte er, dann setzte er sich in Bewegung.

Für die Übergabe hatte er bewusst den Sonntagmorgen gewählt, wenn Potamiás’ Bewohner zur Kirche gingen. Niemand sollte von seinem Plan Wind bekommen. Ohne Umwege machte er sich auf in die Berge. Das Pferd trottete ihm artig nach, als wäre es froh, wieder festen Boden unter den Hufen zu haben.

Ein Glück, dass er den Zugang zu dem großen Tal gefunden hatte, überlegte Thódoros. Und noch größerem Glück verdankte er es, dass das Gebiet gesperrt war und somit keine Menschenseele herkommen würde. Langsam ging er vor dem weißen Hengst her durch die enge Schlucht, bis sie sich öffnete. Zufrieden blickte er über das Tal, das er nie hätte betreten dürfen. Aber wenn ihm der Zutritt verwehrt war, galt das auch für alle anderen. Hier waren die Tiere auf jeden Fall sicherer als auf seinem Hof.

Am Waldrand erblickte er die vier Stuten, die er schon vor einigen Tagen hergebracht hatte. Sein Stallbursche hatte sie dort mit langen Stricken angebunden und brachte ihnen jeden Tag Wasser vom Bach. Bald würde er ihn wieder herschicken, um einen Zaun zu bauen, doch bis dahin mussten die Stricke reichen. Dem Stallburschen hatte er eine reiche Belohnung in Aussicht gestellt – unter der Bedingung, dass er zu niemandem ein Wort sagt. Der Junge stammte aus einer armen Familie in Potamiás und war bereit, alles zu tun, um an etwas Geld zu kommen. Sollte er sich aber nicht an die Abmachungen halten, würde er ihn wahrscheinlich töten müssen.

Thódoros band den Strick an einem Baum fest. Neugierig sah der Hengst zu den Stuten hinüber. Die Zügel für eine neue Ära waren aufgenommen, dachte Thódoros zufrieden und erinnerte sich an den Tag, als er das Pferd zum ersten Mal gesehen und sofort gewusst hatte, dass er diesen Hengst haben musste. Er würde seiner Zucht wieder Aufschwung geben, bald würden auch die adligen Wintergäste ihre Pferde bei ihm kaufen. Sie würden ihren Verwandten und Bekannten von ihm erzählen. Vielleicht würde eines Tages auch der König – wenn er wieder an die Macht käme – seine Pferde bei ihm kaufen, und man würde sogar am Hof von den Pferden des Thódoros Dimópoulos sprechen.

5

Hastig versteckte Coralia das Blatt mit den Notizen ganz hinten in ihrem Heft. Sie hatte eine leere Seite gesucht, dabei waren ihr die Notizen, die sie sich am Tag davor bei ihren Recherchen über das Naturschutzgebiet Prásina Ori gemacht hatte, herausgerutscht. Wie erwartet, hatte sie nicht viel herausgefunden. Das Gebiet war offensichtlich 1922 nach dem Griechisch-Türkischen Krieg, in dem es strategisch wichtig gewesen war, unter Schutz gestellt worden. Aus der militärischen Zone wurde ein Naturschutzgebiet, doch die Sperrzone war nie aufgehoben worden, obwohl sie heute keine militärische Bedeutung mehr hatte. Die Pferde wurden nirgends erwähnt, nicht einmal angedeutet, und auch keine anderen besonderen Tierarten.

Vorsichtig blickte Coralia zu Victoria hinüber, doch die schien nicht bemerkt zu haben, dass sie mit den Gedanken abgeschweift war. Sie schaute wieder nach vorn zum Whiteboard, wo Evangelia gerade erklärte, wie Relativsätze im Griechischen gebildet werden. Für Coralias Geschmack hatte sie viel zu weit ausgeholt. Ihr Blick wanderte weiter zu Agustín, dem 45-jährigen Spanier, der letzte Woche mit dem Kurs begonnen hatte. Mit gerunzelter Stirn machte er sich Notizen, und auch die Italienerin Paola, die ebenfalls neu in der Klasse war, wirkte angestrengt. Steffi hingegen kritzelte irgendetwas in ihr Heft, und Victoria schien sich nun der Grammatikseite im Buch zugewandt zu haben.

«Coralia», hörte sie plötzlich Evangelias Stimme. «Verstehst du es?»

«Ja», antwortete sie auf Griechisch. «Es ist wie im Schweizerdeutschen.»

Verblüfft ließ Evangelia die Schultern sinken. «Wirklich?»

Victoria und Coralia nickten.

Steffi schaute von ihrem Heft auf und legte den Stift hin.

«Dann ist es ja viel einfacher zu verstehen, als ich dachte ...»

Coralia musste beinahe lachen.

«Aber ...» Evangelia betrachtete ihre Aufzeichnungen auf dem Whiteboard. «Es ist doch nicht logisch, dass man das gleiche Wort wie ‹wo› als Relativpronomen verwendet.»

Victoria zuckte mit den Schultern. «Nein, wirklich nicht, aber das Schweizerdeutsche macht das auch.»

Nun lachte auch Evangelia mit. Coralia hatte beinahe Mitleid mit dem Spanier und der rundlichen Italienerin, die nervös ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben schob. Evangelia erkundigte sich, ob sie es ebenfalls verstanden hatten, und setzte erneut zur Erklärung an, als Paola den Kopf schüttelte.

«Schreibt bis morgen einen kurzen Text mit möglichst vielen Relativsätzen», sagte Evangelia, als die Stunde zu Ende ging. «Thema ist die Insel Kalainos.»

Coralia und Victoria packten ihre Bücher ein und verabschiedeten sich.

Kaum hatten sie das Haus verlassen, holte Helga sie ein. «Euch fällt das Lernen nicht schwer, oder?», lachte sie.

Coralia zuckte mit den Schultern. «Na ja, die Relativsätze sind einfach, aber mit anderen Dingen kämpfen auch wir.»

Victoria nickte. «Aber wir kämpfen nicht mit leerem Magen. Kommst du mit uns essen?»

«Hübsches Lokal», bemerkte Coralia, als sie sich an einen Tisch am Rand der Taverne setzten.

«Ihr müsst die Fáva probieren, die ist hier besonders gut», empfahl Helga und griff nach der Karte, die auf dem Tisch lag.

«Hast du schon ein Haus gefunden, das dir gefallen würde?», erkundigte sich Coralia, als das Essen serviert wurde.

«Noch nicht», antwortete Helga und schöpfte Tzatzíki. «Ich habe mich in den letzten Tagen nicht darum gekümmert, aber übermorgen treffe ich mich mit einem Makler.» Sie reichte die Schale an Coralia weiter. «Und ihr? Habt ihr zu Pferd die Insel erkundet?»

«Ja», meinte Victoria lachend. «Ich habe übrigens im Reiseführer ein paar interessante Wanderrouten gefunden, vielleicht könnten wir mal zusammen wandern gehen?»

«Das klingt großartig», erwiderte Helga. «Am besten bricht man frühmorgens auf, wenn es noch nicht so heiß ist.»

«Ein weiser Ratschlag», lachte Coralia und schnitt ihr Saganaki in Stücke.

Den Tzatzíki-Geschmack schmeckte Coralia immer noch auf der Zunge, als sie ein paar Stunden später in einem Café saß und im Internet nach Hinweisen auf die weißen Pferde suchte. Hastig überflog sie einen Artikel über die Säugetiere auf den Ägäischen Inseln, doch auch der erwähnte keine Wildpferde. Seufzend lehnte sie sich zurück und starrte auf die Karte der Insel. Irgendwoher mussten die Pferde ja gekommen sein, überlegte sie und griff nach ihrer Limonade. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie bereits seit zwei Stunden dasaß und mit dem kurzen Text, den sie als Hausaufgabe schreiben sollte, noch nicht einmal begonnen hatte. Von den Tischen um sie herum waren nur wenige besetzt. Als sie gekommen war, waren es noch mehr gewesen, doch ihr war nicht aufgefallen, wie sich das Lokal geleert hatte. Eine Weile beobachtete sie die vorbeischlendernden Touristen, während sie überlegte, wo sie weiterrecherchieren könnte. Victoria war mit Helga zu einem Strand an der Nordküste gefahren, doch ihr selbst stand der Sinn nicht nach Strand, nachdem sie sich am Vortag einen üblen Sonnenbrand geholt hatte. Ohne hinzusehen, tastete sie nach dem großen roten Fleck, der sich über ihre Schulter zog.

«Coralia, jia sou!», hörte sie in diesem Moment eine Stimme hinter sich.

«Hallo Philippos», erwiderte sie den Gruß und schenkte ihm ein Lächeln. «Was machst du denn hier?»

Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. «Ich musste jemandem etwas vorbeibringen und auf dem Weg zurück zum Auto habe ich dich hier ganz allein sitzen sehen.»

«Ja», sagte sie verlegen, «Victoria und Helga sind zum Strand gefahren.»

«... und haben dich zurückgelassen, was für eine Frechheit!» Er grinste. «Worüber recherchierst du denn?»

«Nichts», antwortete sie hastig und klappte den Laptop zu. «Hausaufgaben für die Schule.»

«Aha. Und da geht’s um Wildtiere auf Kalainos?»

«Ja, darüber soll ich einen Text schreiben.»

«Ganz schön schwer für eine Anfängerin», murmelte er und winkte den Kellner heran.

«Anfängerin?», fragte sie mit gespielter Entrüstung. «Ich hatte immerhin schon einige Monate Unterricht ...»

«Ich weiß», beruhigte er sie mit einem noch breiteren Grinsen.

Coralia schätzte es zwar nicht, wenn er mit ihr Englisch sprach, doch sie liebte seinen Akzent.

Der Kellner trat an den Tisch, und Philippos wechselte ein paar Worte mit ihm.

«Kennst du eigentlich jeden hier auf der Insel?», fragte Coralia, als der Kellner sich wieder entfernt hatte.

«Fast jeden. Kalainos ist nicht groß, wenn man hier aufgewachsen ist, kennt man fast jeden. Außer den Touristen, natürlich.»

Erschrocken stellte Coralia fest, dass sein Blick auf ihren Notizen hängen geblieben war, die noch immer auf dem Tisch lagen. Schnell drehte sie das Notizbuch um.

«Ist das dein Aufsatz über die Wildtiere?»

«Ja», erwiderte sie knapp.

«Die Pferde musst du aber wieder streichen, die zählen nicht zu den Wildtieren.»

«Was du nicht sagst.» Sie erwiderte sein Grinsen. «Ich habe mich nur gefragt, ob es hier wohl Wildpferde gibt und habe den Gedanken notiert. Aber laut Internet gibt es keine.»

«Leider nicht.» Er nickte und ließ den Blick in die Ferne schweifen. «Das wäre garantiert ein Touristenmagnet ... Tagestouren zu Pferd zu den Wildpferden, wow!»