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Durch einen Zufall finden die Ranger Syde und Hilca in einer Kutsche einige magische Objekte, die dort eigentlich nichts zu suchen haben. Die beiden entschließen sich, ihren Vorgesetzten aufzusuchen, der sie mit den Ermittlungen des Diebstahls beauftragt. Sie kommen den Dieben schnell auf die Spur und müssen feststellen, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Zur gleichen Zeit entdeckt auch der kleine Empiro Avid den Diebstahl der wertvollen Objekte im Herzen der großen Höhle von Geêdurs Reich und wird von seinem Lehrmeister auf die Suche nach ihnen geschickt. Derweil versucht auch sein Mentor, der ehrwürdige Modhuf, auf eigene Faust zu ermitteln, wer hinter dem Diebstahl steckt und muss schon bald darauf um sein Leben fürchten. Weit entfernt von diesen Orten und Ereignissen kämpft sich Lumon, der friedvolle Rûkurianer, durch die Wüste mit all ihren Gefahren, um genau zu ebenjenem Reich zu gelangen, und wird zufällig in die Geschehnisse hineingezogen. Die abenteuerliche Geschichte um Hilca, Syde, Avid und Lumon spielt in einer einzigartigen Fantasy-Welt und erzählt von politischem Kalkül, Betrug und Verrat. Im Buch enthalten sind vom Autor entworfene Karten und Handzeichnungen.
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Seitenzahl: 657
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Idee für das Buch „Das verborgene Reich“ ist schon fast zwanzig Jahre alt und kam J. H. Junge beim Lesen des Fantasy-Klassikers „© Der kleine Hobbit“ von J.R.R. Tolkien in den frühen 2000er Jahren. Inspiriert durch einen langen Auslandsaufenthalt viele Jahre später, brachte J. H. Junge die Geschichte rund um Hilca, Syde und ihre Mitstreiter zwischen den Jahren 2017 und 2021 zu Papier.
Dieses Buch widme ich dir.
Du bist meine Frau, meine beste Freundin, mein größter Fan, meine Inspiration und immer für mich da. Von Beginn an hast du mich bei diesem Projekt unterstützt.
Danke für alles.
Prolog
Kapitel 1: Ein sandiger Weg
Kapitel 2: Eine schwerwiegende Entdeckung
Kapitel 3: Zum Fliegen geboren
Kapitel 4: Vom Pech und anderen Geschichten
Kapitel 5: Ein steiniger Weg
Kapitel 6: Ein Versteck gesucht
Kapitel 7: Die Verschwörung
Kapitel 8: Gesucht und gefunden
Kapitel 9: Zum Greifen nah
Kapitel 10: Auf der Spur
Kapitel 11: Gemeinsam in die Außenwelt
Kapitel 12: Schwierigkeiten in Keupatz
Kapitel 13: Das Diebesgut
Kapitel 14: Eine aussichtslose Situation
Glossar
Syde sah die senkrechte Wand hinauf, sie verlor sich nach einer Weile im Dunst. Er wusste genau, was sich am oberen Ende befand, und doch schien es eine ewig hohe Mauer zu sein. Die Wand war gräulich und hatte kleine Risse. Die grobe Struktur erinnerte an eine schlecht bearbeitete Steinwand, deren Gesamteindruck aus der Ferne jedoch glatt und gleichmäßig erschien. In Gedanken vertieft machte er einen kleinen Schritt auf die Wand zu, dabei verfing sich sein Schuh in einer offen liegenden Wurzel. Syde geriet ins Stolpern, versuchte mit dem anderen Bein einen Ausfallschritt nach links und fing an, wie ein Verrückter mit den Armen zu rudern, um das Gleichgewicht zu halten. Er fuchtelte herum wie ein zu fettes Huhn bei dem Versuch zu fliegen, nach einigen Sekunden war er siegreich im Kampf gegen die Schwerkraft. Ein flüchtiger Blick verriet ihm, dass er allein war und niemand dabei zugesehen hatte. Der junge Ranger war oft in Gedanken oder hing Tagträumen nach. Das war auch der Grund, warum ihn andere für tollpatschig hielten, dabei war er recht flink und reaktionsschnell für einen Mann seiner Größe. So kam es, dass er aus seinen zahlreichen beinahe Katastrophen fast immer glimpflich Herauskahm. Dass andere unter seiner Art mehr zu leiden hatten, wusste er und es tat ihm leid, trotzdem konnte er nicht aus seiner Haut. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, etwas Achtsamer und Vorsichtiger zu sein! Meistens hielt seine von langer Hand geplante Charakteränderung aber nur für kurze Zeit an, bevor er wieder irgendwelchen Tagträumen nachhing und dabei versehentlich die Scheune seines Onkels in Brand steckte oder das Paddocktor auf dem Hof seiner Eltern aufließ, sodass am nächsten Tag alle Melocs in der Gegend herumliefen. Diese Wesensart brachte auch Vorteile mit sich, denn so wurde er nur äußerst selten um Hilfe gebeten, wenn es irgendetwas zu erledigen gab. Im Gegensatz zu seinen drei älteren Geschwistern hatte Syde stets verdächtig viel Freizeit gehabt auf dem Hof seiner Eltern. Neben dieser Art besaß der junge Mann aber auch eine schnelle Auffassungsgabe und war wirklich gut darin, sich Details einzuprägen. Eigenschaften, die er in seiner jetzigen Position als Unteroffizier im Ranger-Korps gut gebrauchen konnte. So war ihm die Entscheidung leichtgefallen, nach seiner Wehrdienstzeit weiter beim Korps zu bleiben. Der hagere Mann musste bei dem Gedanken an all seine Missgeschicke schmunzeln. Anschließend benetzte er die Wurzel, die ihm zuvor fast zum Verhängnis wurde, drehte sich um und ging zurück zur Straße.
„Wo bleibt er denn jetzt schon wieder? Ich dachte, er muss nur kurz pinkeln!“, murmelte Hilca leise. Sie blickte ungeduldig den schmalen Pfad entlang, der einen kleinen Hügel hinaufführte. Die weißhaarige Empiro aus dem Stamm der Wolkenbringer war eine junge, hübsche Frau. Ihre Lippen waren blassrot und wohlgeformt. Hohe Wangenknochen verliehen ihrem jugendlichen Antlitz etwas Erhabenes. Das lange weiße Haar trug sie meistens mit den Ohrschlappen nach hinten gebunden und geflochten. Die Ohrschlappen, so wurden die Ohrläppchen von Empiros genannt, wuchsen ähnlich wie Haar immer weiter. Obgleich diese wenige Millimeter unterhalb des Ohres jegliche Nervenenden verloren und es somit nicht wehtat, wenn man sie abschnitt, behielten viele Empiros ihre langen Ohrschlappen. Ganz besonders weibliche Empiros nutzten diese körperliche Anomalie und flochten sie in ihre Haare ein oder wurden von ihnen als dickes Haarband genutzt. Männliche Empiros hingegen ließen die ihren oft erst ab einem gewissen Alter nicht mehr abschneiden, nur um sie dann reich verziert einfach herabhängen zu lassen. Hilcas Schlappen reichten aus, um sich damit den Zopf zu binden, doch sie waren nicht sehr lang, da die Empiro-Frau noch relativ jung war. Ihr jugendliches Aussehen und ihr Anmut führten dazu, dass viele, meist Männer, sie unterschätzten. Ob das der Hauptgrund war, Offizierin beim Ranger-Korps zu werden oder ein anderer, vermochte sie auf die Schnelle nicht zu sagen.
Hilcas stolze lilafarbenen Augen wanderten suchend umher; sie mochte es nicht, wenn sich etwas ihrer Kontrolle entzog. Diese Eigenschaft musste ihr Vater an sie vererbt haben. Toctzu-liko, ihr hochgeschätzter Vater, war Stammesoberhaupt der Wolkenbringer sowie Mitglied im Volksrat. Ein ehrenwerter Mann, dessen Einfluss das ein oder andere Mal schon dazu führte, ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen. Doch es war nicht nur ihr Vater, der dazu beigetragen hatte, sie an die Position zu bringen, die jetzt von ihr bekleidet wurde. Es waren auch, und das vielleicht zum weitaus größeren Teil, ihr Ehrgeiz und ihre Disziplin, die ihr sehr viel dabei halfen. Gerade deshalb ärgerte es sie, dass Syde bei allem, was er machte, immer etwas länger brauchte und sich von einem Schlamassel in den nächsten katapultierte. Trotzdem konnte Hilca nicht umhin zuzugeben, dass der hagere Mann gut aussah. Er war recht groß und ihm wuchs ein Bart, anders als männlichen Empiros, was sie auf gewisse Weise erregte. Soweit Hilca wusste, gab es durchaus Beziehungen zwischen Empiros und Menschen. Es gab sogar Kinder aus solchen Verhältnissen, die abwertend Mischblut genannt wurden. Während Menschen dafür bekannt waren, viel und hart zu arbeiten, sich selten zu beschweren und traditionsbewusst zu sein, sagte man Empiros nach, dass sie gewissenhaft, launisch und ordnungstreu seien. Aber wie das eben so ist, wenn man eine ganze Rasse mit wenigen Worten beschreiben will, gab es Ausnahmen, deshalb traf die Beschreibung weder auf den Menschen Syde noch auf die Empiro Hilca zu. Die junge Frau konnte sehr impulsiv sein und verlor dann und wann schnell die Beherrschung, Eigenschaften, die sie garantiert ihrer Mutter zu verdanken hatte. Wie oft war ihre Mama einen Küchentopf über dem Kopf kreisend und schimpfend hinter ihrem Vater her gewesen, nachdem dieser nach einer langen Stammessitzung mitten in der Nacht mal wieder stockbetrunken nach Hause gekommen war! Es ärgerte Hilca, diese Beschreibungen zu hören. Ihrer Meinung nach traf dies fast ausschließlich auf die Empiros des Stammes der Wolkenbringer zu, dem sie selbst angehörte. Die aufbrausende Empiro wusste, dass sie dazu neigte, schnell die Geduld zu verlieren. So konnte man sie auch für eingebildet halten. Das traf jedoch nicht auf die junge Frau zu, denn es war das ständige innere Bestreben, es besser machen zu wollen als alle anderen. Ihr Geltungsdrang, aus dem Schatten des übergroßen Vaters hervorzutreten, machte sie zuweilen rastlos und damit zu einer anstrengenden Kameradin, ohne dass sie es beabsichtigte. Andererseits konnte Hilca wunderbar Mitstreiter und Freunde inspirieren, motivieren und für sich gewinnen. Es war eine Gabe, die sie rege nutzte. Bereits als kleines Kind wurde die Rolle der Anführerin stets von ihr bekleidet. Es war diese besondere Mischung an Eigenschaften und nicht die Intervention ihres Vaters, wie viele vermuteten, die es ihr in so jungen Jahren ermöglicht hatte, Unteroffizierin zu werden.
Hilca nahm eine Bewegung am oberen Rand des Hügels wahr, die sie aus ihren Gedanken aufschrecken ließ. Endlich kam Syde zurück. Wie immer trottete der hagere, hochgewachsene Mensch mit vorsichtigen Schritten langsam den Hügel herunter. „Was hast du die ganze Zeit dahinten getrieben?“, fragte Hilca und versuchte dabei nicht genervt zu klingen. Syde lächelte ihr beim Heruntergehen zu. „Ich habe gegen eine Horde wild gewordener Melocs gekämpft. Danach gegen einen Riesen“, sagte er näherkommend. „Und warum hat das so lange gedauert?“, fragte die junge Empiro. Auch sie musste jetzt grinsen. „Der Riese war ganz schön hartnäckig, aber ich habe so lange auf ihn eingeredet, bis er vor Langeweile tot umfiel und die ganze Horde unter sich begraben hat.“ Beide lachten darüber. „Komm, beeil dich bitte! Der Tross ist bestimmt schon mehr als eine Meile entfernt.“ Hilca deutete mit einem Kopfnicken die kleine Straße entlang, auf der sie auf ihn gewartet hatte. Syde nickte, er ging auf sein Meloc zu. Das Tier sah ihn aus großen schwarzen Augen an, den flachen, langen Kopf hoch erhoben, die kräftigen Beine auseinandergespreizt und bereit loszulaufen, sobald der Befehl dafür kam. Die ledrige, schuppige Haut zeigte einige Blessuren. Schön waren Melocs wirklich nicht, aber sehr treu und folgsam. Der Unteroffizier wusste, dass sein Reittier drei Tage durchlaufen würde, wenn sein Herrchen es von ihm verlangen würde, nur um danach tot umzufallen. Mit einem Satz sprang er in den gepolsterten Wandersattel und stieß einen grellen Pfiff aus. Daraufhin flitzten beide Melocs in Richtung des Trosses los. In nicht allzu weiter Ferne durchbrach ein großer leerer Raum die senkrechte Wand, die er eben noch aus der Nähe betrachtet hatte. Die kleine gepflasterte Straße führte mit einigen Kurven auf diese Öffnung zu. Dicht bewaldete Hügel versperrten die Sicht auf die Ländereien dahinter. Bereits nach wenigen Dutzend Fuß machte die Straße eine Rechtskurve, um einem dieser Hügel auszuweichen, und beide Melocs samt Reiter gerieten aus dem Blickfeld.
„Hier bin ich wieder“, sagte Syde. Stoktar, ein Mensch, der die besten seiner Jahre bereits hinter sich gebracht hatte, sah erschrocken auf. Er saß auf dem kleinen Kutschbock und hielt zwei Zügel in der Hand, die zum Kopf des vor die Kutsche gespannten Bahluts führten. Auch das kräftige Tier mit dem stoppeligen, dunkelgrauen Fell blickte irritiert nach rechts. Syde ritt auf seinem Meloc neben dem Kutschbock her. Der alte Kutscher sah an dem jungen Ranger vorbei zu Hilca die sich bereits einige Dutzend Fuß weiter vorne befand, um zur Spitze des zehn Kutschen umfassenden Trosses zu reiten. Dort warteten Creyûti und Seelkamu sowie ihre zwölf Mann starke Einheit auf die Nachricht, dass sie und Syde wieder aufgeschlossen hatten. Zu viert bildeten sie das sogenannte Einsatzteam Nummer achtzehn des Ranger-Korps. Ihr Auftrag war es, den Tross zu begleiten. Der alte Mensch schnaubte verächtlich auf. „Um ehrlich zu sein, habe ich nicht einmal gemerkt, dass ihr weg wart!“, antwortete Stoktar, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich verstehe sowieso nicht, warum wir hier auf einen Geleitschutz angewiesen sind?“ Er deutete mit der Hand in Richtung einer der Hügel am Straßenrand. „Meint ihr, Banditen greifen uns hier an? Oder Scuzuns? Die letzten wurden vor über fünfzehn Jahren zur Strecke gebracht.“ Der Kutscher blickte neugierig nach hinten. „Seit wann müssen Geldtransporte so stark bewacht werden? Normalerweise reichen doch vier Soldaten von eurem Korps, man braucht dafür keine halbe Kompanie!“ Auch Syde sah zum Kutschenanhänger. „Ich kann dir ehrlich sagen, dass ich keine Ahnung habe, warum gerade dieser Transport so stark bewacht wird“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Ich denke, die Offiziere in der Feste wissen schon, was sie machen. Ich befolge nur meine Befehle, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht verraten, aber wie bereits gesagt, ich weiß es nicht.“ Stoktar blickte mürrisch nach unten. Syde ritt noch ein paar Minuten neben dem Kutschbock des alten Mannes her. Nach einer Weile ließ er sich zurückfallen und führte sein Reittier langsam hinter der letzten Kutsche des Trosses her. Natürlich hatte sich der junge Mann schon Gedanken gemacht, und doch konnte er sich nicht erklären, warum ihr Team für diesen Tross abgestellt worden war. Es gab öfter Geldtransporte, die bewacht werden mussten. Fast alle mit demselben Ziel: Die Münzdruckerei der Regierung lag in der Haupthöhle. Die meisten Ranger, ein Großteil der Fliegerstaffel und natürlich alle Wachmannschaften der großen Mauer von Geêdur waren in den Provinzen stationiert und mussten besoldet werden. So kam es ab und an vor, dass ihr Team mit einigen Soldaten einen der Kutschen-Trosse von der Feste bis zum Ziel begleiten mussten, doch meistens mit viel weniger Rangern. Jede Kutsche war mit jeweils zwölf großen hölzernen Kisten beladen, alle bis oben hin mit Münz- und Plattengeld gefüllt.
Während der Unteroffizier mal wieder über den Sinn und Zweck dieses Unterfangens nachgrübelte, pfiff er leise vor sich hin, so wie er es oft tat, wenn er nachdachte. Sein Meloc, anscheinend ein besonders folgsames Tier, befolgte den unabsichtlichen Befehl umgehend und begann mit kräftigen Sätzen der vier Beine loszurennen. Sekundenbruchteile später erkannte das Tier seinen Fehler und machte nur wenige Zentimeter vor der Kutsche eine Vollbremsung. Da Melocs sich mit ihren langen Krallen im Erdboden festhaken können, schaffte es das Tier gerade noch abzubremsen, im Gegensatz zu Syde. Dieser wurde durch die Wucht der Abbremsung nach vorne geschleudert und flog mit dem Kopf voran durch die offene hintere Plane in die Kutsche hinein. Der Aufprall an sich schmerzte nicht, Augenblicke später jedoch durchfuhr dem armen Mann ein stechender Schmerz in seiner Brust. Syde versuchte, nach Luft zu schnappen, doch da war keine Luft. Wieder und wieder öffnete er hoffnungsvoll den Mund, doch es half nichts. Es war, als ob jemand von jetzt auf gleich alle Luft der Welt abgedreht hätte. Der Unteroffizier drehte sich verzweifelt von dem Rücken auf den Bauch und versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, wie er so dalag und mit jedem weiteren Atemzug noch mehr Luft aus der Lunge ließ. Sein Sichtfeld verengte sich immer weiter, kleine weiße Punkte tanzten vor den Augen auf und ab. Syde spürte ganz tief im Inneren ein wohliges Gefühl aufsteigen; er wollte sich diesem Gefühl absolut hingeben und einfach die Augen zumachen.
Mit einem Mal sah der hagere Mensch einen Schatten vor sich treten. Er hörte eine dumpfe Stimme, die auf ihn einzureden schien. Der Schatten kniete sich nieder und Syde erkannte das faltige Gesicht von Stoktar, der auf ihn einredete, fast schrie. Nach Luft ringend sah er Stoktar an. „A… na… o…!“ Was versuchte der Kutscher ihm zu sagen? „Ha… d…ne A… na… o…!“ Der grauhaarige Mensch machte eine Bewegung und hielt die Arme des Unteroffiziers nach oben. Jetzt verstand Syde: „Halt deine Arme nach oben!“ Ein unglaublich beruhigendes Gefühl überkam ihn. Luft! Luft, die in seine Lungen strömte. Er musste sich beim Sturz das Organ gequetscht haben. Langsam klärte sich Sydes Blick; bei seinem Unfall waren einige der Kisten, die sich im hinteren Teil des Kutschenanhängers befanden, zu Bruch gegangen. Stoktar hielt noch immer seine Arme nach oben und sah ihn fragend an. Auf dem Kutschbock erschienen die Gesichter einiger anderer Kutscher. Der ganze Tross musste angehalten haben, um zu schauen, was hier vor sich ging. Draußen hörte der Ranger Leute durcheinanderreden und Seelkamu etwas rufen. Das verdutzte Meloc konnte Syde durch die offene Wagenplane sehen. Es blickte aus unergründlichen schwarzen Augen in das Wageninnere. Am Kutschbock erschien Hilca, sie schob die anderen Kutscher rüde zur Seite, um selbst in die Kutsche klettern zu können. Ihr folgten sechs der zwölf Ranger im Schlepptau. Die junge Unteroffizierin kletterte allein in die Kutsche und stand wenige Augenblicke später neben dem unglückseligen Mann. Mit ihrem typischen Gesichtsausdruck sah Hilca auf ihn nieder. „Geht es dir gut?“, fragte sie mehr aus Zwang als aus Sorge um ihren Kameraden. Der hagere Mensch nickte langsam. Daraufhin stand die junge Empiro-Frau auf und sah sich das Chaos an, das er durch seine Flugeinlage angerichtet hatte. Syde wollte etwas sagen, aber Hilca schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. „Bleib sitzen, hol Luft und sag bitte einfach mal gar nichts, alles klar?“, sagte sie knapp. Der Unteroffizier sah zu Boden. Er wusste, wie schwer es der weißhaarigen Frau fiel, jetzt nicht zu schimpfen, da sie eine perfektionistische Ader hatte. So krächzte er nur ein „Ja“ hervor.
Als der hagere Unteroffizier so zu Boden blickte, fiel im etwas ins Auge. Etwas, was ihm merkwürdig bekannt vorkam und was so ganz und gar nicht hierhergehörte. Syde nahm seine Arme herunter und versuchte, so viel Luft wie möglich in die Lungen zu pressen. Dann bewegte er sich langsam, seitwärts krabbelnd auf ein kühl glänzendes Objekt zu, das zwischen einigen Geldplatten auf dem Boden lag. Davor kniend, schob der schwer atmende Mann mit einer langsamen Bewegung einige der Messingplatten weg, um das Objekt etwas genauer betrachten zu können. Es handelte sich um eine Kugel, die in verschieden langen und unterschiedlich dicken Fortsätzen endete. Da fiel dem hageren Mann wieder ein, woher er dieses Objekt kannte. Es war etwa ein Jahressechstel her gewesen, als seine Gruppe einen eher ungewöhnlichen Auftrag erhalten hatte. Sie mussten eine alte Scheune entrümpeln, in der über Jahre angesammeltes Diebesgut entdeckt wurde. Der Besitzer des Hauses war an Altersschwäche gestorben. Ob nun er oder ein naher Verwandter das Diebesgut besorgt hatten, konnten sie im Nachhinein nicht mehr eindeutig klären. Das Ranger-Korps war in den Provinzen außerhalb der Städte auch für normale Polizeiarbeit zuständig und so fiel es in ihren Aufgabenbereich, die rechtmäßigen Besitzer jedes einzelnen Objektes ausfindig zu machen. Einer der Gegenstände war ein riesiges Gemälde, auf dem viele der Kugeln untereinander verbunden einen Kubus darstellten. Das Bild trug den einprägsamen Namen „Hââk-dur-Objekte bilden Detektorapparatur in der Zitadelle in Havlog“. So ließ sich zumindest dieser Gegenstand direkt zuordnen, da der Name des Eigentümers im unteren Bildrahmen eingraviert wurde. Der rechtmäßige Besitzer, ein Meister der Zitadelle, war heilfroh, als ihm Hilca und Creyûti das große Gemälde aushändigten.
Stoktar, der immer noch auf dem Boden des Kutschenanhängers saß, sah sich unbeeindruckt die in der Kutsche verteilten Schätze an und beobachtete mürrisch, wie Syde das Kugelobjekt eingehend untersuchte. Dann stand er langsam auf, bewegte sich behäbig Richtung Kutschbock zurück und murmelte etwas von: „Verstand verloren!“ „Hilca?“ Syde blickte aufgeregt zur Empiro-Frau, die im hinteren Teil der Kutsche stand und gerade einen Haufen Münzen zurück in eine umgefallene Kiste hievte. „Bitte Syde, kein Wort!“, sagte die junge Empiro, ohne sich umzudrehen. „Hilca!“, sagte der Unteroffizier ein weiteres Mal. Je länger er das Objekt betrachtete, desto sicherer war sich Syde, dass es das war, was er vermutete. Die junge Rangerin drehte sich wütend um. „Ich sagte: ‚Kein Wort… Es tut mir leid, dass du dir wehgetan hast, aber dir passiert so etwas andauernd und ich habe die Nase voll davon, immer Ärger zu bekommen!“, sagte sie laut und sichtlich verärgert. „Sieh doch!“, krächzte Syde aufgeregt hervor und zeigte auf das Objekt. Mit einem Kopfschütteln bahnte Hilca sich einen Weg durch die kaputten Kisten und blieb nach wenigen Schritten vor dem Hââk-dur-Objekt und ihrem Kameraden stehen. Die junge Frau musterte den Boden, bis ihr Blick auf die besagten Kugel fiel. Auch sie kniete sich hin und streckte ihre Hand nach dem Objekt aus, aber ohne es zu berühren. Hilca riss ihre lilafarbenen Augen auf. „Ist es das, was ich denke?“, fragte sie stotternd. Ihre Gesichtszüge entspannten sich schlagartig, die Ohrschlappen wackelten dabei hin und her, keine Spur mehr von Wut an ihr. Syde nickte, ohne seine Augen vom Objekt zu nehmen. „Meinst du, da sind noch mehr?“, fragte die Empiro-Frau. „Ich weiß es nicht“, antwortete der am Boden liegende Mann.
Sechs der ihnen zugeteilten Soldaten bildeten eine lose Kette und hielten die neugierigen Kutscher davon ab, sich der Kutsche zu nähern. Die Unteroffiziere wollten nicht riskieren, dass einer von ihnen der Verlockung der herumliegenden Geldmünzen nicht widerstehen konnte. Creyûti und Seelkamu kamen zu ihnen herüber und stiegen auf den Kutschenanhänger. „Was ist hier passiert?“, wollte Seelkamu wissen. Er war ein junger Empiro aus dem Stamm des Weidenbaumes, der genau wie sein bester Freund Creyûti fast einen Kopf kleiner war als Syde und auch etwas kleiner als Hilca, dafür aber um einiges stämmiger. Die kurzen orangeweißen Haare und gelblichen Augen passten zum rundlichen Gesicht. Seine Ohrschlappen waren, wie bei Soldaten üblich, weit gestutzt und nur zwei Zentimeter lang. Eigentlich viel zu friedlich und freundlich, um als Unteroffizier in der Armee zu dienen, war er in ihrer Vierergruppe jemand, der die Truppe mit seinem Witz und seiner Fürsorge zusammenhielt. Oft wurden seine Fähigkeiten als Streitschlichter eingesetzt, wenn sich Hilca und Syde in die Wolle bekamen. Syde war sich sicher, dass Seelkamu nach seiner Zeit beim Ranger-Korps in das Dorf zurückkehren würde, aus dem er kam und eine Frau mit dem gleichen Format wie seines heiraten würde. Nach seiner Dienstzeit wollte er nichts anderes tun, als in einem riesigen grünen Garten zu sitzen und seinen Kindern Geschichten zu erzählen. Davon und vom unverwechselbaren Geschmack seines selbst gebrauten Gerstenbieres schwärmte der Empiro bereits, als Syde das erste Mal mit ihm sprach. Schon seit diesem Tag war er fast immer in Begleitung seines Freundes Creyûti anzutreffen. Soweit Syde wusste, waren sich die beiden erst bei der Grundausbildung des Korps begegnet und doch schien es, als würden sie sich bereits ein ganzes Leben lang kennen, und dies, obwohl beide nicht unterschiedlicher hätten sein können. Creyûti war ein stiller und verschlossener Zeitgenosse. Obgleich Syde ihn bereits seit mehr als zwei Jahren kannte und seitdem oft mit ihm unterwegs gewesen war, wusste der Unteroffizier nur sehr wenig über den stillen und introvertierten Menschen. Er hatte kurze braune Haare und ebenso braune Augen, die eher von schmächtiger Statur konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit Abstand der beste Schwertkämpfer von ihnen war. Zudem allzeit interessiert an allem Technischen, dass seinen Weg kreuzte. Abgesehen davon konnte man sich darauf verlassen, dass er einem immer den Rücken freihielt, wenn es darauf ankam. Zu viert waren sie schon, eine merkwürdige kleine Truppe, aber Syde würde keinen von ihnen eintauschen wollen.
Hilca zeigte Seelkamu das Objekt. Dieser war offensichtlich etwas verwirrt und sah die beiden fragend an. Die junge Empiro schüttelte genervt den Kopf. „Erinnerst du dich nicht mehr an das Diebesgut auf dem Bauernhof in Leloplrtki? Auf dem großen Gemälde, da waren genau die Kugeln abgebildet! Es sind diese magischen Objekte des Mashge-Ordens.“ Seelkamu hob erstaunt die Augenbrauen. „Also da wäre ich im Leben nicht draufgekommen! So etwas erkennst du?“, fragte der junge Empiro. Das Quartett wurde komplett, als Creyûti herantrat. Er hatte die ganze Zeit über einige Fuß hinter ihnen gestanden und die Kutschermeute und seine Soldaten im Blick behalten. Hilca wiederholte, was sie gerade eben zu den anderen sagte. Creyûti konnte sich gut an das Gemälde erinnern und sowohl er als auch Seelkamu waren sich der Tragweite des Fundes bewusst, nachdem Hilca noch einmal genau erklärte, was sie da genau gefunden hatten. Nach einer kurzen Beratschlagung wurde nicht lange gezögert. Gemeinsam stiegen sie in die Kutsche hinein und betrachteten die anderen zerstörten Kisten auf dem Anhänger. Es waren insgesamt fünf Behältnisse, die zum Teil oder komplett zerstört waren, in zweien davon befanden sich ein Dutzend dieser Hââk-dur-Objekte, alle lose mit Leinentüchern abgedeckt. Der Respekt vor den seltenen magischen Objekten war zu groß, um sie herauszuholen und zu zählen oder anderweitig zu untersuchen. Neben dem einen Objekt, das Syde auf dem Boden liegend fand, wurde ein weiteres in einer Ecke des Kutschenanhängers gefunden. Diese beiden nahmen Hilca und er an sich. Nachdem ihr Team sämtliches Münz- und Plattengeld zurück in die Kisten befördert hatten, kletterten sie aus der schmalen Kutsche hinaus und stellten sich in einem kleinen Kreis zusammen. Die Kutscher und ihre Soldaten befanden sich außerhalb der Hör- und Sichtweite auf der anderen Seite der Kutsche. „Das müssen wir unbedingt jemandem mitteilen“, stellte Creyûti fest. „Wir sind nur noch einen halben Tagesmarsch von Drûztburg entfernt. Sollen wir nicht erst einmal dahin?“, fragte Seelkamu in die Runde. „Der Lieferort ist ein einfaches Lagerhaus, keine Militäreinrichtung, und es gibt keine Garnison in Drûztburg. Das heißt, wir sind die Ranghöchsten in der Gegend“, sagte Syde. „Aber der Auftrag kam von unseren Vorgesetzten. Vielleicht war es ja Sinn und Zweck des Ganzen, dass diese Objekte unbemerkt zu dem Lagerhaus gelangen sollten, und wir haben einen Fehler gemacht. Warum sonst muss ein Zehn-Kutschen-Tross von vier Unteroffizieren und zwölf Soldaten begleitet werden?“, fragte der hagere Unteroffizier an die anderen gewandt. „Die Objekte gehören aber dem Mashge-Orden und nicht dem Korps, hier ist ganz offensichtlich ein Fehler gemacht worden oder jemand hat uns die Objekte absichtlich untergejubelt, um dem Korps einen auszuwischen“, sagte Hilca. Alle sahen sie fragend an. „Die Objekte haben hier nichts zu suchen. Wir werden sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen. Creyûti, Seelkamu, ihr begleitet den Tross nach Drûztburg, seid bei der Verladung dabei und sorgt dafür, dass die beiden Kisten mit den Dingern hier im Lagerhaus unter eurer Obhut bleiben.“ Sie hielt das eine Objekt demonstrativ in die Höhe. „Bleibt da, bis ihr eine Nachricht von uns bekommt. Syde und ich reiten zur Feste und teilen diese Entdeckung jemandem mit, der definitiv weiß, was es damit auf sich hat … hoffentlich“, fügte sie halblaut hinzu. Nachdem die Unteroffiziere noch etwas über das weitere Vorgehen diskutiert hatten, stimmten alle vier dem Plan zu. Ohne Zeit zu verlieren, ging Hilca zu ihrem Meloc. Syde folgte dem Beispiel seiner Kameradin und bewegte sich schnellen Schrittes zu seinem Tier zurück; jeder Atemzug bereitete ihm noch Schmerzen. Der hochgewachsene Ranger schwang sich auf das Meloc und stieß einen grellen Pfiff aus. Er und Hilca ließen die verdutzt dreinschauende Gruppe von Kutschern schnell hinter sich. Ihre Kameraden versuchten bereits wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, das Syde veranstaltet hatte. Er war sich sicher, dass die Objekte erst einmal in den richtigen Händen waren. Während der Wind um ihn herumbrauste, lief dem hageren Menschen ein Schauer den Rücken hinunter. Diese Funde konnten nichts Gutes bedeuten. Wer auch immer dahintersteckte, war mit Sicherheit nicht zu unterschätzen
Lumon biss die Zähne zusammen, er konnte es knirschen hören. Er mochte dieses Geräusch nicht, denn es waren nicht seine Zähne, die knirschten, sondern der feine Sand, der sich binnen weniger Stunden in jede Falte und Körperöffnung setzte. Ein langes Tuch bedeckte seinen Kopf sowie sein Gesicht, nur ein kleiner Schlitz für die Augen wurde frei gelassen. Nur so konnte man sich vor der unerbittlich heißen Sonne schützen, die von oben herabbrannte. Lumon war froh, Hilfe beim Binden bekommen zu haben. Er brauchte diesen Schutz, obgleich die wenig erhöhte hölzerne Plattform, auf der sie saßen, von einem Geländer umgeben und mit einem Sonnensegel überspannt war. Doch dieses bot nur denjenigen Abschirmung, die direkt darunter hockten, doch durch die ständigen Richtungswechsel und steilen Abfahrten änderte sich der Sonneneinfall sehr häufig. Ausschließlich der Steuermann wurde zum größeren Teil durch den ausgeblichenen und löchrigen Stoff von der Sonne geschützt. Lumon vermutete, dass dieser Stoff gar nicht so alt war, doch dem rauen Klima hier im Wüstenmeer hielt auf Dauer kein Stoff stand. Es waren unzählige kleine Sandkörner, die bei voller Fahrt wie Geschosse darauf niedergingen und den Webstoff bereits nach einer kurzen Weile völlig ausgedünnt hatten. Er kannte sich zwar mit Sand aus, den gab es auch bei ihm zu Hause, dort war der Sand jedoch gröber und mit einigen kleinen Steinen durchsetzt. Er vermisste sein Zuhause jetzt umso mehr, das spärliche grüne Gras, die Palmenbäume, sogar die steinernen Hügel, die er das Vieh hochgetrieben hatte. Er gehörte zu einer Volksgruppe, die am Fluss Tur und vor allem im Rûkur-Hochland lebte. Mit seinen braunen Augen, der leicht olivfarbenen Haut, den krausen dunkelbraunen Haaren auf dem Kopf, so wie dem fast schwarzen Bart, wirkte er um einiges älter und weiser, als er in Wahrheit war. Sein Heimatdorf hatte er bisher nicht oft verlassen; dies war seine erste, zugegebenermaßen erzwungene große Reise hinfort aus dem Landstrich, den er seine Heimat nannte und die er bei dem Anblick hier sehr vermisste. Diese Wüste, die ihn umgab, hatte er zuvor noch nie gesehen. Hier gab es Hügel, die komplett aus Sand bestanden. Die Einheimischen nannten sie Dünen und bis zum Horizont konnte er nur solche Dünen erkennen. Diese Sandberge schienen sich in jede Richtung endlos auszubreiten, eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Sandhaufen. Er musste an Ulkany denken, die Stadt der Wüstensegler. Sie hatte ihre eigenen Regeln; es gab zwar einen Bürgermeister und eine Stadtwache, diese waren jedoch sehr korrupt und interessierten sich nicht groß für die Belange ihrer eigenen Bevölkerung, geschweige denn für die von Durchreisenden. Wenn man jedoch ein reicher Händler oder niederer Adeliger war und die Stadt am Rande des Wüstenmeeres besuchte, sah dies ganz anders aus. In diesem Fall wurde man von den Wachen beschützt. Leute ohne Geld mussten ihre Probleme selbst aus der Welt schaffen, oft auch mit, sagen wir, zweifelhaften Methoden. In dieser Stadt war man auf sich allein gestellt, und wenn man Pech hatte, reichten wenige Golddukaten aus, um von Dieben einfach in einer Seitengasse erdolcht zu werden. In anderen Fällen versprachen scheinbar respektable Leute, einen sonst wo hinzubringen. In froher Hoffnung segelten die Opfer mit den Gaunern einige Meilen in die Wüste hinaus und wurden dort von ihnen erdrosselt, der Sand kümmerte sich um den Rest. Andere Gauner waren nicht so gnädig und setzten ihre blauäugigen Kunden in der Wüste aus, wo sie dann innerhalb einiger Stunden vor Durst und Hitze umkamen. Lumon hoffte inständig, an den vielleicht letzten ehrlichen Geschäftsmann geraten zu sein. Zumindest das Gefährt, auf dem er durch die Wüste fuhr, machte einen sicheren Eindruck, ein gutes Zeichen. Natürlich war auch dieser sandbedeckte Landstrich nicht gänzlich leer. Es gab einige Beduinenvölker, die sich an die unwirkliche Wüste und all ihre Gefahren optimal angepasst hatten. Die Beduinen-Stämme bestanden zum überwiegenden Teil aus rechtschaffenen Menschen, angesehen für ihre Handwerkskunst und Gastfreundschaft. Auch viele der Händler in den Städten am Rand der Wüste waren Beduinen, berühmt und gefürchtet für ihr Verhandlungsgeschick. Allerdings gab es auch einige nicht rechtschaffene Beduinen, allen voran der Stamm der Fôotkumen. Dieser war bekannt dafür, äußerst brutal gegen alle vorzugehen, die es wagten, ohne Erlaubnis in ihre Territorien einzudringen.
Er musste sich festhalten, als der kleine Wüstensegler mit hoher Geschwindigkeit eine dieser Sanddünen herunterfuhr. Der Steuermann stieß ein freudiges Jauchzen aus. Einer der anderen Passagiere konnte seine letzte Mahlzeit nicht bei sich behalten und übergab sich rechter Hand aus dem mit zwei Kufen und einem großen Mast ausgestatteten Gefährt. „Armer Kerl!“, dachte sich Lumon, denn er kannte dieses Gefühl. Das „Schönste“ daran war, dass sich im Anschluss garantiert Sand im Mund befand. Doch sehr großes Bedauern empfand er trotzdem nicht, denn Mitleid konnte er sich momentan nicht leisten. Lumon war sich fast sicher, dass viele Menschen dieses Wort schon lange vergessen hatten. In dieser unwirklichen Umgebung musste jeder für sich selbst sorgen. Der Steuermann sagte etwas und deutete zum Horizont. Selbst wenn er die Sprache verstanden hätte, so war es sehr schwer, etwas durch den tosenden Wind hindurch zu verstehen. Sein Sitznachbar, offenbar jemand, der aus der Gegend kam oder zumindest die Sprache verstand, schaute aufmerksam hoch und in die Richtung, in die sie fuhren. „Was ist dort?“, fragte der bärtige Mann seinen Sitznachbarn und musste laut reden, da er sowohl gegen den Fahrtwind als auch gegen den dicken Stoff vor seinem Gesicht ankommen musste. Der Sitznachbar, der auf den Namen Xulo-lottzx, kurz Xulo, hörte, sah mit zugekniffenen Augen in die Ferne. „Dahinten du kannst sehen Platz zum Schlafen fur heute Nacht.“ Lumon blickte in die angedeutete Richtung. Am Horizont konnte man eine kleine Felsformation erkennen, die sich durch die dunkle Farbe des Felsens deutlich vom gelben Hintergrund der Wüste abhob. Der uralte Felsen, der es all die Jahre geschafft hatte, der umgebenden Wüste zu trotzen, musste die Spitze eines ehemals stolzen Berges sein, der über Jahrtausende vom Sand und den starken Winden heruntergeschliffen wurde. Nichts konnte hier auf Dauer bestehen, da war sich der Reisende Rûkurianer sicher.
Die Fahrt ging noch eine ganze Weile so weiter. Langsam, aber stetig wuchs der kleine Felsen zu einem ansehnlichen kleinen Berg heran, der einsam und verlassen hier inmitten der Wüste sein Dasein fristete. Als die Sonne schon tief am westlichen Himmel stand und der immer wehende Wind ein wenig abflaute, kamen im Schutz des Berges einige kleine Zelte in Sichtweite. Lumon fiel ein Stein vom Herzen, zwar ein kleiner, aber immerhin. Er war an einen ehrlichen Geschäftsmann geraten. Warum sonst würde sich jemand die Mühe machen, Zelte und Verpflegung hier mitten in der Einöde zu platzieren? Der Wüstensegler vollzog eine Linkskurve und geriet in den Windschatten eines großen Felsvorsprunges, hinter dem sich sechs kleine Zelte befanden. Das Gefährt kam unweit der Zelte zum Stehen. Der Steuermann stand von seinem kleinen Sitz neben dem Steuerknüppel auf, streckte sich und ging die vier Stufen von der Plattform hinunter zu einem der beiden schräg zusammenlaufenden Segelmasten. Er löste einen Knoten und ein straff gespanntes Seil wurde nach oben gezogen. Im selben Moment fiel das Hauptsegel in sich zusammen. Zwei Seile hinderten es zwar daran, auf der Auflagefläche des kleinen Seglers zu landen, dennoch bot es in dieser Form keinerlei Angriffsfläche mehr für den Wind. Durch das Lösen zweier weiterer Knoten verloren auch die hohen Seitensegel an Spannung und fielen ebenso in sich zusammen. Nur die unteren beiden Seitensegel, deren Ränder mit langen Tauen direkt mit der Position des Steuermannes verbunden waren, blieben weiterhin gespannt. Durch ihre geringe Fläche stellten sie allerdings keine wirkliche Gefahr dar. Der Wind hier hinter den großen Felsen war selbst bei Orkanböen nicht kräftig genug, um das Fuhrwerk auch nur einen Fuß vorwärtszubewegen
Als er mit dem Kappen der Segel fertig war, sagte der Steuermann einige Worte in seinem bekannten Kauderwelsch und begann, den Passagieren kleine Kisten, die sich auf der Ladefläche befanden, in die Hände zu drücken. Diese waren nur notdürftig mithilfe eines großen Netzes daran gehindert worden, bei all den waghalsigen Fahrmanövern über Bord zu gehen. Lumon wickelte das Tuch vom Gesicht und versuchte aufzustehen. Die Beine schmerzten bei dem Versuch. Er hatte viele Stunden in derselben Sitzposition verharrt. Das braune Holz des Wüstenseglers war anfänglich gemütlich gewesen für sein Gesäß, doch nach einer so langen und ruppigen Fahrt spürte er seine Muskeln deutlich. Beim zweiten Versuch schaffte er es auf die Beine, die ihm als Dank beinahe den Dienst versagten. „Alles gut bei du?“, hörte Lumon Xulo fragen. „Ja, mir geht es gut, habe nur etwas lang gesessen.“ Der Beduine lachte auf. „Ihr Menschen von Suden gehts so gut. Keine richtige Wuste und viel Grün. Trotzdem beschweren immer.“ Murmelnd und lachend sprang er erstaunlich leichtfüßig von Bord. Der Steuermann trat an Lumon heran und drückte ihm einen großen Wasserschlauch in die Hand. Er erklärte ihm in ein paar Worten, was er damit machen sollte, und verschwand wieder. Natürlich hatte der bärtige Mann kein einziges Wort verstanden und blickte fragend umher. Nach einigen Augenblicken entschied er sich einfach wie alle anderen Passagiere auch, von Bord und hinüber zu den Zelten zu gehen. Da sein eigener Wasserschlauch schon seit einigen Stunden leer war, nahm Lumon einen kräftigen Schluck aus dem großen Tongefäß, den er jetzt bei sich trug. Die warme Flüssigkeit strömte seine ausgetrocknete Kehle hinunter. Schön kühles Wasser wie zu Hause aus einem Brunnen wäre ihm jetzt lieber gewesen, aber Hauptsache, es gab überhaupt welches. Er trug das Gefäß in das größte der Zelte, in dem auch die anderen Passagiere ihre Pakete ablegt hatten und ging wieder nach draußen, um weitere Gegenstände zu holen.
Nachdem alles Notwendige abgeladen worden war, entfachte der Steuermann mithilfe eines Funkenspans ein kleines Feuer auf ein paar alten Holzlatten, nur wenige Fuß vom größten Zelt entfernt. Es dämmerte bereits, als die ersten Flammen loderten. Die unerbittliche Sonne musste irgendwo hinter dem kleinen Berg untergegangen sein, nur ein zart-roter Himmel erinnerte noch an sie. Die ersten Sterne am Firmament funkelten bereits zu ihnen hinab. Das Abendessen, wenn man es denn so nennen konnte, bestand aus etwas Brot und getrockneten Früchten. Schneller, als es Lumon lieb war, war das Abendessen schon wieder vorbei. Zu diesem Zeitpunkt gewann die Dunkelheit aus dem Osten den Kampf gegen die letzten Lichtstrahlen und die Nacht brach endgültig über sie hinein. Lumon setzte sich näher an das kleine Feuer heran. Mangels Brennmaterials bestand das Lagerfeuer bald nur noch aus heißer Glut und Asche. Der Rûkurianer blickte in die orangefarbene Glut, ein verkohltes Holzscheit knackte und ein paar Funken flogen umher. Während ein Funken nach dem anderen ausglühte und von der Schwärze der Nacht verschluckt wurde, dachte Lumon an all seine Abenteuer. Was hatte er alles erlebt? Was würde er noch alles durchstehen müssen, nur um zu einem Ort zu gelangen, von dem der reisende Rûkurianer nicht wusste, wie er war, was es dort gab, wie die Bewohner auf ihn reagieren würden und was er dort erreichen konnte. Nach Hause zurückzukehren war leider keine Option, also musste diese Reise für ihn ein Erfolg werden.
Die Reihen am Lagerfeuer lichteten sich zunehmend und bald saßen nur noch er und eine Frau hier draußen am Feuer; alle anderen hatten bereits ihre Schlafquartiere in den Zelten aufgesucht. Die Glut des Feuers warf lange Schatten auf das Gesicht der Frau und ließ es so geheimnisvoll wirken. Nachdem der braunhaarige eine ganze Weile das Schattenspiel auf dem Gesicht der Frau beobachtet hatte, bekam er gar nicht mit, dass sie zurückschaute. Etwas verlegen sah er zurück in schwelende Glut. Die Frau erhob sich langsam und sagte mit einer akzentfreien Stimme: „Gute Nacht!“ Sie ging zu einem der Zelte hinüber und verschwand darin. Lumon hatte nichts erwidert und nur genickt. Mittlerweile war er der Letzte hier draußen und sehr müde. Mit Hunderten von Gedanken im Kopf ging er in das letzte Zelt, dessen Vorhang noch nicht heruntergelassen war und damit einen Schlafplatz für ihn hatte. Er legte sich in die freie Ecke und nahm sich eine der Decken vom Stapel neben dem Eingang. Mit dem eigenartigen Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, schloss er seine Augen, aber bevor auch nur einen weiteren Gedanken kommen konnte, fiel er in einen tiefen Schlaf.
Eine Stimme weckte den Reisenden, verschlafen öffnete Lumon seine Augen. Noch immer lag er in der Ecke des kleinen Zeltes, neben ihm schliefen zwei weitere Leute. Wegen des schwachen Zwielichtes draußen konnte er nicht sagen, ob es Tag oder Nacht war. Der Wind ließ die graue Zeltwand wackeln und heulte richtig laut. Erneut rief jemand etwas das Tosen hindurch. Es war die Stimme des Steuermannes. Lumon sah seinen Nebenmann an, einen jungen Mann mit braunen Haaren und heller Haut, der genüsslich vor sich hin schnarchte. Weder der Wind noch das laute Organ des Steuermannes konnte ihn aufwecken. Der bärtige Reisende war sich sicher, dass der junge Mann genau so wenig von dem Gefasel verstand wie er selbst. Der Rûkurianer stützte sich ein wenig auf seine Ellenbogen, um sich im Zelt umblicken zu können. Der dritte Mann im Zelt war Xulo, der sich in diesem Moment umdrehte und ihn müde anblinzelte. Er brauchte gar nicht zu fragen, bevor Xulo ihm eine Antwort gab. „Er sagen, draußen großer Sandsturm, alle in Zelt bleiben sollen. Kannst schlafen weiter. Stürme oft dauern zwei Tage.“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich der braunhäutige Beduine um und schien direkt wieder eingeschlafen zu sein. „Zwei Tage in diesem kleinen Zelt, das kann ja was werden!“, dachte sich Lumon, bevor er sich auch wieder hinlegte. Der starke Wind erfasste auch hier in dem von Felsen geschützten Unterschlupf das Zelt von Zeit zu Zeit und rüttelte ordentlich daran. Seine beiden Zeltnachbarn schien das jedoch nicht im Geringsten vom Schlaf abzuhalten. Der braunhaarige Mann lauschte dem „Flapp, Flapp, Flapp“, das ertönte, wenn der Wind am dicken grauen Stoff des Zeltes rüttelte, und nach wenigen Minuten schlief auch er wieder ein.
Die folgenden beiden Tage, der Sandsturm ging wirklich so lange, verbrachte das Trio im Zelt mit viel Schlaf. Der junge Mann, der auf den Namen Nesum hörte, beförderte aus den unergründlichen Tiefen seines Rucksackes ein sehr bekanntes Spiel mit kleinen Steinchen hervor. In diesem Spiel ging es darum, die Steine mit unterschiedlichen Symbolen geschickt untereinander zu tauschen und so bestimmte Kombinationen zu erhalten. Da es sonst nichts zu tun gab, spielten die drei stundenlang. Zudem erzählten sie sich alle möglichen Geschichten, was sie alles so erlebt hatten. Es stellte sich heraus, dass Nesum älter war, als Lumon dachte und aus einer kleinen Stadt am Ufer des Polnurko-Salzsees kam. Durch den Verkauf von Salz wurde diese Kleinstadt zu einer recht wohlhabenden. Nun befand sich Nesum auf der Suche nach neuen Absatzmärkten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit einem Wüstensegler durch die Gegend reiste. In dieser Region war es anscheinend ein normales Transportmittel. Xulo gehörte einem Stamm von Beduinen an. Er und seine kleine Familie, bestehend aus zwei kleinen Mädchen und seiner Frau, waren jedoch verstoßen worden, nachdem sich Xulo zu Betrii bekannt hatte, einer Religion, die verschiedenen Göttern huldigte. Sie war vor geraumer Zeit aus dem Norden verbreitet worden und erfreute sich gerade unter den Wüstenvölkern einiger Beliebtheit. Nun verdiente er seinen Lebensunterhalt damit, Kunstgegenstände von anderen Beduinenstämmen zu sammeln oder zu Kaufen und sie an die korrupte Stadtregierung von Ulkany für horrende Summen zu verkaufen. Der Beduine war oft unterwegs auf langen Reisen und hatte sich im Laufe der Zeit erstaunlich viele Sprachen und Akzente selbst beigebracht. Wann immer sich die Gelegenheit bot, arbeitete er auch als Übersetzer für wohlhabende Geschäftsleute. Lumon hingegen erzählte viel über den kleinen Ort und die Umgebung, aus der er stammte. Außerdem, dass er ursprünglich als Zimmermann gearbeitet hatte und mittlerweile ein Meister seines Handwerks war, verschwieg aber den wahren Grund seiner Reise. So flossen die Stunden langsam dahin und die drei, die sich eigentlich fremd waren, teilten sich ihr Schicksal auf wenigen Quadratfuß. Im Zelt war man geschützt, doch draußen wütete der Sturm mit voller Wucht. Hinter der dicken Stoffschicht des Zeltes tobten unendlich viele Sandkörner, die wie Geschosse durch die Luft folgen.
Am Nachmittag des zweiten Tages wurde es draußen langsam etwas heller. Der bärtige Reisende nutzte diese Gelegenheit, um ein dringendes großes Geschäft zu erledigen, während sich Nesum und Xulo bei einer erneuten Partie des alten Tauschspiels fast in die Haare bekamen. Der Wind draußen hatte spürbar nachgelassen und hinter dem großen Felsvorsprung konnte man bereits einige Fuß weit in die Wüste gucken. Dahinter tobte noch immer der Sandsturm. Als Lumon an der Felswand hockend sein Geschäft erledigte, fiel ihm am Rand des großen, höhlenartigen Felsvorsprunges etwas auf. Dutzende von kreuz und quer liegenden Hölzer lagen dort, zudem Tücher und viele kleine aufgebrochene Kisten. Er blickte sich um und sah den kleinen Wüstensegler, mit dem sie gekommen waren, immer noch an Ort und Stelle stehen. Prekim sei Dank war es nicht ihr Gefährt, das hier zerstört lag. Zwei stark gespannte, dicke Taue am hinteren Teil des Seglers verrieten ihm, dass die schweren Steine des Seglers tief in den Sand eingesunken waren und ihn so davon abgehalten hatten, sich von Ort und Stelle zu bewegen. Sie wurden als eine Art Anker eingesetzt und leisteten während des Sturmes gute Arbeit. Nachdem das Geschäft erledigt war, ging er, durch den feinen Sand gebremst, langsam auf besagte Stelle zu. Dort angekommen, erkannte er durch die Form und Anordnung der Bretter einen Wüstensegler. Einen, der größer war als der, mit dem sie unterwegs waren. Natürlich komplett zerstört. Lumon wusste nicht, ob sich das Fuhrwerk selbstständig gemacht hatte und während des Sturmes an dem Felsvorsprung zerschellte oder ob er vor langer Zeit hier im Sand versunken und vom Sturm nur freigeblasen worden war. Er sah sich einige Kisten etwas genauer an, aber beinahe alle waren zerstört und mit Sand bedeckt. Wie es aussah, konnte man bis auf das Holz nichts Brauchbares mehr aus dem Wrack bergen.
Während Lumon in dem Gerippe herumkletterte, fiel sein Blick auf die paar Zelte, die einige Fuß weit entfernt aufgebaut waren. Vor einem der Zelte stand jemand und sah in seine Richtung. Der Mensch setzte sich in Bewegung und stapfte Schritt für Schritt durch den Sand zu ihm herüber. Er sah der Person zu, wie sie langsam näherkam. „Was ist denn da passiert?“, fragte die Gestalt, als sie in Hörweite kam. Es war eine attraktive dunkelhäutige Frau, etwa in seinem Alter. Lumon erkannte die Stimme wieder, es war jene vom Lagerfeuer. Sie zeigte mit ausgestreckter Hand auf das Wrack. Der bärtige Mann sah ihre blendend weißen Zähne beim Sprechen. „Sieht nach einem alten Wüstensegler aus“, antwortete Lumon. Die Frau trat neben ihn und betrachtete das Wrack. „Sieht neu aus für mich. Der Sturm hat den Wüstensegler bestimmt hierher geweht und zerschellen lassen. Man kann die Umlenkrollen gut erkennen; der feine Sand zerkratzt sie ganz schnell, daran erkennt man das alter ganz gut. Die hier sehen neu aus, so wie auch das Segeltuch“, sagte die Frau. Der Reisende Rûkurianer betrachtete die Frau und sah ihre wachsamen Augen das Wrack absuchen. „Das kann auch sein“, antwortete der Rûkurianer und folgte mit seinen Sehorganen ihrem Fingerzeig. Die Frau beugte sich nieder und schien gezielt nach etwas Bestimmtem zu suchen. Weitere Stimmen im Hintergrund deuteten darauf hin, dass mehr Menschen aus den Zelten herausgekommen waren, da der Sturm weitergezogen war. Er blickte über seine Schulter hinweg, hinüber zu den Zelten. Dort standen drei weitere Gestalten, die neugierig in ihre Richtung schauten. „Hier nimm das. Schnell!“ Die Frau drückte dem bärtigen Mann ein kleines, schweres Säckchen in die Hand und ließ mit der anderen Hand etwas matt Glänzendes in einer ihrer Taschen verschwinden. Lumon sah etwas irritiert das kleine Säckchen an; er hatte keine Ahnung, was sich da gerade in der Hand befand. Die Stimmen hinter ihnen wurden lauter und kündigten weitere Besucher an. „Pack das schnell ein!“, zischte die Frau ihm zu. Sie rückte nah an den bärtigen Mann heran, um den anderen den Blick auf seine Hand zu versperren. Er ließ das Säckchen in seiner Tasche verschwinden und holte einmal tief Luft. Die dunkelhäutige Frau roch süßlich und nach Lagerfeuer, was ihn unweigerlich an den Abend vor zwei Tagen erinnerte. „Was haben wir denn hier?“, fragte hinter den beiden jemand neugierig.
Nach und nach kamen alle Passagiere und der Steuermann aus ihren Zelten, froh, sich ein wenig bewegen zu können, nach zwei Tagen auf engstem Raum. Nachdem jeder von ihnen das Wrack auf Schätze oder andere nützliche Gegenstände abgesucht hatte, einigten sie sich darauf, das Material bestmöglich zu verwerten. Unter diesen Umständen konnte das nur eines bedeuten. Jeder von ihnen lud sich einige Stücke Holz oder Stoff auf den Arm und brachte sie herüber zu den Zelten. Der spärliche Holzhaufen an der Feuerstelle wuchs sehr rasch zu einem ansehnlichen Stapel heran. In dieser Nacht würde es ein großes Feuer geben. Lumon half brav mit und war sehr gespannt auf den Abend. Und doch musste er immer wieder an das Objekt in seiner Tasche denken. Was befand sich dort? Das kleine Säckchen, das ihm die zierliche Frau zugesteckte, hinderte ihn durch die geringe Größe nicht am Gehen oder dergleichen und doch machte sich das Gewicht bemerkbar. Es ergab sich keine Situation, in der er die Frau darauf hätte ansprechen können. Also tat er, was getan werden musste und half weiter mit, die Vorbereitungen für das Lagerfeuer zu treffen. So verging die nächsten Stunden. Der Sandsturm war mittlerweile weitergezogen und nur die dunkle Wolkenfront am südlichen Abendhimmel erinnerte noch an ihn. Zum ersten Mal seit Tagen wehte der Wind lau über die Wüstenoberfläche. Im fahlen Licht der tief stehenden Sonne konnte Lumon weit in die Wüste hinausschauen. Er musste schon zugeben, dass dieser Ort etwas Besonderes hatte. So todbringend dieser auch sein konnte, so waren es diese ruhigen Momente ohne jegliche Geräusche, die ihn wirklich einzigartig machten. Es war schon besonders, hier zu sein, hier am Ende der Welt.
Die anderen Reisenden waren damit beschäftigt, ihre spärliche Ration für das Abendessen zu verspeisen und auf das große Feuer zu warten. So ging Lumon einige Fuß weit in die Wüste hinein, eine Anhöhe hinunter. Keiner seiner Mitstreiter nahm davon Notiz. Der feine Sand streichelte seine Zehen und er rutschte bei jedem Schritt etwas weg. Nachdem Lumon das Zeltlager aus dem Blickfeld verloren hatte, kramte er das kleine Säckchen hervor. Vorsichtig öffnete er es und holte einen silbrig glänzenden, ovalen Stein heraus. Merkwürdige Ziffern waren darauf eingraviert. Im oberen Bereich des Steines waren zwei schwarz glänzende Steinchen in den größeren ovalen Stein eingesetzt worden. Der braunhaarige Rûkurianer musste zwar zugeben, dass dem Objekt eine gewisse Schönheit innewohnte, für sonderlich wertvoll hielt er es jedoch nicht. Es war wie einer dieser verzierten Steine, die man in Ulkany an jeder Straßenecke kaufen konnte. Nachdem er das Objekt eingehend betrachtet hatte, konnte sich Lumon immer noch keinerlei Reim darauf machen, wofür auch immer man einen solchen Stein brauchen könnte. Er ließ das silbrig glänzende Ding wieder zurück in das kleine schwarze Säckchen gleiten und steckte es zurück in die Tasche. Durch den feinen Sand gebremst, brauchte Lumon eine ganze Weile, bis er wieder am oberen Ende der Anhöhe ankam. Nach weiteren zehn Minuten war er wieder bei den Zelten. Die Sonne schickte gerade ihre letzten Sonnenstrahlen über die Ebene und am aufziehenden Nachthimmel konnte man bereits die beiden Monde sehen.
Der Rûkurianer setzte sich in den Kreis um das bald beginnende Lagerfeuer herum. Der Steuermann war mit seinem Funkenspan zugange, um in dem beeindruckenden Haufen Holz ein Feuer zu entfachen. Der Wind hatte wieder etwas zugelegt und erschwerte ihm dies. Er mühte sich sehr ab, schaffte es nach einer Weile dann aber endlich, die Flammen zu entzünden, worauf alle gewartet hatten. Die Funken flogen in alle Richtungen und das trockene Holz knackte mehrfach laut. Einer der Passagiere begann auf seiner Trommel zu spielen. Lumon war einerseits froh, dass er wahrscheinlich in wenigen Tagen aus dieser Wüste herauskommen würde, und doch wusste er, dass er genau diesen Moment vermissen würde. In just diesem Augenblick waren alle, so schien es, glücklich. Zufrieden über ein großes, wärmendes Feuer, glücklich darüber, dass einer der Passagiere eine bauchige Flasche Odszz hervorgezauberte und mit jedem teilte und erleichtert, dass der Sturm sie verschont hatte. Einfach glücklich und froh, am Leben zu sein in dieser verrückten Welt. Alle erzählten durcheinander und sangen zum Takt der Trommeln. Es war ein schöner Abend. Die gute und ausgelassene Stimmung ließ die Zeit schnell vergehen. Keiner machte Anzeichen, ins Bett zu gehen. Es schien fast so, als ob niemand diesem Spektakel fernbleiben wollte, denn so ausgelassen waren viele der hier Anwesenden schon lange nicht mehr gewesen.
Es war bereits tief in der Nacht, als sich die ersten in ihre Zelte zurückzogen, auch hatte der fleißige Trommelspieler nach Stunden aufgehört zu spielen. Lumon vernahm hinter sich eine sanfte Stimme: „Komm, ich zeige dir etwas!“ Er drehte sich um und sah die unverwechselbar zierliche und doch anmutige Gestalt der Frau, die ihm einige Stunden zuvor den Stein zugesteckte. Der Rûkurianer hatte das Objekt wirklich vergessen, was vor allem daran lag, dass er ziemlich angeheitert war. Die Odszz-Flasche wurde einige Male im Kreis herumgegeben und jeder konnte dadurch seinen Durst stillen. Lumon wusste, dass er nicht sehr trinkfest war, aber an diesem Abend kümmerte es ihn nicht, so tat er sich an der Flasche gütlich. „Ja genau, was hast du mir denn da eben eigentlich gegeben?“, fragte Lumon etwas lallend und lauter, als ihm selbst lieb war. Die Frau schien sich bezüglich dieser Frage nervös umzublicken. Da jedoch alle anderen in Gespräche vertieft oder sichtlich betrunken waren, bekam niemand etwas mit. Die Frau beugte sich zu Lumon herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Wenn du es wissen willst, komm mit!“
Die dunkelhäutige Frau kletterte geschwind einen Ausläufer des Berges hinauf, in dessen Windschatten die Zelte standen. Da Vômn-Nacht war und beide Monde voll am Himmel leuchteten, konnte man erstaunlich gut bei Nacht sehen. Alles um sie herum wurde in ein silbriges Licht getaucht. Der angeheiterte Rûkurianer, hatte in seinem angetrunkenen Zustand trotz der erfreulichen Sichtverhältnisse Schwierigkeiten, der geheimnisvollen Frau dem Berg hinauf zu folgen. Stolpernd und fluchend versuchte er, so gut es ging, hinter ihr herzukommen. Normalerweise hätte er schon längst klein beigegeben und wäre sitzen geblieben, doch er war sehr neugierig darauf, zu erfahren, was denn so Interessantes mitten in der Nacht auf einem Berg in der Wüste zu sehen gab und was zum Geier der Stein damit zu tun hatte. Zudem hatte Lumon an der geheimnisvollen Frau Gefallen gefunden. Er wusste nicht, ob es sein berauschter Zustand war oder ihre intelligente Art, doch wollte er gerne mehr über sie erfahren. Die Frau blieb einige Fuß vor ihm abrupt stehen und sah mit suchendem Blick in die Wüste. Der Rûkurianer schloss zu ihr auf und blickte selbst herunter auf die von beiden Monden beschienene Landschaft. Die zierliche Frau und der hagere Mann starrten in die nächtliche Wüste. Lumon wusste zwar nicht, wonach er suchen sollte, aber beschloss, nicht zu fragen, denn er würde dabei nur dumm oder betrunken erscheinen. Sein Blick wanderte zum Horizont, wo eine Dünenreihe hinter der nächsten verschwand. Plötzlich hielt er inne. Hatte sich da etwas bewegt oder war sein Zustand doch bedenklicher, als er sich selbst zugestand? Er betrachtete die gleiche Stelle erneut, die weit unter ihnen im endlosen Sandmeer lag. Da! Der Sand schien sich zu bewegen. Der Wind wehte zwar, aber nur schwach und brachte eine angenehme Kühle mit sich. Doch die Briese war viel zu schwach, um so viel Sand auf einmal zu bewegen, das konnte es nicht sein. Lumon rieb sich die Augen. Spielte ihm das seltsam anmutende Mondlicht einen Streich? Er blickte hinüber zu der Frau, die ruhig neben ihm stand und in dieselbe Richtung hinunter sah. „Ja, dahinten bewegt sich etwas im Sand. Etwas Großes!“, sagte sie, ohne ihren Blick von dem weit entfernten Objekt abzuwenden. Lumon fixierte den Punkt erneut und sah ein großes etwas, der sich langsam aus dem Sand hob. Auf die weite Entfernung konnte er nur Umrisse erkennen, erkannte jedoch mehrere stark gekrümmte Beine und einen großen, flachen Körper; riesige Klauen schnappten nach unsichtbaren Feinden. Lumon hatte schon immer einen guten Sinn für Größenverhältnisse gehabt, eine Eigenschaft, die ihm bei seiner Arbeit als Zimmermann sehr zugutekam, und doch konnte er sich nicht so richtig vorstellen, wie groß die Kreatur dort in der Ferne war. Sie schien sich beinahe mühelos durch einige kleinere Dünen hindurchzupflügen und hinterließ dabei einen breiten Pfad. Bei den größeren brauchte sie lediglich wenige Schritte, um auf die Anhöhe zu gelangen. Das Wesen musste gewaltig sein, auch wenn es sich von hier oben nur unscheinbar von der endlos erscheinenden Wüste abhob. „Was ist das für ein … Ding?“, fragte Lumon in die Ferne blickend. „Wir nennen sie Feemyer. Für andere Völker sind es Wüstengeister oder die Wüstenwächter.“, „Die sind ja riesig!“, sagte der Reisende Rûkurianer mit halb offenem Mund. Auch er hatte in Ulkany Gespräche mitgehört, in denen meist Betrunkene oder als verrückt betitelte Leute behaupteten, Wüstengeister gesehen zu haben. Die meisten Menschen taten diese Geschichten jedoch als Legenden ab. „Also gibt es sie wirklich?“, fragte Lumon ungläubig. „Ja! Ich konnte es auch nicht glauben, bis ich letztes Jahr in Keupatz ein riesiges Skelett sah, das zu keinem anderen Tier passte. Daraufhin habe ich Nachforschungen betrieben und mir in Sachen Wüstenfauna sehr viel Wissen angelesen. Als Expertin wurde mir schlussendlich die Aufgabe zugeteilt, mehr über diese Kreaturen herauszufinden. Deshalb bin ich hier“, erklärte die Frau.
Während sich die beiden unterhielten, bewegte sich das Feemyer erstaunlich schnell in Richtung Nordwesten und damit weg von ihnen. „Woher wusstest du, dass es heute Nacht hier passieren würde?“ Er deutete auf die Stelle, wo die beiden die Kreatur das erste Mal gesehen hatten. „Das hier hat es mir gesagt!“ Die Frau hielt einen silbernen ovalen Stein in der Hand, welcher wie der aussah, der sich bei Lumon in der Tasche befand. Diser war offensichtlich mit seinem identisch. Ihm fiel auf, dass einer der beiden kleinen schwarzen Steinchen, die in dem großen ovalen eingesetzt waren, rot aus seinem Inneren heraus pulsierte, und das mit einer gleichbleibenden Frequenz. „Also das Ding“, er deutete auf den ovalen Stein, „zeigt einem, ob ein Wüstengeist in der Nähe ist?“ Der bärtige Reisende betrachtete wie hypnotisiert das rot pulsierende Licht. „Ich habe es bereits zuvor gesehen. Der andere Amirit“, sie deutete auf den anderen kleinen schwarzen Stein, „leuchtet unter gewissen Voraussetzungen grün. Allerdings kann ich nicht sagen, was die beiden Farben bedeuten oder wo der Unterschied liegt, denn beide Amiriten deuten an, dass sich etwas in der Nähe befindet. Vielleicht zeigt der rote Stein einen Feemyer, die nicht eingegraben ist, und der grüne, verborgene Wüstengeister, oder der grüne steht für Männchen und der rote für Weibchen, ich weiß es nicht.“ Die Frau seufzte. „Ich bin jedoch sehr glücklich, einen dieser Detektoren gefunden zu haben. Normalerweise ist Außenstehenden absolut verboten, ein solches Objekt zu besitzen. Nur die Gilde der Wüstensegler darf entscheiden, wer einen bekommt, und Menschen von weit her gehören definitiv nicht dazu.“
Am Horizont konnte man die Kreatur nur noch erahnen. „Wer hat dich geschickt, um mehr über diese Kreaturen herauszufinden?“, wollte Lumon nach einer Weile wissen. „Hast du von Kumnali gehört?“, fragte die Frau, deren Namen Lumon immer noch nicht kannte. „Natürlich, ich bin schon mal dort gewesen, mehr als einmal“, antwortete der braunhaarige Reisende. „Ich wohne in einem Dorf auf der Rûkur-Ridge in einer Niederung am Fluss Tur; von dort sind es nach Kumnali etwa vier Tagesmärsche. Ich war zwar schon lange nicht mehr da, kann mich aber noch gut erinnern. Vor allem ist das Meer wunderschön.“ Der ruhige Mann dachte an seinen letzten Besuch Kumnalis zurück. Die Kuppelbauten und der saubere, polierte Stein, aus dem dort alles erbaut war, ließ fast jede andere Stadt vor Neid verblassen. Das Geschrei der Möwen über dem Hafen hatte er noch im Kopf. Der Blick vom Hafenbecken hinaus auf den Ozean war fester Bestandteil seiner Erinnerung. Dass so viel Wasser auf der Welt existierte, konnte der Bewohner eines kargen Landstriches erst glauben, als er es mit seinen eigenen Augen sah. Es gab dort Schiffe, die weit größer waren als das Haus, in dem er wohnte. Das Wasser glitzerte damals im Sonnenschein in allen Farben des Regenbogens. Mit einem Seufzen riss sich Lumon aus den Gedanken. „Ah, ja, ich kenne den Fluss Tur!“, sagte die Frau.
„Ich war als Kind oft im Fluss schwimmen, dort, wo er ins Meer mündet.“ Sie lächelte bei dem Gedanken. „Also, wenn du die Stadt kennst, dann weißt du sicherlich auch über die Bibliothek Bescheid?“, fragte die Frau in einem auffordernden Ton. „Natürlich die Bibliothek von Kumnali brüstet sich damit, die größte Ansammlung von Wissen des Kontinentes zu hüten, vielleicht das größte Wissen der Welt“, antwortete Lumon. Er war froh, zumindest etwas Wissensreicher zu erscheinen und damit hoffentlich seiner Gesprächspartnerin zu imponieren. Die Frau lächelte, bevor sie fortfuhr. „Genau! Wir haben über Jahrhunderte hinweg einen sehr großen Wissensschatz angesammelt. Denn in Kumnali weiß man, dass nicht Gold oder Edelsteine mächtig sind, sondern das Wissen darüber, wo man sie findet.“ Mit dieser bestechend einfachen Rhetorik, so wusste Lumon, war Kumnali zu einer der reichsten und mächtigsten Städte des ganzen Kontinentes aufgestiegen. „Wir schützen unser Wissen sehr gut und geben sehr viel dafür, es zu erweitern. Deshalb bin ich hier.“
Am östlichen Himmel zeichnete sich ganz leicht der kommende Morgen ab. Die Kreatur oder das Feemyer, war längst verschwunden. Der Rûkurianer und seine Begleiterin, die Yillats hieß, redeten noch eine ganze Weile über all die Dinge, die sie interessierten. Wie die Forscherin bereits erklärt, arbeitete sie in der großen Bibliothek von Kumnali und war dort federführend für die Abteilung für Wüstenkreaturen aller Art zuständig. Sie wollte zur Wüstenstadt Keupatz zurück, wo ein Feemyer-Skelett das erste Mal gefunden wurde. Dort war von der Stadt Kumnali ein Missionshaus errichtet worden, in dem sie für die Zeit ihrer Forschungen wohnen konnte. Die Forscherin hatte für ihre Arbeit zwar keinen genauen Zeitplan, wusste aber, dass die Reise länger dauern würde. Bereits zuvor war sie für einige Zeit in Ulkany und anderen kleineren