Das Mädchen vom blauen See - Cornelia Zahner - E-Book

Das Mädchen vom blauen See E-Book

Cornelia Zahner

0,0

Beschreibung

Ein Familiengeheimnis, das am mystischen Blausee begann Mitholz, 1920: Clera Catschader wächst als einzige Tochter eines Bergbauern im Berner Oberland auf. Oft schleicht sie sich vom Hof, um zu dem geheimnisvollen blauen See im Wald zu gehen. Eines Tages trifft sie dort Konstantin, den Sohn des reichsten Mannes im Tal. Er behandelt sie zunächst herablassend, doch als sie nach einem dramatischen Zwischenfall zu Verwandten zieht, wird er zu ihrer wichtigsten Stütze. Das, was die beiden verbindet, ist der blaue See im Wald und ihre gemeinsame Geschichte. In den Aufzeichnungen ihrer Grossmutter findet Clera vergessene Einzelheiten über Konstantins und ihre eigenen Vorfahren und entdeckt den wahren Kern der Sage vom Blausee.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über das Buch - Klappe

Impressum

Titel

Teil 1

1

Mitholz, Juni 1920

2

3

Mitholz, Mai 1803

4

Mitholz, Juni 1920

5

Mitholz, Juni 1803

6

Mitholz, Juni 1920

7

Mitholz, Juni 1803

8

Mitholz, Juni 1920

9

10

Mitholz, Juli 1803

11

Mitholz, Juni 1920

12

Mitholz, Juli 1803

13

Mitholz, Juni 1920

14

15

Mitholz, August 1803

16

Mitholz, Juli 1920

Teil 2

17

Thun, Juli 1920

18

Mitholz, August 1803

19

Steffisburg, Juli 1920

20

21

Mitholz, August 1803

22

Thun, August 1920

23

Mitholz, November 1803

24

Steffisburg, August 1920

25

26

27

28

29

30

Mitholz, November 1920

Epilog

Mitholz, Juli 1932

Über die Autorin

Über das Buch

CORNELIA ZAHNER

DAS MÄDCHEN VOM BLAUEN SEE

Die Autorin und der Verlag danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Angelia SchwallerKorrektorat: Helga Loser-CammannCoverbilder: © Neer/Trevillion Images & shevtsovy/iStock

Cornelia Zahner

DAS MÄDCHEN VOM BLAUEN SEE

Roman

Teil 1

1

Mitholz, Juni 1920

Seufzend stellte Clera den schweren Korb ab und begann die Wäschestücke zu sortieren. Warme Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster und machten selbst den feinsten Staub auf der Scheibe sichtbar. Leise singend faltete sie die Kleider und legte sie ordentlich aufeinander. Lieder, die ihre Grossmutter ihr vorgesungen hatte, als sie noch klein gewesen war, gingen ihr durch den Kopf, während sie beinahe mechanisch ihre Arbeit erledigte, als erfordere kein Handgriff Konzentration.

Sie sang gerne bei der Arbeit, jedoch nur, wenn sie sicher war, dass niemand sie hörte. Heute würde sie niemand hören. Ihre Familie war früh zum Heuen aufgebrochen und würde nicht vor Einbruch der Dämmerung zurück sein.

Sehnsüchtig blickte sie aus dem Fenster. Wie oft hatte sie schon darum gebeten, mitgehen zu dürfen. Sie liebte es, die sonnigen Sommertage draussen auf den Berghängen zu verbringen und den Duft von frischem Heu einzuatmen. Aber irgendwann hatte sie es aufgegeben.

«Wir brauchen nicht so viele Leute», hatte ihr Vater stets gesagt. «Jemand muss doch daheim auf dem Hof bleiben.» Diese fadenscheinige Erklärung hatte Clera im ersten Moment wütend gemacht, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu betteln. Ihre Mutter hatte zu dieser Frage geschwiegen. Früher, vor dem Tod ihrer Grossmutter, hatte Clera Verständnis gehabt, dass jemand bei ihr bleiben musste, und das hatte ihr nichts ausgemacht. Manchmal hatte Grossmutter Chatrina sie mitten am Nachmittag zu sich in ihre Stube gerufen, ihr Kräutertee gekocht und Geschichten erzählt.

«Wenn sie dich meinetwegen schon nicht mitgehen lassen, dann sollst du es wenigstens hier gut haben», hatte sie immer gesagt.

Clera hatte diese Teepausen geliebt, doch seit Chatrinas Tod vor drei Jahren verstrichen die Tage ohne diese glücklichen Stunden. Drei Jahre, in denen Cleras Alltag im Sommer mehr und mehr eintönig geworden war. Ein Tag glich dem anderen: Oft war sie mit ihrer Arbeit bereits am frühen Nachmittag fertig und erledigte danach Dinge wie Fensterputzen oder Abstauben. Nicht zuletzt lag das daran, dass sie sehr geschickt war und sich gut auf das, was sie tat, konzentrieren konnte.

Auf dem Weg zur Scheune fiel ihr Blick auf die kleine Weide neben dem Stall, die sie vor zwei Jahren gebaut hatten, als sie ein Zicklein von Hand aufziehen mussten. Die Ziege war inzwischen ausgewachsen und brauchte sie nicht mehr. Auch die Hütte des Hofhunds Floc war leer, ihre Familie hatte ihn zum Heuen mitgenommen.

In der Scheune stellte sie den Wäschekorb auf seinen Platz und wischte die Hände an ihrer Schürze ab. Am Himmel zeigte sich keine Wolke, dem Stand der Sonne nach konnte es noch nicht weit nach zwei Uhr sein. Clera überlegte, ob sie ins Dörfchen hinuntersteigen sollte, um nachzusehen, ob Post gekommen war. Mitholz war das einzige Dorf, das sie kannte. Jedes Mal, wenn sie an dem kleinen Schulhaus vorbeiging, überlegte sie, was sie davon abgehalten hatte, länger zur Schule zu gehen. Ihre Brüder waren alle länger zur Schule gegangen als sie, ihr aber hatten die Eltern nur das absolute Minimum zugestanden. Seit sie alt genug war, musste sie daheim auf dem Hof helfen. Später hatte ihre Grossmutter ihr noch ein paar Dinge beigebracht, aber mit der Schule war das nicht zu vergleichen gewesen.

Damals, als ihre Eltern vor über zehn Jahren aus dem Engadin hierher eingewandert waren, war ihre Grossmutter nur widerwillig mitgekommen, sie hatte den Hof in Graubünden nicht verlassen wollen. Gleichzeitig hatte sie das Berner Oberland die «alte Heimat der Familie» genannt, was Clera nie verstanden hatte. Heute bereute sie es, dass sie nie nachgefragt hatte.

Grossmutter Chatrina war die Einzige gewesen, mit der Clera noch Vallader, das rätoromanische Idiom des Unterengadins, gesprochen hatte. Als ihre Brüder zur Schule gingen, hatte aber das Deutsche nach und nach Eingang in ihre Familie gefunden und das Rätoromanische verdrängt.

«Wenn ihr es hier zu etwas bringen wollt, müsst ihr Deutsch beherrschen», hatte ihr Vater einmal gesagt. «Das Rätoromanische brandmarkt uns als Fremde.»

Clera hatte das nie so empfunden, sie sprach beide Sprachen fliessend und war auch in der Schule nie ihrer Herkunft wegen gehänselt worden. Weder ihre Schulkameraden noch ihre Lehrer hatten um ihre Sprachkenntnisse gewusst, aber sie war auch meist sehr schweigsam gewesen im Unterricht.

All dies ging ihr durch den Kopf, als sie den schmalen Pfad Richtung Dorf einschlug. Der Weg war zwar steil und steinig, aber viel kürzer als das Strässchen, das sich in grossen Windungen durch den Wald und die Wiesen schlängelte.

Der Gang erwies sich als umsonst, wie Clera feststellte, als sie das Postamt betrat und einen Blick in die kleine Holzkiste an der Wand warf, über der ihr Familienname ins Holz geritzt war. Sie nickte dem älteren Herrn hinter dem grossen Schreibtisch zu und stiess die Tür auf. In dem Raum hatte sie sich noch nie wohlgefühlt. Sie mochte die neugierigen Blicke des Pöstlers am Schreibtisch ebenso wenig wie die der anderen Bauern, die ihre Post selbst abholen mussten, da ihre Höfe zu abgelegen waren, als dass der Postbote täglich hinging. Seit drei Monaten wartete sie nun auf eine Antwort ihrer besten Freundin Vrena, mit der zusammen sie die Schulbank gedrückt hatte. Sie war ein Jahr älter als Clera und auf einem Hof nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen. In ihrer Schulzeit waren die beiden unzertrennlich gewesen, doch vor einem Jahr hatte Vrena geheiratet und war weggezogen. Seitdem schrieben sie sich Briefe, sahen sich aber nur noch, wenn Vrena ihre Eltern besuchte, was äusserst selten vorkam. Clera wunderte sich darüber. Ihre Freundin wohnte nun in der Nähe von Bern, nicht so weit entfernt also, dass sie nicht zu Besuch kommen könnte.

Die Schatten, die vor ihr auf den Weg fielen, wurden immer länger. Clera war derart mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie das erst bemerkte, als sie zu frösteln begann und feststellte, dass der Wald zu ihrer Rechten die Sonnenstrahlen verschlang. Der Wald ... Wenn sie an der letzten Verzweigung nicht abgebogen wäre, hätte sie der Weg, den kaum jemand zu benutzen schien, durch den dichten Wald geführt. Nachdenklich drehte sie sich um und fragte sich, warum sie den Weg am Waldrand entlang gewählt hatte. In ihrer Schulzeit hatte sie das immer getan und ihre Gewohnheiten nie geändert. Ihr Blick wanderte über die grünen Blätter, irgendwo klopfte ein Specht an einen Baum. Entschlossen kehrte Clera um, ging die wenigen hundert Meter zurück zur Abzweigung und eilte auf dem anderen Weg dem Wald zu.

Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und zauberten goldene Flecken auf den wildgemusterten Waldboden. Mücken tanzten in Schwärmen im warmen Licht. Gemächlich spazierte Clera durch die unberührt scheinende Wildnis. Ohne dass sie es bemerkte, wurde sie langsamer, beinahe andächtig schritt sie durch den grünen Bogen aus Ästen und Blättern über ihr. Der Wind rauschte sachte in den Blättern, als wollte er sie daran erinnern, dass er auch noch da war und dem Wald Leben einhauchte.

Plötzlich huschte ein Reh vor Clera über den Weg und verschwand im Dickicht. Wie ein Schatten, dachte Clera, während sie noch auf die Stelle starrte, wo das Tier verschwunden war. «Nächstes Mal», flüsterte sie, «gehe ich mit dir quer durch den Wald.»

Als Clera den Hof erreichte, drehte sie sich nochmals um und liess den Blick über das weite Grün schweifen. Von ihrem Zuhause aus sah sie den Wald von oben, sah, wie weit er sich erstreckte, bis zur anderen Talseite. Die Kander verschwand im dunklen Grün, kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein und schlängelte sich weiter durch das Tal.

Langsam drehte Clera sich zum Haus um. Bevor sie die Tür zu dem kleinen Raum unter der Laube aufstiess, nahm sie sich vor, in nächster Zeit öfter in den Wald zu gehen, solange er grün war.

Die Bilder tanzten ihr immer noch durch den Kopf, während sie das Abendessen zubereitete. Viel gab es nicht zu tun, alle Handgriffe gingen ihr geschmeidig von der Hand.

Das Wohnhaus war für eine so grosse Familie eigentlich nicht gross genug, besonders wenn ihr ältester Bruder Teodor zu Besuch war. Seit er in Thun im Metallwerk Selve arbeitete, besuchte er die Familie nur noch alle paar Wochen. Von allen ihren Brüdern stand er ihr fast am nächsten.

Vorsichtig stellte sie die dampfende Schüssel auf den Tisch und warf einen Blick aus dem Fenster. Noch war niemand zu sehen. Seufzend stiess Clera die Tür zu ihrem Zimmer auf. Über zu wenig Platz konnte sie als Einzige nicht klagen. Die übrigen Kammern, die ihre Brüder sich teilen mussten, lagen im oberen Stock, doch sie hatte nach dem Tod ihrer Grossmutter deren geräumige Stube im Erdgeschoss bekommen. Nie würde sie die Diskussionen und die mürrischen Blicke ihrer Brüder vergessen, als ihre Grossmutter ihren Vater gebeten hatte, ihr den Raum zu überlassen. Clera war damals gerade achtzehn geworden, eine junge Dame, wie Grossmutter Chatrina gesagt hatte. In den drei Jahren, die seither vergangen waren, war die Stube für sie zu «ihrem Zimmer» geworden.

Ihr Blick schweifte über das Bücherregal, das sie so belassen hatte, wie ihre Grossmutter es eingerichtet hatte. Sie wollte gerade nach ihrem Märchenbuch greifen, als sie draussen den Hofhund bellen hörte. Rasch ging sie zurück in die Küche. Im Vorbeigehen liess sie ihre Hand über die Schüssel gleiten, um festzustellen, ob die Suppe noch heiss genug war, und stellte sich in den Türrahmen.

«Salü Clera!» Michel, der Jüngste, winkte ihr von der Scheune her zu und hängte seinen Rechen an die Wand.

Mit einem liebevollen Lächeln winkte sie zurück.

«Ist das Abendessen fertig?», erkundigte sich ihre Mutter ohne Gruss und strich sich eine Strähne ihres grau melierten Haares aus dem Gesicht.

«Steht auf dem Tisch.»

Mit gesenktem Blick sass Clera am Tisch, wie sie es immer tat, wenn der Rest der Familie sich über den vergangenen Tag unterhielt. Selbst nach dem Tischgebet, wenn sich alle über die Suppe hermachten, blieb sie teilnahmslos sitzen und starrte vor sich hin, bis der Schöpflöffel frei wurde. Der Reihe nach blickte sie ihre Brüder an. Ihr war bisher nicht aufgefallen, dass Bengiamin und Mattiu, die Zwillinge, die fast drei Jahre älter waren als sie, sich nicht mehr so ähnlich sahen wie früher. Als Kinder hatte man sie kaum auseinanderhalten können. Clau war inzwischen fast zwanzig und wortwörtlich das schwarze Schaf der Familie. Sein Haar war tiefschwarz geworden, fast so dunkel wie seine Augen.

«Clera!», jemand stiess sie gegen die Schulter.

«Hast du schon mal von dem Ding gehört, das Salz heisst?» Peider sah sie mit vorwurfsvollem Blick an und deutete auf seinen Teller. Stille. Alle schienen auf ihre Antwort zu warten.

«Du hast mich schon oft genug daran erinnert, ich weiss, was Salz ist», knurrte sie, «aber wenn es dir nicht passt, koch in Zukunft selbst.» Wieder diese unangenehme Stille. Clera duckte sich kaum merklich, als erwarte sie eine Bestrafung, doch nichts rührte sich. Entweder war ihre Mutter zu müde oder sie stimmte Clera zu. Wortlos stand Peider auf und holte das Salz.

Dann ging das Gespräch weiter, als wäre nichts gewesen. Wenn Clera einen ihrer Brüder nicht leiden konnte, war es der 14-jährige Peider. Er suchte nur zu gern Streit und beschwerte sich über alles.

«Clera», hörte sie nun ihren Vater, aus dessen Tonfall nicht herauszuhören war, ob er sie tadeln wollte oder nur ein anderes Thema anschnitt, «wir werden morgen zu den höchstgelegenen Wiesen hinaufsteigen und bis spätabends weg sein.» Er legte seinen Löffel in den leeren Teller.

«Könntest du uns ein Mittagessen vorbereiten und einpacken?»

«Natürlich», murmelte sie tonlos. Ihr Blick wanderte zu Michel, der ihr aufmunternd zulächelte. Wie oft hatte sie sich eine Schwester gewünscht, die mit ihr die Hausarbeit erledigt hätte. Mit ihrer Mutter hatte sie sich als Kind gut verstanden, doch in den letzten Jahren hatte sie den Eindruck, dass sie immer öfter aneinandergerieten. Grossmutter Chatrina hatte Barla oft dafür getadelt, dass sie ihrer Tochter so wenig Beachtung schenkte.

«Und könntest du mal zur Post gehen?» Diese Frage kam von Mattiu. «Ich warte auf einen Brief und ...»

«Ich war heute dort», unterbrach sie ihn. «Es war nichts da.» Mattiu wandte sich ohne ein weiteres Wort wieder seinem Teller zu. Clera fragte sich, worum es sich in dem Brief handeln mochte, doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.

«Wir brechen morgen um sechs Uhr auf», verkündete ihr Vater, als ihre Brüder begannen, die Teller zusammenzustellen.

«Wer ist morgen früh dran mit Stalldienst?»

«Clau und ich!», rief Peider und stupste seinen älteren Bruder an.

«Bengiamin und Mattiu, könntet ihr noch kurz hinübergehen und nach den Schweinen sehen?», rief ihre Mutter über den Lärm hinweg.

Die Zwillinge nickten und verschwanden aus der Küche.

Clera trug das Geschirr hinüber zur Anrichte und schüttete heisses Wasser aus dem Topf ins Abwaschbecken. Als sie sich umdrehte, stiess sie beinahe mit Michel zusammen, der ihr noch immer zulächelte und die restlichen Teller neben die anderen stellte. Sanft strich Clera ihm über sein kurzes blondes Haar. Er stellte sich immer auf ihre Seite, für ihn war sie in jeder Situation eine Heldin. Er hatte sie nie am Tisch beschimpft, weil die Suppe für seinen Geschmack zu wenig Salz enthielt.

«Danke, Clera», hörte sie Michel sagen, «das Essen hat gut geschmeckt.»

Sie lächelte gerührt. Obwohl Michel schon fast zehn Jahre alt war, war er noch immer ein kleiner Junge, dachte sie und wünschte sich insgeheim, das möge immer so bleiben.

2

Clera wusste bereits nicht mehr, wie lange sie durch den dichten Wald gewandert war. Auch heute war ihr Gang zum Postamt vergeblich gewesen. In den vergangenen zwei Wochen war sie öfter denn je ins Tal hinuntergestiegen, nur um auf dem Heimweg den Wald erkunden zu können. Dank ihrem guten Orientierungssinn hatte sie sich nicht ein einziges Mal verirrt, selbst wenn sie den Weg verlassen hatte. Mithilfe von auffälligen Felsbrocken, umgestürzten Bäumen und Sträuchern fand sie immer wieder zurück. Häuser dagegen versuchte sie stets in grossem Bogen zu umgehen.

Mit leuchtenden Augen betrachtete sie ihre Umgebung und liess alle Sorgen des Alltags hinter sich. Zwei Schmetterlinge flatterten um sie herum, als würden sie sich mitfreuen und mit ihr tanzen wollen. Übermütig sprang sie über einen Baumstamm, landete auf der anderen Seite im weichen Moos und huschte weiter, lautlos, als wäre auch sie nur ein Schatten. Nicht einmal der Wind rauschte in den Blättern über ihr, nur die Vögel zwitscherten in den Ästen.

Ein merkwürdiges Geräusch liess sie zusammenzucken, und ihr Gesang verstummte abrupt. Regungslos stand sie da und lauschte, doch das Geräusch, das wie aufeinanderschlagende Steine geklungen hatte, war verhallt. Langsam ging sie weiter, bemüht, keinen Lärm zu machen. Sollte jemand in der Nähe sein, bevorzugte sie es, unbemerkt zu bleiben. Vor ihr zwischen den Bäumen erblickte sie etwas Helles, als würde die Sonne sie vom Waldboden her anstrahlen. Vorsichtig kletterte sie auf den flachen Felsen vor ihr und lehnte sich seitlich gegen einen dicken Baum. Vor ihr fiel das Gelände etwas mehr als einen Meter senkrecht ab, unten klatschten Wellen gegen den Stein. Wie tausend Diamanten funkelte das Wasser, auf dessen Oberfläche sich in scheinbar regelmässigen Abständen Ringe bildeten. Clera blieb vor Erstaunen mit offenem Mund stehen. Täglich hatte sie von ihrem Zuhause aus den Blick über diesen Wald schweifen lassen, aber den See konnte sie von dort oben nicht sehen. Eigentlich wusste sie von dem Gewässer, das als besonders blau galt. Ihr Lehrer hatte den kleinen See mehrmals erwähnt, aber für sie war er immer etwas gewesen, was zum Tal gehörte, während sie in den Bergen lebte. Ein Fisch sprang hoch und verschwand im nächsten Augenblick wieder im blauen Wasser.

Plötzlich erschien Clera die Umgebung noch idyllischer und märchenhafter. Das tiefblaue Wasser und das dunkle Grün der Bäume zusammen mit den unzähligen Diamanten, die das Sonnenlicht auf die Oberfläche zauberte – es war wie ein Traum.

Ohne den Blick von dem leuchtenden Blau zu lösen, setzte sie einen Fuss vor den anderen. Ein Stück weiter am Ufer entlang wurde das Gelände flacher. Gern hätte sie ihre Füsse ins kühle Nass gehalten und versucht, die Wellen durch Bewegungen bis ans andere Ufer zu schicken.

Sie legte die Hand an die Stirn, um die blendenden Sonnenstrahlen von ihren Augen abzuhalten. Der See war nicht so gross, wie sie im ersten Moment vermutet hatte. Clera hörte nicht einmal mehr die Vögel singen, ihre ganze Aufmerksamkeit galt diesem kleinen idyllischen See. Spielte ihr das Licht einen Streich oder war es wahr, was man sich von diesem See erzählte? Seine Farbe war tatsächlich anders als jedes andere Gewässer, das Clera je gesehen hatte. Auf seinem Grund erkannte sie ganz deutlich die Umrisse von Baumstämmen und Felsen. Clera erinnerte sich an den grossen See, den sie gesehen hatte, als sie einmal in die Stadt gefahren waren, doch jenes Blau kam nicht im Entferntesten an dasjenige dieses kleinen Gewässers heran. Einen Moment lang überlegte sie, wann sie das letzte Mal nach Thun gefahren war. Sie wusste es nicht mehr.

Am anderen Ufer erblickte sie ein Haus, das sich im klaren Wasser spiegelte. Es sah nicht bewohnt aus, die Terrasse war leer, die Fensterläden geschlossen. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie hinübergehen und es sich aus der Nähe ansehen sollte, verwarf die Idee jedoch wieder. Wenn doch jemand da war, hätte der allen Grund wütend zu sein, weil sie unbefugt sein Land betreten hatte. So blieb sie an Ort und Stelle stehen und liess den Blick über das Wasser und den Wald schweifen.

Wie lange sie dagestanden und auf den See hinausgeblickt hatte, wusste sie später nicht mehr. In Gedanken versunken lehnte sie den Kopf gegen den Baumstamm.

«He, du da!»

Erschrocken zuckte sie zusammen. In der Hoffnung, die mürrische Stimme, die die Stille störte, habe nicht sie angesprochen, verharrte sie regungslos.

«Hörst du schlecht?»

Clera biss sich auf die Unterlippe und drehte langsam den Kopf.

Vor dem Felsen, einige Meter von ihr entfernt, stand ein Pferd, dessen Reiter sie mit grimmiger Miene musterte. «Was hast du hier verloren?»

Clera brachte keinen Ton heraus.

Der Gesichtsausdruck des Mannes wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer. Sein schwarzes Pferd spielte unruhig mit den Ohren und tänzelte nervös hin und her, sodass er ununterbrochen damit beschäftigt war, es ruhig zu halten.

Noch nie hatte Clera ein so schönes Pferd gesehen. Der weisse Fleck auf seiner Stirn bildete einen bemerkenswerten Kontrast zu seinem schwarzen Fell. Seine Beine waren schlanker als die der Arbeitspferde auf dem Hof ihrer Nachbarn und seine Mähne ordentlich gekämmt und geschnitten.

«Was willst du hier?» Die Stimme des Reiters wurde lauter.

«Ich ...», stammelte sie, « ...bin auf dem Heimweg ...» Sie unterbrach sich, als sie merkte, dass ihre Stimme alles andere als überzeugend klang.

«Lebst du etwa im Wald?»

«Nein», entgegnete sie mit fester Stimme, «aber der Weg nach Hause führt durch diesen Wald.»

Der Reiter musterte sie von Kopf bis Fuss. «Dann hast du dich aber ein bisschen verlaufen, hier in der Nähe führt kein Weg vorbei!»

«Querfeldein ist’s kürzer», entgegnete sie schlagfertig und hob das Kinn ein wenig.

«Was du nicht sagst», murmelte der Reiter und stieg vom Pferd, das noch immer nicht stillstand.

Clera fragte sich, ob er nicht gut reiten konnte und deshalb abstieg, damit sie das nicht bemerkte. Als er auf sie zukam, machte sie instinktiv einen Schritt rückwärts und lehnte sich gegen den dicken Baumstamm. Langsam kam der Unbekannte näher. Clera stellte erstaunt fest, dass diese finsteren Augen einem jungen Mann gehörten, der nicht viel älter sein konnte als sie. Sein kurzes braunes Haar glänzte im goldenen Licht der Spätnachmittagssonne, seine Augen schienen dieselbe Farbe zu haben wie die blau-graue Weste, die er trug. Clera wusste, dass sie nicht fliehen konnte, also setzte sie eine entschlossene Miene auf und blieb aufrecht stehen, den Rücken gegen den Baum gepresst. Sie spürte die raue Rinde in ihren Handflächen und starrte furchtlos in die kalten Augen, die sie unentwegt musterten. Einige Schritte vor ihr blieb er stehen.

«Wer bist du?», knurrte er.

Clera atmete tief ein. «Wer will das wissen?», fragte sie gefasst und hoffte, dass er nicht sah, wie sehr ihre Knie zitterten.

Der Fremde verlagerte das Gewicht vom einen Bein auf das andere und verzog das Gesicht. «Balthasar ist mein Name», sagte er langsam und machte einen Schritt zur Seite, als wollte er sie einkreisen.

Clera sah ein, dass er sie damit einschüchtern wollte, verzog jedoch keine Miene.

«Sagt dir das nichts?»

Sie zog eine Augenbraue hoch. Der Name Balthasar war ihr während ihrer Schulzeit oft zu Ohren gekommen, er gehörte einem reichen Grossgrundbesitzer hier im Tal. Viel wusste sie nicht über die Familie, nur dass sie Pferde züchteten und nicht weit entfernt lebten. Konrad Balthasar hatte einige wichtige Ämter im Tal inne, aber Clera wusste nicht, wie er sein Geld verdiente. Der junge Mann hier musste wohl sein Sohn sein. Als sie nichts sagte, kniff er die Augen zusammen.

«Und wer bist du?», fragte er ungeduldig.

«Clera», sagte sie ruhig.

Der Fremde schnaubte. «So genau wollte ich es gar nicht wissen», murrte er. «Hör zu, Fräulein, ich habe nicht ewig Zeit! Der Wald ist Privatbesitz, du hast hier nichts verloren, also verschwinde.»

Nervös fuhr Clera mit ihrer schweissnassen Hand über die Rinde des Baumes hinter ihr, bemüht, ihre Nervosität zu verbergen. «Wenn das Gebiet nicht betreten werden darf», entgegnete sie, «warum führen dann Wege durch den Wald?» Ohne sich von der Stelle zu rühren, beobachtete sie, wie der junge Mann sich langsam umdrehte, seine Augen aber nach wie vor auf sie gerichtet hielt.

«An dieser Stelle hier führt kein Weg durch den Wald, und das Hotel ist geschlossen, Clara.»

«Clera!», berichtigte sie. Sie war es gewohnt, die Leute korrigieren zu müssen, da niemand in der Gegend den rätoromanischen Namen kannte. Trotz der Schatten sah sie, wie er die Augen verdrehte.

«Clera», wiederholte er langsam, als würde ihn das Aussprechen dieses kleinen Wortes anekeln. «Wie kommt man denn zu so einem Namen?» Es schien nicht, als erwarte er eine Antwort darauf.

«Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens einen Vornamen!», rief sie hinter ihm her, als er sich wieder seinem Pferd zuwandte.

«Verschwinde!», brüllte er nur und schwang sich auf sein Pferd. «Und lass dich hier ja nicht wieder blicken! Mein Vater sieht es nicht gern, wenn sich Landstreicher auf unserem Lande herumtreiben.» Demonstrativ blieb er stehen und wartete, bis sie sich von dem Baum entfernte.

Clera verharrte noch einen Moment in derselben Haltung und musterte ihn ebenso kühl wie er sie. Dann ging sie langsam über den Felsen, wobei sie ihn immer im Auge behielt, bis sie hinter den Blättern verschwunden war. Dann begann sie zu laufen, bis sie den Weg erreichte, wo sie völlig ausser Atem stehen blieb. Ihre Knie zitterten noch immer.

So schnell ihre Füsse sie trugen, rannte sie über den steinigen Weg aus dem Wald und hangaufwärts. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen sah sie schliesslich ihr Elternhaus vor sich auftauchen und betete, ihre Familie möge noch nicht daheim sein. Als sie ausser Atem die Treppe zur Laube erreichte, hörte sie bereits die Stimmen ihrer Brüder, und ihre Gedanken begannen zu rasen. Wie sollte sie ihrer Mutter erklären, wo sie gewesen war und warum sie das Abendessen nicht zubereitet hatte? Sie atmete tief durch und strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. Leise stieg sie auf die Laube und ging um das Haus herum zur Haustür.

Ihre Mutter stand mit dem Rücken zu ihr am Herd, als Clera eintrat. Ihr Atem ging inzwischen wieder normal, doch ihre Kleider klebten ihr am Körper.

«Mutter?», sagte sie unsicher und schloss die Tür hinter sich. «Ich ... ihr seid heute früher zurückgekommen ...»

«Wo kommst du denn jetzt her?» Barla schien äusserst gereizt, als sie sich zu ihrer Tochter umdrehte. Im spärlichen Licht der einzigen Kerze, die im Raum brannte, huschten furchterregende Schatten über ihr faltiges Gesicht.

«Auf dem Postamt.» Clera hatte sich wieder ein wenig gefasst.

Ohne ein weiteres Wort wandte Barla sich wieder dem grossen Topf zu, der auf dem Herd stand. «Und wieso gehst du nicht, solange es hell ist?»

Clera seufzte und liess sich auf einen Stuhl fallen. «Das habe ich getan, aber ... ich bin aufgehalten worden und habe das Zeitgefühl verloren», antwortete sie.

Ihre Mutter reagierte nicht.

Eine Weile sass Clera da und starrte ins Leere, während sie auf eine Reaktion wartete.

«Hör mal zu, Clera!» Just in dem Moment, als sie den Raum verlassen wollte, drehte ihre Mutter sich wieder zu ihr um. «In Zukunft wirst du das ganz einfach sein lassen», sagte sie und wischte die Hände an ihrer Schürze ab. Ihr Ton schien nicht eine Spur freundlicher geworden zu sein. «Du erledigst hier deine Pflichten, und erst wenn die alle beendet sind, kannst du von mir aus zur Post gehen!» Sie fing mit dem Finger einen Tropfen ab, der von dem grossen Schöpflöffel, den sie in der Hand hielt, zu fallen drohte. «Das Leben ist hart und wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen. Das gilt auch für dich, hast du verstanden?»

Clera nickte und verschwand durch die Tür in ihre Stube. Erleichtert atmete sie auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

«Hätte schlimmer kommen können ...», murmelte sie und liess sich in den Sessel fallen, der früher ebenfalls ihrer Grossmutter gehört hatte. Aber damit war die Sache noch längst nicht abgehakt: Ihre Brüder wussten sicherlich schon Bescheid und würden sich ihre eigenen Geschichten ausdenken, wo sie gewesen war. Ich müsse meinen Teil dazu beitragen, überlegte sie. Meinen Teil ... Ich kümmere mich um das Haus und gehe zur Post. «Mehr haben sie mir gar nicht aufgetragen ...», murmelte sie vor sich hin.

Seufzend schloss sie die Augen und liess ihre Gedanken zurückschweifen zu dem idyllischen blauen See unten im Wald. Sie musste lachen, als sie an das Gespräch mit dem unfreundlichen jungen Mann dachte, und empfand beinahe etwas wie Stolz, dass sie sich nicht hatte einschüchtern lassen.

Die Sonne schickte bereits ihre ersten Strahlen über die Berge, als Clera einige Tage später vom Stall zum Wohnhaus zurückkehrte. Sie stellte ihre schmutzigen Schuhe vor der Tür ab und huschte durch die Küche in ihr Zimmer. Langsam zog sie die alte Truhe unter dem Tisch hervor und strich vorsichtig über den Deckel. Ihre Finger hinterliessen schmale Streifen in der Staubschicht. Seit dem Tod ihrer Grossmutter hatte sie die Truhe fast nie geöffnet, da sie kaum etwas von ihren eigenen Habseligkeiten darin verstaut hatte, als sie das Zimmer übernommen hatte. Hauptsächlich die kleinen Dinge, die ihre Grossmutter jahrelang aufgehoben hatte, hatte sie in diese Truhe gepackt, einerseits um Platz für sich zu schaffen, andererseits damit keiner ihrer Brüder darin herumschnüffeln konnte. Aber der Rest der Familie betrat ihre Stube ohnehin nie.

Auf der Suche nach einem Beutel aus dickem Stoff wühlte Clera in der Kiste, schob ein paar Dinge beiseite und stellte andere auf den Boden neben sich. Auf dem Boden der Kiste unter all den anderen Gegenständen fand sie schliesslich den dunkelgrünen Stoff. Als sie den Beutel herausziehen wollte, fiel ihr Blick auf ein vergilbtes Stück Papier, das in der Ecke der Truhe lag. Erstaunt hielt sie inne. Ihre Grossmutter hatte alle Briefe, die sie in ihrem Leben erhalten hatte, verbrannt.

«Damit du Platz für deine Sachen hast, wenn du in dieses Zimmer ziehst», hatte sie gesagt und Umschlag für Umschlag in den Ofen geworfen. Das war ein halbes Jahr vor ihrem Tod gewesen.

Clera griff nach dem Umschlag und betrachtete ihn von beiden Seiten. Es stand keine Adresse drauf, nur «Chatrina», der Name ihrer Grossmutter. Der Brief musste aus dem Büchlein gerutscht sein, das daneben auf dem Boden der Kiste lag. Clera fischte es heraus und betrachtete den Ledereinband. Er war einfarbig und schmucklos, auf dem Buchdeckel stand nichts. Da sie es eilig hatte, legte sie den Brief zwischen die Seiten und das Büchlein aufs Büchergestell neben ihr, dann schlug sie den Deckel der Truhe zu und verliess das Zimmer.

Der Rest der Familie war bereits aufgebrochen und hatte sie mit der Arbeit im Haus zurückgelassen. Cleras Blick wanderte über den Herd und die Anrichte, auf der sich die Schälchen vom Frühstück stapelten. Die Zwillinge waren inzwischen mit den Kühen auf die Alp gestiegen und wohnten den ganzen Sommer über in der Alphütte neben dem kleinen Bergsee. Clera war es recht, wenn einmal wenigstens für eine Weile zwei Personen weniger im Haus waren. Zudem hegte sie nach wie vor die Hoffnung, dass sie irgendwann doch mit der Familie zum Heuen mitgehen durfte. Mit den Zwillingen fehlten immerhin zwei starke Arbeitskräfte. Hastig band sie sich die widerspenstigen Haare zu einem halbwegs ordentlichen Knoten zusammen und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd.

Als sie das letzte Schälchen neben den Spülstein stellte und den Blick hob, strahlte die Sonne bereits grosszügig durch das Fenster vor ihr und machte sie darauf aufmerksam, wie schmutzig die Scheiben waren.

«Nein», murmelte sie, wischte sich die Hände an der Schürze ab und räumte die Schälchen weg.

In aller Eile putzte sie die Fenster, stellte den Katzen, die sich den ganzen Tag auf dem Heuboden herumtrieben, Milch hin, erledigte die Wäsche und mistete den Stall der wenigen Ziegen und Kühe, die der Milch wegen den Sommer nicht auf der Alp verbrachten, aus. Schliesslich lehnte sie sich erschöpft an die Hauswand. Wenn sie sich derart beeilte, konnte sie um 14:30 Uhr fertig sein. Einen Augenblick dachte sie nach, ob sie auch nichts vergessen hatte, und huschte dann in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. In der Vorratskammer holte sie ein wenig Käse, etwas Brot und einen Apfel und verstaute alles in ihrem Beutel. Als sie auf den Hof hinaustrat, warf sie einen prüfenden Blick bergaufwärts, obwohl sie wusste, dass sie die Halde, die ihre Familie heute bearbeitete, von da aus nicht sehen konnte. Ausserdem konnte sie sich darauf verlassen, dass sie erst am Abend zurückkehrten.

Auf dem Weg bergab versuchte sie, die Tage zu zählen, die sie es nicht gewagt hatte, den Hof zu verlassen, nachdem ihre Mutter sie beschimpft hatte, doch heute konnte sie nichts und niemand davon abhalten. Der Tag war viel zu schön, um untätig daheim zu bleiben. Ihr war bewusst, dass Langeweile hier nicht existieren konnte, auf dem Hof gab es immer Arbeit. Heute aber wollte sie nicht danach suchen. Alle dringenden Arbeiten waren erledigt, alles andere konnte auch bis zum nächsten Regentag warten.

Der Wind, der ihr auf dem Weg die Strähnen aus dem Knoten gezupft hatte, liess nach, als der steile Pfad flacher wurde und zwischen den Bäumen verschwand. Gelegentlich raschelte das Laub unter ihren Füssen, ansonsten bewegte sie sich wie ein Reh durch den Wald. Die Luft war angenehm warm und die Sonne zauberte goldene Flecken auf den wild bewachsenen Waldboden.

Als der See vor ihr auftauchte, durchflutete sie ein Gefühl der Freiheit, das sie nie zuvor gekannt hatte. Die kleinen Wellen, die sich an den Felsen brachen, glitzerten im Sonnenlicht wie die Bergkristalle, die sie früher mit ihren Brüdern gesammelt hatte. Sie stand an derselben Stelle wie bei ihrem letzten Besuch, als der fremde Reiter sie entdeckt hatte, und blickte auf die blaue Fläche hinaus. Heute war alles still. Nicht weit entfernt sah sie einen abgeflachten Felsen direkt neben einem Strauch, der ihr Sichtschutz geben konnte, falls nötig. Dort setzte sie sich in den Schatten und packte ihr kleines Picknick aus. Sehnsüchtig blickte sie über das Wasser, dann auf das grosse Haus, dessen Dach sie hinter den Bäumen und Sträuchern gerade noch erkennen konnte. Das Gebäude sah renovierungsbedürftig aus, liess sein ursprüngliches Aussehen jedoch noch erahnen. Clera versuchte es sich vorzustellen und malte sich aus, wie es wohl sein mochte, hier zu leben. Dann fiel ihr ein, dass der Fremde ein verlassenes Hotel erwähnt hatte. Wenn dies das Hotel war, war es sicher geschlossen und verlassen. Der Krieg der letzten Jahre hatte eine grosse Krise ausgelöst.

Ein Knacken hinter ihr liess sie zusammenfahren. Instinktiv duckte sie sich in den Schatten des Strauches neben ihr und verharrte regungslos. Sie schloss die Augen und wartete darauf, die ärgerliche Stimme, die sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, zu hören. Doch alles blieb still. Clera hielt den Atem an. In dem Moment stiess etwas gegen ihren Fuss. Einen Schrei konnte sie gerade noch unterdrücken, als sie herumfuhr und in die schwarzen Augen eines grossen Pferdes starrte. Es hatte den Kopf gesenkt und hielt ihr neugierig die Nase entgegen.

Clera blickte auf den weissen Fleck auf seiner Stirn, dann auf das glänzende schwarze Fell. Ihr Puls beruhigte sich, als sie das Pferd wiedererkannte. «Salü, mein Hübscher ...», flüsterte sie erleichtert und hob die Hand. «Wir sind uns schon einmal begegnet, weisst du noch? Aber bitte, geh wieder weg, nicht dass dein Herr mich bemerkt ...» Erst jetzt fiel ihr auf, dass das einst makellose Fell an einigen Stellen struppig und schmutzig war. Ausserdem war das Pferd nicht gesattelt und trug nur ein einfaches Halfter, das aber bereits verrutscht und an einigen Stellen abgewetzt war, als hätte das Pferd den Kopf an einem Baum oder Stein gerieben.

«Du bist wohl ausgerissen?» Vorsichtig strich sie ihm mit dem Finger über die Nüstern. Im Gegensatz zu ihrer letzten Begegnung stand das Pferd ruhig und entspannt vor ihr.

«Du weisst, dass ich dir nichts tue, nicht wahr?», sagte sie leise. «Keine Angst, ich verrate dich nicht.»

Das Pferd spitzte die Ohren, während sie sprach. Unweigerlich musste sie an die Zeit zurückdenken, als sie fast täglich ihre Freundin Vrena besucht hatte, deren Eltern zwei Pferde für die Arbeit auf dem Hof besassen.

Es fiel ihr schwer zu glauben, dass es sich bei diesem freundlichen und zahmen Wesen um dasselbe Pferd handelte, das der fremde Reiter damals kaum hatte ruhig halten können.

«Warte kurz», flüsterte sie, bückte sich nach ihrem Beutel und hielt dem Pferd ihren Apfel hin. Während es genussvoll kaute, blickte Clera auf den See hinaus und wunderte sich, dass das Pferd hier im Wald unbemerkt geblieben war.

«Glaub mir, wenn du mein Pferd wärst, hätte ich Tag und Nacht nach dir gesucht und wäre nicht ohne dich nach Hause zurückgekehrt.» Sie zupfte ein paar dürre Blätter aus seiner Mähne.

«Ob du dich reiten lässt?» Ihre Hand wanderte über den Rücken des Rappen.

«Keine Angst», versicherte sie ihm, «ich versuche es nicht.» Das Pferd schnaubte. «Vielleicht ein anderes Mal, jetzt muss ich gehen.»

Sie hängte sich den Beutel über die Schulter und strich dem Pferd nochmals über die weichen Nüstern. «Ich komme wieder.»

Bevor sie zwischen den Bäumen verschwand, hielt sie inne und schaute sich erneut prüfend um. «Lass dich nicht erwischen!»

Als sie abends ihre Stube betrat, kreisten ihre Gedanken noch immer um das schwarze Pferd. Es kam ihr seltsam vor, dass ein Pferd aus Balthasars Zucht mehrere Tage allein durch die Wälder streifen konnte, ohne dass sein Besitzer es wiederfand. Ein solches Tier war sicher einiges wert. Mit den Arbeitspferden, die sie kannte, liess es sich nicht vergleichen.

Langsam trat sie ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Am Westhorizont liess ein schwaches Licht über den Bergen erahnen, wo die Sonne untergegangen war. Sie stellte die Kerze neben das Bett und begann ihren Rock aufzuknöpfen. Dabei fiel ihr Blick auf das lederne Büchlein, das sie auf das Bücherregal gelegt hatte. Auf Zehenspitzen ging sie hinüber zum Regal und nahm es in die Hand. Der Brief lag noch immer zwischen den Seiten. Obwohl auf dem Umschlag der Name ihrer Grossmutter stand, warf sie einen kurzen Blick hinein und erkannte im schwachen Licht, dass er zwei Fotos enthielt. Neugierig nahm sie beide heraus. Das eine zeigte ihre Grossmutter in jüngeren Jahren, das andere eine Frau, die sie nicht kannte. Dem Papier nach musste das Bild älter sein als das ihrer Grossmutter. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass es gar keine Fotografie, sondern eine Zeichnung war. «Katharina» stand darunter. Clera überlegte, ob ihre Grossmutter je eine Katharina erwähnt hatte. Nachdenklich schob sie die Bilder wieder ins Buch, setzte sich auf ihr Bett und schlug die erste Seite auf. Auch da stand nichts. Als sie eine weitere Seite umblätterte, fiel ein zusammengefaltetes Papier heraus und landete in ihrem Schoss. Vorsichtig öffnete sie es und erstarrte, als sie sah, dass der Brief an sie gerichtet war.

Mitholz, 1915

Liebe Clera

Wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr bei euch sein. Ich hoffe sehr, dass du zurechtkommst.

Du hast mein Buch gefunden. Erzähl niemandem davon, behalte es für dich. Wahrscheinlich wirst du dich fragen, warum dir nie jemand diese Geschichte erzählt hat. Das hat einen einfachen Grund: Nur ich kenne sie. Nicht einmal deine Eltern wissen davon. Es ist besser so, sie brauchen das, was darin steht, nicht zu erfahren, es könnte Uneinigkeit auslösen.

Trotzdem möchte ich, dass du weisst, warum unsere Familie damals dieses wunderschöne Tal verlassen hat, um im Engadin ein neues Leben zu beginnen.

Die Geschichte begann im Jahre 1803, als meine Grossmutter noch ein junges Mädchen war. Sie hat mir später alles erzählt und ich habe es niedergeschrieben, für den Fall, dass ich es ebenfalls weitergeben will.

Wenn du willst, lies das Büchlein, wenn nicht, verbrenne es. Ich brauche es nicht mehr.

Gott behüte dich, meine liebe Clera!

Deine Grossmutter

Clera spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Ihr war, als hörte sie Grossmutters Stimme, als sie die Worte las. Noch einmal überflog sie die Zeilen. Sie würde das Buch nicht verbrennen, zumindest nicht, bevor sie es gelesen hatte, was auch immer darin stand. Entschlossen schlug sie es auf.

3

Mitholz, Mai 1803

Das Mondlicht zeichnete gespenstische Schatten auf den Boden, als Katharina Wandfluh aus dem Haus trat. Leise schloss sie die Tür des alten Bauernhauses und lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut war zu hören, Mitholz schien tief und fest zu schlafen. Den Weg kannte sie inzwischen auswendig und hätte ihn auch im Stockfinsteren gefunden. Heute hatte sie Glück, dass es nicht ganz so dunkel war. Sie mied die Strasse und eilte über die Wiesen auf den Wald zu. In keinem der Häuser, deren Umrisse langsam im Dunkeln verschwanden, sah sie Licht brennen.

Als sie den Waldrand erreichte, wurde sie langsamer. Früher hätte sie sich nie nachts in den Wald getraut, nur der Gedanke daran, was sie erwartete, nahm ihr die Angst und trieb sie voran. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal ihrer Schwester Maria, mit der sie sonst jedes Geheimnis teilte.

Aber dieses Geheimnis, das sie nun seit einigen Wochen hütete, gehörte nur ihr. Bisher hatte sie sich keine Gedanken gemacht, wie das weitergehen sollte. Irgendwann würde es ans Licht kommen, aber dann würden sich alle mit ihr freuen.

Weit vor sich sah sie einen Lichtschein zwischen den Bäumen. Er war schon da.

«Liebste, da bist du ja», hörte sie den jungen Mann sagen, der neben der Laterne auf dem Felsen sass und ihr nun entgegenging.

«Grüss dich, Vitus», sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.

«Hat dich niemand gesehen?», fragte er und legte beide Arme um sie.

«Nein», flüsterte sie. «Ich habe das Haus ohne Laterne verlassen und nirgendwo Licht gesehen.»

Zufrieden nickte er. Er trug das Béret, das er immer aufhatte, und unter dem kurze, hellbraune Haare hervorlugten. Katharina war ihm noch nicht oft bei Tag begegnet, trotzdem kannte sie jedes Detail an ihm. Vorsichtig küsste er sie auf die Wange wie ein scheuer Schuljunge, obwohl sie wusste, dass er alles andere als scheu war. Ihm war durchaus bewusst, dass viele junge Mädchen sich nach ihm umdrehten, wenn sie ihm im Dorf begegneten, und Katharina schätzte sich glücklich, dass er sich gerade in sie verliebt hatte. Da seine Familie aber einer Verbindung mit ihr, der Tochter eines einfachen Korbmachers aus Mitholz, niemals zugestimmt hätte, mussten sie sich heimlich treffen. Zumindest vorerst, hoffte sie.

Sie sah ihm tief in die Augen und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. Er strich ihr sanft über das Gesicht und deutete dann auf die Decke, die er auf dem Felsen ausgebreitet hatte, wie er es jedes Mal tat, wenn sie sich hier am See trafen. Sie setzte sich hin und wartete, bis er neben ihr Platz genommen und den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Oft sassen sie stundenlang eng umschlungen da und sprachen kein Wort, doch für Katharina war es genug, einfach nur in seiner Nähe zu sein. Sie liebte es, wenn er ihr mit den Fingern durch die langen, dunklen Haare strich.

Manchmal erzählte er ihr von den Reisen, die er gemacht hatte. Sie selbst hatte das Kandertal noch kaum einmal verlassen, er aber war schon in der ganzen Schweiz herumgekommen. Seinem Vater gehörte ein grosses Gut in der Nähe des kleinen Sees. Alle im Tal kannten Adalbert Balthasar, der weitherum grosses Ansehen genoss, da er sich an jeder nur erdenklichen Stelle engagierte, sowohl im Gemeinderat als auch in jedem Rat grösserer Unternehmen. Ebenso kannten alle seinen einzigen Sohn Vitus, der das Anwesen einmal erben würde. Er arbeitete für seinen Vater, der ihm die Aufsicht über den Kiesabbau übertragen hatte.

Katharina verstand nichts davon, dennoch gefiel ihr der Gedanke, dass ihr Liebster eine geachtete Person im ganzen Tal war. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und liess den Blick über den stillen See schweifen, in dem sich der Mond spiegelte. Sie hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft sie sich bereits hier getroffen hatten. Seit sie ihn kennengelernt hatte, waren erst wenige Wochen vergangen. Sie war auf dem Heimweg vom Dorfladen gewesen und beinahe mit ihm zusammengestossen, als er in grosser Eile um die Ecke bog. Beim Zusammenstoss war ihr Korb zu Boden gefallen. Glücklicherweise war nichts beschädigt worden, doch er hatte darauf bestanden, die Waren genau zu überprüfen und sie nach Hause zu begleiten. Überaus hilfsbereit hatte er ihren Korb getragen. In den darauffolgenden Tagen war ihr aufgefallen, dass er jeweils morgens auf dem Weg zur Arbeit und abends auf dem Heimweg an ihrem Elternhaus vorbeiging, was er davor nie getan hatte. Eines Abends hatte sie draussen auf ihn gewartet. Sie hatten ein paar Worte gewechselt, dann war er weitergegangen. Am nächsten Morgen hatte sie darauf geachtet, eine Arbeit vor dem Haus zu erledigen, um ihm nochmals zufällig begegnen zu können. Wieder war er zur gleichen Zeit wie immer vorbeigekommen, hatte sie höflich gegrüsst und ihr heimlich einen Umschlag zugesteckt.

Ich muss immerfort an dich denken. Kennst du den kleinen See im Wald? Komm heute um Mitternacht dorthin, ich werde eine Laterne anzünden, damit du den Weg findest. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. Vitus

Im ersten Moment hatte sie den Brief verbrennen wollen. Niemals hätte sie es gewagt, nachts das Haus zu verlassen, doch mit jeder Stunde, die verging, gefiel ihr der Gedanke, den gutaussehenden jungen Mann wiederzusehen, besser.

Gegen Abend war sie allerdings nervös geworden, hatte kaum etwas gegessen und sich unruhig im Bett hin und her gewälzt. Als sie in der Ferne die Kirchturmuhr Viertel nach elf schlagen gehört hatte, war sie aufgestanden, hatte sich vergewissert, dass ihre Schwester schlief, und das Haus verlassen. Die Anspannung war erst von ihr abgefallen, als sie das Licht im Wald erblickt hatte. Vitus hatte auf einem Stein gesessen und in die Dunkelheit gestarrt, doch als sie aus dem Dunkel in den Lichtschein der Laterne getreten war, war er sogleich aufgesprungen und hatte ihr wortreich gesagt, wie sehr er sich freue, sie zu sehen.

«Nachdem ich in deine Augen geschaut hatte, konnte ich das Bild nicht mehr aus meinem Kopf verdrängen», hatte er erzählt und ihre Hände in die seinen genommen. «Ich frage mich, warum du mir nicht schon früher aufgefallen bist.»

Seither hatten sie sich alle paar Tage getroffen. Meist schlief Katharina in diesen Nächten höchstens zwei Stunden, doch das war es ihr wert. Sie musste nur darauf achten, dass ihr Schlafmangel niemandem auffiel. Gleichzeitig war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Sie seufzte und schmiegte sich enger an ihn.

«Frierst du?», fragte er und legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Es war eine laue Sommernacht, und Katharina wusste, dass er den Mantel nicht für sich mitgenommen hatte.

«Nein», antwortete sie und hob den Kopf, um ihm in die Augen sehen zu können. «Ich habe nur gerade an den Tag zurückgedacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.»

Er erwiderte ihr Lächeln und gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund. «Das war der beste Tag meines Lebens», flüsterte er. «Ich wüsste nicht mehr, was ich ohne dich machen sollte.»

Sie suchte nach Worten, um ihm zu sagen, dass sie ebenso empfand, verhaspelte sich jedoch schon in Gedanken so sehr, dass sie schwieg.

«Ich würde dich aber gern öfter sehen», sagte sie nach einer Weile. «Nicht nur nachts ...»

Er nickte. «Ich weiss. Irgendwann werden wir uns nicht mehr verstecken, ich verspreche es dir. Aber vorerst ...» Er streichelte ihr Haar. «Komm morgen Nacht wieder her, ich warte um Mitternacht auf dich.»

«In Ordnung», sagte sie, ohne aufzusehen, und suchte mit den Augen den Osthimmel ab, ob schon das erste Licht des anbrechenden Morgens zu sehen war. Normalerweise sagte er diese Worte, wenn sie aufbrechen musste. Im Mai und Juni wurde es so früh hell, dass ihr die Nacht viel zu kurz erschien.

Er begleitete sie bis zum Waldrand, wo er sie noch einmal in die Arme nahm und sie fest an sich drückte. «Wir sehen uns morgen», flüsterte er ihr ins Ohr. «Pass auf dich auf.»

4

Mitholz, Juni 1920

Clera roch schwach den Rauch, als die Kerze erlosch. Die Worte ihrer Grossmutter hatten sie derart gefesselt, dass sie alles um sich herum vergessen hatte. Gähnend klappte sie das Buch zu. Die Schrift war so klein und bei Kerzenlicht entsprechend schwer zu lesen, dass die ersten paar Seiten sie bereits ermüdet hatten.

Am folgenden Tag bat ihr Vater sie, ein Rind zu Vrenas Eltern zu bringen. Es kam öfter vor, dass ihr Nachbar Albert und ihr Vater Tiere austauschten. Zudem besass Albert einen Stier. Für Chasper Catschader war das die günstigste Lösung, seine Kühe decken zu lassen. Der Weg dorthin nahm einige Zeit in Anspruch, sodass Clera auf ihren Waldspaziergang verzichten musste. Immerhin hatte sie von Vrenas Mutter erfahren, dass ihre Freundin bald Mutter würde, und sich vorgenommen, ihr bald wieder einmal einen Brief zu schreiben.

Mehrere Tage vergingen, in denen Clera weder die Zeit zum Schreiben noch zum Spazieren fand. Gleichzeitig wuchs ihre Sorge um das Pferd.

Am nächsten Tag wollte sie unbedingt nach ihm sehen. Clera erledigte ihre Arbeit so schnell sie konnte und machte sich auf den Weg zum See. Sie war neugierig, ob das Pferd noch da war. Vorsorglich nahm sie einen Korb mit, um unterwegs Kräuter oder Beeren zu suchen. Kürzlich war ihr eingefallen, dass sie diesen Sommer noch keine Konfitüre eingekocht hatte. Konfitüre war die einzige Süssigkeit, die sie sich leisten konnten, da Beeren im Wald im Überfluss vorhanden waren. Besonders Michel liebte ihre Konfitüre, und ihm zuliebe hätte sie sogar nachts Beeren gesucht.

Das dichte Blätterdach liess nur einzelne Sonnenstrahlen durch, die ein geflecktes Muster auf den Boden warfen. Clera schloss die Augen, atmete tief durch und lauschte auf die Geräusche, allerdings nicht nur der Vögel wegen, sondern auch, um bei Hufschlägen oder dem Knarren von Rädern sofort im Unterholz verschwinden zu können. Die Drohung des unfreundlichen Reiters hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben, und sie war gar nicht erpicht darauf, ihm nochmals zu begegnen. Fast geräuschlos huschte sie durch das unwegsame Gelände.

Weit und breit war kein Hufgetrappel zu hören, als sie den Felsen erreichte, von dem aus sie auf den See hinausblicken konnte. Es war früher Nachmittag, und am See war alles still. Neben dem grossen Felsen setzte sie sich auf einen Stein und zog die Schuhe aus, um ihre Füsse nach dem langen Marsch ins kühle Wasser zu halten. Es war kälter, als sie erwartet hatte, nicht wärmer als der Bergbach hinter ihrem Hof, aber dennoch empfand sie das Bad als wohltuend. Immer wieder sah sie sich nach dem Pferd um.

Plötzlich erstarrte sie. Hatte sie soeben einen Hund bellen gehört? Angestrengt lauschte sie, doch das Geräusch war verstummt. Vorsichtig erhob sie sich und stieg auf den Felsen neben ihr. Tatsächlich, ein Stück entfernt am Ufer stand ein schwarzer Welpe auf einem Felsen und bellte einen kleinen Jungen an. Clera schätzte ihn sechsjährig ein, und da bei einem spielenden Kind eine Mutter in der Nähe sein musste, zog sie sich langsam wieder hinter ihren Felsen zurück. Der Hund sah aus wie Floc als Welpe, schwarz mit etwas Weiss und Rot im Gesicht. Ein normaler Berner Sennenhund, aber trotzdem fand Clera jeden Hund einzigartig, auch wenn sie noch so ähnlich aussahen. Aufgeregt sprang der Welpe um den Jungen herum und schnappte nach dem Stöckchen, das dieser in der Hand hielt. Der Junge lachte vergnügt und versuchte, dem Hund das Stück Holz, in das er sich verbissen hatte, zu entreissen. Zu spät bemerkte er, dass er sich der Kante des Felsens näherte. Clera sah gerade noch, wie er ausrutschte und ins kristallklare Wasser stürzte. Prustend kam er wieder an die Oberfläche und wedelte panisch mit den Armen. Neben ihm tauchte der Hund auf, das Stöckchen immer noch zwischen den Zähnen. Mit dem unkontrollierten Paddeln näherte sich der Junge zwar dem Ufer, aber der Felsen, von dem er gestürzt war, fiel zum Wasser hin so steil ab, dass er daran keinen Halt finden konnte. Ohne weiter nachzudenken, warf Clera ihren Umhang auf den Korb und eilte auf die Stelle zwischen den Felsen zu, wo feine Wellen ans flache Ufer rollten. Die Kälte an ihren Füssen beachtete sie nicht, als sie ins Wasser sprang und auf den schreienden Jungen zuschwamm. Sie war schon lange nicht mehr geschwommen, und dass sie es überhaupt konnte, verdankte sie nur der Tatsache, dass sie als Kinder oft im kleinen Bergsee neben ihrer Alphütte geschwommen waren. Nach einigen kräftigen Zügen erreichte sie den immer noch panisch paddelnden Jungen, der sie erst jetzt bemerkte. Das Wasser erwies sich als tiefer, als es ausgesehen hatte. Vom Ufer aus konnte Clera bis auf den Grund des Sees sehen, aber jetzt fanden ihre Füsse keinen Halt. Dennoch packte sie den Jungen entschlossen an den Handgelenken.

«Hör auf!», rief sie ihm zu, als er ihr noch immer Wasser ins Gesicht spritzte. «Ich helfe dir, aber dazu musst du stillhalten!» Das letzte Wort zog sie bewusst in die Länge. Langsam beruhigte sich der Junge zu Cleras Überraschung.

«Komm!», sagte sie, griff ihm mit einer Hand unter den Arm und ruderte mit der anderen, bis sie die flache Stelle am Ufer erreichten. Ihr Rock erwies sich als äusserst hinderlich, da der ohnehin schon schwere Stoff unglaublich viel Wasser aufsaugen konnte. Vorsichtig trug sie den Jungen aus dem Wasser und setzte ihn neben dem Felsen, von dem er gefallen war, auf den Boden. Glücklicherweise hatte die Sonne die Steine ein wenig erwärmt.

«Warte hier», ermahnte sie ihn, eilte zurück zu ihrem Korb und kam mit ihrem Umhang zurück.

«Hier, du frierst sicher.» Ihre Zähne klapperten, als sie ihm behutsam den Stoff um die Schultern legte.

Bisher hatte er kein Wort gesagt, doch plötzlich blickte er sie an. «Nika ...»

Clera runzelte die Stirn und beugte sich zu ihm hinunter. «Was hast du gesagt?»

«Nika!», wiederholte er. «Wo ist meine Nika?»

«Nika ...», murmelte Clera und versuchte zu erraten, was er meinte. Das Plätschern hinter ihr war es, das sie schliesslich daran erinnerte. «Meine Güte, der Hund!», rief sie und rannte zurück zu der Stelle, an der sie den Jungen aus dem Wasser getragen hatte.

«Nika!», rief der Junge nochmals und streckte den Kopf, um bis zum Wasser sehen zu können.

Abermals schwamm Clera zum Fuss des Felsens, an dem der kleine Hund vergeblich versuchte, Halt zu finden und aus dem Wasser zu klettern. Inzwischen hatte er sein Stöckchen losgelassen.

Clera packte ihn am Nacken und zog ihn mit sich zu der flacheren Stelle. Als sie Steine unter ihren Füssen spürte, wurde sie langsamer, nahm den Hund auf den Arm und näherte sich Schritt für Schritt dem Ufer. Der Welpe hielt ebenfalls still. Mit treuherzigem Blick sah er sie an und leckte ihre Hand. Clera musste unwillkürlich lächeln. Er sah wirklich aus wie ihr Floc. Sie streichelte seinen Kopf und kletterte vorsichtig an Land, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung.

«Martin!», hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme. «Da bist du ja, wo hast du denn gesteckt? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Einfach wegzulaufen ...»

Sein Blick fiel auf Clera, die noch immer mit einem Fuss im Wasser stand. Ihr Zopf hatte sich gelöst, ihre Kleider trieften und ihre langen Haare hatten sich in den Knöpfen ihres Rocks verfangen oder klebten ihr im Gesicht. Langsam stieg sie ganz aus dem Wasser, ohne dabei den unfreundlichen jungen Mann, dem sie seit einiger Zeit aus dem Weg zu gehen versuchte, aus den Augen zu lassen.

Seine Miene wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer. «Du schon wieder?», wetterte er, als hätte er sie gestern erst weggeschickt. «Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich hier nie wieder blicken lassen!» Sein Blick fiel auf den tropfnassen Welpen auf ihrem Arm. «Und lass sofort den Hund los!»

Wortlos stellte sie ihn auf den Boden. Der Hund schüttelte sich kurz und rannte dann auf den kleinen Jungen zu, der ihn freudig in die Arme schloss.

«Nika!»

«Versuch jetzt bloss nicht wegzulaufen!», brüllte der Mann weiter, eilte auf Clera zu und packte sie grob am Arm, obwohl sie keine Anstalten gemacht hatte, sich zu entfernen. Dann drehte er sich wieder zu dem Jungen um, den er Martin genannt hatte. «Geh und ruf Papa!», wies er ihn an.

Clera brachte noch immer kein Wort über die Lippen.

«Tu der Frau nicht weh, Konstantin!», sagte der Junge, noch immer auf dem Stein sitzend. «Sie kann gut schwimmen. Ich bin ins Wasser gefallen und sie hat mich wieder rausgezogen!»

Der Kleine strahlte sie an, wodurch ihr sogleich etwas wärmer ums Herz wurde.

Konstantin drehte sich wieder zu ihr um und starrte sie einen Moment verwirrt an. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er dachte, seine blauen Augen wirkten so kalt wie der See. Die Sekunden schleppten sich dahin und die Kälte kroch Clera in die Glieder. Sie unterdrückte ihre Angst, brachte aber noch immer kein Wort heraus. Was auch immer sie gesagt hätte, hätte er ihr ohnehin nicht geglaubt. Wahrscheinlich würde er ihr nicht einmal zuhören. Langsam lockerte sich der Griff um ihren Arm.

«Ist das wahr?», fragte er mit leiser Stimme. Seine Miene veränderte sich langsam.

Clera nickte. Die Kälte in seinen Augen wich einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte, als er ihren Arm losliess und den Blick senkte.

«Tut mir leid.»

Erleichtert rieb Clera sich den Oberarm. Sie wollte nur noch weg. «Mir auch», erwiderte sie leise. «Ich dürfte nicht hier sein.» Den Blick auf den Boden geheftet drehte sie sich um.

«Warte!», er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zurückzuhalten, liess sie aber sofort wieder los, als sie zusammenzuckte. «Martin ist ins Wasser gefallen ... und du bist ihm nachgesprungen, um ihn zu retten?»

Clera wandte sich wieder um und schaute ihm direkt in die Augen. «Er hat hier auf dem Felsen mit dem Hund gespielt, ist ausgerutscht und zusammen mit dem Welpen ins Wasser gefallen.» Sie fragte sich, ob er wohl der Vater des Jungen war, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Dafür sah er zu jung aus, und schliesslich hatte er ihm vorhin zugerufen, er solle Papa holen.

«Sie ist ohne Zögern ins kalte Wasser gesprungen und kann unglaublich schnell schwimmen», plapperte der Kleine los, der immer noch in ihren Umhang gehüllt auf dem Felsen sass und den Hund streichelte. «Sie hat Nika und mich gerettet, sie ist eine Heldin, Konstantin!»

Clera fragte sich, woher er dieses Wort wohl kannte.

Ein kühler Wind kam auf und kräuselte die Wasseroberfläche. Clera fröstelte.

«Ich muss mich bei dir bedanken.»

Wortlos sah sie ihn an. Die Kälte in seinen Augen war verschwunden.

«Er ... hätte es allein nie geschafft, er kann nicht schwimmen.» Konstantin suchte nach Worten. «Aber ich hatte dir gesagt, du sollst dich hier nie wieder blicken lassen, und du hast in Kauf genommen, erwischt zu werden, um ihn zu retten.» Wieder eine Pause. «Tut mir leid, dass ich so grob war. Es stört ja wirklich niemanden, wenn du gelegentlich durch den Wald spazierst.» Sein Blick wanderte über ihren Oberarm.

Clera glaubte in seinem Gesicht den Anflug eines Lächelns zu sehen, trotzdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte.

«Weisst du», fuhr er fort, «du hast mich soeben vor sehr grossem Ärger bewahrt.»

«Wie das?»

«Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich meinen kleinen Bruder in den Wald mitnehme. Ich kontrolliere den Zaun da hinten.» Er machte eine vage Handbewegung in den Wald hinter sich.