Das Trampolin - Daniel Elsner - E-Book

Das Trampolin E-Book

Daniel Elsner

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Beschreibung

Marc Eisenberg, ein Kommissar aus Frankfurt, besucht einen alten Freund in Dülmen, um seinen Kopf freizubekommen. Als er mit seinem Freund anstößt, lässt ihn lautes Gebrüll aufmerksam werden. Daraufhin werden die Ereignisse in der Stadt immer merkwürdiger und pflichtbewusst versucht er, die Dinge in Ordnung zubringen. Mit dieser Entscheidung wird er mit vielen schrecklichen Ereignissen konfrontiert.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Prolog

Die dunklen Wolken am Himmel ließen nichts Gutes erahnen, da passierte es, der erste Tropfen fiel zur Erde, gefolgt von zig weiteren. Er hätte sich den Wetterbericht mal vorher anschauen sollen. Jetzt stand er nervös an einer Ecke, holte eine Zigarette aus einer Hardcoverschatulle und versuchte sie anzuzünden, doch der Regen löschte die kleine rote Glut am Stängel sofort. Frustriert steckte er sie wieder zurück. Die volle Schatulle verstaute er in seiner innen liegenden Jackentasche. Die beiden Äußeren waren ebenfalls gefüllt. Der Mann wartete ungeduldig. Es musste alles exakt klappen, jedoch hatte er noch keine Erfahrung bei der Sache, die er vorhatte. Das Haus, welches er genau im Visier hatte, kannte er inzwischen sehr gut. Zwei Monate lang hatte er es sich haarklein eingeprägt. Alle Eingänge, alle Fenster, alle Räume. Ja, die Räume waren das Wichtigste bei der Sache, die er erledigen musste. Gut, dass ich den versteckten Schlüssel für die Kettertür des Hauses gefunden habe. Mit diesem Gegenstand verschaffte er sich immer, wenn er genau wusste, dass das Haus leer war, Zutritt. Er packte an seine linke Jackentasche. Danach checkte er die Rechte. Es schien alles da zu sein. Er schaute auf seine Uhr. Es wurde Zeit.

Du schaffst das. Du schaffst das!

Seine Schritte waren zielstrebig. Meter für Meter kam er seinem Ziel näher. Wie aus heiterem Himmel stoppte er und fummelte an seiner rechten Jackentasche herum. Sekunden später holte der nervöse Mann eine mit einem knallroten Lächeln überzogene Clownsmaske heraus. Er setzte sie auf.

Die Maske verdeckte bis auf die Augen das komplette Gesicht. Ein neues Selbstvertrauen durchströmte ihn. Die letzten Schritte schlich er leise um das Haus herum. Noch fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins.

Das Versteck des Schlüssels lag zu seinen Füßen. Er bückte sich hinunter und griff beherzt zu. Zielstrebig bewegte er sich weiter zur Kellertür, Dort steckte er den Schlüssel in das Türschloss und drehte ihn leise herum. Klack. Die Tür drückte er ganz sachte nach innen auf. Der Kellerbereich, den er schon durch sein Ausspionieren kannte, lag dunkel vor ihm. Das Licht betätigte er nicht, aber seine nassen Schuhe zog er aus und ließ sie auf der Kellermatte stehen.

Du schaffst das! Es ist ganz leicht.

Regen tropfte von seiner Jacke auf den Boden. Platsch. Platsch. Es entstand eine nasse Tropfspur. Wenigstens hinterließ er keine Fußabdrücke mit seinen nassen Schuhen.

Du hast es gleich geschafft, nur noch ein paar Stufen. Auch im Dunkeln kannte er den Weg in- und auswendig. Das Üben

hatte sich gelohnt. Eine Stufe nach der anderen bewältigte er mühelos. Das letzte Problem stand ihm bevor: die Tür ins Erdgeschoss. Er drückte die Klinke vorsichtig herunter und stemmte sich sachte gegen das Türblatt. Die Tür glitt ohne ein Quietschen auf. Jede Jalousie war heruntergelassen, somit lag ein unbeleuchtetes Erdgeschoss vor ihm. Unbeirrt verfolgte er seinen weiteren Plan, denn er hatte beobachtet, wie jeden Mittwoch in der Zeit von 11:00 Uhr bis 13:00 Uhr, die Jalousien betätigt wurden. Um 11:00 Uhr gingen sie herunter, exakt zwei Stunden später wieder hoch. Die Casio zeigte ihm 12:15 Uhr an. Ich muss mich beeilen. Ein Stockwerk höher lag das Zimmer, welches sein Ziel war. Seine Socken glitten lautlos Stufe für Stufe weiter. Nur die Regentropfen, die von der Jacke fielen, erzeugten leise Geräusche. Platsch. Platsch. Hoffentlich verraten mich die Wassertropfen nicht. Aus einem der Zimmer drang sinnliche Musik. Ich schaffe es, jetzt keinen Rückzieher machen. Sukzessive näherte sich der Clown der weißen Tür. Die Musik drang immer lauter zu seinen Ohren.

Es muss so sein, wie ich es mir vorstelle, sonst geht es schief. Er öffnete die linke Jackentasche und tastete nach seinen Handschuhen, jedoch fand er sie nicht. Er war einfach zu nervös gewesen und hatte sie vergessen. Es war ein Fehler so weiter zu machen, doch jetzt aufzuhören, kam nicht infrage. Seine Finger zitterten leicht. Vielleicht wegen der Nässe? Oder vor Nervosität?

Ich muss es auch ohne Handschuhe durchziehen. Ich schaffe es sonst nie.

So weit wie heute war er noch zu keiner Zeit gekommen. Meistens hatte er schon bei der Kellertür den Rückzug angetreten. Nur einmal kam er bis ins Erdgeschoss, doch da verließ ihn endgültig der Mut. Es war sein vierter Anlauf – es sollte der Letzte werden. Entweder heute oder gar nicht. Seine linke Hand erfühlte den kleinen Gegenstand, der sich mit den Handschuhen in der linken Jackentasche befinden sollte. Wenigstens daran habe ich gedacht. Mit seiner rechten Hand fummelte er an der Zimmertür herum. Mit ganz viel Gefühl bewegte er die Klinke herunter. Die Geräusche von drinnen boten ihm Schutz. Jetzt nur keinen Fehler machen. Du schaffst das. Er betrat das Schlafzimmer. Es war in schummrig rotes Licht getaucht. Die Musikanlage übertönte die anderen Geräusche. Ein riesiges Bett mit vier Pfosten an jeder Ecke war der Mittelpunkt des Raumes. Ein großer schwarzer Kleiderschrank mit Schiebetüren stand an der rechten Wand des Zimmers; an der linken Seite befand sich das zugezogene Fenster. Es fielen immer noch Regentropfen von seiner Jacke. Platsch. Platsch.

Der Mann auf dem Bett nahm die Veränderung wahr. Er versuchte, sich bemerkbar zu machen, doch kam aus seinem geknebelten Mund kein Ton heraus. Die Frau, die nackt auf ihm saß, ritt sich in Ekstase und bemerkte nichts von der drohenden Gefahr.

Jetzt nur nicht ablenken lassen. Du schaffst das.

Der Mann auf dem Bett windete sich so sehr er konnte, doch seine Gliedmaßen waren fest mit den vier Pfosten verbunden. Der Angreifer hatte den Gegenstand, den er jetzt brauchte, aus der Jacke gezogen. Dieses kleine Teil mit dem stählernen Draht zwischen zwei Halterungen war klein genug, um ihn die ganze Zeit in der Jacke mitzuschleppen. Der liegende Mann erkannte eine Art Garrotte in der Hand des Angreifers. Von dieser Gefahr nichts ahnend schmiss das Weib ihren Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken und stöhnte. Der Angreifer stand hinter ihr am Fußende des Bettes, streckte seine Arme aus und legte den Stahldraht um den Hals der Frau. Sie spürte die aufkommende Kälte und erschrak. Du schaffst das. Du hast es gleich geschafft. Der leichte Druck verursachte einen kleinen Riss an ihrem Hals. Ich brauche mehr Kraft. Er ließ sich mit den Knien auf das Bettende fallen. Die Frau versuchte, laut zu schreien, doch aus ihrer Kehle kamen nur erstickte Laute. Der gefesselte Mann riss seine Augen weit auf und stemmte sich gegen die Katastrophe. Der Druck der modernen Garrotte wurde immer stärker. Das Blut floss an ihrem Hals herab. Als auch noch die Halsschlagader durch den Stahl durchtrennt wurde, spritzte es leicht durch den Raum und traf den liegenden Mann im Gesicht. Daraufhin schloss er schockiert seine Augen. Der Clown lockerte den Druck des Stahls und ließ den erschlafften Körper zur Seite fellen. Den Blick richtete er nun starr auf den blutbefleckten Mann. Du schaffst das. Du hast es gleich geschafft. Die Regentropfen der Jacke durchnässten das weiße Bettlaken. Der Clown fummelte abermals an seinem Kleidungsstück herum. Aus der rechten Jackentasche holte er einen weiteren kleinen Gegenstand, eine kleine 50 ml Plastikflasche gefüllt mit Salzsäure. Er öffnete sie und ein beißender Geruch verteilte sich im Raum. Der Maskenmann näherte sich dem liegenden Opfer. Sein Zeigefinger und sein Daumen öffneten das rechte geschlossene Auge des gefesselten Mannes, und die Plastikflasche wurde leicht gekippt. Ich muss vorsichtig sein. Ich habe keine Handschuhe an. Die ersten Tropfen der beißenden Flüssigkeit liefen in das panikerfüllte Auge. Das Opfer versuchte, vor Schmerzen laut aufzuschreien. Die Säure brannte wie Feuer. Das erste Auge war versorgt. Es folgte das Zweite. Er ging behutsam vor. Das gleiche Spiel wie vorhin. Doch der Clown verschüttete etwas und traf seinen Daumen. Er schrie auf: »Verdammter Mist, tut das weh!« Die halbe Flasche war verbraucht und das Opfer windete sich vor Qualen in seinen Fesseln. Sein Kunstwerk war noch nicht fertig, mit leichtem Druck kam weitere Säure heraus. Er war kurz davor den Knebel zu entfernen, um die Schreie des Mannes zu hören, aber entschied sich dagegen. Er genoss es, zusehen, wie sich die Stirn stark rötlich färbte, Bläschen sich bildeten, und die Haut sich abschälte. Den gedämpften Lauten hätte er gerne länger zugehört, doch ihm lief die Zeit davon. Er nahm ein Kissen in die Hand und drückte es dem Opfer kräftig aufs Gesicht. Aus den Boxen dröhnte der Text des Liedes: Die Firma - Die Eine. Die Atmung verlangsamte sich. Der Brustkorb senkte und hob sich immer spärlicher. Er merkte, wie der Körper unter dem Kissen dahin sackte. Er riskierte es und entfernte den Knebel.

Stille.

Totenstille.

Der leblose Körper lag erschlafft im Bett.

Ich habe es tatsächlich geschafft. Man sagt, dass es beim ersten Mal am schwierigsten sein soll. Er empfand es genauso.

Nur die erhoffte Befriedigung blieb aus.

Kapitel 1

Dülmen, 03. Juli 2016

Die Sonne strahlte durch das Blätterdach des Waldes, in dem das Haus der Familie Goblin stand. Es war ein sehr verstecktes Gebäude, überwuchert von Ranken und Efeu. Die Fassade aus Backstein war kaum noch zu sehen. Das Prunkstück des Grundstücks war der weitläufige Garten mit einer schönen Schaukel, einem Trampolin und einem kleinen Pool. Von dem in der Nähe liegenden Campingplatz war nur zur Hochsaison etwas zu hören oder wenn mal wieder eine Sommerveranstaltung im Café AHOI stattfand. Es war die letzte Woche vor den großen Sommerferien für Melanie, der Tochter von Pierre und Jenny Goblin. Doch in diesem Zeitraum musste noch eine wichtige Mathearbeit geschrieben werden. Melanie hatte aber keine Lust zu lernen. Sie wollte lieber ihre Zeit auf dem Trampolin verbringen. Als Pierre Goblin aus dem Haus kam und sagte: »Mel, was machst du denn hier draußen? Musst du nicht für deine Mathearbeit lernen?« Melanie wollte gerade das Trampolin betreten, stoppte ihre Bewegung und drehte sich um. »Ach Papa, ich habe doch schon genug gelernt. Ich möchte das schöne Wetter genießen. Es ist doch nur eine Mathearbeit – nichts Wichtiges.«

»Fräulein, so sehe ich das aber ganz und gar nicht. Du bist kurz davor eine schlechte Note in Mathe auf dem Zeugnis zu bekommen. Also, komm jetzt mit rein! Wir lernen jetzt gemeinsam!«

»Ich will nicht. Ich möchte lieber hier draußen bleiben.« »Du kommst jetzt mit rein! Und keine Widerworte«, sagte Pierre Goblin energischer zu seiner Tochter.

»Ich hasse dich Papa, du bist fast nie da! Und wenn ich mal Zeit zum Spielen habe, dann versaust du mir das. Total unfair«, antwortete Mel trotzig. Sie schrie ihren Vater förmlich an.

»Ich hoffe, ich habe mich da gerade verhört, Mel?«

»Nein, hast du nicht!«

Erschüttert zerrte er Melanie vom Trampolinrand zurück ins Haus und schlug energisch das Mathebuch auf. Klammerrechnen. Mel machte stets den Fehler, wenn ein Minus vor der Klammer steht, die Vorzeichen der Summanden innerhalb der Klammer nicht zu ändern. Ihr Vater rechnete es ihr vor, doch Melanie drehte sich desinteressiert immer wieder weg und schaute zu ihrem schönen Trampolin. Ich würde viel lieber draußen herumspringen, anstatt mit Papa hier drinnen Mathe zu lernen.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Pierre Goblin, der gesehen hatte, dass seine Tochter ständig aus dem Fenster schaute.

»Ja, ja, schon, Papa.«

»Dann kannst du ja sicherlich auch die Aufgabe ohne Fehler lösen?«

»Ja, sicher«, stammelte Mel und machte sich an die Aufgabe. Sie musste lange überlegen. Wie ging das noch mal? Kurze Zeit später hatte sie ein Ergebnis – falsch. Ihr Vater wurde stinksauer. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört! Willst du wirklich eine schlechte Note bekommen?«

»Es ist doch nur Mathe!«, platzte es zickig aus ihr heraus.

»Nur Mathe also. Es wird dich dein Leben lang begleiten. Beim Einkaufen. Beim Bezahlen von irgendwelchen Verbindlichkeiten. Beim Renovieren. Einfach immer und überall.«

»Papa, das langweilt mich.«

»Du willst es anscheinend nicht anders. Du hast die ganze Woche Hausarrest! Keine Freunde und das blöde Trampolin bleibt für dich tabu.«

»Du bist gemein!«, kreischte Melanie ihren Vater an. Sie sprang trotzig vom Stuhl auf, rannte wütend in ihr Zimmer und schaute traurig auf das Trampolin.

Kapitel 2

Dülmen, 04. Juli 2016

Peter Stark erwartete seinen nächsten Patienten in seiner Praxis im 1. Obergeschoss. Diese befand sich in einem Ärztehaus in der Nähe des örtlichen Krankenhauses. Er hörte sich die sozialen und familiären Probleme der Menschen an. Peter Stark besaß ein normales Gesicht, welches er durch den braunen Rahmen seiner Ray Ban Brille optisch verschönerte. Seine drahtige Gestalt wirkte auf seine Patienten sehr beruhigend. Sie sahen in ihm einen guten Zuhörer und Berater für schwierige Probleme. Die Praxistür wurde geöffnet und der nächste Patient trat herein: Max Gerlach, ein dicker Familienvater von zwei Kindern. Die Haare fielen ihm schon reichlich aus und eine große kahle Stelle hatte sich auf seinem Kopf gebildet.

»Hallo, Herr Gerlach.«

»Hallo, Herr Stark«, gab Max Gerlach zurück und schüttelte dem Mann kräftig die Hand, sodass die Finger leicht schmerzten. Beide nahmen in den bequemen Stühlen, die im Raum standen, Platz. Peter Stark schlug die Beine übereinander und legte seine Hände auf das oben liegende Knie. Max Gerlach ließ sich unmotiviert in das Sofa fallen, welches knarrend nachgab.

»Wie geht's Ihnen heute?«

»Ich fühle mich nicht so gut, meine Kinder tanzen mir auf der Nase herum. Mein Chef nervt mich die ganze Zeit mit immer mehr neuen Aufträgen. Und mein Weib will, dass ich zu Hause noch viele Reparaturen erledige, wenn ich Feierabend habe.«

»Das klingt nach sehr viel Stress für Sie. Bei mir können Sie sich frei entfalten und ihrem Ärger freien Lauf lassen«, bot Peter Stark an.

»Ich wäre gerne mehr für meine Kinder da. Aber wenn ich nach der Arbeit zu Hause ankomme, lasse ich mich zu sehr aus der Ruhe bringen und fühle mich genervt.«

»Ich kann Sie sehr gut verstehen. Der Körper möchte auch einmal abschalten. Vielleicht sollten sie den ganzen Alltagsstress mal hinter sich lassen und mit der Familie einen schönen Urlaub machen.«

»Ja, das wäre toll. Aber aktuell bekomme ich keinen Urlaub von meinem Chef, da so viel zu tun ist.«

»Dann unternehmen Sie doch einen Wochenendausflug mit ihrer Frau und den Kindern. Ein Zoobesuch? Oder ein Besuch in einem Freizeitpark?«

»So etwas könnten wir tatsächlich mal machen. Es gibt auch einen Freizeitpark, der gar nicht so weit weg ist. Und für die Kinder wäre es bestimmt ein riesiger Spaß.«

Die Therapiestunde ging langsam zu Ende und Max Gerlach verabschiedete sich und verließ den Raum. Peter Stark machte sich seine Gedanken. Gut, dass ich keine Kinder habe. Die scheinen nur Probleme zu machen.

Kapitel 3

Frankfurt, 05. Juli 2016

Marc Eisenberg machte sich auf den Weg zum St. Elisabethen Krankenhaus, um Lina Branco zu besuchen. Sie war mit einem grausamen Schrecken ins Hospital eingeliefert worden, als sie mit ansehen musste, wie ihrem Ehemann Franco die Kehle durchgeschnitten wurde. Seitdem stand sie unter Schock und wurde vom Krankenhauspersonal im Auge behalten. Oft wachte sie in der Nacht auf und drückte verschreckt den Alarmknopf. Jedes Mal kam eine Pflegerin herein, um sie zu beruhigen. Sobald die Person es geschafft hatte, konnte sie wieder einschlafen.

Es klopfte jemand an ihre Zimmertür.

»Herein, bitte!«

Marc Eisenberg betrat das Zimmer 204 und sah Lina im Bett liegen. »Hallo Lina«, begrüßte er sie freundlich. Lina war perplex und konnte es nicht glauben, wer da gerade das Zimmer betreten hat. »Marc?«

»Ja, ich bin es.«

»Ich freue mich ja so. Endlich wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen. Es ist ja so langweilig hier.«

Marc Eisenberg kam näher zum Bett. »Ja, das glaube ich dir sofort. Hier ist nicht wirklich viel los. Funktioniert denn wenigstens der Fernseher?«

»Ja, der funktioniert. Ich bin auch immer froh, wenn ich seichte Unterhaltung zu Gesicht bekomme. Das Bild von Franco, wie er so da lag, macht mir gewaltig zu schaffen.«

Marc Eisenberg setzte sich schwerfällig zu ihr aufs Bett. »Das war auch kein schöner Anblick. Mir fällt es auch schwer alles aus meinem Kopf zubekommen. Franco war ein guter Partner und Freund. Ich muss hart dagegen ankämpfen, nicht einzubrechen. Aber ich wollte ... ich musste einfach nach dir sehen, ob es dir schon besser geht.«

»Ich wache zwar noch oft in der Nacht auf, weil die Bilder mich immer und immer wieder heimsuchen, aber ansonsten geht es mir körperlich gut. Wenn alles normal läuft und ich es möchte, darf ich bald das Krankenhaus verlassen.«

»Das ist ja wunderbar! Dann muss ich nachher erst einmal zu Walter fahren und ihm die tolle Nachricht überbringen. Er wird sich bestimmt freuen.«

»Wenn du meinen Schwiegervater nachher triffst, grüßt du ihn dann von mir?«

»Klar doch. Er wird sich bestimmt darüber freuen.«

»Ja, bestimmt.« Lina ergriff Marcs Hand und drückte sie ganz fest. Er erwiderte den Druck. Sie plauderten noch ein wenig über übliche Sachen wie das Wetter, den Tagesablauf und den Ausgang der Wahlen. Nach zwei Stunden angenehmen Small Talk, kam das Mittagessen hereingerollt. Daraufhin stand er auf. »Mach's gut Lina. Wir sehen uns, wenn du wieder draußen bist.«

»Ja, Marc. Wir sehen uns auf jeden Fall sehr bald wieder. Schön, dass du da warst.« Zum Abschied drückte er Lina noch einmal kräftig. Für einen kurzen Augenblick schloss sie die Augen und genoss den Moment der Nähe und Geborgenheit. Marc Eisenberg verließ das Krankenhaus und ging zu seinem Fahrrad. Die Sonne strahlte und es herrschten wohlige Temperaturen. Er schwang sich auf sein Vehikel und fuhr zur Fuchstanzstraße 6, dem Zuhause von Walter Branco. Der Fahrtwind blies ihm eine schwache Brise ins Gesicht. Der Weg vom Krankenhaus zur Fuchstanzstraße 6 betrug nur wenige Kilometer. Was wird Walter zu der guten Neuigkeit sagen? Wird er sich trotz des Todes seines Sohnes freuen können? Hat er den Schock gut überstanden? Marc Eisenberg trat kräftig in die Pedale und kam mühelos vorwärts. So ein bisschen Fahrradfahren half ihm, um selbst den Kopf freizubekommen. Nach zwanzig Minuten zog er links und rechts an den Bremsen des Rades und kam zum Stehen. Schwungvoll hievte er seine Beine auf den Boden und schloss sein Fahrrad ab. Schritt für Schritt kam er der Haustür näher. Sein rechter Zeigefinger betätigte die Klingel. Ein hoher Ton erklang. Es passierte nichts. Marc Eisenberg drückte die Klingel erneut. Wieder nichts. Ist Walter draußen? Oder schläft er? Er horchte, doch er konnte keinen Ton vernehmen. Er ging seitlich am Haus vorbei und betrat den Garten. Die Blumen gediehen prächtig, der Rasen war gepflegt, doch auch hier keine Spur von Walter. Ist er eventuell einkaufen gefahren? Die Sonne sprach dagegen, da sich Walter Branco bei gutem Wetter meistens draußen aufhielt. Marc Eisenberg näherte sich dem großen Fenster, das von innen einen grandiosen Blick in den Garten freigab. Er hielt sich die linke flache Hand als Sonnenschutz gegen seine Stirn. Mit der rechten berührte er das Glas des Fensters. Er schaute nach links, sah nur die Einrichtung des Wohnzimmers. Seine Augen wanderten langsam nach rechts. Der Lieblingssessel von Walter kam in sein Blickfeld. Sein Blick wanderte noch weiter nach rechts. Und blitzschnell zurück, denn dieser warf einen merkwürdig verformten Schatten. So ein Umriss war für einen Sessel nicht normal. Irgendetwas stimmte da nicht. Er fasste einen spontanen Entschluss, holte einen Stein aus dem Garten, den er vorhin beim Herumlaufen gesehen hatte, und ging mit ihm zurück zum Fenster. Mit voller Kraft schmiss er den Gegenstand gegen die Scheibe, Glas splitterte und Scherben flogen klirrend zu Boden. Das Fenster war kaputt und der Griff zum Umlegen war erreichbar. Sein Arm erreichte den Hebel. Eine kleine Bewegung später ließ sich das Fenster öffnen. Ein fauliger, abgestandener Geruch lag in der Luft. Seine Augen untersuchten die Umgebung und blieben an dem Sessel kleben. Ein Arm ragte über der linken Lehne. Die Schritte von Marc Eisenberg beschleunigten sich und der Blick von vorne auf den Sessel wurde frei. Das ausdruckslose Gesicht von Walter Branco starrte ihn an. Eine abgestellte Flasche Cognac und eine leere Packung Schlafmittel befanden sich vor dem Sessel. Er fühlte den Puls. Vergeblich. Walter Brancos Herz schlug nicht mehr. Er war tot. Marc Eisenberg war routiniert genug, dass er alle Anzeichen erkannte und eine Wiederbelebung gar nicht erst versuchte, dann sammelte er sich und zückte sein Handy. Er wählte eine bekannte Nummer.

»Hallo, hier spricht Nils Nolan von der Frankfurter Polizei.« »Hi Nils, ich bin es, Marc. Ich rufe an, weil ich gerade Walter Branco, den Vater unseres verstorbenen Kollegen, tot aufgefunden habe. Es sieht stark nach Selbstmord aus. Kannst du mir ein paar Kollegen und die Spurensicherung herschicken? Die Adresse lautet Fuchstanzstraße 6.«

»Ja, klar. Es dauert ein paar Minuten. Bleibst du vor Ort?«

»Natürlich bleibe ich hier!«

Marc Eisenberg ging zurück an die frische Luft und wartete auf seine Kollegen.

Ein paar Minuten später hielt ein Einsatzwagen an der Straße und zwei Beamte stiegen aus. Sie sahen ihren Kollegen und gingen direkt auf ihn zu. Sie wechselten einige Worte. Kurz darauf rollte auch die Spurensicherung an, die der Selbstmordtheorie später zustimmten, da jegliche Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden konnte und es keine Beweise für fremdes Eindringen gab.

Die Kollegen kümmerten sich um den Rest, damit Marc Eisenberg den Schock in Ruhe verarbeiten konnte.

Er konnte es nicht glauben, dass Walter sich umgebracht hatte. Er setzte sich auf sein Fahrrad und die Füße überschlugen sich beim Hoch- und Runterbewegen der Pedale. Die Geschwindigkeit erhöhte sich rasant. Nur noch ein Ziel im Kopf: nach Hause. Das Adrenalin wurde durch seinen Körper gepumpt. Er fuhr sich in einen sportlichen Rausch. Seine Wohnung rückte immer näher. Zu Hause fühlte man sich zu jeder Zeit geborgen. Die letzten Meter zu seiner Wohnung rollte er aus. Die Reifen stoppten und er schwang seine Beine vom Rad. Er überlegte kurz, ob er vor Zorn sein geliebtes Fahrrad einfach wegschmeißen sollte, doch er hob es hoch und trug es die Kellertreppen hinunter. Er schloss die Kellertür auf und verstaute das Rad im Inneren des geräumigen Raumes.

Zwei Minuten später befand er sich in seiner Wohnung. Dort fing er an sein T-Shirt, welches klitschnass von der Anstrengung war, auszuziehen. Hose und Unterwäsche folgten. Der Wasserhahn der Dusche wurde betätigt und Marc Eisenberg sprang unter den kalten Strahl. Ich muss erst mal wieder einen kühlen Kopf bekommen. Nach der erfrischenden Dusche beschaute er sich im Spiegel. So ein perfekter Körper von außen, aber innerlich zerbricht er immer mehr. Vielleicht tut mir ein Ortswechsel gut? Er lief nackt durch die Wohnung zu seinem Kleiderschrank, holte frische Klamotten heraus. Boxershorts, Socken, T-Shirt und eine bequeme Hose. Angezogen nahm er sein Smartphone in die Hand und blätterte seine Kontakte durch. Bei Pascal Ehrmann, einem alten Freund, stoppte er die Suche. Der Anruf wurde aufgebaut und ein Freizeichen ertönte. Es war eine Weile nichts zu hören, dann wurde auf der anderen Seite abgenommen. »Ehrmann«, meldete sich eine tiefe, raue Stimme.

»Eisenberg. Marc Eisenberg.«

»Nein, Marc bist du es wirklich? Ich habe schon eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört. Ich wollte erst gar nicht abnehmen, weil ich die Nummer nicht zuordnen konnte.«

»Oh sorry, ich habe dir wohl die Nummer von meinem anderen Handy gegeben. Ich mache inzwischen fast alles mit meinem beruflichen Smartphone. Ich muss ja immer erreichbar sein.«

»Schön mal wieder was von dir zu hören. Wie geht's dir denn?«

»Total beschissen.«

»Wieso was ist passiert? Du musst es mir nicht erzählen, wenn du es nicht willst.«

Marc Eisenberg holte einmal tief Luft und fing an: »Mein Partner wurde bei den letzten Ermittlungen ermordet und vor ein paar Minuten habe ich einen weiteren Toten gefunden, den ich gut kannte.«

»Das klingt ja fürchterlich.« Es entstand eine unangenehme Stille, dann fuhr Pascal fort: »Wie kann ich dir denn helfen?«

»Ich habe mir über einen Ortswechsel Gedanken gemacht. Ich hoffe, du wohnst noch an dem schönen Campingplatz in Dülmen.«

»Da wohne ich noch. Ich fühle mich hier einfach sehr wohl.«

»Das klingt super. Kann ich ein paar Tage zu dir kommen? Ich muss einfach mal wieder was anderes sehen.«

»Ja, an sich schon. Nur weißt du ja, dass ich hier nicht sonderlich viel Platz habe.«

»Kein Problem. Hauptsache ich bekomme irgendwie einen Schlafplatz, da bin ich nicht so wählerisch.«

»Dann ist das kein Problem.«

»Schwingst du dich auch noch regelmäßig aufs Fahrrad, so wie wir es früher immer zusammen gemacht haben?«

»Na ja, ich muss eingestehen, dass es weniger geworden ist, aber ich habe immer noch zwei Räder zur Auswahl.«

»Das ist ja perfekt. Dann hätte ich ja sogar ein Fortbewegungsmittel in Dülmen, wenn du mir ein Rad leihen würdest?«

»Einem alten Freund leihe ich alles. Also, wann möchtest du denn zu mir kommen?«

»Am liebsten so schnell es geht. Ich muss nur meinen Chef nach Urlaub fragen, falls ich eine Freigabe erhalte, würde ich mich noch mal bei dir melden.«

»Dann kläre das ab. Ich würde mich sehr freuen, dich mal wiederzusehen.

»Ich mich auch.«

»Dann bis später, Marc«

»Bye, Pascal.« Marc Eisenberg legte auf und das Gespräch war beendet. Es wäre eine klasse Gelegenheit den emotionalen Stress hinter sich zulassen.

Pascal fing an, seinen kleinen Wohnwagen auf Vordermann zu bringen. Als Single nahm er es mit der Sauberkeit nicht so genau. In den Ecken hingen einige Spinnweben, leere Pizzakartons lagen unordentlich herum und der Boden war leicht fleckig. Es dauerte zwei Stunden, bis ihn das Ergebnis zufriedenstellte. So gestrahlt hatte sein Heim schon lange nicht mehr.

Derweil führte Marc Eisenberg ein weiteres Telefonat. »Hallo Chef, ich bin es Marc.«

»Hallo, Kommissar Eisenberg«, gab eine forsche Stimme zurück. »Haben Sie ein Anliegen oder warum rufen Sie mich an?«

»Ich habe ein Anliegen an Sie. Ich würde gerne um Urlaub bitten, da ich zurzeit etwas neben der Spur bin und etwas Zeit für mich bräuchte.«

Ein Räuspern drang durch die Leitung. »Also was Sie in letzter Zeit durchgemacht haben, war bestimmt nicht leicht, da würde Ihnen eine Ablenkung sicher nicht schaden. Ihr Glück ist es, dass die Belegschaft momentan wieder sehr gut besetzt ist. Also genehmige ich Ihnen den Urlaub. Sie müssen ihn direkt morgen antreten, bevor sich unsere Personalstärke wieder verschlechtert.«

»Das klingt gut.«, antwortete Marc Eisenberg, da er wusste, dass sich sein Chef auf keine Diskussion einlassen würde.

»Wie lange dann? Eine Woche? Zwei Wochen?«

»Zwei.«

»Ist genehmigt.«

»Vielen Dank, Chef. Ich weiß das sehr zu schätzen.«

»Erholen Sie sich gut, ich erwarte Sie in alter Stärke zurück.«

Mit Bestätigung seines Chefs fing er an zupacken. Es dauerte nur zwanzig Minuten, da stand ein fertig gepackter, verschlossener Koffer neben dem Bett bereit. Er griff zum Handy und rief Pascal Ehrmann erneut an.

»Ehrmann.«

»Pascal, ich bin es noch mal.«

»Ah, sorry Marc. Ich war gerade voll im Stress. Hab deine Nummer nicht erkannt. Hast du deinen Urlaub schon bewilligt bekommen oder warum rufst du an?«

»Ich habe vorhin meinen Chef angerufen. Das Gespräch mit ihm dauerte keine drei Minuten. Er sagte, dass unsere Personalstärke gut genug ist, damit ich direkt morgen meinen Urlaub antreten kann.«

»Das klingt ja super. Dass es so schnell geht, hätte ich im Leben nicht erwartet. Wann möchtest du zu mir kommen?« »Ich würde mich jetzt um ein Zugticket kümmern und wäre dann aller Voraussicht nach morgen Nachmittag bei dir.«

»Sehr gut, die Adresse kennst du noch?«

»Ja, die kenne ich noch. Wir sehen uns dann morgen.«

»Bis morgen.«

Marc Eisenberg schmiss den Laptop an, gab eine Internetseite ein, ließ sich die verschiedenen Verbindungen anzeigen und wählte eine aus. Er bezahlte das Ticket per Kreditkarte. Zufrieden schaltete er seinen Laptop aus.

Kapitel 4

Dülmen, 06. Juli 2016

Die Mathe-Schulstunde bei Frau Müller an diesem Mittwochmorgen begann mit einem Ding Dong. Sie begrüßte ihre Schüler kurz und verteilte dann einen Test. Melanie schluckte kräftig, hätte sie ihrem Vater nur besser zugehört. Sie überflog die Aufgaben, massenweise Klammerrechnen. Wie ging das noch mal? Melanie grübelte. Aufgabe für Aufgabe erledigte sie. Fünfundvierzig Minuten später legte sie ihre Mathearbeit auf den Abgabestapel auf dem Lehrerpult ab. Ihr Gefühl war nicht das Beste, aber sie hatte immerhin überall etwas stehen. Vier weitere Schulstunden verflogen wie im Fluge, dann kam die sechste und letzte Schulstunde. Nochmals Mathe. Frau Müller betrat zum zweiten Mal am heutigen Tag das Klassenzimmer. Melanie Goblin staunte, als sie einen dicken Packen Papier erkannte. »Schreiben wir noch einen Test?«

»Nein, Melanie, wir schreiben keinen weiteren Test, aber ihr bekommt euren Test, den ihr heute Morgen geschrieben habt wieder. Das Korrigieren ging sehr fix.« Frau Müller schrieb den Notenspiegel an die Tafel, dreimal ein sehr gut, elfmal gut, zweimal befriedigend, sechsmal ausreichend und einmal mangelhaft. Melanie betete für eine schöne Note. Sie durfte auf gar keinen Fall nicht die Fünf haben. Der Moment der Wahrheit war gekommen, der Test lag vor ihr. Sie blätterte ihn durch und am Ende stand ihre Note. Mangelhaft. Die roten Buchstaben hatten etwas Bedrohliches an sich und Melanies gute Laune war dahin. So was Dummes! Papa wird fürchterlich sauer sein. Sie traute sich kaum nach Hause und hatte Angst vor der Reaktion ihres Vaters. Als der Schulbus an der Haltestelle stand, überlegte sie kurz, ob sie einsteigen oder lieber wegrennen sollte. Mit einem mulmigen Gefühl stieg sie ein. Die anderen Kinder lachten und alberten herum, doch sie saß nur still mit ihrem Rucksack auf dem Schoß auf ihrem Platz. Der Bus hielt an ihrer Haltestelle. Zögerlich stieg sie aus.

Jenny Goblin wartete mit dem kleinen Opel Corsa, den sie an der Gaststätte Böinghoff geparkt hatte, auf ihre kleine Tochter. Als Melanie aus dem Bus, der gerade an der Halternerstraße hielt, stieg, breitete die Mutter vor Freude ihre Arme aus. Melanie zögerte kurz, dann rannte sie ihr entgegen und ließ sich von ihr stoppen. »Na Süße, wie war die Klassenarbeit in der Schule?«

»Ach Mama, können wir nicht über etwas anderes sprechen.«

»Oh, so schlimm? Wann bekommt ihr den Test zurück?«

»Ja! Wir haben ihn heute schon wieder bekommen. Papa wird bestimmt sauer sein.«

»Nein, das glaube ich nicht, Kleines,« sagte Jenny zu ihrer Tochter, um sie zu beruhigen. Dann nahm sie Melanie den Schulrucksack ab und führte sie zum geparkten Auto. Sie stiegen ein und fuhren ein paar Minuten bis nach Hause.

Pierre Goblin hatte es sich im Garten mit einer Flasche Bier bequem gemacht. Es war zwar erst dreizehn Uhr, doch für heute war seine Arbeit erledigt. Seine Mitarbeiter schafften den Rest auch ohne ihn, hoffte er zumindest. Er sah, wie das Auto auf dem Parkplatz stoppte und war bereit, eine gute Nachricht zu erhalten. Jenny und Melanie waren in Reichweite. »Na Mel, wie lief der Test? Hat das Üben was gebracht?« Mel schaute zu Boden. »Ja, der Test lief super.«

Pierre Goblin freute sich innerlich. Unbedacht sagte Jenny: »Die haben den Test sogar heute schon zurückbekommen.« »Dann zeig mal die gute Note her.« Melanie zierte sich und wollte an ihrem Papa vorbeirennen, um schnellstmöglich aufs Trampolin zu können. »Ach Papa, kann ich dir den Test nicht ein anderes Mal zeigen?«

»Ich würde die gute Note gerne jetzt sehen, damit ich bei meinen Mitarbeitern angeben kann, was für eine kluge Tochter ich habe.« Melanie fummelte an ihrem Rucksack herum, den sie wieder an sich genommen hatte. Sie zog den Reißverschluss auf und holte den Mathetest heraus. Pierre schaute drauf. Ein sehr langes Wort stand in roter Farbe auf dem Test. Mangelhaft. Dieses Wort war wie ein Schuss in Herz. »Ist das dein Ernst?«, brüllte Pierre seine Tochter an. »Ich habe versucht, mit dir zu üben, doch du warst total desinteressiert. Hattest immer nur dein blödes Trampolin im Kopf. Jetzt kann es sein, dass du ein mangelhaft in Mathe auf deinem Zeugnis bekommst, ist dir das klar?«, redete sich Pierre in Rage. »Jetzt komm mal runter. Es ist doch nur eine Note von vielen auf dem Zeugnis«, wand Jenny ein, um ihre geliebte Tochter in Schutz zu nehmen.

»Du hältst auch immer zu deiner Tochter. Sie darf sich wohl alles erlauben und du würdest sie trotzdem immer in Schutz nehmen.«

»Jetzt reicht's! Hast anscheinend zu viel Bier auf, Liebling.

Wir führen die Diskussion später weiter.« Jenny nahm ihre Tochter an die Hand und ließ ihren Ehemann eiskalt stehen. »Das blöde Trampolin ist an allem schuld! Ich werde es wohl verkaufen müssen«, brüllte er seinen beiden Frauen hinterher. Melanie blieb erschrocken stehen, als sie die Worte »Trampolin« und »verkaufen« hörte, doch davon bekam Jenny nichts mit, da sie so stark an der Hand ihrer Tochter zog.

Marc Eisenberg saß im Taxi zum Bahnhof. Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, da er sich vor seiner Abreise nicht mehr bei Lina blicken ließ, aber er wollte sie nicht mit weiteren unheilvollen Nachrichten konfrontieren. Ein Koffer war sein einziger Begleiter für die Reise. Die Taxifahrt dauerte nicht lang und er bezahlte die Rechnung mit einem kleinen Trinkgeld. Er betrat den Bahnhof, schaute hoch zur Anzeigetafel und entdeckte das Gleis, von dem sein Zug abfahren sollte. Gleis 6, ICE 26 mit der Endhaltestelle Bremen Hauptbahnhof. Er begab sich zum Gleis und der Zug hielt pünktlich. Er stieg ein und suchte seinen reservierten Sitzplatz Nummer 78. Den Koffer schmiss er oben auf das Ablagefach. Er machte es sich im Sitz der 2. Klasse bequem und nutzte die fast vierstündige Fahrt bis nach Münster (Westfalen) Hauptbahnhof, um sich zu erholen. Von der Landschaft bekam er kaum etwas mit, da seine Augen den größten Teil der Reise geschlossen waren. »Nächster Halt: Münster (Westfalen) Hauptbahnhof. Ausstieg links«, dröhnte es aus den Lautsprechern im Zug. Marc Eisenberg holte seinen Koffer herunter und begab sich zum Ausgang. Ein Zugumstieg wartete noch auf ihn. Er lief vom Gleis 12 zum Gleis 14 und stieg in den dort schon wartenden RE 10246. Die Fahrt von Münster bis nach Dülmen betrug exakt dreiundzwanzig Minuten. In Dülmen angekommen, stieg er aus und holte sich in dem kleinen Kiosk eine Kleinigkeit gegen seinen Hunger. Glücklicherweise stand ein Taxi parat, als er nach draußen kam. Er trat heran und sprach den Fahrer durchs offene Fenster an. »Einmal zum Dülmener See.«

»Alles klar.«, antwortete der Fahrer und kam heraus. Er verstaute Marcs Koffer im Kofferraum und sagte beiläufig: »Sie können schon einsteigen.« Marc Eisenberg stieg ein. Zwanzig Sekunden später saß der Taxifahrer neben ihm und betätigte das Taxameter. Die Fahrt war schnell vorbei und die Rechnung bezahlte Marc Eisenberg erneut mit einem kleinen Trinkgeld. Nach fast fünf Stunden Anreise kam er endlich bei Pascal an. Dieser wartete schon an der Eingangsschranke des Campingplatzes auf seinen Freund. »Hi Marc, hattest du eine angenehme Anreise?«, fragte Pascal ihm die Hand entgegenstreckend. Marc Eisenberg nahm die Begrüßung an und sagte: »Es hätte schlimmer sein können, die Züge waren wenigstens heute mal alle pünktlich. Ich hatte keine Verzögerungen.«

»Das ist ja mal was ganz Neues.«

Beide fingen an zu lachen.

»Marc, du hast dich ja kaum verändert. Du bist immer noch so durchtrainiert wie früher.«

»Danke, aber du hast ein kleines Bäuchlein bekommen, wie kommt's?«, neckte er seinen Freund.

»Zu viele Zigaretten halten mich vom regelmäßigen Fahrradfahren ab«, gab Pascal zurück und als wäre das sein Stichwort gewesen, zündete er sich auch prompt einen Stängel an.

»Also hast du dir das Rauchen noch nicht abgewöhnt?«

»Alte Laster lassen sich nur schwer verändern.«

»Ist wohl wahr. Was ist denn hier in Dülmen so los? Gibt's die alte Disco – den Giga-Parc – noch?«

»Du warst echt sehr lange nicht mehr hier. Den Giga-Parc gibt es schon ein gefühltes Jahrhundert nicht mehr. Danach haben noch der Club Masquerade und der Terrordome versucht, Leben in das alte Gebäude zubringen. Ohne Erfolg.

Das Gebäude steht zurzeit leer.«

»Oh Mann, schade. Gibt's denn gute Alternativen?«

»Die beste Adresse für unser Alter, um etwas zu feiern, ist eine Kneipe auf der Borkenerstraße direkt neben einem Friseurladen.«

»Mal sehen, ob wir die Zeit finden, da hinzugehen.«

Durch das Gespräch, war der Weg von der Schranke bis zu Pascals Wohnwagen sehr schnell umgegangen. Sie betraten die kleine Behausung. Es fehlte kaum etwas, nur alles war viel enger beisammen und das Platzangebot begrenzt. Marc Eisenberg stellte seinen Koffer ab. Kurz darauf verließen sie den Wohnwagen und setzten sich nach draußen in zwei bereitstehende Stühle. Sie vernahmen laute Geräusche, denn jemand brüllte: »Ich habe versucht, mit dir zu üben, doch du warst total desinteressiert. Hattest immer nur dein blödes Trampolin im Kopf. Jetzt kann es sogar sein, dass du ein mangelhaft in Mathe auf deinem Zeugnis bekommst, ist dir das klar?«

Marc Eisenberg drehte sich irritiert zu Pascal um. »Schreien die Leute hier öfters so laut herum? Und was ist das überhaupt für ein komischer Kerl, der hier den ganzen Campingplatz zusammen brüllt?«

»Na ja, streng genommen gehört das Haus, woher das Gebrüll kommt, nicht zum Gelände des Campingplatzes. Der Herr, der da brüllt, wird wohl Herr Goblin sein. Er hat Geld, wie manch andere Heu.«

»Also weil er meint, dass er reich ist, kann er herumschreien, wie er will?«

»Herrn Goblin gehört ein Architekturbüro in Buldern und er verdient schon ordentlich. Eigentlich ist er eher ein ruhiger Vertreter, außer etwas läuft nicht genau nach seiner Pfeife.«

»Da scheint ihn wohl gerade seine Tochter mit zu ärgern. Einfach ein mangelhaft in Mathe mit nach Hause zu bringen. Armes Kind, bei solch einem Vater!«

Kapitel 5

Dülmen, 07. Juli 2016

Peter Stark fieberte dem Wochenende entgegen. Er brauchte endlich wieder Ablenkung von den ganzen Problemen seiner Patienten. Gleich sollte der Letzte am heutigen Donnerstag kommen. Ein gut gekleideter Mann mit einem kleinen Bäuchlein. Er erzählte sehr viel. Es hörte sich immer grausam und langweilig zugleich an. Doch irgendwas hatte der Mann an sich. War es die Ausstrahlung? Der fesselnde Blick? Oder einfach die ganze Art und Weise seines Auftretens? Der Patient jammerte ständig herum, wie schlecht es ihm ging, und dass er von dem Geld, welches er verdiente, kaum einen Cent selbst ausgeben kann. Er wirkte immer leicht traurig. Peter Stark fand ihn auf eine bestimmte Art faszinierend. Irgendetwas hatte er an sich, nur was? Er hatte gar nicht das Gefühl, dass der Mann seine Hilfe benötigte und so war er jedes Mal, wenn er wieder wegging, erleichtert und froh, unbeschadet aus der Sache herausgekommen zu sein.

Der Mann kam auch heute wie immer pünktlich. Keine Sekunde zu spät. Er nahm kerzengerade Platz. Er hatte heute ein erstaunlich gut riechendes Parfüm aufgetragen. Hatte der Mann vorher ein Date? Oder nachher? Oder war das Parfüm ein Geschenk von irgendwem? Das Gespräch handelte erneut um dieselben Angelegenheiten, bis er sich bewegte und sich leicht zu Herrn Stark drehte. Seine Augen durchbohrten den Psychologen beinahe. Peter Stark hörte dem Mann genau zu und dieser genoss die volle Aufmerksamkeit. Als der Mann in seinem Rederausch war, nahm das Gespräch eine Wendung, die Peter Stark nie im Leben erwartet hätte. Als die Therapiestunde beendet war, verließ der Patient mit breitem Lächeln das Zimmer.

Kapitel 6

Dülmen, 08. Juli 2016

Max Gerlach hatte die ganze Arbeit satt. Er war zu seinem Chef gegangen und hatte um Urlaub gebettelt, doch dieser blieb hart und verweigerte ihm in der Hochsaison die erhoffte Freizeit. Dieses Arschloch, das wird er büßen, fluchte Max Gerlach innerlich. Unmotiviert und niedergeschlagen ging er an seine Arbeit zurück. Er hätte zu gerne einen kleinen Urlaub mit der Familie gemacht. Jetzt blieb ihm nur das Wochenende für irgendwelche Unternehmungen, wenn seine Frau nicht schon alles verplant hatte.