Das überforderte Gehirn - Adam Gazzaley - E-Book

Das überforderte Gehirn E-Book

Adam Gazzaley

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Beschreibung

Wir sind von unseren technischen Geräten nahezu besessen. Zudem sind wir stolz auf unsere Multitasking-Fähigkeiten: zugleich telefonieren, E-Mails senden und Autofahren, kein Problem. Kein Familienessen ohne blinkende Smartphones neben den Tellern. Wir wollen immer alles auf einmal – ungeachtet von Schreibfehlern, Beinahe-Unfällen und ignorierten Gesprächen zu Tisch. Doch haben wir wirklich noch alles im Griff? Gazzaley und Rosen – ein Neurowissenschaftler und ein Psychologe – erklären, warum unsere Gehirne nicht fürs Multitasking gemacht sind. Ablenkungen, Unterbrechungen und technologische "Interferenzen" überfordern unsere Gehirne. Wir sind schlicht nicht auf eine so vernetzte Welt programmiert. Die Autoren zeigen, wie wir dank der Wissenschaft mehr Rücksicht auf unsere "alten" Gehirne nehmen können. Sie bieten praktische Strategien, um die heutigen Herausforderungen zu bewältigen – mithilfe von Mediation, Videospielen, Fitnessübungen und Verhaltensänderungen. Es geht dabei nicht etwa darum, völlig offline und zurückgezogen zu leben. Es geht darum, eine gute Balance zwischen unseren Möglichkeiten und der Hightech-Welt zu finden

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Seitenzahl: 538

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2018

© 2018 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2016 by Adam Gazzaley and Larry D. Rosen.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei The MIT Press unter dem Titel The Distracted Mind.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Dr. Heide Lutosch und Franka Reinhart, Leipzig Redaktion: Matthias Michel, Wiesbaden Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Umschlagabbildung: Shutterstock/Mar Kyr

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

ISBN Print 978-3-86881-673-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-964-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-965-8

Inhalt

Vorwort

Teil I Kognition und Grundbegriffe der kognitiven Steuerung

1. Interferenz

2. Ziele und kognitive Steuerung

3. Gehirn und Steuerung

4. Einschränkungen der Steuerung

5. Schwankungen und Abweichungen

Teil II Verhalten in der Hightech-Welt

6. Die Psychologie der Technik

7. Auswirkungen konstanter Aufmerksamkeitsverschiebung

8. Auswirkungen von Informationstechnologien auf verschiedene Bevölkerungsgruppen

9. Warum unterbrechen wir uns selbst?

Teil III Gezielte Steuerung

10. Ankurbeln der Steuerung

11. Verhalten ändern

Danksagung

Über die Autoren

Vorwort

Dieses Buch ist das erste seiner Art, das sich den ganz realen Herausforderungen zuwendet, mit denen wir in unserer außerordentlich spannenden, jedoch auch extrem ablenkenden Hightech-Welt konfrontiert sind – und zwar aus der doppelten Perspektive eines Psychologen und eines Neurowissenschaftlers. Anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen und realen Beispielen, wie Menschen konkret mit ihrem eigenen überforderten Gehirn umgehen, vermitteln wir Ihnen einen einzigartigen Blick auf unsere von Informationen immer stärker gesättigte Umwelt (mit allgegenwärtigen Smartphones, Chat-Nachrichten, E-Mails, sozialen Medien und Computerspielen, Werbeeinblendungen und Dialogfenstern) in Verbindung mit ständig zunehmenden Erwartungen, dass wir das ganze Jahr über rund um die Uhr erreichbar sind und auf alles sofort reagieren. Wir legen dar, wie immens unser Gehirn davon beansprucht wird. Das überforderte Gehirn nimmt Sie mit auf eine Reise, auf der Sie erfahren, wie und warum wir so sehr mit Unterbrechungen und Ablenkungen zu kämpfen haben, die sowohl innere als auch äußere Ursachen haben können. Außerdem vermitteln wir Ihnen ganz praktische Strategien, wie Sie Ihr Verhalten ändern und Ihr Gehirn gegen Interferenzen wappnen können, damit Sie Ihre Ziele besser erreichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die unterbrechenden Technologien unsere Aufmerksamkeit immer stärker von den wichtigen Aspekten des Lebens ablenken, weshalb wir unbedingt verstehen müssen, warum wir so anfällig sind für Interferenz und wie wir vor dem Hintergrundrauschen unserer Hightech-Welt relevante Signale nicht aus dem Blick verlieren.

Das überforderte Gehirn ist kein pseudowissenschaftliches Werk, das versucht, mit farbenfrohen Hirnscans und fragwürdigen Inhalten zu überzeugen. In diesem Buch präsentieren wir mit vereinter wissenschaftlicher Kompetenz aktuelle und praxisbezogene Erkenntnisse. Dr. Adam Gazzaley ist kognitiver Neurowissenschaftler und ein Vorreiter in der Forschung darüber, wie das Gehirn mit Ablenkungen und Unterbrechungen umgeht. Dr. Larry Rosen ist Psychologe, der sich vor allem mit der »Psychologie der Technik« beschäftigt und seit mehr als dreißig Jahren als Pionier auf diesem Gebiet tätig ist. Aus beiden Perspektiven setzen wir uns damit auseinander, warum wir uns in unserem modernen technischen Ökosystem nur ungenügend orientieren können und inwiefern dies unsere Sicherheit, Kognition, Bildung, Arbeitsumgebung und Beziehungen zu Freunden und Verwandten massiv beeinträchtigt. Wir illustrieren diesen Diskurs mit unseren Forschungsergebnissen und wissenschaftlichen Hypothesen sowie Auffassungen anderer Experten und erläutern, warum unser Gehirn nur so mühsam mit den Anforderungen durch Kommunikation und Informationen zurechtkommt.

Wir gliedern unsere Darstellung in drei Teile. In Teil I vermitteln wir Ihnen neu gewonnene Erkenntnisse, warum unser »Interferenz-Dilemma« überhaupt existiert und weshalb es für uns aktuell eine so große Rolle spielt. Wir erörtern, wie ein besonders hoch entwickelter Aspekt unseres Gehirns, der unser Menschsein kennzeichnet – die Fähigkeit, uns übergeordnete Ziele zu setzen –, heftig mit den fundamentalen Einschränkungen unseres Gehirns hinsichtlich der kognitiven Steuerung – Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Ziel-Management – kollidiert. Diese Kollision bewirkt eine enorme Empfänglichkeit für Ziel-Interferenz in Form von Ablenkungen durch irrelevante Informationen sowie Unterbrechungen durch Versuche von Multitasking. Diese Störungen beeinträchtigen unsere Wahrnehmungen, wirken sich auf unser Sprachvermögen aus, behindern Entscheidungsprozesse und hemmen präzise Erinnerungen an Lebensereignisse. Die negativen Auswirkungen sind noch stärker ausgeprägt bei Menschen mit unterentwickelter oder gestörter kognitiver Steuerung, z. B. bei Kindern, Jugendlichen und Senioren sowie klinischen Populationen. Weiterhin erörtern wir aus evolutionärer Perspektive, warum wir stark Interferenz-fördernde Verhaltensweisen zeigen und dabei gewissermaßen optimal agieren, um unseren inhärenten Trieb nach Informationsbeschaffung zu befriedigen.

In Teil II untersuchen wir sorgfältig unser reales Verhalten und zeigen, wie die in Teil I beschriebene Kollision durch unsere ständige Konfrontation mit den vielfältigen Möglichkeiten moderner Informationstechnologie zusätzlich verstärkt wird. Wenn wir mit Freunden und Verwandten gemütlich am Tisch sitzen und zusammen essen, schauen wir alle immer wieder auf unser Handy. Niemand steht mehr untätig in einer Warteschlange und hängt einfach seinen Gedanken nach oder unterhält sich mit den Mitwartenden. Stattdessen starren wir wie gebannt auf unser Smartphone und tauchen dabei in virtuelle Welten ein. Wir verteilen unsere beschränkte Aufmerksamkeit auf komplexe Anforderungen, die häufig nachhaltige, alleinige Konzentration und intensives Nachdenken erfordern. Wir erläutern, warum wir uns so verhalten, obwohl wir uns der Nachteile bewusst sind. Anhand eines neuen Modells auf Grundlage der Theorie zur optimalen Nahrungsbeschaffung legen wir dar, wie unsere Hightech-Welt dieses Verhalten aufrechterhält, indem wir unseren instinktiven Drang nach Informationen jederzeit befriedigen können und darüber hinaus starke internale Faktoren wie Langeweile und Angst eine Rolle spielen. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir mit einem archaischen Gehirn in einer Hightech-Welt leben.

In Teil III erörtern wir schließlich, was wir ändern können, um die Resilienz unseres Gehirns zu stärken, und welche Verhaltensstrategien wir anwenden sollten, um in allen Lebensbereichen zu bestehen. Zunächst widmen wir uns dabei einer breiten Palette von möglichen Ansätzen – von technikfrei bis Hightech –, die uns zur Verfügung stehen, um die Neuroplastizität zu fördern und unser überfordertes Gehirn zu stärken. Dabei betrachten wir unter anderem traditionelle Bildung, kognitives Training, Computerspiele, Medikation, körperliche Betätigung, Meditation, Naturerfahrung, Neurofeedback sowie Hirnstimulation und legen dar, wie in unseren faszinierenden Zeiten genau jene Technologien, die das überforderte Gehirn hervorbringen, im Umkehrschluss als Gegenmittel eingesetzt werden können. Anschließend geben wir Hinweise, wie wir unser Verhalten gezielt modifizieren können, ohne auf moderne Technik zu verzichten, um die negativen Auswirkungen der Überforderung unseres Gehirns zu minimieren. Unter Verwendung des weiter vorn im Buch vorgestellten Optimalitätsmodells als theoretische Grundlage für die empfohlenen Verhaltensänderungen sind alle von uns vorgeschlagenen Strategien praxiserprobt und wissenschaftlich solide unterfüttert.

Das überforderte Gehirn vermittelt Einsichten, wie und warum unser Gehirn Schwierigkeiten dabei hat, den permanenten Informationsstrom zu bewältigen und sich in einer von unaufhörlichen Unterbrechungen und Ablenkungen geprägten Welt auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir weiten diese Perspektive noch etwas aus und beschäftigen uns damit, welche Folgen diese Überbeanspruchung in unserem Privatleben, im Straßenverkehr, in der Schule und am Arbeitsplatz hat, und erörtern, warum wir uns so verhalten. Ganz entscheidend ist jedoch, dass wir handfeste, praktikable Hinweise vermitteln, was wir konkret tun können, um im Informationszeitalter erfolgreich unseren Weg zu gehen.

Teil I Kognition und Grundbegriffe der kognitiven Steuerung

Unser Gehirn ist ein beeindruckendes System zur Informationsverarbeitung und die komplexeste der Menschheit bekannte Struktur. Das Gehirn ermöglicht es uns, so außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen wie die Entdeckung der allgemeinen Relativitätstheorie, die Fresken in der Sixtinischen Kapelle, den Bau von Flugzeugen oder die Komposition von Sinfonien. Und trotzdem vergessen wir immer wieder, auf dem Heimweg Milch zu kaufen. Wie passt das zusammen?

Im ersten Teil dieses Buches erläutern wir, wie der Konflikt zwischen unseren Zielen und unseren beschränkten Fähigkeiten zur kognitiven Steuerung zu Interferenzen und Leistungseinbußen führt. In Kapitel 1 erörtern wir zunächst detailliert das Thema Interferenz und erklären, worum es sich dabei genau handelt, wie sie uns beeinflusst und warum ihre negativen Auswirkungen offenbar immer mehr zunehmen. Wir stellen ein Modell vor, das ursprünglich dazu entwickelt wurde, um das Verhalten von Tieren bei der Nahrungssuche zu veranschaulichen, und sich unserer Auffassung nach auch dazu eignet, um unsere Neigung zum häufigen Aufgabenwechsel zu verstehen. In Kapitel 2 beschäftigen wir uns damit, wie sich das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution entwickelt hat, um komplexe Ziele zu formulieren und sie mithilfe einer Reihe von Fähigkeiten umzusetzen, die als kognitive Steuerung bezeichnet werden: Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Ziel-Management. In Kapitel 3 tauchen wir tief ein in das Gehirn des Menschen. Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen, nichtinvasiven Technologien machen es möglich, dem Gehirn gewissermaßen bei der Arbeit zuzuschauen und dadurch zu verstehen, welche Prozesse darin ablaufen und wie kognitive Steuerung eigentlich funktioniert. So beeindruckend diese Vorgänge auch sein mögen, unterliegen sie jedoch auch nicht zu unterschätzenden Einschränkungen, die sich im Vergleich zu unseren steinzeitlichen Vorfahren gar nicht so sehr verändert haben. In Kapitel 4 werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie und wodurch unsere Aufmerksamkeit, unser Arbeitsgedächtnis und unser Ziel-Management eingeschränkt werden. In Kapitel 5 betrachten wir schließlich, inwiefern diese Einschränkungen durch Alter, Erkrankungen und selbst unsere momentane mentale Verfassung beeinflusst werden.

1.Interferenz

Wie wir festgestellt haben, ist das menschliche Gehirn ein wahrer Meister darin, uns durch die Flut von Informationen, die permanent auf uns einströmt, zu navigieren. Und dennoch fühlen wir uns oft überfordert, wenn wir relativ simple Aufgaben zu erfüllen haben. Dies ist auf die Interferenz zurückzuführen. Dabei handelt es sich um Ablenkungen durch irrelevante Informationen sowie Unterbrechungen infolge unseres Bestrebens, jeweils mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Viele von Ihnen werden jetzt vielleicht vorwurfsvoll auf ihr Smartphone schauen. Aber ehe wir dieses Gerät als potenzielle Quelle allen Übels verdammen, ist es wichtig zu verstehen, dass unsere Anfälligkeit für Interferenz – oder was wir in diesem Buch als das »überforderte Gehirn« bezeichnen – nicht erst durch moderne Technologie entstanden ist. Vielmehr beruht es auf einer funktionellen Schwachstelle unseres Gehirns. Schauen wir uns einmal drei Szenarien an, die sowohl heute als auch vor mehr als hundert Jahren passiert sein könnten:

–Sie kommen in die Küche, öffnen den Kühlschrank (oder den Tiefkühler) und stellen betrübt fest, dass Sie völlig vergessen haben, was Sie eigentlich holen wollten. Wie ist so etwas möglich? Natürlich sind Sie problemlos imstande, sich einen einzelnen Fakt die wenigen Sekunden zu merken, die Sie für den Weg in die Küche brauchten. Nach kurzem Überlegen erkennen Sie, dass die Ursache keine reine Fehlleistung Ihres Gedächtnisses war, sondern das Ergebnis von Interferenz – der Gedanke an eine bevorstehende Besprechung hat sich in den Vordergrund gedrängt und Sie von Ihrem Ziel abgelenkt.

–Sie sitzen in einer Besprechung, starren Ihre Kollegin an, die Ihnen in einem gut besuchten Lokal gegenübersitzt, und versuchen krampfhaft, ihren Worten zu folgen. Sie akustisch zu verstehen ist kein Problem, aber Ihr Gehirn gerät durch die Geräuschkulisse im Raum immer wieder auf Abwege, obwohl Sie sich größte Mühe geben, diese Ablenkungen zu ignorieren.

–Sie gehen nach der Besprechung zu Fuß durch ein unbekanntes Stadtviertel nach Hause, doch statt sich auf den Weg zu konzentrieren, denken Sie die ganze Zeit über Ihr Gespräch nach – und im Handumdrehen haben Sie sich verlaufen. Unterbrechungen, die Ihr Bewusstsein selbst erzeugt hat, haben Sie davon abgehalten, Ihr Ziel erfolgreich zu bewältigen.

Obwohl unser Gehirn also von der Anlage her empfänglich ist für Interferenzen, lässt sich nicht bestreiten, dass die jüngsten technischen Entwicklungen dem überforderten Gehirn das Leben zusätzlich schwermachen. Willkommen in unserer neuen Wirklichkeit:

–Sie sitzen in einer Besprechung. Obwohl es darin um ein wichtiges neues Projekt geht und Mobilgeräte in Meetings eigentlich verpönt sind, werfen Sie unter dem Tisch gelegentlich einen verstohlenen Blick auf Ihr Smartphone, um den Posteingang nach einer E-Mail zu kontrollieren, die Sie erwarten … und wo Sie gerade dabei sind, checken Sie gleich noch ein paar Social-Media-Kanäle, um auf dem Laufenden zu sein, was Ihre Freunde gerade so machen.

–Sie sitzen mit Ihrer Familie beim Abendessen, im Hintergrund läuft der Fernseher und jeder hat sein Handy auf dem Tisch liegen, das er gelegentlich zur Hand nimmt, daraufschaut, kurz etwas tippt und dann wieder mit dem Display nach oben ablegt, um keine eingehende Nachricht zu verpassen. Anschließend versuchen Sie etwas hilflos herauszufinden, was Sie im Gespräch verpasst haben, und so gut wie möglich wieder den Anschluss zu finden.

–Sie sind auf einer mehrspurigen Straße unterwegs. Plötzlich summt es in Ihrer Hosentasche – eine Textnachricht ist eingegangen! Wider bessere Einsicht holen Sie Ihr Telefon hervor und werfen dem Fahrer im Wagen neben Ihnen einen schuldbewussten Blick zu.

–Sie setzen sich an Ihren Schreibtisch, haben den Kopf voll und müssen bis zum Feierabend eine wichtige Aufgabe zu Ende bringen. Obwohl es ganz entscheidend ist, dass Sie dabei hervorragende Arbeit leisten, lassen Sie sich immer wieder von E-Mails und Facebook ablenken. Im Laufe des Tages setzt jede dieser Unterbrechungen eine kommunikative Kettenreaktion in Gang, die in der Summe Ihren Abgabetermin immer mehr gefährdet. Sie wissen genau, dass Sie sich auf Ihre Aufgabe konzentrieren müssen, tun jedoch nichts gegen diese fatale Arbeitsweise.

Technische Innovationen machen uns zwar in vielerlei Hinsicht das Leben leichter, führen jedoch auch dazu, dass unsere zielgerichtete Gehirnaktivität negativ durch Interferenz beeinflusst wird. Diese beeinträchtigt unsere Kognition und unser Verhalten bei Tätigkeiten im Alltag. Sie wirkt sich auf sämtliche Bereiche unseres Denkens aus – auf unsere Wahrnehmungen, Entscheidungsprozesse, Kommunikation, Emotionsregulation und unser Gedächtnis. Dies hat wiederum nachteilige Folgen für unsere Sicherheit und Bildung sowie den sozialen Kontakt zu Verwandten, Freunden und Kollegen. Die Folgen sind umso gravierender bei Menschen mit noch nicht voll entwickeltem oder mit versehrtem Gehirn, wie etwa bei Kindern, Senioren oder Patienten mit neurologischen oder psychiatrischen Störungen. Wenn wir einen Weg finden wollen, um erfolgreich mit Interferenz umzugehen, müssen wir zunächst verstehen, worin sie genau besteht.

Was ist Ziel-Interferenz?

»Interferenz« beschreibt allgemein den Umstand, wenn ein Vorgang durch einen anderen behindert, gehemmt, erschwert oder gänzlich verhindert wird. Wenn beispielsweise das Radio rauscht, tritt Interferenz in Bezug auf den Empfang der gewünschten Rundfunkwellen auf, was auch als Störung oder Störschall bezeichnet wird. Die in den vorstehenden Szenarien beschriebene Ziel-Interferenz unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht nur wenig von den Radiostörungen. Diese Art der Interferenz wird von Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen umfassend erforscht, wie etwa Psychologie, Neurowissenschaft, Pädagogik, Werbung, Marketing und Humanwissenschaft. Allerdings wird sie nur selten als einheitliches Konstrukt dargestellt, was eines der wichtigsten Anliegen dieses Buches ist.

Ziel-Interferenz tritt auf, wenn man die Entscheidung trifft, ein konkretes Ziel zu erreichen (z. B. etwas aus dem Kühlschrank zu holen, eine berufliche Aufgabe zu erledigen, sich an einem Gespräch zu beteiligen oder mit dem Auto zu fahren), und sich dann etwas ereignet, was die erfolgreiche Umsetzung dieses Ziels behindert. Interferenz kann dabei entweder internal ausgelöst werden, in Form von eigenen, also inneren Gedanken, oder external, das heißt durch äußere sensorische Reize, wie etwa die Geräuschkulisse eines Lokals oder akustische, vibrierende bzw. blinkende optische Signale (Abbildung 1.1). Ziel-Interferenz, ob internal oder external ausgelöst (häufig liegt beides vor), kann in zwei unterschiedlichen Varianten – in Form von Ablenkungen oder Unterbrechungen – auftreten, je nachdem, wie der Betreffende mit der Interferenz umgeht.1

Abbildung 1.1: Begriffsschema für die Ziel-Interferenz, die sowohl internale als auch externale Ursachen haben kann und durch hinsichtlich des Ziels irrelevante Informationen (Ablenkungen) sowie Multitasking (Unterbrechungen) verursacht werden kann.

Um diese unterschiedlichen Arten der Ziel-Interferenz zu verstehen, halten wir es für hilfreich, die Diskussion um den Einfluss von technischen Geräten einstweilen zurückzustellen und ein Szenario zu betrachten, das es schon seit Jahrtausenden gibt – nämlich den Vorgang, sich mit einem Freund zu treffen und mit ihm Neuigkeiten auszutauschen. Dabei handelt es sich um ein recht klar umrissenes Ziel. Doch selbst ohne moderne Technik gibt es vier Arten von Interferenz, die eine erfolgreiche Umsetzung dieses Ziels gefährden können: internale Ablenkung, externale Ablenkung, internale Unterbrechung sowie externale Unterbrechung. Schauen wir uns diese Faktoren einmal genauer an.

Bei Ablenkungen handelt es sich um Informationen, die für ein Ziel irrelevant sind und die uns entweder in unserer Umgebung begegnen (external) oder in unserem Bewusstsein entstehen (internal). Unsere Absichten in Bezug auf derartige Ablenkungen sind klar – wir möchten sie ignorieren, ausschalten, unterdrücken und weiterhin unser eigentliches Ziel verfolgen. Stellen Sie sich dazu einmal die folgende, sehr typische Situation vor:

Sie unterhalten sich angeregt mit Ihrem Freund, doch dann schweifen Ihre Gedanken ungewollt zu einem Thema ab, das mit Ihrem Gespräch nicht das Geringste zu tun hat: »Nicht zu fassen, dass mein Chef gar nicht mitbekommen hat, wie viel ich diese Woche geschafft habe!«

Dies ist ein Beispiel für eine internale Ablenkung, die gelegentlich auch als Mind-Wandering bezeichnet wird, also das Abdriften oder Abschweifen der eigenen Gedanken. Dieses gedankliche Abschweifen hat häufig negative Auswirkungen, wie im beschriebenen Beispiel erkennbar.2 Genauso häufig entstehen Ablenkungen jedoch auch von außen, in Form von Geräuschen, Gerüchen und Anblicken, die für unsere Ziele nicht relevant sind, wie beispielsweise in der folgenden Situation:

Sie hören Ihrem Freund zu, als plötzlich an einem benachbarten Tisch Ihr Name erwähnt wird. Obwohl dies schon zuvor der Fall war und Sie sich recht sicher sind, dass es nicht um Sie geht, weckt die Nennung Ihres Namens unweigerlich Ihre Aufmerksamkeit und lenkt Sie von Ihrem eigentlichen Ziel ab.

Informationen, die für Ihre Ziele gänzlich irrelevant sind, können also zu Interferenz führen, die wir als externe Ablenkung bezeichnen – was ganz ähnliche Folgen hat wie das gedankliche Abschweifen. Selbst wenn Sie genau wissen, dass externale Ablenkungen für Ihre Unterhaltung abträglich sind (und Sie sich größte Mühe geben, sie zu ignorieren), gewinnen diese trotzdem häufig die Oberhand, lenken Sie von Ihren Zielen ab und beeinträchtigen Ihre Leistungsfähigkeit.

Der andere Hauptauslöser von Ziel-Interferenz sind Unterbrechungen. Sie unterscheiden sich von Ablenkungen dadurch, dass sie dann auftreten, wenn man sich mit mehreren Aufgaben gleichzeitig beschäftigt, selbst wenn man versucht, zwischen ihnen hin und her zu wechseln. Genau wie Ablenkungen können Unterbrechungen sowohl internal als auch external motiviert sein. Um zu verstehen, was eine internal ausgelöste Unterbrechung genau ist, wenden wir uns noch einmal dem Gespräch zwischen Ihnen und Ihrem Freund zu.

InzwischenhatIhrInteresseanderUnterhaltungetwasnachgelassen.DeshalbentschließenSiesich,IhreAufmerksamkeiteinwenigaufzusplittenundparalleldarübernachzudenken,wieIhrChefwohlIhreberuflicheTätigkeiteinschätzt,währendSieweiterhinversuchen,dasGesprächmitIhremFreundzuführen.

Der Vorgang, sich freiwillig einer simultan ablaufenden, zweitrangigen Handlung zuzuwenden, ist eine internal ausgelöste Unterbrechung. Sie erzeugt Interferenz, indem sie das Ziel der betreffenden Person beeinträchtigt, ein sinnvolles Gespräch zu führen. Häufig haben Unterbrechungen jedoch auch äußere Ursachen.

Während Sie sich also mit Ihrem Freund unterhalten, bekommen Sie nebenbei ein interessantes Gespräch mit, das in der Nähe geführt wird. Sie entschließen sich, gleichzeitig mit einem Ohr zuzuhören und trotzdem Ihr eigenes Gespräch fortzusetzen.

Solcherlei Unterbrechungen werden häufig als »Multitasking« bezeichnet und als der Versuch definiert, gleichzeitig zwei oder mehr Aufgaben mit jeweils eigenständigen Zielen zu bewältigen. Im Deutschen wird dafür gelegentlich auch der Fachterminus Mehrfachaufgabenperformanz verwendet. Das Wort »Versuch« wird hier bewusst verwendet, denn – wie Sie im Verlauf dieses Buches feststellen werden – auch wenn mit diesem Verhalten Multitasking beabsichtigt ist, lässt sich das, was tatsächlich dabei im Gehirn abläuft, besser als Aufgabenwechsel (engl. »task switching«) bezeichnen.

Interessant ist dabei, dass der tatsächliche Inhalt der Ziel-Interferenz bei Ablenkungen und Unterbrechungen identisch sein kann. In unserem Beispiel sind Überlegungen, wie Ihr Vorgesetzter wohl die Qualität Ihrer Arbeit beurteilt, der Auslöser für Interferenz in Form von internaler Ablenkung und Unterbrechung, und ein nebenbei gehörtes Gespräch sorgt für externale Ablenkung und Unterbrechung. Ablenkungen unterscheiden sich von Unterbrechungen dadurch, wie man damit umgeht – indem man sie entweder versucht zu ignorieren und weiter sein ursprüngliches Ziel verfolgt (Ablenkung) oder sich ihnen parallel zuwendet und sie als zusätzliches Ziel ansieht (Unterbrechung). Obwohl es sich bei beiden Formen um Ziel-Interferenz handelt, liegen der dadurch hervorgerufenen Leistungsminderung verschiedene Gehirnmechanismen zugrunde, wie wir später noch erörtern werden.

Warum sind wir so empfänglich für Interferenz?

Alle komplexen Systeme wie Autos, Laptops, Flugzeuge und das Hubble-Teleskop sind anfällig für Interferenz. Je komplexer ein System ist, desto größer wird die Gefahr, dass seine Leistung durch Interferenz beeinträchtigt wird. Insofern ist es wenig überraschend, dass das menschliche Gehirn – zweifellos das komplexeste System im gesamten uns bekannten Universum – in vielerlei Hinsicht extrem empfindlich auf Interferenz reagiert. Dass insbesondere die Ziel-Interferenz in unserem Leben eine so große Rolle spielt, liegt vor allem daran, dass unsere Ziele von Natur aus sehr komplex sind und wir bei ihrer Umsetzung häufig an unsere Grenzen stoßen. Unsere Fähigkeit, uns ambitionierte Ziele zu setzen, ist wohl die Krönung der Evolution des menschlichen Gehirns.3 Komplexe, verknüpfte, zeitversetzte und häufig auch gemeinsame Ziele sind die Grundlage dafür, dass der Mensch einen bisher nie dagewesenen Einfluss auf die Interaktionen mit seiner Umwelt besitzt und darin anhand bewusster Entscheidungen agieren kann und nicht nur zu reflexhaften Reaktionen imstande ist. Unsere eindrucksvollen Fähigkeiten zur Zielsetzung haben zur bemerkenswerten Entwicklung unserer Kulturen, Gemeinschaften und Gesellschaften geführt und uns dazu befähigt, so komplexe menschliche Konstrukte wie Kunst, Sprache, Musik und Technologie hervorzubringen. Das enorme Ausmaß unserer Zielsetzungsfähigkeiten ist dafür verantwortlich, dass es überhaupt zu Ziel-Interferenz kommen kann.

Unsere Befähigung zur Formulierung von Zielen beruht auf einer Reihe von kognitiven Fähigkeiten, die allgemein als »exekutive Funktionen« bezeichnet werden, wozu unter anderem Bewertung, Entscheidungsfindung, Organisation und Planung gehören. Doch das Setzen von Zielen ist erst die halbe Miete. Erforderlich sind darüber hinaus spezifische Prozesse, um all diese ambitionierten Ziele tatsächlich umzusetzen. Dass wir unsere Ziele wirkungsvoll realisieren können, ist abhängig von mehreren miteinander verwandten kognitiven Fähigkeiten, die wir in diesem Buch als »kognitive Steuerung« bezeichnen. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und Ziel-Management. Dabei ist zu beachten, dass unsere Fähigkeit, übergeordnete Ziele zu formulieren, keineswegs zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung durch Ziel-Interferenz führt. Es wäre denkbar, dass sich die Fähigkeiten unseres Gehirns zur Verwirklichung von Zielen parallel mit denen zur Zielsetzung entwickelt haben, um negative Auswirkungen durch Ziel-Interferenz zu kompensieren. Doch das lässt sich nicht belegen. Unsere Fähigkeiten zur kognitiven Steuerung, die wir benötigen, um unsere Ziele zu erreichen, sind nicht in gleichem Maße entwickelt wie die exekutiven Funktionen, die für das Setzen von Zielen nötig sind. Vielmehr unterscheiden sich die Einschränkungen unserer Fähigkeiten zur kognitiven Steuerung nicht wesentlich von denen anderer Primaten, die vor zig Millionen Jahren die gleichen Vorfahren hatten wie wir.4

In der Tat weist unsere kognitive Steuerung gravierende Defizite auf: So sind wir nur begrenzt in der Lage, unsere Aufmerksamkeit zu streuen, zu teilen und länger aufrechtzuerhalten, uns Einzelheiten zu merken und miteinander konkurrierende Ziele parallel zu bewältigen oder sie abwechselnd zu verfolgen. Wir können nur spekulieren, ob wir weniger durch Ziel-Interferenz beeinträchtigt wären, wenn sich die neuronalen Prozesse zur Zielverwirklichung im gleichen Maß entwickelt hätten wie unsere Fähigkeiten zur Zielsetzung. Wenn wir uns mehr Informationen mit größerer Genauigkeit merken könnten, wenn wir die Welt um uns herum umfassender und nachhaltiger wahrnehmen könnten, wenn wir parallel mehrere anspruchsvolle Aufgaben erledigen könnten, würden wir uns nicht so leicht ablenken und unterbrechen lassen. In vielerlei Hinsicht sind wir also mit einem archaischen Gehirn in unserer Hightech-Welt unterwegs.

Veranschaulichen lässt sich dies als Konflikt zwischen einer starken Triebkraft (in Form unserer Ziele), die mit voller Wucht gegen eine stabile Barriere prallt (in Form der Einschränkungen unserer kognitiven Steuerung). Dabei stehen unsere hoch entwickelten Fähigkeiten zur Zielsetzung, die uns dazu veranlassen, in interferenzreichen Umgebungen nach der Umsetzung unserer Ziele zu streben, im krassen Gegensatz zu unseren Fähigkeiten zur Zielverwirklichung, die sich von denen unserer primitiven Vorfahren gar nicht so massiv unterscheiden und uns bei der Verarbeitung von Informationen stark einschränken. Dieser Konflikt führt zu Ziel-Interferenz und sorgt bei uns für spürbare innere Spannungen – infolge der Diskrepanzzwischendem,waswirerreichenwollen,unddem,waswirerreichenkönnen. Vermutlich hat das Wissen um diesen Konflikt – möglicherweise auch nur unbewusst – bei Ihnen dazu geführt, dass Sie überhaupt zu diesem Buch gegriffen haben. Hinzu kommt die wachsende Erkenntnis, dass sich dieser Konflikt zu einem handfesten Krieg auswächst, je stärker die moderne Technologie für Ziel-Interferenz sorgt und damit das ohnehin überforderte Gehirn immer weiter strapaziert.

Verschlimmert sich die Lage?

Der Mensch lebt schon immer in einer äußerst komplexen Welt, die reich an verlockenden Ablenkungen ist und nur so strotzt vor Unterbrechungen durch Alternativhandlungen, die uns daran zu hindern drohen, unsere Ziele zu erreichen. Während Ziel-Interferenz wahrscheinlich schon so lange existiert wie der moderne Mensch die Erde besiedelt, ist es in den letzten Jahrzehnten zu gravierenden Veränderungen gekommen: Moderne Entwicklungen in den Bereichen Computertechnik, Medien und Kommunikation haben das Informationszeitalter eingeläutet. Diese jüngste Phase der Menschheitsgeschichte ist möglicherweise durch die digitale Revolution in Gang gesetzt worden, wobei jedoch die starke Verbreitung von PCs, Internet, Smartphones und Tablets nur die Spitze des Eisbergs bildet. Der eigentliche Kern der Veränderung unserer mentalen Landschaft besteht darin, dass die Information selbst enorm an Wert gewonnen hat und inzwischen eine heiß begehrte Ware ist. Das hat eine nicht enden wollende Explosion ausgelöst, was das vielfältige und leicht verfügbare Angebot von Unterhaltungstechnik betrifft, die mit attraktivem Sound, ansprechender Grafik und eindringlichen Vibrationen auf sich aufmerksam macht, während unser Gehirn angestrengt versucht, sich in der Vielzahl von konkurrierenden Informationsströmen zu orientieren.

Die meisten Leute haben inzwischen ständig ein kleines Gerät bei sich, das wahrscheinlich leistungsfähiger ist als die Computer, die noch vor zehn Jahren auf unseren Schreibtischen standen. Längst sind Smartphones aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Laut einer Studie des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center aus dem Jahr 2015 besitzen 96 Prozent der Erwachsenen in den USA ein Mobiltelefon und 68 Prozent ein Smartphone. Von den US-amerikanischen Smartphone-Nutzern verwenden 97 Prozent ihr Gerät für den Versand von Textnachrichten, 89 Prozent für den Zugang zum Internet und 88 Prozent für das Verschicken und Empfangen von E-Mails.5 Weltweiten Schätzungen zufolge besitzen 3,2 Milliarden Menschen, also 45 Prozent der Weltbevölkerung, ein Mobiltelefon.6 Abgesehen von dieser globalen Verbreitung und dem Umstand, dass diese Geräte heute in der Hosen- oder Handtasche jederzeit griffbereit sind, sorgen auch die neuen Medien dafür, dass unsere Aufmerksamkeit ständig hin- und herspringt. Auf Smartphones, PCs und Laptops können parallel mehrere Apps geöffnet werden, und Webbrowser bewältigen problemlos eine Vielzahl von Seiten und Fenstern gleichzeitig, wodurch es immer schwieriger wird, eine einzelne Website oder App zu nutzen, ohne sich dabei ständig ablenken zu lassen. Dieses neue Nutzerverhalten erstreckt sich auch auf andere Medienarten. Die zunehmende Neigung vieler Menschen zum »Medien-Multitasking« ist bereits gut dokumentiert. Eine durch die Forschungsgruppe von Dr. Larry D. Rosen durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass Teenager und junge Erwachsene zumeist davon überzeugt sind, dass sie gleichzeitig sechs bis sieben verschiedene Medienarten konsumieren können.7 Andere Studien zeigten, dass bis zu 95 Prozent der Bevölkerung jeden Tag Medien-Multitasking betreiben und sich etwa ein Drittel des Tages mit Aktivitäten aus mehr als einem Bereich beschäftigen.8

Darüber hinaus gehen diese technischen Innovationen mit einer veränderten gesellschaftlichen Erwartung einher, indem wir heute sofortige Reaktionsbereitschaft und ständige Produktivität erwarten. Aus mehreren Studien geht hervor, dass Erwachsene und Teenager in den USA bis zu 150-mal pro Tag auf ihr Handy schauen, bzw. wenn sie wach sind, im Abstand von sechs bis sieben Minuten.9 Bei ähnlichen Studien in Großbritannien wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte aller Erwachsenen sowie zwei Drittel der jungen Erwachsenen und Teenager nicht imstande sind, eine Stunde lang ihr Handy nicht zu konsultieren. Zudem geraten in den USA drei von vier Smartphone-Besitzern in Panik, wenn sie ihr Gerät nicht auf Anhieb finden, die Hälfte von ihnen nimmt es mit zur Toilette und drei von zehn legen es auch bei gemeinsamen Mahlzeiten nicht beiseite. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Harris Interactive nehmen acht von zehn Urlaubern mindestens ein Hightech-Gerät mit auf Reisen und ein beträchtlicher Anteil von ihnen nutzt dieses Gerät währenddessen auch häufig.10

Ständige Zugriffsmöglichkeit, penetrante Benachrichtigungen, Anreize zum Aufgabenwechsel und stark veränderte Erwartungshaltungen führen dazu, dass unser Interferenz-Dilemma dauerhaft zunimmt. Tatsächlich ist es durchaus möglich, dass diese wunderbare neue Welt der Technik in viel höherem Maß als je zuvor Ziel-Interferenz mit sich bringt. Obwohl dieser gesellschaftliche Trend manche Menschen an die Grenzen ihrer Fähigkeit zur kognitiven Steuerung bringt, hält dieser nach wie vor an und spitzt sich allem Anschein nach weiter zu. Während unsere Gegenwart teilweise als großartig und aufgeklärt gefeiert wird, erweist sich unser Verhalten auf diesem Gebiet als völlig ungeeignet zur Umsetzung unserer Ziele – was für die Menschheit gravierende Folgen hat.

Was veranlasst uns zu solchem Verhalten?

Obwohl uns immer stärker bewusst wird, wie anfällig wir für Ziel-Interferenz sind und welch weitreichende negative Auswirkungen sie auf unser Leben haben kann, legen die meisten Menschen trotzdem Interferenz-förderndes Verhalten an den Tag, obwohl sich Ablenkungen und Multitasking vollständig vermeiden ließen. Interferenz-förderndes Verhalten besteht zum Beispiel darin, wenn man bewusst eine stark ablenkende Umgebung aufsucht (etwa ein lautes und überfülltes Café, um ein Buch zu schreiben) oder Multitasking betreibt (z. B. wenn man als Buchautor nebenher Musik hört und ständig eingehende Textnachrichten und E-Mails liest). Gegen derartiges Verhalten scheint kaum jemand immun zu sein. Daher stellt sich die interessante Frage: Warum tun wir so etwas, obwohl wir genau wissen, dass unsere Leistung darunter leidet?

Eine ganz typische Erklärung lautet, dass Multitasking einfach mehr Spaß macht und angenehmer ist, als sich auf eine einzelne Aufgabe zu konzentrieren. Dieses Argument ist durchaus nachvollziehbar. Betroffene betonen immer wieder, dass Freude ein wesentlicher Aspekt von Internet-bezogenem Multitasking ist und dass die Erledigung zusätzlicher Aufgaben während der Fernsehwerbung insgesamt die Freude an diesen Aufgaben erhöht.11 Für diese Sichtweise spricht außerdem, dass der Wechsel zwischen unterschiedlichen Inhalten auf ein und demselben Gerät physische Anzeichen von erhöhter Erregung auslöst.12 Zudem konnten Wissenschaftler nachweisen, dass durch neue Reize – Neuigkeiten – die Belohnungsverarbeitung unseres Gehirns aktiviert wird.13

Das ist wenig überraschend, denn das Streben nach Neuigkeiten ist eine starke Triebkraft, wenn es darum geht, neue Umgebungen zu erkunden, die somit klare Vorteile für das Überleben mit sich bringt. Natürlich ist das Maß an Neuigkeiten bei einem häufigen Wechsel zwischen neuen Aufgaben deutlich höher, als wenn man sich auf eine Sache konzentriert. Daher nimmt logischerweise beim Multitasking insgesamt die Belohnung zu – und im selben Maß der Spaßfaktor. Darüber hinaus wird es häufig als erstrebenswert angesehen, wenn die Belohnung zeitnah erfolgt, obwohl eine verzögerte Belohnung insgesamt einen höheren zugewiesenen Wert besitzt.14 Dieses Phänomen einer zeitweiligen Schmälerung von Belohnung hat starken Einfluss auf impulsives Verhalten und fördert unter anderem daher möglicherweise auch unseren Drang nach sofortiger Belohnung, die eine Beschäftigung mit neuen Aufgaben besonders schnell mit sich bringt.

Es gab schon immer reichlich Gelegenheit, sich kurzfristig neuen und daher mit mehr Belohnung verbundenen Alternativaufgaben zuzuwenden. Man kann davon ausgehen, dass noch mehr dahintersteckt als das bloße Streben nach Spaß und Belohnung. Was also hat die moderne, Technologie-geprägte Welt an sich, dass sie ein derart übertriebenes Multitasking-Verhalten hervorbringt? In diesem Buch untersuchen wir die folgende neuartige Hypothese: Wir legen Interferenz-förderndes Verhalten an den Tag, weil wir damit aus evolutionärer Sicht unseren inneren Drang zur Beschaffung von Informationen auf optimale Weise befriedigen. Die derzeitigen Bedingungen in unserer modernen, von Hightech dominierten Welt begünstigen dies durch vielfältige Möglichkeiten, diesen Instinkt zu befriedigen sowie durch ihren Einfluss auf internale Faktoren wie etwa Langeweile und Angst.

Doch wie kann sich selbst verstärkendes, Interferenz-förderndes Verhalten als optimal angesehen werden, wenn es sich doch in so vielerlei Hinsicht ungünstig auf uns auswirkt? Die Antwort lautet, dass wir in unserem Innersten nach Informationen strebende Wesen sind. Daher sind – zumindest aus dieser Perspektive – alle Verhaltensweisen optimal, die dazu dienen, so viel an Informationen wie möglich anzuhäufen. Diese Sichtweise wird durch Erkenntnisse unterstützt, denen zufolge molekulare und physiologische Mechanismen, die in unserem Gehirn ursprünglich dazu dienten, die Nahrungssuche zu unterstützen und dadurch das Überleben zu sichern, sich auch auf die Beschaffung von Informationen ausgeweitet haben.15 Die Forschungsdaten, mit denen sich diese Erkenntnisse belegen lassen, beziehen sich weitgehend auf Untersuchungen, denen zufolge das dopaminerge System, das eine wichtige Rolle für sämtliche Belohnungsprozesse spielt, auch von entscheidender Bedeutung für das Nahrungssuchverhalten niederer Wirbeltiere sowie für höhere kognitive Prozesse bei Affen und Menschen ist, die sich häufig nicht mehr unmittelbar auf das Überleben beziehen.16 Es wurde nachgewiesen, dass das Dopaminsystem in direktem Zusammenhang mit dem Informationsbeschaffungsverhalten von Primaten steht. So reagieren Makaken etwa auf den Erhalt von Informationen ganz ähnlich wie auf primitive Belohnungen in Form von Futter oder Wasser. Darüber hinaus verarbeiten einzelne dopaminerge Neuronen sowohl primitive als auch kognitive Belohnungen, was nahelegt, dass bestehende Theorien zum Belohnungsstreben angepasst werden müssen, um das Streben nach Informationen ebenfalls zu berücksichtigen.17

Thomas Hills, ein Pionier dieser Sichtweise, beschreibt es folgendermaßen: »Vieles belegt die Entwicklung von zielgerichteter Kognition aus Mechanismen, die ursprünglich für die Nahrungssuche verantwortlich waren, durch zunehmende kortikale Verbindungen jedoch inzwischen auch zur Informationsbeschaffung dienen.«18 Die These, dass wir von Natur aus nach Informationen strebende Wesen sind, wird durch weitere Humanstudien gestützt, in denen nachgewiesen wurde, dass Menschen ihre Umgebung bewusst so organisieren, dass sie maximalen Informationsgewinn erzielen. Diese Erkenntnis zog die Entwicklung formaler Theorien zur Informationsbeschaffung nach sich.19 Aus dieser Perspektive können Verhaltensweisen mit dem Ziel, möglichst viele neue Informationen aufzunehmen, durchaus als optimal angesehen werden, obwohl sie mit Interferenz einhergehen. Daher kann solches Verhalten trotz seiner negativen Auswirkungen auf andere Lebensbereiche tatsächlich verstärkt werden. Da der Mensch offenbar einen starken inneren Impuls zur Informationsbeschaffung hat, der in seiner Intensität mit dem Trieb von Tieren zur Futtersuche vergleichbar ist, müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass dieser »Hunger« durch den technischen Fortschritt – und die damit einhergehende ständige Verfügbarkeit von Informationen – in extremem Maß gesättigt wird – was ein weiterer Beleg dafür ist, dass wir mit einem archaischen Gehirn in einer Hightech-Welt leben.

Erkenntnisse aus der Verhaltensökologie – einem Fachgebiet, das die evolutionären Grundlagen unseres Verhaltens erforscht und dazu die Interaktionen zwischen Tieren und ihrer Umwelt untersucht – geben weiteren Aufschluss über unser Interferenz-förderndes Verhalten. Einen wichtigen Beitrag auf diesem Gebiet stellt die Entwicklung sogenannter Optimalitätsmodelle dar (engl. optimal foraging theories, wörtlich: Theorien zur optimalen Nahrungssuche).

Diese Theorien beruhen auf der Feststellung, dass Tiere keineswegs willkürlich nach Futter suchen, sondern ihr diesbezügliches Verhalten auf Grundlage eines starken Überlebenstriebs optimieren. Verhaltensweisen zur Nahrungssuche, die für maximale Energieaufnahme sorgen, haben sich durch natürliche Selektion herausgebildet und sind daher sehr beständig. Im Rahmen dieser »Foraging Theory« sind mathematische Modelle entstanden, die angewandt werden können, um die Aktivitäten von Tieren in ihren jeweiligen Umgebungen vorherzusagen. Das heißt, sie beschreiben, wie ein Tier mit optimalem Nahrungssuchverhalten (»optimal forager«) in einer bestimmten Situation vorgehen würde. Obwohl sich die realen Verhaltensweisen von den Vorhersagen dieser Modelle natürlich unterscheiden, sind die Modellprognosen häufig gar nicht so weit von der Realität entfernt und daher sehr geeignete Instrumente, um das komplexe Wechselspiel zwischen Verhalten und Umwelt zu verstehen. Wenn wir also unser Interferenz-förderndes Verhalten aus der Perspektive der Informationsbeschaffung als optimal ansehen, kann die Optimal Foraging Theory möglicherweise dazu beitragen, eine Erklärung für die Überforderung unseres Gehirns zu finden.

1976 entwickelte der amerikanische Evolutionsbiologe Eric Charnov ein Optimalitätsmodell, das als Grenzertragstheorem, GET (engl. »marginal value theorem«, MVT) bekannt ist. Es wurde formuliert, um das Verhalten von Tieren auf Nahrungssuche in Umgebungen mit uneinheitlicher Ressourcendichte, sogenannten patchy environments, vorherzusagen.20 Dabei handelt es sich um Areale mit einem begrenzten Nahrungsangebot (Ressourcen) an bestimmten Flecken (patches), zwischen denen sich jedoch immer wieder ressourcenfreie Bereiche befinden. Solche Umgebungen mit fleckenhafter Nahrungsverteilung kommen in der Natur recht häufig vor und veranlassen ein Tier dazu, sich von einem Fleck zum nächsten zu bewegen, sobald das Nahrungsangebot in einem Bereich erschöpft ist. Stellen Sie sich etwa ein Eichhörnchen vor, das auf einem Baum Eicheln frisst. Je mehr Eicheln das Eichhörnchen verzehrt, desto geringer wird das Angebot, sprich: Das Futter wird knapp. Ab einem gewissen Punkt ist es für das Eichhörnchen günstiger, wenn es die Zeit und Energie investiert, um einen neuen Baum mit größerem Nahrungsangebot aufzusuchen, statt auf dem zunehmend leer gefressenen Baum zu verbleiben. GET-Modelle treffen Vorhersagen, wie viel Zeit ein Tier an einem bestimmten Fleck verbringt, bevor es den nächsten aufsucht, jeweils in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen.

Abbildung 1.2: Grafische Darstellung des Grenzertragstheorems. Dabei handelt es sich um ein Optimalitätsmodell, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis in Bezug auf ein Tier darzustellen, das sich in einer Umgebung mit uneinheitlicher Ressourcendichte auf Nahrungssuche befindet.

Diese Theorie ist verständlich und sogar anwendbar, auch ohne zu sehr in die dem GET zugrunde liegenden mathematischen Details zu gehen. Werfen wir dazu einen Blick auf eine Grafik des Modells. Die Abbildung zeigt auf der x-Achse ein Kosten-Nutzen-Verhältnis, wobei eine erhöhte »Verweildauer auf aktuellem Fleck« (nach rechts erhöht) einen Nutzen bringt und durch erhöhte »Transitzeit zu neuem Fleck« (nach links erhöht) Kosten entstehen. Ein Tier versucht – angetrieben von einem natürlichen Überlebensinstinkt – bei der Nahrungssuche seine »kumulative Ressourcenaufnahme« zu maximieren (ansteigend auf der y-Achse). Der Schlüsselfaktor bei diesem Modell wird durch die »Kurve der Ressourcenaufnahme« veranschaulicht. Sie spiegelt den mit der Zeit abnehmenden Nahrungsgewinn an einem Fleck wider (illustriert durch die kurvenförmige Linie). Die kumulative Ressourcenaufnahme steigt mit zunehmender Verweildauer des Tieres am aktuellen Fleck nicht linear oder unendlich an (d. h., die Nahrung wird knapp). Kennt ein Tier die Faktoren, die den Verlauf der »Kurve der Ressourcenaufnahme« bestimmen (z. B. Gespür für den abnehmenden Nutzen des Verbleibs an einem Fleck während der Nahrungsaufnahme), und kennt es auch die »zu erwartende Transitzeit« zu einem neuen Fleck, so lässt sich die »optimale Zeit vor Ort« als Schnittpunkt zwischen einer Tangente ermitteln, die die »zu erwartende Transitzeit« und die »Kurve der Ressourcenaufnahme« miteinander verbindet, wie auf der Abbildung erkennbar. Wenn unser Eichhörnchen also instinktiv weiß, dass das Angebot an Eicheln auf seinem Baum abnimmt und am anderen Ende der Wiese eine andere Eiche steht, die üblicherweise voll mit Eicheln und recht schnell zu erreichen ist, wechselt es vom aktuellen Baum auf den neuen. Dieses Modell wurde inzwischen für mehrere Tierarten validiert, wie z. B. für das Nahrungssuchverhalten von Kohlmeisen und des Weißhaar-Gürteltieres.21

Sehen wir uns nun das GET noch einmal an und ersetzen wir die Suche nach Futterressourcen durch die Suche nach Informationsressourcen. Zudem fügen wir Sie als das Lebewesen auf Informationssuche ein. Die Flecken sind dabei als Informationsquellen zu verstehen, wie zum Beispiel eine Website, ein E-Mail-Programm oder Ihr Smartphone. Dabei ist zu beachten, dass jeder dieser Flecken im Laufe der Zeit eine Verringerung der Ressourcen erfährt, da Sie die dort verfügbaren Informationen nach und nach abrufen und/oder gelangweilt bzw. verunsichert sind, wenn Sie ein und dieselbe Informationsquelle zu lange konsultieren. Da Ihnen zum einen bewusst ist, dass die am aktuellen Fleck verfügbaren Ressourcen nachlassen und Sie zum anderen die Transitzeit zu einem anderen Fleck mit neuen Informationen kennen, entschließen Sie sich nach einiger Zeit, zum nächsten Fleck zu wechseln. Somit zeigt das Modell Faktoren auf, die unsere Entscheidungen beeinflussen, wie lange wir an einer bestimmten Stelle nach Informationen suchen, ehe wir uns, bildlich gesprochen, zum nächsten Teich begeben und dort weiterfischen. Das GET lässt sich sehr gut auf das menschliche Streben nach Informationen anwenden und es ist sogar möglich, die optimale Verweildauer auf einem Informationsfleck versus Wechsel zu einem neuen Fleck mathematisch zu berechnen und in Labor- und Feldstudien zu überprüfen. Obwohl dies den Rahmen dieses Buches sprengen würde, wäre es interessant zu erfahren, wie andere Wissenschaftler empirisch mit dieser Hypothese umgehen.

Optimalitätsmodelle wurden bereits auf die Informationssuche des Menschen angewandt, um nachzuvollziehen, wie wir im Internet oder in unserem eigenen Gedächtnis etwas abrufen und wie Wissenschaftler und Ärzte benötigte Informationen recherchieren.22 Unseres Wissens nach kamen diese Theorien hingegen bislang noch nicht zum Einsatz, um die wichtige Frage zu beantworten, warum wir Interferenz-förderndes Verhalten an den Tag legen, obwohl es geradezu selbstzerstörerische Auswirkungen hat. In Kapitel 9 wenden wir das GET-Modell an, um in unserer Hightech-Welt jene Faktoren zu untersuchen, die unser Verhalten zur Informationsbeschaffung beeinflussen. Wir legen darin dar, dass die Art und Weise, wie sich viele Menschen verhalten, aufgrund spezieller Aspekte moderner Technologie möglicherweise nicht mehr als optimal angesehen werden kann. In Kapitel 11 gehen wir noch einen Schritt weiter und formulieren mithilfe des Modells einen Plan, wie wir unser Verhalten ändern können, um die negativen Auswirkungen der Technologie auf das überforderte Gehirn zu verringern und dadurch unsere Lebensqualität zu verbessern. Wir stellen Strategien vor, wie wir dennoch nicht auf die Vorzüge der modernen Technologie verzichten müssen. Doch zunächst wollen wir uns intensiver mit den theoretischen Grundlagen unseres überforderten Gehirns beschäftigen, um fundierter erörtern zu können, was seit Entstehung der modernen Informationstechnologie eigentlich passiert ist.

1 W. C. Clapp und A. Gazzaley, »Distinct Mechanisms for the Impact of Distraction and Interruption on Working Memory in Aging«, Neurobiology of Aging 33, Nr. 1 (2012), S. 134–148.

2 M. A. Killingsworth und D. T. Gilbert, »A Wandering Mind Is an Unhappy Mind«, Science, 330, Nr. 6006 (2010), S. 932.

3 F. Coolidge und T. Wynn, »Executive Functions of the Frontal Lobes and the Evolutionary Ascendancy of Homo Sapiens«, Cambridge Archaeological Journal 11, Nr. 2 (2001), S. 255–260; M. Tomasello und E. Herrmann, »Ape and Human Cognition: What’s the Difference?« Current Directions in Psychological Science 19 (2010), S. 3–8.

4 S. Inoue und T. Matsuzawa, »Working Memory of Numerals in Chimpanzees«, Current Biology 17, Nr. 23 (2007), S. R1004–R1005; N. Kawai und T. Matsuzawa, »Numerical Memory Span in a Chimpanzee«, Nature 403, Nr. 6765 (2000), S. 39–40; M. J.-M. Macé, G. Richard, A. Delorme und M. Fabre-Thorpe, »Rapid Categorization of Natural Scenes in Monkeys: Target Predictability and Processing Speed«, NeuroReport 16, Nr. 4 (2005), S. 349–354; S. F. Sands und A. A. Wright, »Monkey and Human Pictorial Memory Scanning«, Science 216, Nr. 4552 (1982), S. 1333–1334.

5 M. Anderson, Technology Device Ownership: 2015, Pew Research Center report, recherchiert am 2. März 2016 unter http://www.pewinternet.org/files/2015/10/PI_2015-10-29_device-ownership_FINAL.pdf; Pew Research Center, U.S. Smartphone Use in 2015, recherchiert am 2. März 2016 unter http://www.pewinternet.org/files/2015/03/PI_Smartphones_0401151.pdf

6 »Global Mobile Statistics 2012, Part A: Mobile Subscribers, Handset Market Share, Mobile Operators«, mobithinking.com, December 2012, http://mobithinking.com/mobile-marketingtools/latest-mobile-stats

7 L. M. Carrier, N. A. Cheever, L. D. Rosen, S. Benitez und J. Chang, »Multitasking across Generations: Multitasking Choices and Difficulty Ratings in Three Generations of Americans«, Computers in Human Behavior 25 (2009), S. 483–489.

8 J. Q. Anderson und L. Rainie, Millennials Will Benefit and Suffer due to Their Hyperconnected Lives, PEW Internet and American Life Project, 2012, http://pewinternet.org/~/media//Files/Reports/2012/ PIP_Future_of_Internet_2012_Young_brains_PDF.pdf; Carrier, Cheever, Rosen, Benitez, and Chang, »Multitasking across Generations«; U. G. Foehr, Media Multitasking among American Youth: Prevalence, Predictors, and Pairings: Report (Menlo Park, CA: Kaiser Family Foundation, 2006), http://www.kff.org/ entmedia/upload/7592.pdf; S. A. Brasel und J. Gips, »Media Multitasking Behavior: Concurrent Television and Computer Usage«, Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking 14, Nr. 9 (2011), S. 527–534; S. Kessler, »38% of College Students Can‘t Go 10 Minutes without Tech [STATS] «, Mashable Tech, 2011, http://mashable.com/2011/05/31/ college-tech-device-stats/

9 T. Ahonen, »Main Trends in the Telecommunications Market«, Vortrag bei der MoMo mobile conference, Kiew, Ukraine, http://www.citia.co.uk/content/files/50_44-887.pdf; “Anxiety UK Study Finds Technology Can Increase Anxiety«, AnxietyUK.org, July 9, 2012, http://www.anxietyuk.org.uk/2012/07/ for-some-with-anxiety-technology-can-increase-anxiety/; Lockout Mobile Security, »Mobile Mindset Study« (2012), https://www.mylookout.com/downloads/lookout-mobile-mindset-2012.pdf

10 Harris Interactive, »Americans Work on Their Vacation: Half of Those Vacationing Will Work on Their Vacation, Including Checking Emails, Voicemails, and Taking Calls«, 28. Juli 2011, http://www.harrisinteractive.com/NewsRoom/HarrisPolls/tabid/447/mid/1508/articleId/843/ctl/ReadCustom%20Default/Default.aspx

11 Y. Hwang, H. Kim und S. H. Jeong, »Why Do Media Users Multitask? Motives for General, Medium-Specific, and Content-Specific Types of Multitasking«, Computers in Human Behavior 36 (2014), S. 542–548; S. Chinchanachokchai, B. R. Duff und S. Sar, »The Effect of Multitasking on Time Perception, Enjoyment, and Ad Evaluation«, Computers in Human Behavior 45 (2015), S. 185–191.

12 L. Yeykelis, J. J. Cummings und B. Reeves, »Multitasking on a Single Device: Arousal and the Frequency, Anticipation, and Prediction of Switching between Media Content on a Computer«, Journal of Communication 64, Nr. 1 (2014), S. 167–192.

13 B. C. Wittmann, N. Bunzeck, R. J. Dolan und E. Düzel, »Anticipation of Novelty Recruits Reward System and Hippocampus While Promoting Recollection«, NeuroImage 38, Nr. 1 (2007), S. 194–202.

14 O. Hikosaka, S. Yamamoto, M. Yasuda und H. F. Kim, »Why Skill Matters«, Trends in Cognitive Sciences, 17, Nr. 9 (2013), S. 434–441.

15 T. T. Hills, »Animal Foraging and the Evolution of Goal-Directed Cognition«, Cognitive Science 30, Nr. 1 (2006), S. 3–41.

16 R. A. Wise, »Dopamine, Learning, and Motivation«, Nature Reviews Neuroscience 5, Nr. 6 (2004), S. 483–494; M. van Schouwenburg, E. Aarts und R. Cools, »Dopaminergic Modulation of Cognitive Control: Distinct Roles for the Prefrontal Cortex and the Basal Ganglia«, Current Pharmaceutical Design 16, Nr. 18 (2010), S. 2026–2032; M. Wang, S. Vijayraghavan und P. S. Goldman-Rakic, »Selective D2 Receptor Actions on the Functional Circuitry of Working Memory«, Science 303 (2004), S. 853–856; M. Watanabe, T. Kodama und K. Hikosaka, »Increase of Extracellular Dopamine in Primate Prefrontal Cortex During a Working Memory Task«, Journal of Neurophysiology 78, Nr. 5 (1997), S. 2795–2798.

17 E. S. Bromberg-Martin und O. Hikosaka, »Midbrain Dopamine Neurons Signal Preference for Advance Information about Upcoming Rewards«, Neuron 63, Nr. 1 (2009), S. 119–126.

18 T. T. Hills, »Animal Foraging«.

19 P. Pirolli und S. Card, »Information Foraging«, Psychological Review 106, Nr. 4 (1999), S. 643.

20 E. L. Charnov, »Optimal Foraging: The Marginal Value Theorem«, Theoretical Population Biology 9, Nr. 2 (1976), S. 129–136.

21 M. H. Cassini, A. Kacelnik, and E. T. Segura, »The Tale of the Screaming Hairy Armadillo, the Guinea Pig, and the Marginal Value Theorem«, Animal Behavior 39, Nr. 6 (1990, S. 1030–1050; R. J. Cowie, »Optimal Foraging in the Great Tits (Parus Major)«, Nature 268 (1977), S. 137–139.

22 Pirolli und Card, »Information Foraging«; T. Hills, P. M. Todd und R. L. Goldstone, »Priming and Conservation between Spatial and Cognitive Search«, in Proceedings of the 29th Annual Cognitive Science Society (Austin: Cognitive Science Society, 2007), 359–364; P. E. Sandstrom, »An Optimal Foraging Approach to Information Seeking and Use«, Library Quarterly (1994), S. 414–449; M. Dwairy, A. C. Dowell und J. C. Stahl, »The Application of Foraging Theory to the Information Searching Behavior of General Practitioners«, BMC Family Practice, 12, Nr. 1 (2011), S. 90.

2.Ziele und kognitive Steuerung

Es gibt zwei gleichermaßen taugliche Perspektiven, aus denen man das großartige Organ zwischen unseren Ohren betrachten kann: zum einen als Gehirn – das großartigste System zur Informationsverarbeitung und die komplexeste Struktur im gesamten uns bekannten Universum – und als Bewusstsein – die noch relativ junge, hoch entwickelte Funktion dieser biologischen Maschinerie, der Wesenskern unserer Identität und unseres Reflexionsvermögens. Die Kombination aus blitzschneller Parallelverarbeitung und enormer Speicherkapazität, über die unser Gehirn verfügt, ist wahrhaft erstaunlich. So ist es beispielsweise imstande, komplexe Reize innerhalb von Zehntelsekunden zu identifizieren, Jahrzehnte auseinanderliegende Ereignisse miteinander zu assoziieren und im Laufe unseres Lebens Datenmengen von mehr als einer Milliarde Bits zu speichern – das sind mehr als 50.000-mal so viele Informationen wie in der Bibliothek des US-Kongresses vorhanden.23 Von seiner Struktur her ist das Gehirn ganz und gar einzigartig und verfügt über mehr als 100 Milliarden Verarbeitungseinheiten (Neuronen) – das sind in etwa so viele, wie es Sterne im Zentrum der Milchstraße gibt. Zwischen ihnen besteht eine unvorstellbar große Zahl von Verbindungen (Synapsen), die ein kompliziertes und weit verzweigtes Netzwerk ergeben, dessen Komplexität geradezu überwältigend ist. Doch die wohl erstaunlichste Facette des menschlichen Gehirns ist das, was es hervorbringt: das Bewusstsein des Menschen. Trotz jahrhundertelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung und Forschung zu diesem Thema lässt sich das menschliche Bewusstsein unserer Ansicht am plausibelsten begrifflich erfassen, wenn man es als Essenz sämtlicher Emotionen, Gedanken, Wahrnehmungen, Entscheidungen, Handlungen, Äußerungen und Erinnerungen beschreibt. Man könnte auch sagen, es macht uns zu dem, was wir sind.

Und dennoch, trotz all dieser Leistungen unterliegt das menschliche Bewusstsein gravierenden Einschränkungen, was unsere Fähigkeit zur kognitiven Steuerung betrifft, um unsere Ziele zu erreichen. Dies macht uns empfänglich für den Einfluss von Ziel-Interferenz, was wiederum negative Auswirkungen auf zahlreiche Aspekte unseres Lebens hat. Schauen wir uns also das Innenleben unseres Bewusstseins etwas genauer an, um zu verstehen, warum wir so anfällig für Ziel-Interferenz sind – die tiefer liegende Ursache für die Überforderung unseres Gehirns.

Der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus

Drehen wir zunächst das Rad der Zeit ein großes Stück zurück und werfen wir einen Blick in unsere evolutionäre Vergangenheit, um zu sehen, wie sich Ziele als Funktion des menschlichen Gehirns überhaupt entwickelt haben. Wenn wir unsere steinzeitlichen Vorfahren beobachten könnten, würden wir feststellen, dass die Rolle der frühesten Variante des Gehirns recht klar war. Es diente dazu, die grundlegendsten Aspekte des Überlebens sowohl des Einzelnen als auch der gesamten Spezies zu sichern. Im Wesentlichen bestand seine Aufgabe darin, den Weg zu Nahrung und Fortpflanzungspartnern zu bahnen und Gefahren auszuweichen. Und wenn wir noch ein ganzes Stück weiter in eine Zeit zurückschauen, als das Gehirn noch gar nicht existierte, stellen wir fest, dass bei Einzellern ohne Nervensystem die Vorläufermechanismen praktisch die gleiche Funktion hatten. Diese Urwesen wurden von recht profanen Abläufen gesteuert: Detektoren auf ihrer Oberfläche beurteilten den chemischen Gradienten von Nährstoffen und Toxinen in der Umgebung, wodurch dann die Richtung ihrer Fortbewegung bestimmt wurde. Dabei handelte es sich um eine einfache Feedbackschleife, die Wahrnehmung in Bewegung umwandelte. Mit der Entstehung eines verzweigten Nervensystems entwickelten Mehrzeller zwar komplexere und dynamischere Interaktionen mit ihrer Umgebung, doch die grundlegende Funktion blieb erhalten: positive und negative Umweltfaktoren wahrzunehmen und auf Basis dieser Informationen das Handeln zu steuern.24

Zufällige Mutationen, die das Gehirn dahin gehend veränderten, dass diese Feedbackschleife besser funktionierte, waren die Gewinner der Evolutionslotterie. Dieses System, das dazu diente, die Chancen auf Nahrung, Fortpflanzung und Überleben zu erhöhen, entwickelte sich immer weiter und sorgte dafür, dass die am besten angepassten Individuen sich durchsetzen konnten. Das primitive Gehirn und diese Feedbackschleife wurden somit unter dem stetigen Einfluss der natürlichen Selektion optimiert. Aus dieser Interaktion zwischen Gehirn und Umwelt entstand schließlich ein sogenannter Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus, der eine zentrale Rolle für das Verhalten aller neuzeitlichen Tiere spielt.25

Der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus wird durch Sinnesreize aus der Umwelt – Anblicke, Geräusche, Gerüche und Tastempfindungen – angeregt, deren Signale über ein umfangreiches Netz hoch spezialisierter Nerven ins Gehirn gelangen. Diese sensorischen Funktionen werden dann durch neuronale Aktivitätsmuster auf einer dünnen Schicht im hinteren Bereich des Gehirns repräsentiert, die als Kortex bezeichnet wird. Diese Muster entstehen durch Prozesse wie Divergenz, Konvergenz, Verstärkung und Unterdrückung, wobei es sich um komplexe Repräsentationen der Außenwelt handelt, also um Wahrnehmungen. Im vorderen Teil des Gehirns werden internal Handlungen erzeugt und durch Handlungsmuster auf dem Kortex repräsentiert. Auf Wahrnehmungen und Handlungen spezialisierte Hirnareale kommunizieren miteinander dynamisch über bidirektionale »Brücken«, die als Bausteine für neuronale Netzwerke fungieren. Diese Verbindungen werden sowohl durch die Hirnregionen definiert, die sie verknüpfen, als auch durch die Art, wie sie miteinander interagieren, die sogenannte funktionelle Konnektivität. Dies ist vergleichbar mit Autobahnen, die einerseits von den durch sie verbundenen Städten geprägt werden und andererseits von den auf ihnen ablaufenden Verkehrsmustern. Unterstützt durch die schnelle Kommunikation über diese Leitungsbahnen zwischen der vorderen und der hinteren Hälfte des Gehirns läuft der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus unaufhörlich weiter: Umweltreize bewirken Wahrnehmung, die eine Handlung auslöst, welche dann für Veränderungen in der Umwelt sorgt. Diese lösen wiederum neue Wahrnehmungen aus, gefolgt von Reaktionen – und so geht der Kreislauf immer weiter.

Der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus primitiver Gehirne bestand im Wesentlichen aus automatisierten Reflexschleifen. Diese Gehirne unterschieden sich in ihrer Funktionsweise gar nicht so sehr von den Vorläufern des Nervensystems bei Einzellern. Wissenschaftler haben festgestellt, dass einfache Organismen, wie etwa Würmer, eine relevante chemische Spur in ihrer Umgebung erkennen und sich anschließend rasch darauf zu oder davon weg bewegen können – je nach deren Zusammensetzung. Dabei handelt es sich um einen Vorläufer der Wahrnehmung-zu-Handlung-Schleife, die man sich auch als Sinnesempfindung-zu-Bewegung-Zyklus vorstellen kann. Untersuchungen der Gehirne von Versuchstieren ermöglichten es, die diesem Zyklus zugrunde liegenden »Verschaltungen« zu analysieren und dadurch zu verstehen, wie Gehirn und Bewusstsein des Menschen genau aufgebaut sind und funktionieren. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, dass primitive Gehirne nicht zu echten Entscheidungsprozessen imstande sind. Das bedeutet, ihr Verhalten wird weder durch höhere, abstrakte Bewertungsvorgänge noch durch die Fähigkeit bestimmt, Ziele zu formulieren und umzusetzen. Stattdessen werden sie ausschließlich durch folgenden Reflex angetrieben: Auslöseimpulse (sogenannte Trigger) in der Umwelt aktivieren über spezielle Rezeptoren bestimmte Sinnesneuronen, Signale an entsprechende Motoneuronen zu senden, die dann genau definierte Reaktionen auslösen.

Interessant ist dabei, dass wir diese Wahrnehmungs-Handlungs-Reflexe bei allen neuzeitlichen Tieren – und auch bei uns selbst – nach wie vor beobachten können. Der Kniescheiben- oder Patellarsehnenreflex, also das typische Kniezucken, ist ein klassisches Beispiel für einen solchen primitiven Reflex. Durch einen leichten Schlag auf die Patellarsehne unterhalb der Kniescheibe werden Sinnesinformationen direkt an das Rückenmark gesendet. Anschließend wird durch ein Übertragungssystem eine motorische Reaktion in Form einer abrupten Beinbewegung ausgelöst. Dieser einfache Reflexbogen spielt eine wichtige Rolle, indem sie dafür sorgt, dass wir laufen können, ohne uns ununterbrochen auf das Laufen zu konzentrieren.26 Unser Körper weist noch weitere ähnliche Reflexe auf, wie zum Beispiel den Pupillenreflex, bei dem unsere Pupillen unwillkürlich je nach Lichteinfall ihre Größe verändern. Außerdem besitzen wir natürlich den Schmerzreflex, der etwa bei einem Nadelstich dafür sorgt, dass wir umgehend zurückzucken.

Top-down und Bottom-up

Obwohl diese Reflexe nach wie vor für uns und unser Überleben von entscheidender Bedeutung sind, hat sich der Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus im Laufe der Evolution gravierend verändert. Zum einen sind sowohl Wahrnehmungen als auch Handlungen erheblich komplexer geworden. Der Mensch nimmt längst nicht mehr nur schlichte Sinnesreize war, sondern vielschichtige Interpretationen sensorischer Stimuli. Zudem sind sie teilweise mit Elementen von Erinnerungen an vergangene Ereignisse verknüpft, sodass diese nunmehr mit dem Kontext versehen sind, in dem sie zuvor erlebt wurden. Handlungen beschränken sich nicht mehr auf einfache motorische Reaktionen, sondern umfassen anspruchsvollere Leistungen und differenzierte Äußerungen, die man möglicherweise gar nicht als »Handlungen« im eigentlichen Sinne werten würde, sondern die sich vielmehr in Sprache, Musik und Kunst äußern.

Eine noch viel tiefer greifende evolutionäre Modifikation des Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus stellte die Entwicklung eines Mechanismus dar, der diesen Zyklus »durchbrach«, was dazu führte, dass die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion nicht mehr generell unwillkürlich und reflexhaft erfolgte. Obwohl Wahrnehmungs-Handlungs-Reflexe im Hinblick auf unser Überleben nach wie vor sehr nützlich für uns sind und daher auf vielen Ebenen unseres Nervensystems fortbestehen, hat sich ihr Einfluss auf besonders komplexe Aspekte unseres Verhaltens deutlich verringert. Das Durchbrechen des Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus schuf günstige Voraussetzungen für die Entwicklung von Zielen, die möglicherweise das definierende Merkmal für das menschliche Bewusstsein sind.

Dieser bemerkenswerte Meilenstein in der Entwicklung unseres Gehirns – das heißt das Durchbrechen des Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus – lässt sich treffender als zeitliche Verzögerung zwischen Wahrnehmung und Handlung beschreiben, sprich: als Pause. Während dieser Pause kommen hoch entwickelte neuronale Prozesse zum Einsatz, die unseren Fähigkeiten zur Zielsetzung zugrunde liegen – die exekutivenFunktionen. Diese Fähigkeiten zur Bewertung, Entscheidungsfindung, Organisation und Planung unterbrechen den Automatismus dieses Zyklus und beeinflussen sowohl Wahrnehmungen als auch Handlungen durch Assoziationen, Reflexionen, Erwartungen und emotionale Bewertung. Diese Synthese stellt den Inbegriff menschlichen Bewusstseins dar – die Entstehung von übergeordneten Zielen.27

Abbildung 2.1: Schema des Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus, um zu illustrieren, wie Top-down-Ziele reflexhafte Reaktionen auf unsere Umwelt durchbrechen. Die Rautensymbole kennzeichnen die Pausen im Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus.

Ziele sind internal erzeugte Pläne, die unser Handeln leiten und es uns ermöglichen, eine Wahl zu treffen, wie wir auf eintreffende Wahrnehmungen reagieren – ausgehend von den Bewertungen, die wir vornehmen und den Entscheidungen, die wir treffen. Das hat zur Folge, dass viele unserer Handlungen nicht mehr unwillkürlich – oder zumindest nicht gänzlich reflexhaft – erfolgen. Dennoch ist dies bei vielen unserer Handlungen nach wie vor der Fall. Wenn Sie etwa von einem Kind in den Arm gekniffen werden, zucken Sie durch den Schmerzreflex unweigerlich zurück. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass Sie daraufhin handgreiflich werden. Schließlich sind Sie in der Lage, kurz innezuhalten, Zielsetzungsprozesse zu aktivieren, den Vorgang als harmlos zu bewerten und den kleinen Übeltäter als ungefährlich einzustufen, um daraufhin die Entscheidung zu treffen, dass eine gewaltsame Reaktion nicht angemessen und ungerechtfertigt wäre. Dadurch sind Sie in der Lage, den Drang nach Vergeltung zu unterdrücken, der bei weniger hoch entwickelten Lebewesen möglicherweise einen reflexhaften Gegenangriff zur Selbstverteidigung ausgelöst hätte. Wie wir später noch erörtern werden, ist dieses Innehalten, diese Pause, nicht nur eine der jüngeren Entwicklungen des menschlichen Gehirns, sondern bildet sich auch im Leben eines Menschen erst relativ spät heraus. Kinder mit noch unterentwickelten Fähigkeiten zur Zielsetzung neigen in solchen Situationen häufig dazu, sich körperlich zu wehren – sehr zum Verdruss der Eltern in aller Welt.

Viele Menschen sind sich dessen bewusst, dass unsere Ziele, wie zuvor beschrieben, Einfluss auf unser Handeln haben. Weniger bekannt ist hingegen, dass unsere Ziele auch beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen. Neuropsychiatrische Forschungen haben ergeben, dass Wahrnehmung keineswegs ein passiver Prozess ist; Anblicke, Geräusche und Gerüche aus unserer Umwelt fluten nicht ungehindert in unser Gehirn, sondern der eingehende Strom von Informationen wird genauso durch Ziele geformt und beschnitten wie unsere Handlungen. Das führt dazu, dass unsere Wahrnehmungen die Realität interpretieren und nicht eins zu eins abbilden. So kommen uns beispielsweise Blumen, auf die wir uns entschließen zu achten, viel röter und duftender vor, als solche, die wir uns entscheiden zu ignorieren. Insofern haben Ziele einen Einfluss auf beide Seiten des Zyklus – sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf das Handeln.

Doch die Tatsache, dass wir die Fähigkeit zur Zielsetzung entwickelt haben, bedeutet keineswegs, dass diese nunmehr den einzigen Einfluss auf den Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus darstellt. Diese internalen, zielgerichteten Top-down-Einflüsse existieren parallel zu externalen, reizgesteuerten Bottom-up-Einflüssen, die unsere Wahrnehmungen und Handlungen prägen. Die Bottom-up-Kräfte sind nach wie vor die gleichen wie seit jeher: Neuheit und Salienz (Auffälligkeit). Reize, die unerwartet, intensiv und plötzlich auftreten (wie ein greller Blitz oder ein lautes Krachen) oder besonders wichtig sind – entweder von Natur aus oder im Zusammenhang mit Erinnerungen an frühere Erfahrungen –, wie zum Beispiel Ihr Name, sorgen unabhängig von Ihren Top-down-Zielen für Bottom-up-Dominanz in Ihrem Bewusstsein. Diese Bottom-up-Einflüsse sind im Wesentlichen die gleichen Triebkräfte des Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus, die bei unseren Vorfahren Wahrnehmung in Handlung verwandelten, um ihr Überleben zu gewährleisten, und stellen somit ein weiteres Erbe unseres archaischen Gehirns dar. Sie üben nach wie vor großen Einfluss auf unseren Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus aus und spielen, wie wir noch sehen werden, eine große Rolle im Geschehen rund um das überforderte Gehirn.

Der Mensch ist allerdings keineswegs die einzige Spezies, die über die Top-down-Fähigkeit zur Zielsetzung verfügt. Auch andere Tiere haben gelernt, Ziele zu formulieren und umzusetzen – einige von ihnen sogar auf recht hohem Niveau. So sind zum Beispiel Menschenaffen und Rabenvögel, wie etwa Krähen und Eichelhäher, in der Lage, einfache Werkzeuge zu schaffen, um damit künftige Aufgaben zu bewältigen.28 Doch selbst dieses beeindruckende Verhalten ist nicht vergleichbar mit den komplexen, miteinander verknüpften, zeitverzögerten und gemeinschaftlichen Fähigkeiten zur Zielsetzung, über die der Mensch generell verfügt. Diese Kompetenz versetzt uns in die Lage, die Interaktionen mit unserer Umwelt umfassend zu steuern, was wiederum so wunderbare menschliche Schöpfungen hervorgebracht hat wie die komplexe Sprache, die Gesellschaft und technische Entwicklungen. Seit wir nicht mehr Sklaven von Bottom-up-Einflüssen sind, können wir viel freier agieren und haben die einzigartige Möglichkeit, kreative Impulse zu erzeugen und umzusetzen, die ein wesentliches Merkmal von Innovation darstellen. Dies unterscheidet uns ganz erheblich von der mentalen Landschaft vieler anderer Tiere, deren Interaktionen durch reflexhafte Reaktionen auf Bottom-up-Einflüsse bestimmt werden.

Trotzdem werden Tieren häufig menschenähnliche Ziele zugeschrieben. Diesen Vorgang bezeichnet man als Anthropomorphismus bzw. Vermenschlichung. Die Interaktionen der meisten Tiere mit ihrer Umwelt unterscheiden sich jedoch in dieser wichtigen Hinsicht ganz erheblich von denen des Menschen. Der Adler, der sich aus dem Himmel herabstürzt, um mit seinen Krallen eine Feldmaus packen, tut dies nicht, weil er »böse« ist. Die Ameisen, deren Straßen ein kompliziertes Muster auf Ihrem Küchenfußboden ergeben, sind keineswegs »hinterhältig«. Nichtsdestotrotz sind ihre Fähigkeiten beeindruckend, in vielerlei Hinsicht sogar ganz außerordentlich. Aber dennoch sind sie weitgehend Sklaven der Bottom-up-Welt, in der sie leben. Nur aufgrund ihrer Sensibilität für neue und saliente Reize sowie entsprechend rascher und reflexhafter Reaktionen auf ihre Umwelt ist es ihnen gelungen, in einer Welt zu überleben, die stark von Herausforderungen und Konkurrenz geprägt ist. Das ist ihr großer Vorteil und in vielerlei Hinsicht lässt sich unsere mangelnde Bottom-up-Sensibilität als entscheidendes Defizit des Menschen werten.