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Seitdem die zwölfjährige Carla in eine andere Stadt gezogen ist, fühlt sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Ihre Eltern reden kaum noch miteinander und verbreiten schlechte Laune. Auch in der Schule läuft nicht alles glatt. Dabei ahnt sie nicht, dass sich bald ihr ganzes Leben verändern wird. Als sie ein Geheimnis entschlüsselt, entdeckt sie Lumera, eine andere Welt, in der merkwürdige Dinge geschehen, die sich Carla einfach nicht erklären kann. Hier findet sie neue Freunde und lernt die feenhafte Frau Magola kennen. Ohne es zu wollen, erlebt sie immer wieder neue Abenteuer und staunt nicht nur über ihre Erlebnisse, sondern auch über sich selbst.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Seitdem die zwölfjährige Carla in eine andere Stadt gezogen ist, fühlt sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Ihre Eltern reden kaum noch miteinander und verbreiten schlechte Laune. Auch in der Schule läuft nicht alles glatt. Dabei ahnt sie nicht, dass sich bald ihr ganzes Leben verändern wird.
Als sie ein Geheimnis entschlüsselt, entdeckt sie Lumera, eine andere Welt, in der merkwürdige Dinge geschehen, die sich Carla einfach nicht erklären kann. Hier findet sie neue Freunde und lernt die feenhafte Frau Magola kennen. Ohne es zu wollen, erlebt sie immer wieder neue Abenteuer und staunt nicht nur über ihre Erlebnisse, sondern auch über sich selbst.
Annegret Clauß arbeitete viele Jahre mit Kindern und Jugendlichen. Sie lebt in Berlin. „Das Tor Soluna“ ist ihr erster Roman.
Das Geheimnis des blauen Steins
Verirrung im Wisperwald
Vertrauen und Hoffnung
Der alte Mann und das Meer
Insel der Versuchung
Das
Leben
ist
bunt
Berg
der
Erkenntnis
Heimkehr
Möge es dir Freude bringen.
Vergiss nie an dich selbst zu glauben.
Alles Glück wünsche ich dir.
Carla lief gehetzt durch die Straßen und schaute sich hastig nach allen Seiten um. Obwohl der Tag längst begonnen hatte, war kein Mensch zu sehen. Auch die Fahrbahn wirkte wie leergefegt. Verzweifelt hoffte sie, von niemandem gesehen zu werden und rannte mit klopfendem Herzen weiter. Das Mädchen war bekleidet mit einem geblümten, rosafarbenen Nachthemd, welches durch den Rüschenkragen nicht unbedingt modischer wirkte. Zudem trug sie alte, viel zu große, braune Filzpantoffeln. Am liebsten würde Carla sich irgendwo verkriechen. Wenn andere mich so sehen, werden sie mich auslachen und verspotten, dachte sie beschämt. Ihre Beine wurden ganz schwer. Auch die großen Hausschuhe trugen dazu bei, dass Carla kaum vorwärtskam. Mit aller Kraft bemühte sie sich schneller zu werden.
Schweißgebadet wachte Carla auf. Schon wieder dieser schreckliche und ziemlich peinliche Traum! Sie schaute auf die Uhr. Nur noch zehn Minuten, dann musste sie aufstehen. Warum träume ich so oft, dass ich in einem Nachthemd durch die Straßen irre? Carla verdrehte die Augen. Seufzend schwang sie sich aus dem Bett und ging geradewegs, ohne dabei auf ihre Umgebung zu achten, zur Tür.
Weder sah sie den Ahornbaum direkt vor ihrem Fenster, dessen Äste sich leicht im Wind wiegten, noch wie sich einige der leuchtend bunten Blätter von den Zweigen lösten und in sanft schaukelnden Bewegungen langsam der Erde entgegen segelten. Die Morgendämmerung verhüllte den Baum und die dahinter liegenden Häuser in ein geheimnisvolles Licht.
Doch Carla schenkte dieser Stimmung keinerlei Beachtung.
Sie verließ ihr Zimmer, ohne zu ahnen, dass sie bald eine Welt voller Geheimnisse kennenlernen würde.
Am Frühstückstisch war nur das Klappern des Geschirrs zu hören. Lustlos biss Carla in ihr Marmeladenbrot. In ihr Handy vertieft, stellte sie fest, dass sich ihre früheren Freundinnen wieder nicht gemeldet hatten. Beide Eltern schauten kauend auf ihre Tablets.
Ihre Mutter sah auf und wandte sich ihrer Tochter zu.
„Beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule.“
Daraufhin hob ihr Vater den Kopf und schaute Carla fragend an.
„Ich hoffe, du hast genügend für die Mathearbeit gelernt?“
„Ja, ja, habe ich!“
Carla nahm ihre Brotdose und ging Richtung Flur. Frau Mertens schaute ihrer Tochter irritiert hinterher.
„Warum stehst du jetzt schon auf? Du hast kaum etwas gegessen.“
„Ich muss doch in die Schule!“, rief Carla verdrossen.
Hastig zog sie ihre Jacke an, schnappte ihre Schultasche und ging. Eilig,
mit einer dicken Wut im Bauch, lief sie die Straße entlang.
Meinen Eltern ist immer nur wichtig, dass ich gut in der Schule bin, und sonst interessiert sie nichts, stellte sie empört fest. Die beiden verhielten sich bereits seit einiger Zeit ziemlich eigenartig und redeten kaum miteinander.
Carla ging langsamer, denn sie hatte keine Lust in die Schule zu gehen. Zwar freute sie sich auf ihre neue Freundin Lilly, aber wenn sie an Anna aus ihrer Klasse dachte, die sie immerzu ärgerte, fühlte Carla sich unwohl.
Wie sehr vermisste sie ihre Freundinnen aus der ehemaligen Schule!
Vor acht Monaten war Carla mit ihren Eltern in diese Stadt umgezogen, weil ihr Vater hier gemeinsam mit einem Freund eine kleine Firma gegründet hatte. Sehnsüchtig hob das Mädchen den Kopf und seufzte.
Wenn nur ihr Großvater noch leben würde! Mit ihm hatte Carla immer viel Spaß gehabt. Er hatte sie zum Lachen gebracht und spannende Geschichten erzählt. Vor allem aber hatte er gut zuhören können, immer einen Rat gewusst und sie verstanden. Bei ihm konnte ich immer so sein, wie ich wirklich bin, erinnerte sich Carla wehmütig. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals.
Ihr Großvater war ein halbes Jahr vor ihrem Umzug gestorben. Er hatte Krebs gehabt, und alles war sehr schnell gegangen. Mit Schrecken wurde ihr bewusst, dass sie inzwischen immer weniger an ihn dachte. Wie konnte es sein, dass sie ihn langsam aber sicher vergaß, obwohl sie ihn so sehr gemocht hatte?
Inzwischen stand das Mädchen vor der Schule. Die letzten Schülerinnen und Schüler gingen gerade hinein. Carla beeilte sich, denn es war schon spät. Im Schulgebäude hörte sie einige Türen in das Schloss fallen, die letzten Stimmen wurden leiser, und plötzlich war alles still. Das Mädchen hastete durch den langen Flur und blieb vor der geschlossenen Tür ihres Klassenzimmers stehen.
Neben der Tür war ein Schild: Klasse 7a, Frau Nagel.
Carlas Herz hämmerte. Sie war noch nie zu spät zur Schule gekommen.
Zuerst holte sie tief Luft, dann riss sie die Tür auf und betrat widerstrebend das Klassenzimmer.
Ihre Klassenlehrerin, Frau Nagel, warf ihr einen strengen Blick zu, hob die Augenbrauen und sagte spöttisch:
„Das ist aber nett, dass du auch noch kommst, Carla.“
Alle Mitschülerinnen und Mitschüler lachten. Carla wurde rot und setzte sich schnell auf ihren Platz.
Anna, die am Nebentisch saß, schaute sie hämisch grinsend an und sagte mit gezierter Stimme zu ihrer Nachbarin Sofie:
„Dass sich unsere Streberin so etwas erlaubt, hätte ich ja nie gedacht.
Erst kommt sie zu spät, und dann schreibt sie heute womöglich in der Mathearbeit nur eine Zwei. Das wäre ja schrecklich!“
Dabei schaute sie mit gespieltem Entsetzen zur Decke. Sofie kicherte und einige an den Nachbartischen auch. Julian, der ebenfalls in der Nähe saß, lachte nicht, sondern zog nur die Augenbrauen hoch.
Carla mochte ihn ganz gerne, obwohl er sich manchmal etwas merkwürdig verhielt und ziemlich altklug wirkte. Am besten verstand sie sich mit Lilly, die in der Klasse neben ihr saß. Aber heute war deren Stuhl leer. Womöglich ist sie krank geworden, überlegte Carla bedauernd. Frau Nagel verteilte Arbeitsbögen, und der Mathetest begann.
Erleichtert verließ Carla nach dem Unterricht das Schulgebäude. Obwohl es ihr anfangs schwergefallen war, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, war dann alles gut gelaufen. Trotzdem war sie weiterhin verärgert, besonders wegen Anna und ihren blöden Sprüchen. Aber auch, weil sie selbst nie eine passende Antwort wusste.
„Na Carla, bist du immer noch sauer wegen Anna?“, ertönte hinter ihr eine Stimme.
Carla drehte sich um und entdeckte Julian, der sie grinsend einholte.
„Nimm dir das nicht so zu Herzen. Du weißt genau, was das für eine Zicke ist. Am besten lachst du einfach darüber. Und wenn du ihr eine freche Antwort gibst, wird sie dich bestimmt in Ruhe lassen.“
„Das kann ich eben nicht. Mir fällt nie eine passende Antwort ein.“
Julian schüttelte den Kopf.
„Willst du dir von Anna alles gefallen lassen?“
Carla schaute ihn mit wütend funkelnden Augen an.
„Du mit deinen schlauen Sprüchen! Lass mich doch in Ruhe!“
Eilig lief sie davon und ließ den verdutzten Julian stehen.
Abends lag Carla traurig in ihrem Bett. Jetzt hatte sie auch noch Julian verprellt. Der wollte gewiss nichts mehr mit ihr zu tun haben. An ihre Eltern mochte sie gar nicht denken. Ihr Vater war sehr spät nach Hause gekommen und die Spannung zwischen den beiden war unerträglich.
Als Carla wieder sehnsüchtig an ihren Großvater denken musste, fiel ihr der Ring ein, den sie nach seinem Tod von ihm geerbt hatte. Den hätte sie beinahe vergessen!
Hastig zog sie die Nachttischschublade auf und holte eine kleine Schatulle hervor, die mit rotem Samt bezogen war. Auf dem Deckel war in Gold ein kreisrundes Symbol zu sehen, in dem sich eine Mondsichel und eine halbe Sonne befanden. Behutsam öffnete sie das Kästchen und blickte auf einen Ring, mit einem großen, tiefblauen Stein in der Fassung. Carla hatte das Gefühl, dass ihr Blick in der Tiefe des Blaus versank. Erstaunt entdeckte sie in dem Stein die unterschiedlichsten Farbtöne und bemerkte, wie sich langsam eine angenehme Ruhe in ihr ausbreitete.
Wie hatte sie den Ring einfach vergessen können! Nachdem sie diesen in die Hand genommen hatte, kam das Kästchen ins Rutschen und fiel auf den Boden. Carla beugte sich hinunter um es aufzuheben.
Verwundert sah sie direkt daneben ein Stück Papier, das wahrscheinlich soeben aus der Schatulle gefallen war. Während sie den Zettel auseinanderfaltete, erkannte sie überrascht die schwungvolle Handschrift ihres Großvaters. Aufgeregt las sie die kurzen Zeilen:
Liebe Carla,
verwahre diesen Ring gut.
Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du das Geheimnis des Rings entdecken.
Ich habe dich lieb und werde immer bei dir sein.
Bleibe wie du bist und glaube an dich selbst.
Dein Opa
Obwohl Carlas Großvater nicht mehr lebte, spürte sie ein wohliges Gefühl in ihrem Bauch, denn sie fühlte sich nicht länger allein.
Lächelnd flüsterte sie: „Ich hab’ dich auch lieb!“
Als Carla den Ring erneut betrachtete, überlegte sie fieberhaft, welches Geheimnis sich dahinter verbarg. Zu ihrem Bedauern konnte sie keine eingravierte Schrift entdecken, die zur Lösung des Rätsels geführt hätte.
Nachdem sie einige Zeit, ohne den geringsten Erfolg, fieberhaft überlegt hatte, bemerkte sie, dass sie vor Müdigkeit die Augen kaum noch aufhalten konnte. Mit dem Ring am Finger schlief sie ein.
Am nächsten Tag ging Carla unwillig zur Schule. Ihre miese Laune besserte sich allerdings zusehends, als sie das Klassenzimmer betrat und ihre Freundin Lilly ihr lachend zuwinkte.
Nach der freudigen Begrüßung fragte Carla neugierig:
„Warum warst du gestern nicht in der Schule?“
Lilly verzog theatralisch das Gesicht und erwiderte mit Leidensmiene:
„Ich hatte heftige Bauchschmerzen und musste den ganzen Tag im Bett bleiben.“
Carla lachte ungläubig, worauf Lilly schelmisch grinste und ihr ins Ohr flüsterte:
„Das war ein super Tag! Anstatt diese blöde Mathearbeit zu schreiben, konnte ich ausgiebig faulenzen, und die gut versteckten Süßigkeiten haben meine quälenden Bauchschmerzen sofort vertrieben.“
Lachend schüttelte Carla den Kopf.
„Du bist unmöglich! Du musst sehr überzeugend gewesen sein, dass dir deine Eltern diese Geschichte abgekauft haben.“
Lilly zuckte selbstzufrieden mit den Schultern. In diesem Moment betrat Frau Nagel den Raum, und die beiden Mädchen setzten sich auf ihren Platz.
Carla konnte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, denn sie musste ständig an den Ring ihres Großvaters denken. Deshalb überhörte sie auch die an sie gerichtete Frage ihrer Lehrerin.
Als jemand mit lauter Stimme ihren Namen rief, zuckte das Mädchen zusammen und schaute in das mürrische Gesicht von Frau Nagel.
„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.
Meine Frage wirst du wohl nicht beantworten können, oder?“
Mit rotem Kopf hörte Carla das Gelächter der Klasse und schüttelte verlegen den Kopf. Frau Nagel erhielt die richtige Antwort von Anna, die daraufhin Carla einen höhnischen Blick zuwarf.
Lilly runzelte die Stirn, schaute ihre Freundin fragend an und flüsterte:
„Was ist denn mit dir los? Hast du irgendwas?“
„Ich war einfach nur in Gedanken, das ist alles“, entgegnete Carla hastig.
Sollte sie ihrer Freundin von dem Ring erzählen? Unschlüssig ließ sie den Blick durch den Raum gleiten und sah, dass Julian ihr aufmunternd zulächelte. Er schien überhaupt nicht nachtragend zu sein, obwohl sie gestern ihm gegenüber so pampig gewesen war. Froh darüber lächelte sie zurück.
Carla entschied, sich zur Abwechslung mal auf den Unterricht zu konzentrieren, stellte dann aber erschrocken fest, dass ihre Lehrerin sie mit scharfem Blick beobachtete. Hatte sie etwas verpasst? Verstohlen schielte sie zu Lilly, die mit ihrem Arbeitsheft beschäftigt war. Hastig schlug Carla ihr Heft auf und gab vor, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Als es kurz darauf zur Pause klingelte seufzte sie erleichtert.
Lilly sah sie zweifelnd an.
„Wirklich alles in Ordnung?“
„Ja, wirklich. Mach dir keine Gedanken. Ich habe heute nur nicht meinen besten Tag.“
„So neben der Rolle habe ich dich noch nie gesehen. Wenn du…“
„Neben der Rolle ist gar kein Ausdruck! Vielleicht ist unsere Carla verliebt.
Ich glaube, ich weiß auch schon in wen“, flötete Anna und blickte mit einem gehässigen Grinsen Richtung Julian.
Dann drehte sie sich triumphierend auf dem Absatz um und schwebte mit hoch erhobenem Haupt davon.
Lilly schickte ihr einen angewiderten Blick hinterher und sagte dann entrüstet zu der düster vor sich hinschauenden Carla:
„Anna ist und bleibt unausstehlich! Aber auf dich hat sie es wirklich abgesehen. Ständig diese blöden Sprüche. Diese Giftspritze beobachtet dich und freut sich über jede Gelegenheit dich zu ärgern.“
Resigniert zuckte Carla mit den Schultern. Wieder war ihr keine passende Antwort eingefallen. Allerdings hatte Anna ihr dazu auch kaum eine Gelegenheit gegeben, weil sie sofort nach ihrer spitzen Bemerkung verschwunden gewesen war.
Nach der Schule verabschiedete sie sich eilig von Lilly, die ihr verwundert hinterherschaute. Zuhause angekommen, betrat Carla sofort ihr Zimmer.
Das Geheimnis des Rings wollte sie heute auf jeden Fall lüften. Ungeduldig überlegte sie, dass die Lösung nicht so schwer sein konnte. Gerade wollte sie die rote Schatulle aus der Schublade nehmen, als ihre Mutter plötzlich im Zimmer stand.
„Na, wie war es in der Schule?“
„Gut“, erwiderte Carla einsilbig. „Wo ist Papa?“
„Er kommt später. In zehn Minuten ist das Essen fertig.“
Kaum hatte ihre Mutter den Raum verlassen, machte Carla rasch die Schublade auf und holte das rote Kästchen heraus.
Als sie den Ring mit dem funkelnden blauen Stein in den Händen hielt, spürte sie, wie aufgeregt sie war.
Wie sollte sie das Geheimnis lösen? Der Stein saß fest in der Fassung und ließ sich weder drehen noch herausnehmen. So sehr sie den Ring auch betrachtete, sie konnte nichts Außergewöhnliches entdecken.
„Das Essen ist fertig!“, rief ihre Mutter aus der Küche.
Seufzend legte Carla den Ring in die Schatulle zurück.
Abends schaute Carla mit ihren Eltern einen Abenteuerfilm im Fernsehen an. Während einer Kussszene betrachtete sie nachdenklich ihre Eltern. Ob sich die beiden noch liebten? Früher hatten sie oft gemeinsam gelacht und sich auch mal geküsst, aber in letzter Zeit... Würde es irgendwann so sein wie bei Sofie aus ihrer Klasse? Deren Eltern hatten sich getrennt und Sofie lebte abwechselnd bei ihrem Vater und ihrer Mutter. Carla wünschte sich, dass zuhause alles so harmonisch wie früher wäre.
Zwei Wochen waren vergangen. Carla saß vor dem Fenster an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren.
Der Ahornbaum hatte inzwischen fast alle bunten Blätter verloren, der Himmel war trüb, und alles wirkte grau und düster. Nebelschwaden verschleierten die dahinter liegenden Häuser.
Carla blickte in Gedanken versunken vor sich hin. Dann erhellte sich ihre Miene und sie lächelte. Ihre Eltern hatten ihr endlich erlaubt, Reitstunden zu nehmen. Wie lange sie darauf gewartet hatte!
In freudiger Erwartung dachte sie daran, irgendwann über Wiesen und durch Wälder galoppieren zu können.
Carla hatte schon einige Male, gemeinsam mit ihren Eltern, die Ferien auf einem Reiterhof verbracht. Dort hatte sie die ersten Erfahrungen im Reiten gemacht und eine besonders intensive Beziehung zu diesen Tieren entwickelt. Deshalb freute sie sich nun riesig darauf, richtig reiten lernen zu können und war ganz aufgeregt. An den Ring mit dem blauen Stein dachte sie kaum noch. Sie wusste einfach nicht, wie sie das Rätsel lösen sollte und hatte inzwischen aufgegeben, weiter darüber nachzudenken.
Sechs Wochen später konnte sich Carla gut auf einem Pferd halten. Sie ritt gerade ohne Longe im Trab einige Runden auf dem Reitplatz, als ihr die Reitlehrerin anerkennend zurief:
„Du machst das super! Ich glaube, du bist ein Naturtalent!“
Carla lächelte stolz.
Gegen Abend kam Carla gut gelaunt und mit einem Bärenhunger wieder nach Hause. Weil sie ihre Mutter nirgends fand, vermutete sie diese im Arbeitszimmer. Zurzeit schrieb Frau Mertens Übersetzungen für einen Verlag und arbeitete am Computer.
Leise machte das Mädchen die Tür auf und stutzte irritiert, denn ihre Mutter stand am Fenster und weinte. Anscheinend hatte sie ihre Tochter noch nicht bemerkt. Trotz der Dämmerung waren ihr tränennasses Gesicht und die stark geröteten Augen im Schein der Schreibtischlampe gut zu erkennen.
Ängstlich fragte Carla:
„Was ist denn mit dir los, Mama?“
Verstört schaute diese ihre Tochter an, wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und entgegnete mit belegter Stimme:
„Nichts, warum fragst du?“
„Aber du weinst doch!“
„Wie kommst du denn auf die Idee? Das hast du dir nur eingebildet. Ich bin einfach nur müde.“
„Ach so, dann ist ja alles in Ordnung“, erwiderte Carla spöttisch.
Wütend ging sie aus dem Zimmer. Wie sehr sie es hasste angelogen zu werden, und dann auch noch so offensichtlich! Nun hatte das Mädchen keinen Hunger mehr.
Als Carla am nächsten Tag in die Schule kam, hatte sie in der ersten Stunde Englisch bei Herrn Pabst. Dieser ältere Herr hatte fast immer gute Laune, und der Unterricht bei ihm machte viel Spaß. Obwohl er auch streng sein konnte, liebten ihn alle.
Nach dieser Schulstunde wurde es für Carla immer schwieriger zuzuhören, und in der letzten Stunde schaltete sie ganz ab. Zu viele verschiedene Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Frau Nagel beobachtete das Mädchen, schüttelte verdrossen den Kopf und fragte schließlich:
„Was ist los mit dir, Carla?“
Diese blickte auf, als ihr Name genannt wurde. Betreten schaute sie in das fragende Gesicht ihrer Lehrerin, schwieg und vermied es in Annas Richtung zu schauen.
Als Carla nach dem Unterricht den Klassenraum verlassen wollte, rief ihr Frau Nagel hinterher:
„Carla, warte bitte! Ich möchte mit dir reden!“
Widerwillig näherte sich das Mädchen ihrer Lehrerin.
„Warum bist du zurzeit so unaufmerksam? Hast du Probleme?“ Da keine Antwort kam, fügte sie hinzu: „Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, antwortete Carla zurückhaltend.
Frau Nagel schaute sie besorgt an.
„Irgendetwas stimmt nicht mit dir.
Wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du mir das ruhig sagen.“
„Nein, es ist alles in Ordnung“, erwiderte Carla und verließ eilig den Klassenraum.
Vor der Schule wartete Lilly auf sie.
„Was wollte denn Frau Nagel von dir?“
„Sie macht sich angeblich Sorgen, weil ich im Unterricht nicht zuhöre. Am liebsten hätte sie mich regelrecht ausgehorcht. Die hat mir gerade noch gefehlt!“
Lilly lachte und nickte zustimmend.
„Von Frau Nagel ausgequetscht zu werden, ist bestimmt gruselig! Aber was ist wirklich mit dir los?“
Carla seufzte niedergeschlagen und antwortete nachdenklich:
„Irgendwie kommt zurzeit alles zusammen: Ich mache mir Sorgen wegen meiner Eltern. Sie reden kaum miteinander und sind ständig mies gelaunt.
Da stimmt etwas nicht.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und zum Lernen habe ich überhaupt keine Lust.
Ab und zu träume ich lieber so vor mich hin. Dann stelle ich mir vor, dass ich richtig gut reiten kann und durch wunderschöne, zauberhafte Landschaften galoppiere.“
Lilly nickte verständnisvoll, dann seufzte sie sehnsüchtig und schwärmte:
„Ich habe auch einen Traum. Nur ist meiner wahrscheinlich unerreichbar.
Ich liebe die Musik und möchte so gerne Sängerin werden.“
Erstaunt hob Carla ihre Augenbrauen.
„Das wusste ich nicht.“
„Das habe ich auch noch niemandem erzählt. Aber da du gerade so offen zu mir warst…“ Nachdenklich fügte Lilly hinzu: „Das mit deinen Eltern — mach dir da mal keine Sorgen! Meine Eltern waren auch eine Zeitlang so komisch drauf, und jetzt ist wieder alles okay.“
„Hoffentlich hast du recht!“
Carla überlegte kurz und schaute dann ihre Freundin forschend an.
„Ich möchte dir ein Geheimnis erzählen, aber du darfst mit keinem Menschen darüber reden. Versprichst du mir das?“
„Ehrenwort!“, antwortete Lilly gespannt.
„Von meinem Opa habe ich einen Ring mit einem funkelnden blauen Stein geschenkt bekommen…“ Nachdem Carla mit ihrer Erzählung fertig war, schaute sie Lilly erwartungsvoll an.
Diese blickte grübelnd vor sich hin.
„Was hat dein Opa nur mit diesem Geheimnis gemeint? — Unglaublich!“
Nach einer kleinen Pause fügte sie zaghaft hinzu: „Sei mir bitte nicht böse, aber vielleicht darfst du das nicht so ernst nehmen. Bestimmt wollte er den Ring damit nur interessanter machen und hat dir sozusagen eine kleine Märchengeschichte erzählt.“
Empört funkelte Carla ihre Freundin an.
„Mein Opa hätte so was nie gemacht! Er war immer ehrlich zu mir und wäre auch nie auf die Idee gekommen, mir einen Bären aufzubinden!“
Lilly zuckte wenig überzeugt mit den Schultern.
„Wenn du meinst…. Aber du hast schon so viel ausprobiert. Was willst du denn noch machen um das Geheimnis zu lüften?“
Mit Trotz und neuer Entschlossenheit entgegnete Carla:
„Ich werde das irgendwie schaffen! Dann wirst du mir glauben müssen!“
Eilig machte sie sich auf den Heimweg.
Sobald es ihr möglich war, sich ungestört in ihr Zimmer zurückzuziehen, holte sie den Ring aus dem roten Kästchen. Diesmal durfte sie nicht so schnell aufgeben. Ungeduldig drehte sie den Ring und überlegte angestrengt. Ganz fest dachte sie an ihren Großvater und streifte den Ring über den Mittelfinger. Das Schmuckstück war viel zu groß für sie. Der Stein leuchtete geheimnisvoll, und Carla glaubte wieder in der Tiefe des Steins zu versinken.
Das konnte kein gewöhnlicher Ring sein, davon war sie fest überzeugt.
Gedankenverloren drehte sie diesen am Finger einmal im Kreis herum. Als sie aufschaute, traute sie ihren Augen nicht. Das konnte nicht wahr sein!
Jetzt bin ich endgültig durchgeknallt, dachte Carla völlig entgeistert.
Mitten im Zimmer sah sie so etwas Ähnliches wie einen Raum mit einer alten Holztür. Diese sah richtig stabil aus, aber der Rest...
Das Mädchen glaubte zu träumen. Der Raum bestand nicht aus festen Wänden, sondern wurde durch viele kleine, bunte, flimmernde Punkte begrenzt. Carla saß wie erstarrt auf ihrem Bett und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihr war unheimlich zumute und sie spürte, wie die Angst in ihr hochkroch.
Voller Panik zog sie den Ring von ihrem Finger. Der Raum verschwand, und Carla ließ den Ring fallen wie eine heiße Kartoffel. So etwas gab es doch gar nicht! Fing sie an verrückt zu werden?
War dies das von ihrem Großvater erwähnte Geheimnis? Vollkommen verwirrt überlegte sie, wovor sie eigentlich Angst hatte. Der Ring war schließlich ein Geschenk ihres Großvaters. Warum sollte sie sich fürchten?
Zu ihm hatte sie immer großes Vertrauen gehabt. Ihr Großvater hätte sie niemals in Gefahr bringen wollen. Carla atmete tief ein, nahm fest entschlossen den Ring und steckte ihn an den Finger.
Mit gemischten Gefühlen betrachtete sie den blauen Stein und drehte dann das Schmuckstück zaghaft einmal um sich selbst. Sofort war der bunt funkelnde Raum wieder zu sehen.
Langsam stand Carla auf, näherte sich den flimmernden Punkten und streckte vorsichtig mit angehaltenem Atem eine Hand aus, um diese zu berühren. Sie waren wunderschön, und als ihre Handfläche die Leuchtteile erreichte, spürte Carla, wie sie vibrierten und an ihrer Haut kitzelten.
Carla kam mit ihrer Hand nicht weiter, sosehr sie es auch versuchte.
Obwohl die Punkte zu tanzen schienen, war diese Begrenzung so fest wie eine Wand.
Langsam ging sie zu der alten Holztür und blieb abschätzend davor stehen.
Das Mädchen betrachtete die Tür mit den zarten Blautönen genauer. Im oberen Teil entdeckte sie ein kreisrundes Symbol. Darin waren eine Mondsichel und in der anderen Hälfte ein Teil einer Sonne abgebildet.
Dasselbe Symbol wie auf dem roten Kästchen, erkannte Carla verblüfft. Im oberen Bogen des Türrahmens stand in einer alten, verschnörkelten Schrift: ‚Tor Soluna’. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Die Flügeltür, die ziemlich heruntergekommen aussah, hatte weder ein Schloss noch eine Türklinke. Vorsichtig berührte Carla das Tor. Das Holz mit seinen Einkerbungen und Rissen fühlte sich echt an. Trotzdem wirkte alles so unfassbar und unwirklich.
Sollte sie es wagen, das Tor zu öffnen? Was würde sie dahinter erwarten?
Carla, von Neugier gepackt, gab sich einen Ruck und drückte mit wild klopfendem Herzen langsam gegen die große Tür. Diese gab nach und öffnete sich.
Vor Verblüffung blieb ihr der Mund offen stehen, denn das, was sie nun sah, hatte sie ganz gewiss nicht erwartet. Die Beklemmung wich ein Stück von ihr. Mit großen Augen betrat sie einen gemütlich eingerichteten Raum und registrierte verwundert, dass dieser größer war als ihr eigenes Zimmer.
Wie konnte das sein?
Die Möbel sahen alt aus und waren ebenfalls aus rotbraunem Holz. Regale mit unzählig vielen Büchern gingen bis zur Decke. Auf dem Schreibtisch lagen verschiedene Papiere und ein dickes Buch. Außerdem waren dort drei Fotografien in alten Bilderrahmen zu sehen.
Als Carla neugierig näherkam, stellte sie erstaunt fest, dass ihre Familie auf den Fotos zu sehen war. Zuerst betrachtete sie ein Hochzeitsbild ihrer Eltern, die ihr glücklich aus dem Bilderrahmen entgegenlachten. Auf dem zweiten Foto war Carla gemeinsam mit den beiden abgebildet. Und auf dem dritten saß sie, eng an ihren Großvater gekuschelt, auf einer Gartenbank. Das Mädchen schätzte, dass sie damals ungefähr fünf Jahre alt gewesen war.
Mit Tränen in den Augen betrachtete Carla das Foto. Deutlich war zu sehen, wie nahe sie einander gewesen waren. Nicht nur das Bild ihres Großvaters, sondern auch die anderen Fotos erfüllten Carla mit Sehnsucht.
Das fröhliche Lachen aller erinnerte sie an die Zeit, als die ganze Familie glücklich gewesen war. Konnte nicht alles wieder so werden wie früher?
Plötzlich hörte sie wie aus weiter Ferne eine Stimme:
„Carla, wo bist du?!“
Erschrocken erkannte das Mädchen die Stimme ihrer Mutter. Bestimmt hatte diese das Tor entdeckt! Angespannt lauschte Carla und hörte, wie ihre Mutter das Zimmer verließ und die Tür ins Schloss fiel. Vorsichtig öffnete Carla das Tor Soluna und schaute in ihr Zimmer. Da niemand zu sehen war, ging sie erleichtert hinein.
Schnell nahm sie den Ring von ihrem Finger, und der magische Raum verschwand. Carla erschrak, als die Zimmertür erneut geöffnet wurde.
Ihre Mutter kam hereingestürmt und stutzte verwundert.
„Ich suche dich überall! Wo warst du denn?“
„Ich war gerade im Bad“, log Carla stockend.
„Hast du nicht gehört, dass ich dich gerufen habe? Warum gibst du mir keine Antwort?“
„Hab’ nichts gehört.“
„Das gibt es doch nicht! Ich glaube du musst zum Ohrenarzt! Kommst du bitte! Du versuchst dich nur vor der Arbeit zu drücken! Du kannst auch mal im Haushalt mithelfen und wenigstens den Tisch decken!“
Wütend verließ Frau Mertens das Zimmer.
Verwundert und erleichtert zugleich, schlussfolgerte Carla, dass ihre Mutter Großvaters Zauberraum nicht sehen konnte, sonst hätte sie ihn vorhin sicherlich bemerkt. Jederzeit war es ihr also möglich diesen geheimen Ort aufzusuchen, und niemand würde sie dort entdecken. Zufrieden lächelnd folgte sie ihrer Mutter.
Am Tag darauf war Carla froh, als die Schule aus war und sie endlich nach Hause gehen konnte. Mit Lilly hatte sie nicht über die Enthüllung des Geheimnisses geredet. Ihre Freundin würde ihr ohne Beweise sowieso nicht glauben. Außerdem erschien es Carla sinnvoll, zuerst mehr darüber zu erfahren. Das Mädchen wartete ungeduldig auf eine Möglichkeit, um unbemerkt in Großvaters Zauberraum gelangen zu können.
Als ihre Mutter endlich die Wohnung verließ, um ihre Übersetzungen im Verlag abzuliefern, atmete Carla auf. Ohne zu zögern benutzte sie den Ring und öffnete neugierig die massive Holztür.
Staunend betrachtete sie den alten Schreibtisch, an dem ihr Großvater früher bestimmt öfter gesessen hatte.
Was sie hier sah, war unfassbar, aber trotzdem konnte sie alles anfassen und fühlen. Carla schaute sich noch einmal genau die Fotos an und las dann die Titel einiger Bücher, die im Regal standen. Obwohl sie gerne las, konnte sie sich für diese nicht begeistern, denn das waren nur langweilige Bücher für Erwachsene. Sie aber interessierte sich für spannende Jugendbücher, und davon war nirgends ein Exemplar zu entdecken.
Plötzlich stutzte sie verwundert und verzog völlig irritiert ihre Lippen. Das konnte nicht wahr sein! Obwohl sie kurz zuvor bereits einmal diese Buchrücken angeschaut hatte, wurde ihr jetzt klar, dass dort Bücher standen, die sie längst einmal hatte lesen wollen. War sie so blind gewesen, dass sie diese Exemplare einfach übersehen hatte? Carla konnte sich das Ganze nicht erklären und schüttelte verwirrt den Kopf.
Schließlich zuckte sie mit den Schultern und holte sich, neugierig geworden, eines der Bücher aus dem Regal. Als sie dieses auf den Schreibtisch legte, fiel ihr Blick auf Papiere, die dort gestapelt lagen.
Daneben entdeckte sie einige gut gelungene Portraitzeichnungen, die ihr Großvater angefertigt hatte. Darauf waren ihre Eltern, sie selbst und auf den meisten ihre Großmutter zu sehen. Diese sah auf den Bildern sehr schön aus. Carla hatte sie nie kennengelernt. Ihre Großmutter war vor vielen Jahren gestorben. Großvater liebte sie sehr. Viele behaupteten, dass Carla eine große Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter hätte. Besonders ihre Augen seien genauso groß, braun und ausdrucksstark. Ungläubig schüttelte das Mädchen amüsiert den Kopf. Da bemerkte sie, dass ihr der Ring mit dem blauen Stein, welcher viel zu groß für sie war, vom Finger rutschte. Ehe sie reagieren konnte, fiel er hinunter und blieb schließlich nach einigen Umdrehungen auf dem Boden liegen. Alles war still, und Carla wurde vor Schreck ganz blass.
Mit lähmendem Entsetzen stellte sie fest, dass sie sich in einem total leeren Raum befand. Nicht einmal Wände waren zu sehen, sondern nur das absolute Nichts! Carla spürte, wie ihre Knie weich wurden und ihr der Angstschweiß auf die Stirn trat. Ihr stockte der Atem und sie glaubte ersticken zu müssen. Alles war in weißes Licht getaucht, mehr sah sie nicht. Trotz ihrer Panik riss sie sich zusammen und suchte nach dem Ring.
Ohne diesen wäre sie womöglich für immer in dem leeren Raum gefangen und würde niemals in ihre Welt zurückkehren können!
Die Tür war verschwunden — wie sollte sie diesen Ort wieder verlassen?
War der Ring auch im Nichts verschwunden? Rasch drehte sie sich einmal um sich selbst, konnte ihn aber nirgends entdecken. Schluchzend ließ sie sich auf den Boden sinken und tastete die Umgebung ab.
Hätte sie nur nie diesen verdammten Ring benutzt! Warum hatte ihr Großvater sie in eine so große Gefahr gebracht?
Musste sie jetzt völlig alleine im Nichts verdursten und verhungern? Wie lange würde sie noch leben? Würde sie womöglich nie wieder ihre Eltern und Freunde sehen? Verzweifelt riss sie sich zusammen. Sie durfte nicht so schnell aufgeben! Völlig aufgelöst suchte sie den Ring.
Als sie kurz darauf einen harten, runden Gegenstand fühlte, erstarrte sie.
Kaum zu hoffen wagend, tastete sie diesen ab. Das musste er sein!
Schnell steckte sie das runde Ding an den Finger und augenblicklich tauchte Großvaters Zimmer auf. Erleichtert setzte sie sich an den Schreibtisch und spürte, wie sich ihr rasender Herzschlag langsam beruhigte.
Niemals in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt!
Wie konnte ihr Großvater sie solchen Gefahren aussetzen! Carla entschied, diesen Ort für immer zu verlassen und den Ring zu vernichten. So etwas Grauenvolles wollte sie nicht noch einmal erleben. Das war viel schlimmer gewesen als alle ihre Alpträume. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch und die Papiere ihres Großvaters.
Neugierig geworden, verschob sie ihren Entschluss auf später. Zuerst wollte sie sich den Papierstapel näher anschauen, dann würde sie für immer diesen grässlichen Ort verlassen.
Vorsichtshalber überprüfte sie, ob der Ring richtig an ihrem Finger steckte.
Würde dieser nur besser passen!
Kaum hatte sie sich wieder den Papieren zugewandt, fiel ihr ein Brief mit der Handschrift ihres Großvaters auf. Verblüfft erfasste Carla, dass dieser an sie gerichtet war. Gespannt setzte sie sich hin und las die Zeilen:
Liebe Carla, na, wie gefällt dir mein geheimes Zimmer? Immer wenn ich allein sein will, gehe ich hierhin, denke in Ruhe nach, lese oder zeichne etwas.
Ich liebe diesen Ort, den sonst niemand kennt. Hier kann ich mich total entspannen und genieße jede einzelne Stunde. Vielleicht wirst du genau dasselbe empfinden.
Nun wird es Zeit, dir die Geschichte des Rings zu erzählen:
Vor vielen Jahren, meine Frau trug damals deine Mutter im Bauch spazieren, entschlossen wir uns, eine Reise in die Berge zu unternehmen.
Wir verbrachten eine schöne Zeit in traumhafter Landschaft und bei strahlendem Sonnenschein. Nach einigen Tagen hatte ich Lust auf eine größere Wanderung, aber deine Großmutter wollte mit ihrem dicken Bauch lieber in der Sonne sitzen und lesen.
Also ging ich alleine los. Gut gelaunt und Lieder trällernd wanderte ich den Berg hinauf.
Nach ungefähr drei Stunden stand ich vor einer einsamen Hütte. Neben dem Eingang standen Wanderschuhe.
Konnte es sein, dass in dieser Einöde jemand wohnte?
Neugierig geworden klopfte ich an die Tür. Auch als ich rief, antwortete niemand.
Da die Tür nicht verschlossen war, betrat ich zögernd das kleine Haus.
Kein Mensch war zu sehen, aber das Zimmer sah bewohnt aus. Das Geschirr, das vor kurzem noch benutzt worden war, stand auf dem Tisch und eine Jacke hing über dem Stuhl. Das restliche Essen auf dem Herd war allerdings schon kalt.
Plötzlich erschrak ich, denn vor mir stand, wie aus dem Nichts, ein Mann. Ich hatte ihn weder kommen sehen noch irgendetwas gehört, was mich sehr verwirrte.
„Was für ein Glück, dass jemand den Weg zu meiner Hütte gefunden hat! Freut mich, dass Sie da sind!“, rief der Mann erleichtert.
Verlegen wollte ich mich für mein Eindringen in die Hütte entschuldigen, aber der Mann ließ mich nicht zu Wort kommen.
„Ich habe ein Geschenk für sie“, sagte er eifrig und streckte mir seine Hand entgegen, auf der ein Ring mit einem tiefblauen Stein lag.
Äußerst verwirrt überlegte ich, ob ich das alles nur träumte und antwortete schließlich:
„Das Geschenk kann ich nicht annehmen! Warum wollen sie überhaupt einem wildfremden Mann einen Ring schenken?“
„Das ist ein besonderer Ring, der zwei Geheimnisse birgt.
Ich brauche ihn nicht mehr. Bitte nehmen Sie ihn.“
Alles wurde immer rätselhafter.
„Von welchen Geheimnissen reden Sie eigentlich, und warum wollen Sie den Ring unbedingt loswerden?“
Meine zweite Frage ignorierend flüsterte der Mann beschwörend:
„Das müssen Sie selbst herausfinden. Ich rate Ihnen aber, nur das erste Geheimnis zu lüften. Das zweite hat mir nicht wirklich Glück gebracht und birgt eine große Gefahr.
Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“
Hin und her gerissen starrte ich auf das Schmuckstück.
Der blaue Stein funkelte verlockend.
„Bitte nehmen Sie den Ring, aber erzählen Sie niemandem davon. Ich glaube, bei Ihnen ist er sicher und in guten Händen. Sie strahlen Zufriedenheit und Kraft aus.“
Der Mann schaute mich eindringlich an.
Zuerst stand ich unschlüssig da. Intensiv spürte ich die starke Anziehungskraft des Steins.
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, aber ich konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Hastig nahm ich den Ring. Der Mann wünschte mir viel Glück, und ich ging eilig den Berg hinunter.
Bis jetzt habe ich niemandem von dem Ring erzählt. Trotz meiner Zweifel, versuchte ich das Geheimnis des Rings zu enthüllen.
Als mir dies nach langer Zeit endlich gelang und ich meinen Soluna-Raum entdeckte, verbrachte ich dort viele glückliche Stunden.
Dort habe ich auch die rote Schatulle gefunden, in der der Ring aufbewahrt wird. Wahrscheinlich hatte der Mann aus den Bergen sie dort vergessen.
Das zweite Rätsel habe ich nie gelöst, weil mich das auch nie sonderlich interessiert hat. Vielleicht ist es besser, wenn du auch nicht weiter nach der Lösung suchst, denn der Mann hatte mich eindringlich davor gewarnt.
Da fällt mir etwas sehr Wichtiges ein: Nimm bitte nie in diesem Raum den Ring vom Finger! Vergiss das bitte nicht!! Sicherlich ist es auch ratsam, wirklich keinem Menschen von dem Geheimnis zu erzählen.
Wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr bei euch sein.
Ich möchte, dass du nach meinem Tod den Ring bekommst, weil du mir immer sehr nah warst und ich mir vorstellen kann, dir damit eine Freude zu bereiten.
Wünsche dir alles Liebe und viele schöne Stunden an dem Ort, der nur dir gehört.
Dein Opa
Fasziniert betrachtete Carla den Brief. Der Rat ihres Großvaters, den Ring am Finger zu behalten, kam leider etwas spät.
Also hatte auch er dieses schreckliche Erlebnis gehabt. Endlich wusste sie Genaueres über den Ring. Trotzdem hatte sie noch viele Fragen: