Das Tor des Verderbens - H. P. Lovecraft - E-Book

Das Tor des Verderbens E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

1921 kehrt Mr. Ambrose Dewart aus England in die düstere Landschaft um Arkham zurück, um das Erbe seines Ururahnen AIijah Billington in Besitz zu nehmen: ein verfallenes Haus und einen düsteren Wald, der seltsame Steinformationen und einen alten gemauerten Turm birgt. Die Billingtons sind ein altes Geschlecht aus dem legendenumwitterten Dunwich, manche alte Bewohner der Gegend wissen von ihnen noch schreckliche Dinge zu erzählen. Nach und nach, durch Stöbern in der berühmten Miskatonic-Bibliothek, durch Wälzen von im Giftschrank verschlossenen Bänden uralten okkulten Wissens, kommt es zu einem allmählichen Eindringen in Geheimnisse, die besser verborgen geblieben wären. Es häufen sich bedrohliche Vorzeichen, und es wird klar, daß sich auf dem Besitztum der Billingtons einer jener Knotenpunkte befindet, wo die entsetzlichen Alten Götter auf der Lauer liegen, um in unsere Welt einzudringen und sie in Besitz zu nehmen.

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Seitenzahl: 316

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H. P. Lovecraft und August Derleth

Das Tor des Verderbens

Aus dem Amerikanischen von Michael Koseier Phantastische Bibliothek Band 307

Suhrkamp

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Titel der Originalausgabe: The Lurker at the Threshold

Aus dem Amerikanischen von Michael Koseler

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 6. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2287.

© 1973 by April B Derleth and Walden W. Derleth

© 1994, für die deutschsprachige Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlaggestaltung nach Entwürfen von hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-78008-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

I. Der Billingtonwald

II. Die Aufzeichnungen des Stephen Bates

III. Winfield Phillips’ Bericht

I. Der Billingtonwald

Nördlich von Arkham erheben sich düstere, wilde, von Wald und dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Berge, durch die der Miskatonic – fast an der Grenze des Waldgebiets – in Richtung Meer fließt. Reisende, die durch diese Gegend kommen, spüren selten das Verlangen, tiefer in den Wald vorzudringen, obwohl ein schmaler Pfad hinein und vermutlich auch über die Berge führt, bis zum Miskatonic, um dann wieder in offenes Gelände zu münden. Die wenigen verlassenen Häuser, die dem Zahn der Zeit noch nicht zum Opfer gefallen sind, gleichen sich aufs erstaunlichste und sehen alle verwittert und verkommen aus, und während die Waldregion sich üppigen Wachstums erfreut, scheint das umliegende Land wenig fruchtbar. Ja, wer Arkham, diese altehrwürdige Stadt mit ihren zahlreichen Mansardendächern, auf der Aylesbury Pike verläßt, die von der River Street abgeht und in gemächlichem, westlich-nordwestlichem Lauf zu dem seltsamen, einsamen Landstrich um Dunwich, hinter Dean’s Corners führt, wird zunächst von dem bemerkenswerten Ausmaß an Wiederaufforstung, das in dieser Gegend stattgefunden zu haben scheint, beeindruckt sein, stellt aber bei näherem Hinsehen fest, daß es sich nicht um Neupflanzungen, sondern um uralte, widerstandsfähige Bäume handelt, deren Gedeihen offenbar auch die zerstörende Kraft der Jahrhunderte nichts anhaben konnte.

Die Bewohner Arkhams haben fast alles von dem vergessen, was in früheren Zeiten über dieses Berg- und Waldland erzählt wurde – dunkle und unbestimmte Geschichten, denen die alten Frauen am Kamin nachsannen und von denen einige bis in die Zeit des Hexenwahns zurückreichten; doch wie so viele ähnliche lokale Sagen gerieten auch diese allmählich in Vergessenheit, und man wußte nur noch zu berichten, daß der Wald der »Billingtonwald« war und daß die Berge »Mr. Billington« gehörten, ebenso wie der umliegende Grund und Boden einschließlich des Herrenhauses, welches man zwar nicht sehen konnte, das aber gleichwohl noch da war, tief in jenem Walde und, wie man sagte, auf einer lieblichen Anhöhe gelegen, »in der Nähe des Turms und des Kreises aus Steinen«. Die knorrigen alten Bäume schreckten alle Neugierigen ab, der dunkle Wald lockte keinen Wanderer an, nicht einmal die Horde derer, die auf der Suche nach alten Bräuchen, Sagen und Haushaltsgegenständen waren und die es unter anderen Umständen wohl auch zum alten Billingtonhaus gezogen hätte. Man mied den Wald; kam dort gelegentlich ein Reisender vorbei, so beschleunigte er seine Schritte, von einer seltsamen, unerklärlichen Aversion und von allerlei unguten Vorstellungen getrieben, ließ den Wald ohne Bedauern hinter sich und gelangte sicher zu Hause an, sei es nun, daß er aus Arkham, Boston oder aus einem der entlegenen Weiler in Massachusetts stammte.

An den »alten Billington« erinnerte man sich noch, denn von ihm hatte man aus dem Munde betagter, längst verstorbener Arkhamer erfahren. Alijah Billington war sein Name gewesen, und sein Status der eines Landedelmannes, wie es sie im frühen 19. Jahrhundert gab. Er hatte sich in jenem Haus niedergelassen, das vor ihm seinem Großvater und vor diesem seinem Urgroßvater gehört hatte; und im Alter war er ins Land seiner Vorfahren, in die Gegend südlich von London, England, zurückgekehrt. Von da an hörte man nichts mehr von ihm, obwohl die Steuern pünktlich von einer Rechtsanwaltsfirma bezahlt wurden, deren Adresse in der Middle Temple Lane der Sage vom alten Billington etwas Nobles verlieh. Die Jahrzehnte vergingen, wie es so ihre Art ist; Alijah Billington wurde vermutlich zu seinen Ahnen versammelt, ebenso wie seine Rechtsanwälte; als gleichermaßen sicher konnte gelten, daß Alijahs Sohn Laban volljährig wurde und die Söhne der Rechtsanwälte seines Erzeugers es ihren Vätern gleichtaten, denn obwohl die Dekaden verstrichen, wurde das Geld, das zur Begleichung der dem verlassenen Besitz jährlich auferlegten Steuersumme erforderlich war, regelmäßig über eine New Yorker Bank eingezahlt, und der Besitz trug weiterhin den Namen Billington, wenn auch irgendwann um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert das Gerücht aufkam, daß der letzte männliche Billington – also zweifellos Labans Sohn – keinen männlichen Erben hinterlassen habe und die Linie von seiner Tochter fortgeführt werde, deren Namen man nicht wußte und die man lediglich als eine »Mrs. Dewart« kannte, doch dieses Gerücht interessierte keinen der Einwohner von Arkham und geriet bald wieder in Vergessenheit, denn was bedeutete ihnen schon eine Mrs. Dewart, die sie nie zu Gesicht bekommen hatten, im Vergleich zu den immer mehr verblassenden Erinnerungen an den alten Billington und seine »Geräusche«?

Das nämlich war es, woran man sich im Zusammenhang mit dem alten Billington erinnerte, und insbesondere erinnerten sich die Abkömmlinge einiger alter, wappentragender Familien daran, deren Gewohnheit es war, den ortsansässigen Landadel – sofern möglich – durch die Generationen zurückzuverfolgen. Doch so wirkungsvoll hatte der Zahn der Zeit genagt, daß keine bestimmte Geschichte mehr übrigblieb; man erzählte lediglich, daß in den bewaldeten Bergen, wo Billington wohnte, bei Einbruch der Dämmerung und des Nachts oft Geräusche zu hören gewesen seien, wußte aber nicht, ob Alijah selbst dafür verantwortlich war oder ob sie aus anderer Quelle stammten. Um die Wahrheit zu sagen: Alijah Billington wäre schon längst völlig vergessen, hätte es nicht den unheimlichen Wald mit seiner wilden, üppigen Vegetation und das tief im Herzen des Waldes verborgene, in der Nähe des Hauses gelegene Sumpfland gegeben, aus dem in Frühlingsnächten ein derartiges Froschkonzert aufstieg, wie es nirgendwo sonst im Umkreis von hundert Meilen zu hören war, und von dem im Sommer ein fast unnatürliches Leuchten ausging, welches in schwülen Nächten über die tiefhängenden Wolken flackerte und tanzte und das nach allgemeiner Auffassung von den unzähligen Glühwürmchen kam, die dort, zusammen mit den Fröschen und diversen anderen Tieren und Insekten, seit unvordenklichen Zeiten lebten. Die Geräusche hatten nach Alijah Billingtons Abreise aufgehört, doch die Frösche quakten nach wie vor, die Glühwürmchen leuchteten mit unverminderter Kraft, und auch der in Sommernächten zu vernehmende Chor der Ziegenmelker wurde nicht im geringsten leiser.

Nachdem das alte Herrenhaus so viele Jahre leergestanden hatte, wurde die an einem Märztag des Jahres 1921 bekanntwerdende Neuigkeit, daß es wieder bewohnt werden sollte, von den Bewohnern der Umgegend mit wachsender Neugier und großem Interesse aufgenommen. In den Spalten des Arkhamer Advertiser erschien eine Notiz, in der kurz und bündig mitgeteilt wurde, daß Mr. Ambrose Dewart für die Reparatur- und Renovierungsarbeiten am »Billingtonhaus« Hilfskräfte benötige und Interessenten ihn in seinem Zimmer im Hotel Miskatonic erreichen würden; dieses Hotel war eigentlich eine Art Wohnheim der Miskatonic University und befand sich auf deren Gelände, mit Blick auf den großen Innenhof. Mr. Ambrose Dewart erwies sich als mittelgroßer Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht; das hervorstechendste Merkmal an ihm war sein kranzartig vom Kopf abstehendes, rotes Haar, das den Eindruck erweckte, er trage eine Tonsur; sein Blick war scharf, seine Lippen schmal; außerdem war er überaus korrekt und besaß eine trockene Art von Humor, die auf die Handwerker, die er in Ehenst nahm, einen günstigen Eindruck machte.

Bevor der nächste Tag angebrochen war, wußten die Arkhamer, daß Ambrose Dewart tatsächlich der direkte Nachkomme von Alijah Billington war; daß er eine Pilgerfahrt zu den Gestaden des Landes gemacht hatte, das drei Generationen lang – wenn nicht länger – die Wahlheimat seiner Vorfahren gewesen war, und daß er jetzt beabsichtigte, sich ebenfalls hier niederzulassen. Er war ein Mann in den Fünfzigern, von bräunlicher Hautfarbe, und hatte seinen einzigen Sohn im Großen Krieg verloren. Da er keine anderen Kinder hatte, hatte er Amerika als Hafen angesteuert, in dem er den Rest seiner Tage verbringen wollte. Vor vierzehn Tagen war er in Massachusetts angekommen, um seinen Besitz in Augenschein zu nehmen; was er dort vorgefunden, stellte ihn offensichtlich zufrieden, denn er hatte bereits Pläne gemacht, um dem alten Haus all seine frühere Pracht wiederzugeben; allerdings stellte er bald fest, daß sich einige seiner Modernisierungswünsche gegenwärtig nicht realisieren ließen, so zum Beispiel der Anschluß ans Elektrizitätsnetz, denn die nächste Hauptleitung war mehrere Meilen entfernt, und bevor Strom gelegt werden konnte, mußten erst noch bestimmte technische Probleme gemeistert werden. Doch was seine übrigen Pläne betraf, gab es keinen Grund für einen Aufschub, und das ganze Frühjahr über wurde fleißig gearbeitet, das Haus instand gesetzt, eine Straße angelegt, die zum Haus und von dort zur anderen Seite des Waldes führte, und im Sommer nahm Mr. Ambrose Dewart es offiziell in Besitz, gab sein Quartier in Arkham auf und entließ die Handwerker mit einer großzügigen Gratifikation. Diese kehrten in ihre Heimatorte zurück, erfüllt von Ehrfurcht und Staunen über die Einrichtung des alten Billingtonhauses und seine Ähnlichkeit mit dem Craigie House in Cambridge, wo der Dichter Longfellow lange gewohnt hatte; über die wundervolle alte Treppe mit ihren eindrucksvollen Schnitzereien und das Arbeitszimmer, das über zwei Stockwerke reichte und in dessen einer Wand sich ein großes, nach Westen gehendes Fenster aus vielfarbigem Glas befand; über die Bibliothek, die in all den Jahren von keiner menschlichen Hand angerührt worden war; und über die verschiedenartigen Gerätschaften und Gegenstände, von denen Mr. Dewart gesagt hatte, sie seien von großem Wert für jeden, der sich an alten Dingen erfreuen könne.

Bald begann man, allerlei zu munkeln, und binnen kurzem grub man gezielt bestimmte Erinnerungen an den alten Billington aus, der, hieß es, seinem Nachkommen äußerlich nicht unähnlich gewesen sei. Während die Spekulationen blühten, wurde aus der Dunwicher Gegend wieder einmal die Geschichte von den »Geräuschen« kolportiert, die der alte Billington verursacht hatte, und noch verschiedene andere Geschichten nicht ganz geheurer Natur wurden im Flüsterton herumerzählt, obwohl niemand ihre Quelle anzugeben vermochte; man wußte nur, daß sie aus jenem Teil des Dunwicher Gebietes gekommen waren, in dem die Whatelys und die Bishops und einige der letzten wappentragenden Familien lebten, in unterschiedlichen Stadien des Verfalls und der Degeneration. Denn auch die Whatelys und die Bishops lebten seit vielen Generationen in dieser Region von Massachusetts, und ihre Ahnenreihe reichte nicht nur bis zur Zeit des alten Billington, sondern sogar bis zu der des allerersten Billington zurück – dem, der das Herrenhaus mit dem »Rosettenfenster« (wie sie es fälschlicherweise nannten) gebaut hatte; und man nahm an, daß die Geschichten, die sie erzählten, von Generation zu Generation weitergegeben worden waren und der Wahrheit zumindest nahekamen, wenn sie auch nicht exakt den Tatsachen entsprachen, so daß sich das Interesse für den Billingtonwald und für die Person Mr. Dewarts unverzüglich neu belebte.

Ambrose Dewart indes war sich der Spekulationen und des Geredes, zu denen sein unvermutetes Auftauchen Anlaß gegeben hatte, glücklicherweise nicht bewußt. Er war ein Einzelgänger und genoß die ihn jetzt umgebende Einsamkeit in vollen Zügen; als erstes beschloß er, sich über die Vorzüge seines Besitzes so gründlich wie möglich zu informieren, und dieser Aufgabe widmete er sich voller Eifer, obwohl er, um die Wahrheit zu sagen, kaum wußte, wo er anfangen sollte. Seine Mutter hatte ihm so gut wie nichts über seinen Besitz erzählt und ihm lediglich mitgeteilt, daß der Familie im »Gemeinwesen von Massachusetts« »etwas Land« gehöre, das zu verkaufen »unklug« wäre und das immer im Besitz der Familie bleiben müsse; im Falle, daß ihm und/oder seinem Sohn etwas passierte, sollte es an seinen Cousin in Boston, Stephen Bates, gehen, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Darüber hinaus lagen ihm nur einige rätselhafte Instruktionen vor, die offensichtlich von jenem Alijah Billington auf ihn gekommen waren, der diesen Besitz verlassen und sich nach England aufgemacht hatte, eine Reihe von Anweisungen, die Ambrose Dewart sich in keiner Weise erklären konnte, möglicherweise deshalb, weil er mit seinem Besitz noch nicht vertraut genug war.

Er wurde zum Beispiel angewiesen, »das um die Insel fließende Wasser nicht in seinem Lauf zu hemmen«, »sich nicht am Turm zu schaffen zu machen«, »die Steine nicht anzurufen«, »die Tür nicht zu öffnen, die in eine fremde Zeit und an einen fremden Ort führt«, und auch »am Fenster keine Veränderungen vorzunehmen«. Diese Instruktionen sagten Dewart nichts, faszinierten ihn jedoch, und nachdem er sie einmal gelesen hatte, konnte er sie nicht mehr vergessen, immer wieder fielen sie ihm ein und gingen ihm durch den Kopf wie ein Rätsel und stachelten ihn auf diese hinterhältige Weise an, im Haus und im Wald, in den Bergen und im Sumpfland herumzusuchen und herumzustöbern, bis er schließlich entdeckte, daß das Herrenhaus nicht das einzige Gebäude auf seinem Grund und Boden war, sondern daß es dort auch einen sehr alten Steinturm gab, auf einer Anhöhe, die früher einmal eine kleine Insel inmitten eines Flusses gewesen zu sein schien, der vordem, aus den Bergen kommend, einen Nebenlauf des Miskatonic gebildet hatte, seit langem aber ausgetrocknet war und nur noch im Frühjahr Wasser führte.

Diese Entdeckung machte er an einem Spätnachmittag im August, und er war sofort überzeugt, daß dies der in den Instruktionen seines Vorfahren erwähnte Turm sei. Deshalb sah er ihn sich genau an und stellte fest, daß es ein zylindrischer Steinturm mit konischem Dach war; das Ganze hatte einen Durchmesser von vielleicht zwölf Fuß und war etwa zwanzig Fuß hoch. Früher hatte sich an der Spitze offenbar eine große gewölbte Öffnung befunden, die darauf schließen ließ, daß der Turm ursprünglich kein Dach gehabt hatte, aber diese Öffnung hatte man zugemauert. Dewart, der einiges von Architektur verstand, war von diesem Bauwerk sehr angetan, denn auch ein ungeübtes Auge vermochte zu erkennen, daß die Steine äußerst alt waren, wohl sogar älter als das Haus. Er trug ein kleines Vergrößerungsglas bei sich, mit dessen Hilfe er einige sehr alte lateinische Texte aus seiner Bibliothek studiert hatte, und damit untersuchte er jetzt das Mauerwerk und entdeckte, daß es behauen war und eine merkwürdige, unbekannte Technik erkennen ließ, zu der auch die Verwendung augenscheinlich geometrischer Muster gehörte, ähnlich denen, die in größerem Format in die Steine eingeritzt waren, mit denen man die Bogenöffnung zugemauert hatte. Außerordentlich faszinierend waren auch die bemerkenswert dicken Grundmauern des Turms, die den Eindruck erweckten, tief in die Erde eingelassen zu sein; doch das, überlegte Dewart, mochte auch daran liegen, daß sich der Boden seit Alijah Billingtons Zeit gehoben hatte.

Hatte also Alijah den Turm gebaut? Das Bauwerk schien, zumindest teilweise, älter zu sein, und da sich das so verhielt, wer hatte es dann errichtet? Diese Frage interessierte Dewart, und da er bereits festgestellt hatte, daß sich zwischen den Büchern in der Bibliothek seines Vorfahren auch viele alte Dokumente befanden, wagte er zu hoffen, darin irgendeinen Hinweis auf den Turm zu finden, und um das herauszufinden, machte er sich schließlich auf den Rückweg, nicht jedoch ohne vorher aus einer gewissen Entfernung den Turm noch einmal betrachtet zu haben; erst da fiel ihm auf, daß dieser von Steinen umgeben war, die früher einmal einen Kreis gebildet haben mußten, der zu seinem Entzücken in vieler Hinsicht den aus der Druidenzeit stammenden Ruinen von Stonehenge ähnelte. Es war deutlich zu erkennen, daß auf beiden Seiten der kleinen Insel einmal Wasser geflossen war, und das offenbar in größerer Menge, denn die Erosionsspuren waren noch zu sehen, ungeachtet des sich überall ausbreitenden dichten Gestrüpps und trotz der unvermeidlichen Abtragungen durch Regen und Wind, die sich im Gegensatz zu den ziemlich abergläubischen Einheimischen von dieser Örtlichkeit nicht abschrecken ließen.

Dewart beeilte sich, ohne zu hasten. Es dämmerte bereits, als er das Haus erreichte, was hauptsächlich daran lag, daß er das Sumpfland umgehen mußte, das zwischen dem Turm und der Anhöhe lag, auf der das Haus stand. Er bereitete sich eine Mahlzeit, und während er aß, überlegte er, wie er mit den Nachforschungen, denen jetzt sein Interesse galt, am besten beginnen könne. Die Dokumente, die im Arbeitszimmer lagen, waren größtenteils sehr alt; es wäre unmöglich, manche davon zu lesen, denn sie würden sofort zu Staub zerfallen. Glücklicherweise bestanden vereinzelte Blätter jedoch aus Pergament und ließen sich somit anfassen, ohne daß man zu befürchten brauchte, sie dadurch zu zerstören, und da war auch ein kleines, ledergebundenes Buch, auf dem in kindlicher Handschrift »Laban B.« stand, vermutlich der Sohn jenes Alijah, der vor mehr als einem Jahrhundert von hier nach England übergesiedelt war. Nach reiflicher Überlegung beschloß Dewart, mit dem Tagebuch des Knaben – denn als solches erwies es sich – zu beginnen.

Er las beim Licht einer Petroleumlampe, denn das Elektrizitätsproblem war im Sumpf der Bürokratie untergegangen, in irgendeinem entlegenen Winkel des Staates, von wo man ihm versprochen hatte, daß sich eines Tages eine praktikable Lösung finden würde. Das Lampenlicht und der gelbe Schein vom Kamin – denn da die Nacht etwas kühl war, hatte er Feuer gemacht – verliehen dem Arbeitszimmer eine behagliche Atmosphäre, und Dewart war bald ganz in die Vergangenheit versunken, die aus dem Gekritzel auf den vergilbten Seiten vor ihm aufstieg. Das Kind, Laban, bei dem es sich, wie Dewart schlußfolgerte, um seinen Urgroßvater handelte, war offensichtlich frühreif, denn zu Beginn des Buches wurde sein Alter mit neun angegeben und am Schluß, wie Dewart durch Nachschlagen herausfand, mit elf; und er hatte zweifellos eine gute Beobachtungsgabe, insofern als sich seine Aufzeichnungen nicht nur mit den Geschehnissen des täglichen Lebens befaßten.

Bald wurde deutlich, daß der Junge keine Mutter mehr hatte und daß sein einziger Gefährte ein Indianer zu sein schien, ein Narragansett, der in Alijah Billingtons Diensten stand. Sein Name wurde mal mit Quamus, mal mit Quamis angegeben – offenbar war sich der Junge nicht sicher, wie er lautete –, und altersmäßig stand er Alijah augenscheinlich näher als dem Jungen, denn die respektvolle Haltung, die Laban in seinen mit großer Schrift verfaßten Aufzeichnungen an den Tag legte, wäre unangemessen gewesen, hätte es sich um einen gleichaltrigen Gefährten gehandelt. Das Tagebuch begann mit einer Aufzählung der täglichen Aufgaben des Knaben, doch nachdem er sie einmal aufgelistet hatte, kam er in der Folge nur darauf zurück, um ihre Erledigung zu melden. Statt dessen berichtete er, was er in den wenigen Stunden des Nachmittags gemacht hatte, in denen er vom Lernen befreit war und in denen er nach Belieben durch das Haus oder – vorausgesetzt, daß der Indianer ihn begleitete – durch die Wälder streifen durfte, obwohl er schrieb, daß man ihm davon abgeraten hatte, sich weit vom Haus zu entfernen.

Der Indianer war offensichtlich entweder sehr schweigsam und verschlossen, oder er war äußerst redselig und erzählte dem Jungen einige der Sagen seines Stammes; dem Jungen, einem phantasievollen Kind, machte es Spaß, mit dem Indianer zusammenzusein, ganz gleich, wie dessen Stimmung war, und gelegentlich gab Laban in seinem Tagebuch etwas von den Geschichten wieder, die sein Gefährte ihm erzählt hatte, der, wie im Laufe des Berichts klar wurde, für Alijah auch irgendwelche Arbeiten verrichtete, »in der Zeit nach dem Abendessen«.

Ungefähr in der Mitte des Tagebuches war eine Lücke; mehrere Seiten waren herausgerissen und nicht ersetzt worden, so daß es einen Zeitraum gab, über den in Labans Aufzeichnungen keine Rechenschaft abgelegt wurde. Unmittelbar darauf folgte unter dem Datum vom 17. März (das Jahr wurde nicht angegeben) ein Eintrag, den Dewart mit steigendem Interesse und immer größer werdender Nachdenklichkeit las, da das Fehlen der vorhergehenden Seiten die Suggestivität des Berichts noch verstärkte.

»Heute gingen wir nach der letzten Lernstunde hinaus in das Schneegestöber, und Quamis ging um den Sumpf herum, mich aber ließ er zurück, und ich mußte auf einem umgestürzten Baumstamm auf ihn warten, was mir nicht sehr gefiel, und deshalb kam ich zu dem Schluß, daß es genausogut, wenn nicht besser wäre, ihm zu folgen; also ging ich den Spuren nach, die er im frischgefallenen Schnee hinterlassen hatte, der letzte Nacht niedergegangen war, und bald darauf sah ich ihn wiederum da, wo Vater uns verboten hat hinzugehen, am Ufer des Flusses gegenüber dem Ort, wo der Turm steht. Er kniete und hatte die Arme erhoben, und er sagte mit lauter Stimme in seiner Sprache Worte, die ich nicht verstehen konnte, da er mir zu wenig davon beigebracht hat, die sich aber anhörten wie Narlato oder Narlotep. Ich wollte ihn gerade rufen, da sah er mich schon, und sofort erhob er sich, kam zu mir, nahm mich bei der Hand und führte mich von jenem Ort weg; darauf fragte ich ihn, ob er gebetet oder was er sonst gemacht habe und warum er nicht in der Kapelle bete, die die Männer der weißen Rasse gebaut hatten, die als Missionare bei seinem Volk waren; doch darauf gab er keine Antwort und sagte nur, daß ich meinem Vater nicht erzählen dürfe, wo er gewesen sei, damit er, Quamis, nicht bestraft würde, weil er gegen den Befehl seines Herrn zu jenem Ort gegangen war. Doch da dieser Ort zwischen den Felsen öde und wegen des Wassers drumherum unzugänglich ist, hat er für mich nichts Anziehendes, was immer Quamis daran finden mag, das ihn gegen den Wunsch meines Vaters dort hinzieht.«

Die Eintragungen für die nächsten zwei Tage berichteten nur von alltäglichen Dingen, doch dann folgte ein vorsichtig formulierter Satz, der darauf schließen ließ, daß Alijah den Verstoß des Indianers entdeckt und diesen bestraft hatte, wie, wurde nicht vermerkt. Nach sieben weiteren Eintragungen wurde der »verbotene Ort« abermals erwähnt; diesmal waren der Junge und der Indianer in einen plötzlichen Schneesturm geraten und hatten sich verlaufen. Sie irrten in diese und jene Richtung, der Schnee ging in dichten Flocken nieder und fiel auf einen Boden, den die Spätmärzsonne aufgeweicht hatte, Schnee wehte ihnen in die Augen, und dann »gelangten wir plötzlich an einen Ort, der mir unbekannt war, aber Quamis stieß einen lauten Schrei aus und versuchte, mich wegzuziehen, und ich sah, daß wir zu dem Bach gekommen waren, der um die Insel mit den Steinen und dem Turm fließt, doch diesmal hatten wir uns ihr von der anderen Seite genähert. Wie wir dort hingekommen waren, wußte ich nicht, denn wir waren in entgegengesetzter, östlicher Richtung aufgebrochen, weil wir rüber zum Miskatonic wollten; vielleicht lag es daran, daß der so plötzlich einsetzende Schneefall uns derart verwirrt hatte. Die große Hast und die offenkundige Angst, die Quamis an den Tag legte, veranlaßten mich erneut, ihn zu fragen, warum er so verstört sei, aber er antwortete nur wie zuvor, daß mein Vater ›es nicht wünsche‹ – das heißt, er will nicht, daß ich dieses Gebiet betrete, obwohl ich sonst überall auf seinem Land nach Belieben umherstreifen und sogar nach Arkham gehen darf; allerdings ist mir untersagt, in Richtung Dunwich oder Innsmouth zu gehen, und in dem indianischen Dorf, das in den Bergen hinter Dunwich liegt, darf ich mich auch nicht aufhalten.«

Danach wurde der Turm nicht mehr erwähnt, doch dafür gab es andere merkwürdige Passagen. Drei Tage nach dem Eintrag über den plötzlichen Schneesturm berichtete der Junge von rasch einsetzendem Tauwetter, welches »die Erde vom Schnee befreite«. Und in jener Nacht wurde er, wie er am nächsten Morgen niederschrieb, »von seltsamen Geräuschen in den Bergen aus dem Schlaf gerissen, wie laute Schreie klangen sie, und ich sprang aus dem Bett und ging zuerst zum östlichen Fenster, sah aber nichts, und dann zum südlichen Fenster, wo ich ebenfalls nichts sah; nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, schlich ich aus meinem Zimmer und durchquerte die Halle und klopfte an die Tür meines Vaters, doch er gab keine Antwort, und da ich glaubte, er hätte mich nicht gehört, wagte ich es, die Tür zu öffnen und sein Zimmer zu betreten, wo ich direkt zu seinem Bett ging, doch er lag nicht darin, und nichts wies darauf hin, daß er es in dieser Nacht benutzt hatte, was mich alles’sehr beunruhigte; und als ich zufällig aus dem Westfenster seines Zimmers blickte, bemerkte ich eine Art blaues oder grünes Leuchten, das über den Bäumen in der westlich gelegenen Bergsenke zu sehen war, worüber ich mich sehr verwunderte, denn aus ebendieser Richtung schienen die Laute, die ich gehört hatte, gekommen zu sein und immer noch zu kommen – gellende Schreie gewissermaßen, aber nicht von Menschen herrührend und auch nicht von irgendeiner mir bekannten Tierart; und während ich dort am halboffenen Fenster stand, vor Angst und Staunen wie versteinert, war mir, als kämen aus weiter Ferne, von Dunwich oder Innsmouth her, andere, ähnliche Stimmen und hallten hoch oben am Himmel wie gewaltige Echos wider. Kurze Zeit später hörten die Geräusche auf, und auch das Leuchten am Himmel verschwand, und ich ging wieder zu Bett; doch als Quamis heute morgen kam, fragte ich ihn, woher der Lärm in der Nacht gekommen sei, worauf er entgegnete, daß ich geträumt hätte und nicht wüßte, wovon ich redete, und daß ich ihm nichts davon sagen und die Sache für mich behalten sollte; deshalb erzählte ich ihm nicht, was ich gesehen hatte, denn er schien von meinen Worten wahrlich sehr beunruhigt, als fürchtete er, mein Vater würde hören, was ich sagte. Ich wollte schon darauf zu sprechen kommen, daß ich mir Sorgen um meinen Vater machte, doch dem, was Quamis sagte, entnahm ich, daß mein Vater im Haus war und sich wohl in seinem Zimmer ausschlief; deshalb verfolgte ich die Sache nicht weiter, sondern tat so, als vergäße ich, was ich gehört und gesehen, genau wie Quamis mir geraten hatte, worauf dieser erleichtert und nicht mehr so beunruhigt schien.«

Danach bezogen sich Labans Eintragungen volle vierzehn Tage lang nur auf alltägliche Dinge, wie zum Beispiel seinen Lernstoff und seine Lektüre. Dann folgte erneut ein rätselhafter Hinweis, kurz und bündig formuliert: »Die Geräusche scheinen wirklich mit eigentümlicher Beharrlichkeit von Westen zu kommen, aber zweifellos sind aus östlich-nordöstlicher Richtung auch Antwortschreie zu hören, das heißt von Dunwich her beziehungsweise der wilden Gegend um Dunwich.« Dann wiederum, vier Tage später, schrieb der Junge, daß er, kaum daß man ihn zu Bett gebracht hatte, wieder aufgestanden sei, um den Untergang des Neumonds zu beobachten, und dabei seinen Vater vor dem Haus erblickt habe. »Quamis war bei ihm, und beide trugen etwas, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Binnen kurzem verschwanden sie, in östlicher Richtung gehend, um die Hausecke, und ich lief hinüber ins Zimmer meines Vaters, um sie weiterhin zu beobachten, sah sie aber nicht mehr, obwohl ich die Stimme meines Vaters im Walde widerhallen hörte.« Später in der Nacht weckten ihn wieder »laute Geräusche, wie zuvor, und lauschend lag ich im Bett und stellte fest, daß es sich manchmal um eine Art Gesang handelte und manchmal um ausdruckslose schreckliche Schreie, die zu hören nicht angenehm war«. Zahlreiche ähnliche Eintragungen folgten, und so ging es fast ein Jahr lang.

Die vorletzte Eintragung war äußerst rätselhaft. Die ganze Nacht hatte der Junge die »lauten Geräusche« in den Bergen gehört, und ihm schien, daß alle Welt diese in der brütenden Finsternis aufsteigenden Stimmen hören müsse; als er am Morgen »Quamis nicht sah, fragte ich nach ihm und erfuhr, daß Quamis ›weggegangen‹ sei und nicht wiederkommen würde, und überdies, daß vor Einbruch der Nacht auch wir abreisen und sehr wenig Gepäck mitnehmen würden, und mir wurde befohlen, mich fertigzumachen. Mein Vater schien es furchtbar eilig zu haben wegzukommen, obwohl er nicht sagte, wohin wir fahren würden; doch ich nahm an, daß es nach Arkham ginge oder im Höchstfall vielleicht nach Boston oder Concord, stellte aber keine Fragen und beeilte mich zu gehorchen; was ich mitnehmen sollte, wußte ich nicht, versuchte aber, Dinge zu wählen, die ich für einen Besuch am meisten brauchen würde, zum Beispiel saubere Hosen und dergleichen. Die Hast meines Vaters verwunderte mich sehr, und auch daß er der Zeit solche Bedeutung beimaß, erstaunte mich, denn er legte großen Wert darauf, das Haus nicht später als Mitte des Nachmittags zu verlassen, und sagte, daß er vor unserer Abreise noch ›eine Menge zu erledigen« habe; nichtsdestoweniger fand er Zeit, mich mehrere Male zu fragen, ob ich fertig sei, ob ich schon gepackt hätte etc.«

Der letzte Eintrag, auf den noch einige leere Seiten folgten, war an jenem Nachmittag gemacht worden. »Mein Vater sagt, wir reisen nach England. Wir werden über den Ozean segeln und in jenem Land Verwandte besuchen. Jetzt ist es Mitte des Nachmittags, und mein Vater ist fast fertig.« Dem hatte er in fast herausfordernd wirkender, schwungvoller Schrift hinzugefügt: »Dies ist das Tagebuch von Laban Billington, dem Sohn von Alijah und Lavinia Billington, der heute in einer Woche elf Jahre alt wird.«

Etwas verwirrt, doch erfüllt von brennender Neugier schloß Dewart das Buch. Hinter den verständnislosen Worten, die der Junge da niedergeschrieben hatte, verbarg sich ein bedeutendes Geheimnis, von dem der Knabe unglücklicherweise nicht genug mitbekommen hatte, um Dewart auch nur die Spur eines Anhaltspunktes zu liefern. Aus dem dürftigen Bericht ging jedoch hervor, warum man das Haus verlassen hatte, ohne sich in angemessener Weise um die Bücher und Dokumente zu kümmern, denn der überstürzte Aufbruch von Alijah und seinem Sprößling hatte jenem keine Zeit gelassen, für seine lange Abwesenheit Vorbereitungen zu treffen. Allerdings wies nichts darauf hin, daß Alijah für immer wegzubleiben gedachte, doch mußte er zumindest mit dieser Möglichkeit gerechnet haben, so wenig er auch mitnahm. Dewart nahm das Buch wieder auf, blätterte es rasch durch und las diesen und jenen Abschnitt noch einmal, und dergestalt stieß er auf eine weitere mysteriöse Eintragung, die er beim erstenmal übersehen hatte, weil sie Teil einer längeren Passage war, in der Laban mit ziemlicher Ausführlichkeit einen Besuch schilderte, den er in Begleitung des Indianers Quamis der Stadt Arkham abgestattet hatte. »Ich war nicht schlecht erstaunt, als ich feststellte, daß man uns überall mit großem Respekt und merklicher Furcht behandelte; die Kaufleute waren unterwürfiger, als ich es bei Kaufleuten für angebracht gehalten hätte, und selbst Quamis wurde nicht behelligt, wie es den Indianern in Städten bisweilen widerfährt. Ein- oder zweimal bemerkte ich, wie sich alte Frauen etwas zuflüsterten, und ich hörte den Namen ›Billington‹ heraus, in einem solchen Tonfall ausgesprochen, daß ich mich besorgt fragte, ob es vielleicht kein guter Name sei, wenn diese Damen ihn so voller Mißtrauen und Argwohn aussprachen, in einem Tonfall, der zu deutlich war, als daß man ihn hätte mißverstehen können, ich am allerwenigsten, obwohl es so scheinen mag, daß ich, wie Quamis auf dem Heimweg sagte, das Opfer meiner Einbildungen und Ängste bin.«

Man »fürchtete« also den alten Billington beziehungsweise mochte ihn nicht, ebenso wie jeden, der irgendwie mit ihm in Verbindung stand. Diese zusätzliche Entdeckung versetzte Dewart fast in fiebrige Erwartung; seine Suche unterschied sich derart von den üblichen genealogischen Abenteuern, daß er entzückt war; hier gab es ein Geheimnis, etwas Dunkles, Unergründliches, etwas, was außerhalb des Alltäglichen lag; und angespornt durch diese Kostprobe des Geheimnisses, wurde Dewart vom Jagdfieber gepackt.

Gespannt wandte er sich dem Wust von Papieren und Dokumenten zu, sah sich aber bald aufs heftigste enttäuscht, denn die meisten schienen sich auf Baumaterialien und deren Bezahlung zu beziehen, und bei einigen handelte es sich um Rechnungen für Bücher, die Alijah Billington von Händlern in London, Paris, Prag und Rom gekauft hatte. Seine Enttäuschung hatte fast ihren Tiefpunkt erreicht, als er zufällig auf ein Dokument stieß, das mit krakeliger Handschrift geschrieben und nur zum Teil lesbar war und die fesselnde Überschrift trug Von Bösen Zaubereyen Die da geschehen in Neu-Engelland von Dämonen So keine Menschen Gestalt haben. Der Text schien aus einem Bericht abgeschrieben worden zu sein, dessen Original nicht mehr vorhanden war, und es war deutlich, daß man nicht das ganze Original abgeschrieben hatte, und nicht alle abgeschriebenen Sätze waren noch lesbar. Doch im großen und ganzen war das Dokument einigermaßen lesbar, und mit beträchtlicher Mühe konnte Dewart es entziffern. Er las es langsam, oft an undeutlichen Stellen innehaltend, und der Inhalt faszinierte ihn so sehr, daß er Federhalter und Papier nahm und anfing, ihn mühselig abzuschreiben. Er begann offenbar mitten im Original.

»Doch um nicht über die Maßen zu verweilen bey solch schröcklicher Materie, will ich nur noch referieren, was allenthalb erzählet wird über ein Begebniß in Neu-Dunnich, so sich zutrug vor funffzig Jahren, da Mr. Bradford als Gouverneur amtete. ’s heißet, daß ein gewisser Quidam, Richard Billington des Namens, der von Gottlosen Büchern wie auch durch einen alten indian’schen Hexenmeister unterwiesen worden war, solcher Art abfiel vom guten Christlichen Glauben, daß er nicht nur Anspruch erhob, unsterblich zu seyn im Fleische, sondern errichtete in den Wäldern einen großen Ring auß Steinen, darinnen er zum TEUFEL betete, an der Stätte des Dagon nämlich, und incantirete zaubrische Sänge, nach der SCHRIFT ein Greuel. Als solches dem Magistrat zur Kenntnis gebracht ward, stritt selbiger Billington jegliches blasphemische Thun ab; doch nicht lange hernach bezeigteer insgeheim große Furcht vor einem WESEN, welches er des Nachts aus dem Himmel geruffen. In jenem Jahr wurden sieben gemordet gefunden in den Wäldern, nahe Richard Billingtons Steinen, und waren die Erschlagenen so zermalmt und halb aufgelöset, wie man noch nie gesehen. Als die Rede ging von einem Proceß, verschwand besagter Billington, und hat man seither nichts Gewisses von ihm gehört. Zwei Monate hernach hört’ man des Nachts eine Horde indian’scher Wilder, des Stammes der Wampanaug, in den Wäldern heulen und singen; und stellte sich heraus, daß sie den Ring auß Steinen wegnahmen und noch mancherlei Andres thaten. Denn ihr Anführer Misquamacus, selbiger alter Hexenmeister, von dem Billington etwelche Zaubereyen gelernet hatte, kam kurz hernach in die Stadt und erzählte Mr. Bradford manch wunderlich Ding: Nämlich, daß Billington schlimmeres Übel gewirkt, als wieder gutzumachen, und daß er ohn Zweyfel verschlungen worden von dem, was er vom Himmel geruffen. Daß es keinen Weg gab, jenes Ding, welches er beschworen, zurückzuschicken, und so hatte der Wampanaug-Zauberer es gefangen und eingekerkert dorten, wo der Ring aus Steinen gewesen.

Drei Ellen tieff hatten sie gegraben und zwey in der Breite, und dorten den Dämon hineingebannt mit Zaubersprüchen, die sie kannten; und deckten darüber« (hier folgte eine unleserliche Zeile) »worein geritzet war, was sie das Ältere Zeichen nannten. Hierauf« (wieder einige unleserliche Worte) »aus der Grube geholt hatten. Mit Nachdrücklichkeit sagte der alte Wilde, daß diese Stätte niemals und nimmer gestört werden dürfe, auf daß der Dämon nicht wieder freikäme, was er thäte, sofern der flache Stein mit dem Älteren Zeichen von der Stelle gerückt würde. Gefragt, wie der Dämon wohl aussehe, verhüllete Misquamacus sein Gesicht, so daß nur die Augen zu sehen, und gab dann einen sehr curieusen und umständlichen Bericht, sagte, daß er bisweilen klein und kompackt sey, wie eine große Kröte vom Umbfang vieler Murmeltiere, aber manchmal auch groß und verschwommen, von keiner festen Gestalt, doch mit eynem Gesicht, aus dem Schlangen wüchsen.

Er hatte den Namen Ossadogowah, was bedeutete« (dies war in ›bedeutet‹ umgeändert) »Sprößling des Sadogowah, welch selbiger soll ein schröcklicher Geist seyn, von dem die Alten sagten, er sey von den STERNEN gekommen und vorzeiten in Ländern des Nordens verehrt worden. Die Wampanaugs und die Nansets und die Nahrigansets verstanden es, ihn auß dem Himmel herbeyzuruffen, doch thaten es nie ob seiner gewaltigen Bosheit. Desgleichen wußten sie, wie er zu fangen und einzukerkern sey, doch konnten ihn nicht zurückschicken an den Ort, von wannen er kommen war. Es hieß, daß die alten Stämme der Lamah, so unter dem Großen Bären wohnten und vordem vernichtet worden ob ihrer Ruchlosigkeit, jegliche Macht über ihn gehabt hätten. Viele anmaßende Männer gaben vor, Kunde zu haben von vielerlei Geheimnissen der Anderswelt, doch konnte hiesigen Ortes niemand beweisen, wahrlich solch Wissen zu besitzen. Manche sagten auch, daß Ossadogowah oft aus eigenem Willen in den Himmel zurückkehrte, ohne geschickt worden zu seyn, doch könne er nicht zurückkommen, es sey denn, er werde geruffen.

Ein Dieses berichtete der alte Zauberer Misquamacus Mr. Bradford, und von der Zeyt an wurde ein großer Hügel in den Wäldern, nahe dem Teich südwestlich von Neu-Dunnich, stricte gemieden. Der Große Stein ist seit zwanzig Jahren verschwunden, doch der Hügel zeichnet sich auß durch den Umbstand, daß nichts, weder Gras noch Strauchwerk, dort wachsen will. Ernste Männer bezweifeln, daß der ruchlose Billington, wie die Wilden glauben, von dem verschlungen worden, was er aus dem Himmel geruffen, ungeachtet des, was Müßiggänger erzählen, so behaupten, er sey seither an mannigfaltigen Orten gesehen worden. Der Hexenmeister Misquamacus sagte, er zweyfle nicht, daß Billington sey geholet worden; er würde nicht meynen, daß selbiger verschlungen worden, wie Andere von denen Wilden glaubten, doch beteuerte er, daß Billington nicht länger auf Erden weile, wofür Gott zu dancken sey.«

Am Schluß dieses eigenartigen Dokuments fand sich eine Notiz, offenbar hastig hingekritzelt: »Siehe Rev. Ward Phillips, Thaum. Wun.« Dewart vermutete zu Recht, daß sich dieser Hinweis auf ein Buch in der Bibliothek bezog, und unverzüglich trug er seine Lampe zu den Regalen hinüber und begann, die Titel durchzusehen. Diese waren von bemerkenswerter Mannigfaltigkeit, und von den meisten hatte er noch nie gehört. Da stand Lullys Ars Magna et Ultima, Fludds Clavis Alchimiae, das Liber Ivonis, Albertus Magnus, Artephous’ Key of Wisdom, des Comte d’Erlette Cultes des Goules, Ludvig Prinns De Vermis Mysteriis sowie zahlreiche andere altersgraue Bände, die sich mit Philosophie, Thaumaturgie, Dämonologie, Kabbalistik, Mathematik und dergleichen befaßten, darunter auch mehrere Ausgaben von Paracelsus und Hermes Trismegistos, die die Spuren häufigen Gebrauchs trugen. Da diese Titel ihn faszinierten und es ihn immer wieder Überwindung kostete, nicht ein Buch nach dem anderen herauszunehmen und anzuschauen, brauchte Dewart geraume Zeit, bevor er den gesuchten Band fand, doch schließlich entdeckte er ihn in der hintersten Ecke eines Regals, das von seinem Sitzplatz um einiges entfernt war.

Das Buch trug den Titel Thaumaturgische Wunder-Zeichen in dem Neu-Englischen Canaan