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Zwei Dörfer, zwei Familien, ein adoptiertes Kind. Nur eine Person kennt die Zusammenhänge. Dann geschieht ein Mord. Bevor Polizeileutnant Hunziker die Ermittlungen richtig aufnehmen kann, wird er wieder zu einem Tatort gerufen. Dann kommt ihm seine Vergesslichkeit zu Hilfe.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Die Personen, Wege und Schauplätze der Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und unbeabsichtigt. Die Handlung spielt im Zürcher Oberland, aber die Dörfer und Kleinstädte, sind einfach typische Oberländer Gemeinden, die es in der beschriebenen Form nicht gibt, auch wenn gewisse Details vielleicht zufällig an bestehende Orte erinnern können.
siehe auch Kleine Einleitung
Das Titelfoto wurde von mir an einem der «Schauplätze» aufgenommen.
Kleine Einleitung
Prolog: Vor dreissig Jahren
Teil 1: Vor acht Monaten bis zur Gegenwart
Teil 2: Gegenwart
Epilog
Das Zürcher Oberland ist überschaubar, wenn man es auf der Karte betrachtet. Allerdings sieht es in der Wirklichkeit etwas anders aus. Neben der geografischen Begebenheit, dass Hügel die Dörfer in den Tälern trennen, gibt es noch verkehrstechnische Separierungen.
Da die Sicht der Bewohner nach der Grossstadt ausgerichtet ist, die für viele einen Arbeitsplatz bietet, sind auch die Verkehrswege entsprechend angelegt. Die öffentlichen Busse sammeln sich sternförmig am Bahnhof der Kleinstädte. Von dort gehen dann die S-Bahnen bequem nahe ans gewünschte Ziel.
So kann es sein, dass Nachbardörfer gar nicht so enge Beziehungen pflegen, einfach weil es keine direkte Verkehrsverbindung zwischen ihnen gibt. Sogar im Zeitalter des allgegenwärtigen Autos kann dies ein Hinderungsgrund sein.
Unsere Geschichte spielt in zwei solchen Dörfern. Das eine liegt an einem Hügel, das andere an einem kleinen Flüsschen, das aber von den Bewohnern einfach liebevoll Bach genannt wird.
Deshalb werde ich einfach vom Hügel- und Bachdorf sprechen.
Es werden auch zwei Kleinstädte erwähnt.
Während das Dorf am Bach nur mit einer, nämlich der grösseren der Kleinstädte verbunden ist, haben die Bewohner des Hügeldorfes die Auswahl zwischen beiden Kleinstädten. Sie entscheiden sich dabei meistens für die kleinere, da sie, respektive die öffentlichen Busse, mit dieser besser vernetzt sind.
So kommt es, dass in unserer Geschichte in jedem der beiden Dörfern eine Familie über Jahrzehnte lebt, ohne gegenseitigen Kontakt zu haben. Dabei ahnen sie nicht, wie eng sie miteinander verstrickt sind. Nur eine Person weiss Bescheid und diese löst dann das Unheil aus. Dabei wollte sie nur Gutes tun.
Die Säuglingsabteilung des städtischen Krankenhauses lag in gedämpftem Licht da. Es waren nur wenige Kinder in ihren Bettchen. Die meisten lagen bei ihren Müttern auf dem Zimmer. Schwester Hedwig genoss den ruhigen Abend und die Babys taten ihr den Gefallen und schliefen.
Nur hie und da drang ein Seufzer oder ein Hüsteln bis zum Schwesterntisch vor. Schwester Hedwig hob jedes Mal den Kopf und musterte die ihr anvertrauten jungen Menschlein.
Regelmässig blieb ihr Blick an einem Kind hängen, dass eigentlich nicht so recht hierher gehörte.
Dorothee war keines der üblichen, erst wenige Tage alten Neugeborenen. Das Mädchen war schon vier Wochen alt und Hedwig in dieser Zeit ans Herz gewachsen.
Die Erfahrung hatte die achtundzwanzigjährige Schwester gelehrt, dass sie keine Beziehung zu den Kindern aufbauen sollte, die doch nach ein paar Tagen verschwanden und nie wieder gesehen wurden.
Mit diesem Baby verhielt es sich anders. Die ledige Mutter hatte ein Abkommen mit dem Spital, dass das Kind solange hier bleiben konnte, bis die Adoptiveltern es abholten.
Bis vor drei Tagen bekam es auch noch die Brust, aber inzwischen war die Milch versiegt. Man hatte die Mutter angewiesen, sich dann von ihrem Kind zu trennen und deshalb war Schwester Hedwig etwas überrascht gewesen, als diese das letzte Mal einfach mit einem kurzen «Gute Nacht» verschwunden war.
Traurig erhob sich die Schwester und trat an das Bettchen, in dem Dorothee schlief. So klein und schon allein auf der Welt, dachte sie. Na ja, stimmt nicht so ganz. Du bekommst doch neue Eltern, versuchte sie sich zu freuen, aber sie war tief im Innern etwas skeptisch. Inzwischen werde ich dich verwöhnen, beschloss sie ganz spontan und hob die Hand, um über das Köpfchen mit den braunen Haaren zu streicheln.
In diesem Moment ertönte die Glocke. Wieder ein Kind, das die Mutter über Nacht zurückschickt, dachte sie auf dem Weg zum Eingang.
Durch das gerippelte Glas der Türe sah sie, dass jemand in Strassenkleidern draussen wartete. Vorsichtig öffnete sie und atmete auf. Es war Silvia Hefti, Dorothees Mutter.
«Darf ich nochmal zu meinem Baby?», fragte sie schüchtern.
Schwester Hedwig musste nicht lange überlegen. Heute Abend konnten ihr die Vorschriften gestohlen bleiben.
«Selbstverständlich», sagte sie und lud die junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit einer Handbewegung ein, einzutreten.
«Ich war das letzte Mal so überrascht, dass ich keine Milch mehr hatte», begann Silvia zögernd zu erklären.
«Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, Abschied zu nehmen.»
Schwester Hedwig nickte verständnisvoll. Sie verstand den Schock, plötzlich vor die Tatsache gestellt zu werden, sein Kind nie mehr wiederzusehen.
«Gehen Sie ruhig zu ihm», schlug sie vor und reichte ihr einen weissen Kittel.
Während Silvia zum Bettchen trat, setzte sich Schwester Hedwig und beobachtete verstohlen, wie die Mutter ihr Baby auf den Arm nahm.
Warum nur musste man die beiden trennen? Die Schwester erinnerte sich an das Gespräch, das sie vor zwei Wochen mit Silvia gehabt hatte. Damals lud sie die junge Frau nach dem Stillen noch zu einem Kaffee ein.
Was ihr Silvia erzählte, beschäftigte sie noch lange und war auch jetzt sofort wieder präsent.
Silvia stammte aus einer frommen Familie. Sie war das einzige Kind und wurde vom Vater streng erzogen. Sie durfte nicht, wie die anderen Mädchen, abends im Dorf Jungen treffen. Wenn sie auch noch so oft versicherte, dass man nur Reden würde, war allein schon die Idee, dass Jungen da waren, dem Vater ein Dorn im Auge.
An die Dorfveranstaltungen durfte sie nur in Begleitung ihrer Eltern, sofern diese eine so gottlose Unterhaltung überhaupt besuchten. Es wurden sowieso nur diejenigen der alten, bodenständigen Vereine in Betracht gezogen. Nach dem offiziellen Teil, einem Theater oder Konzert, also dann wenn der gesellige Abend mit Musik und Tanz begann, brach man wieder auf.
So kam es, dass Silvia trotz ihrer siebzehn Jahre noch keinen Freund hatte, ja noch nicht einmal mit einem jungen Mann getanzt hatte. Da sie keine Brüder hatte, kamen auch keine Burschen ins Haus.
Dann wurde sie an die Hochzeit der Schwester einer Schulkollegin eingeladen. Das konnten die Eltern ihr schlecht verbieten, zumal sich alles im Dorf abspielte. Silvia durfte sich ein neues Kleid kaufen und freute sich ungemein, für einmal der elterlichen Aufsicht entronnen zu sein.
Natürlich gab es Wein zum Essen und auch nachher wurde nachgeschenkt. Silvia vertrug nichts und war schnell beschwipst. Ihr Tischpartner war sehr nett und fürsorglich, legte immer den Arm um sie, was sie als angenehm empfand. Sie erinnerte sich später dunkel in irgendein Zimmer geführt zu werden, aber was sich da genau abgespielt hatte, war ihrem Gedächtnis entfallen.
Das nächste, das sie bewusst wahrnahm, war ihr wütender Vater und die weinende Mutter. Jemand aus der Familie der Braut hatte sie, total betrunken, nach Hause gebracht. Sie wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Danach ging sie nur noch selten aus dem Haus.
Dass etwas nicht stimmte, bemerkte zuerst ihre Mutter.
«Wann hast du eigentlich das letzte Mal deine Periode gehabt?», fragte sie und Silvia erschrak.
Die Mutter begleitete sie dann zum Frauenarzt, der bestätigte, dass Silvia schwanger war.
Auf dem Nachhauseweg setzte sich die Mutter auf eine Bank.
«Was machen wir jetzt?», begann sie zu weinen.
«Diese Schande! Wir dürfen es deinem Vater nicht sagen», setzte sie gleich hinzu und schüttelte verzweifelt den Kopf. Plötzlich hatte sie eine Idee.
«Wir schicken dich ins Welschland, da bist du für ein Jahr versorgt.»
Leider hatte der Vater etwas gegen die frivolen Franzosen, auch wenn es sich um Waadtländer handelte und wollte davon nichts wissen.
Schliesslich wandte sich die Mutter an eine alte Bekannte, die in Arosa ein Hotel besass. Diese willigte ein, das Mädchen bei sich arbeiten zu lassen. Mit dem Hinweis, dass die Gesundheit der immer blasser werdenden Silvia gestärkt werden müsse, konnte der Vater überzeugt werden.
So verbrachte Silvia die Schwangerschaft in dem Bündner Kurort. Da als Alternative nur eine Abtreibung in Frage gekommen wäre, willigte sie ein, das Kind zur Adoption freizugeben. Inzwischen wurde sie volljährig und mit Hilfe der Mutter wurde alles geregelt. Silvia brachte das Kind im städtischen Krankenhaus zur Welt und konnte zu ihren Eltern ins Dorf zurückkehren.
Anscheinend war ihr sonst so misstrauischer Vater nach wie vor ahnungslos über das, was sich da hinter seinem Rücken abgespielt hatte.
Schwester Hedwig schreckte aus den Gedanken auf, als das Baby auf Silvias Arm zu schreien begann.
«Ich glaube, sie muss gewickelt werden», meinte Silvia.
«Darf ich das noch ein letztes Mal tun?»
Schwester Hedwig hoffte, dass die Nacht weiter so ruhig bleiben würde und nickte zustimmend.
Während die Mutter die Windeln wechselte, sprach sie leise auf das Baby ein. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie küsste ihr Kind ein letztes Mal, bevor sie es in das Bettchen zurücklegte. Dorothee war jetzt hellwach und schaute mit grossen Augen auf die weinende Frau.
«Ich habe ihr gesagt, dass sie es in der neuen Familie besser haben wird», erklärte Silvia.
«Hoffentlich kommt die neue Mutter bald. Bitte kümmern Sie sich solange um sie. Sie sind so lieb zu ihr.»
Damit drückte Silvia der Schwester die Hand, wandte sich ab, zog den Kittel aus und verliess eilig die Säuglingsstation.
Nachdenklich blickte Schwester Hedwig auf das Baby. Sie hatte den Eindruck, dass es ihren Blick erwiderte. Unmöglich, sagte ihr geschulter Verstand, aber das Gefühl blieb. Sie wandte sich ab.
Es war am Vormittag eine Woche später.
In der Säuglingsabteilung war Geschrei zu hören. Vor allem von einem Bettchen tönte ein ununterbrochenes Weinen. Dorothee schrie sich wieder einmal in den Schlaf. Das ging jetzt seit Tagen so.
Schwester Hedwig wollte sie gerade aufnehmen, als die Oberschwester mit einer fremden Frau die Säuglingsabteilung betrat. Obwohl es eigentlich Vorschrift war, einen Kittel überzuziehen, machte die Oberin keine Anstalten, einen zu holen.
Die ungefähr vierzigjährige Frau war schwarz gekleidet, was ihr einen strengen Ausdruck verlieh. Die Oberschwester stellte sie vor.
«Das ist Frau Schär. Sie holt das Baby ab.»
Jetzt lächelte die Frau Schwester Hedwig zu und diese bemerkte die freundlichen Augen.
«Ach es schreit wieder einmal», stellte die Oberschwester verärgert fest.
«Das macht es jetzt seit rund einer Woche, aber es ist nicht krank», ergänzte sie, um den Ruf der Abteilung besorgt.
Die Frau trat an das Bettchen.
«Was ist denn so schlimm, dass du so weinen musst?», fragte sie das Baby.
Dieses drehte den Kopf und lächelte sie an. Schwester Hedwig hatte Mühe die Tränen der Rührung zurückzuhalten.
«Darf ich es herausnehmen?», erkundigte sich Marlene Schär.
Die Oberschwester nickte zustimmend. Als sich die neue Mutter hinunterbeugte und sie aufnahm, streckte Dorothee ihr die Arme entgegen.
«Jetzt gehen wir nach Hause», verkündete die Frau.
«Ich bin nämlich deine neue Mami.»
Als ob es verstanden hätte, legte das Baby den Kopf an ihre Schulter.
Schwester Hedwig holte die Tasche mit den wenigen Sachen, die man mitgeben wollte.
Frau Schär verabschiedete sich und wurde von der Oberschwester hinausbegleitet.
Glücklich und traurig schaute die Schwester ihnen nach. Glücklich, dass das Kind offenbar in guten Händen war. Traurig, weil es ihr jetzt schon fehlte. Ein weiteres Baby, das sie nie wiedersehen würde.
Im Hügeldorf richtete die siebenundfünfzigjährige Gemeindeschwester Hedwig Berner ihre Tasche. Heute musste sie wieder bei verschiedenen pflegebedürftigen Leuten vorbeischauen. Sie sorgte für deren Hygiene und manchmal musste sie auch Verbände wechseln oder Insulinspritzen geben.
Eigentlich war sie ja zur Kinderschwester ausgebildet worden, aber die psychische Belastung wurde ihr zu gross. Ihre kleinen Patienten waren ja meist gesund und mussten nur gewickelt und gebadet werden, also eine schöne Arbeit. Aber es waren so niedliche Wesen, dass sie immer Gefahr lief, ihr Herz zu verlieren.
Nachdem es ihr dann bei der kleinen Dorothee tatsächlich so ergangen war, litt sie gewaltig unter der Trennung.
Da beschloss sie, etwas völlig anderes zu machen und bemühte sich um eine Stelle als Gemeindeschwester. Das hatte den Vorteil, dass sie ihre Patienten zum Teil über Jahre betreuen durfte, manchmal bis in den Tod. Aber das war der natürliche Lauf des Lebens. Damit konnte sie umgehen.
Seit zwanzig Jahren lebte und arbeitete sie jetzt schon im Hügeldorf. Hier würde sie auch in Pension gehen, denn hier gab es einen Grund zum Bleiben.
Sie war etwa ein Jahr im Hügeldorf, als sie einmal einen besonderen Auftrag erhielt. Ein Mädchen war mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich neben ein paar Abschürfungen eine Schnittwunde am Oberarm zugezogen, die genäht werden musste. Leider entzündete sie sich, sodass man täglich fachmännisch desinfizieren und neu verbinden musste.
Das ganze passierte zwei Tage bevor der Hausarzt in seine Sommerferien abreiste und deshalb hatte er das Mädchen an sie überwiesen. Als Schwester Hedwig am Telefon den Namen hörte, wollte sie es zuerst nicht glauben.
«Wie heisst das Mädchen», stammelte sie.
«Dorothee Schär», wiederholte der Arzt und gab ihr die Adresse, die sie aber in ihrer Verblüffung zu notieren vergass.
Nachdem der Arzt, der in Eile war, aufgelegt hatte, sank Schwester Hedwig auf einen Stuhl. Konnte es sein, dass ihre Dorothee hier im Dorf lebte und sie ihr im ganzen Jahr nicht einmal begegnet war?
Schnell holte sie das Telefonbuch und schlug den Namen nach. Tatsächlich gab es eine Familie Schär, die in einer Einfamilienhaussiedlung wohnte. Dort hatte sie bis jetzt keine Patienten gehabt und auch sonst keinen Grund dahin zu gehen.
Am anderen Tag hatte sie sich mit Herzklopfen auf den Weg gemacht. Wahrscheinlich hätte sie Frau Schär nicht wiedererkannt, wenn sie ihr einfach auf der Strasse begegnet wäre. Da sie aber ahnte, wer diese Mutter war, erkannte sie die gütigen Augen und das strenge, jetzt gebräunte Gesicht. Die Frau trug einen blumigen bunten Rock und eine blaue Arbeitsbluse. Sie hatte im Garten gearbeitet und wischte sich die Hände an einem Tuch ab.
Schwester Hedwig erkannte, dass das Gesicht vom vielen Aufenthalt in der frischen Luft diesen besonderen Ausdruck hatte. Jetzt lächelte Frau Schär und die Erinnerung überflutete die Schwester. Es gab keinen Zweifel, das war Dorothees Adoptivmutter.
«Dorothee liegt auf der Terrasse am Schatten», wies diese ihr den Weg.
In einem Liegestuhl lag ein Mädchen und las ein Kinderbuch, das sie aber schnell weglegte. Sie wollte aufstehen, aber Schwester Hedwig wehrte ab.
«Du bist also Dorothee», stellte sie fest und musterte die braunen Haare.
«Wie alt bist du denn?»
«Zehn, ich gehe in die vierte Klasse», erwiderte das Kind.
Alles stimmte. Schwester Hedwig konnte es kaum glauben.
«Kann ich etwas helfen?», fragte die Mutter.
«Nein, nein, sie können ruhig weiterarbeiten. Ich komme schon zurecht.»
Schwester Hedwig hoffte, dass sie nicht erkannt wurde, aber damals war das so eine kurze Begegnung gewesen und die Frau hatte sich so auf ihr neues Kind fixiert, dass sie wahrscheinlich längst vergessen hatte, wie die Kinderschwester ausgesehen hatte und wie sie hiess. Ausserdem waren es doch unterschiedliche Arbeitsbereiche, sodass Frau Schär höchstens an eine zufällige Namensgleichheit glauben würde.
Diese entfernte sich tatsächlich, ohne Anzeichen des Erkennens.
Während die Schwester die Wunde behandelte, plauderte sie ungezwungen mit Dorothee. Dabei stellte sie geschickte Fragen zur Familie.
Als sie sich schliesslich verabschiedete, hatte sie den Eindruck, dass Dorothee in einem geborgenen, guten Umfeld aufwuchs. Schwester Hedwig beschlich beinahe ein Schuldgefühl, als sie an ihre damalige Skepsis dachte.
Hier war sie tatsächlich nicht angebracht.
Die Schwester betreute Dorothee während der nächsten Tage und trank sogar einmal einen Kaffee mit den beiden.
Von da an richtete sie es öfters ein, dem Mädchen auf dem Schulweg zu begegnen und wurde von diesem immer freundlich gegrüsst.
So verfolgte Schwester Hedwig heimlich den Werdegang «ihres» Kindes.
Dorothee Schär war inzwischen eine junge Frau von neunundzwanzig Jahren, die eine gute Schulbildung genossen hatte. Auf der Handelsschule bildetet sie sich als Controllerin aus und bekam einen guten Posten in einer Firma, die ihren Sitz in einer der benachbarten Kleinstädte hatte.
Sie nahm sich eine Zweizimmerwohnung in einem Wohnquartier dort in der Nähe, war aber an den Wochenenden und Feiertagen regelmässig bei den schon betagten Eltern.
An den Arbeitstagen hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, täglich zu Hause anzurufen und sich zu erkundigen, wie es insbesonders ihrem einundsiebzigjährigen Vater ging.
Dieser hatte vor zwei Jahren eine Herzkrankheit gehabt und sich seither nicht mehr richtig erholt. Dorothee hatte Angst, dass sich ihre auch schon neunundsechzigjährige Mutter mit der Betreuung überforderte und fuhr deshalb noch oft abends schnell vorbei, um zu helfen.
Das alles hatte Schwester Hedwig bei zufälligen Begegnungen entweder von ihr selbst oder ihrer Mutter erfahren.
Diese war des Lobes voll und sehr dankbar über die Fürsorglichkeit der Tochter. Die plötzliche Krankheit ihres Mannes hatte sie aufgeschreckt. Die Mutter gehörte noch einer Generation an, in der alle wichtigen Dinge vom Ehemann erledigt wurden. Die Vorstellung unvermittelt allein dazustehen machte ihr Angst. So war sie froh, dass die Tochter so selbständig war und wenn nötig mit Rat und Tat helfen konnte.
Schwester Hedwig hatte auch schon mal vorsichtig das Thema Heirat angesprochen und erfahren, dass da niemand in Sicht war. Scheinbar war die Mutter darüber nicht mal unglücklich, bei der Tochter hingegen war sich die Schwester nicht so sicher. Zumindest schien es, als ob es neben dem fehlenden Partner noch andere Gründe gäbe. Aber so detailliert konnte sie nicht nachhaken, ohne neugierig zu erscheinen.
Schwester Hedwig wollte gerade aus dem Haus gehen, als das Telefon klingelte. Es war Dorothee Schär. Vor Überraschung stotterte die Schwester einen Morgengruss.
«Oh, störe ich Sie», erkundigte sich Dorothee unsicher.
«Nein, nein», versicherte Hedwig.
«Ich bin nur überrascht», setzte sie wahrheitsgemäss hinzu.
«Entschuldigen Sie, aber ich weiss nicht, was ich machen soll und da dachte ich, dass ich vielleicht Sie um einen Gefallen bitten könnte.»
«Um was geht es denn?»
«Mein Vater hat sich am Sonntag erkältet. Gestern Abend hat er Fieber bekommen. Heute ist ja Donnerstag und unser Arzt nicht erreichbar. Den Notarzt will Mutter nicht rufen, sie ist da etwas eigen. Ausgerechnet heute muss ich an eine auswärtige Schulung und komme erst morgen Abend zurück.»
Verzweifelt hielt Dorothee einen Moment inne, den Hedwig für einen Vorschlag nützte.
«Wissen Sie was? Ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Tour und wenn ich fertig bin, schaue ich bei Ihren Eltern vorbei.»
Sie hörte wie Dorothee erleichtert aufatmete.
«Muss ich das nicht irgendwo melden?», fragte sie dann.
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, das ist für mich einfach ein ganz privater Besuch», beruhigte Hedwig sie.
«Ach Sie sind wirklich ein Schatz», rief Dorothee dankbar und ahnte nicht, welche Freude sie damit bei der älteren Frau hervorrief.
«Nun, gehen Sie schon, bevor Sie noch zu spät kommen», lachte diese.
«Einen schönen und interessanten Tag wünsche ich Ihnen», beendete sie dann das Gespräch.
«Danke, gleichfalls. Auf Wiedersehen!»
Schwester Hedwig legte den Hörer auf und lächelte vor sich hin. «Ihr Kind» brauchte ihre Hilfe und die sollte es auch bekommen. Beschwingt nahm sie die Tasche und verliess die Wohnung.
In der Kleinstadt, die zugleich den Verkehrsknotenpunkt der beiden Dörfer bildet, setzte sich Silvia Trautmann zur selben Zeit seufzend an den Küchentisch.
Obwohl der Tag erst begonnen hatte, war sie schon ausgelaugt. Sie zählte jetzt siebenundvierzig Jahre, aber sie fühlte sich im Moment steinalt.
Denn der Morgen ging immer turbulent zu, bis ihre beiden Jungen, der zwölfjährige Markus und der zehnjährige Johannes endlich auf dem Weg in die Schule waren.
Kaum waren sie aufgewacht, wurde es laut. Nachdem sie sich im Badezimmer ausgetobt hatten, sah es jeweils aus, als ob die Seeschlacht bei Trafalgar stattgefunden hätte.
Silvia wusste nicht so genau, was es mit dieser auf sich hatte. Ihr Mann Jakob hatte den Ausdruck einmal lachend gebraucht und seither ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Jeden Tag nahm sie sich vor, in dem Geschichtsbuch im Regal ihres Mannes nachzuschlagen, aber dazu fehlte ihr die Zeit.
Eigentlich mehr die Kraft. Sie fühlte sich seit ein paar Monaten einfach schlaff. Seit es ihrer zweiundsiebzigjährigen Mutter so schlecht ging, musste Silvia ihre ganze Energie aufwenden, um den Tag durchzustehen.
Vor einem halben Jahr hatte ihre Mutter, die schon seit Jahrzehnten an Asthma litt, eine Lungenentzündung bekommen, die ihre chronische Krankheit schlimmer werden liess. Sie stand zwar jeden Tag auf und versuchte, mehr schlecht als recht, den Haushalt zu führen, aber ihre Kräfte liessen rapide nach.
Deshalb fuhr Silvia jeden Tag mit dem Bus ins elterliche Dorf am Bach und kochte eine Mahlzeit für die beiden. Natürlich half sie auch beim Putzen und machte die Betten. dann war der Vormittag auch schon vorbei und sie eilte wieder nach Hause, um ihre Söhne zu verköstigen.
Der Nachmittag galt dann ihrem eigenen Haushalt, ausser am Mittwoch, wenn die Jungen schulfrei hatten.
Ach wenn es doch Mädchen wären, seufzte Silvia nicht zum ersten Mal. Mädchen konnte man mit kleinen Ämtchen betrauen. Die würden auch nicht so eine Unordnung im Badezimmer hinterlassen und sie wären weniger laut und ungestüm.
Silvia konnte sich nicht erinnern, zu Hause jemals so einen Lärm veranstaltet zu haben. Das hätte ihr Vater schon gar nicht zugelassen.
Erstaunlicherweise störte es ihn jetzt nicht, wenn die Enkel bei Besuchen mit Gegröle auf dem Rasen Fussball spielten. Er mahnte höchstens zur Vorsicht bei der Blumenrabatte. Die Rosen waren sein Hobby und da durfte kein Ball hineingeraten. Zum Glück war diese Seite des Rasens auch nicht in der Schusslinie.
Erschrocken sah Silvia auf die Uhr. Der Bus ging in zehn Minuten, sie würde erst daheim einen Kaffee trinken. Schnell stand sie auf und machte sich fertig.
Beim Anziehen überlegte sie, wieso sie eigentlich die elterliche Wohnung als «daheim» bezeichnete. Ihre Wohnung sollte doch auch ihr Daheim sein. Aber wenn sie daheim sagte, meinte sie immer den Ort, an dem sie aufgewachsen war.
Ein weiterer Blick auf die Uhr, zeigte ihr, dass sie für solche Spitzfindigkeiten keine Zeit mehr hatte. Sie brauchte ihren Kopf, um alles Nötige zusammenzusuchen.
Dann verliess sie die Wohnung und erreichte die Bushaltestelle gemeinsam mit dem Innerortsbus. Das war knapp gewesen.
Nachdem sie am Busbahnhof die Linie gewechselt hatte, konnte sie sich wieder ihren Gedanken widmen.
Nachdem Silvia als junges Mädchen wieder ins Elternhaus zurückgekehrt war, ging es ihr, vor allem psychisch, sehr schlecht. Ihre Mutter erklärte das mit der schweren Arbeit, die sie im Hotel gehabt hätte.
Silvias Schwangerschaft, selbst der Aufenthalt im Spital wurden natürlich nie erwähnt. Nicht einmal wenn die Frauen allein waren. So kam es, dass Silvia diese paar Wochen in der Grossstadt verdrängte. Sie war zum Arbeiten ins Bündnerland gefahren und als sie sich dort verausgabt hatte, wieder nach Hause gekommen. Das war inzwischen Silvias feste Überzeugung, das hätte sie sogar unter Eid ausgesagt.
Nachdem einige Monate vergangen waren, nahm sie eine Stelle in einem Altersheim an. Sie putzte, half in der Küche und erledigte andere Hilfsarbeiten. Mit der Pflege der Insassen hatte sie nichts zu tun.
«Bis du heiratest», sagte ihr Vater.
Für ihn stand fest, dass eine Frau an den Herd gehörte und von einem Ehemann versorgt wurde.
Nur dass da niemand in Sicht war. Silvia entwickelte sich innerlich und äusserlich zu einem Mauerblümchen.
Die Woche über wohnte sie in ihrem kleinen Zimmer im Altersheim, wo sie beinahe unbemerkt ihre Tätigkeiten verrichtete. An den freien Tagen besuchte sie die Eltern und am Sonntag ging sie regelmässig mit diesen in die Kirche. Das hatte sich der Vater bei der Anstellung ausbedungen.
Es war dann auch an einem Sonntag zehn Jahre später, als Jakob zum Mittagessen eingeladen wurde.
«Zieh ein schönes Kleid an», brummte der Vater vor dem Kirchgang.
Verwundert ging Silvia, gefolgt von der Mutter, in ihr Zimmer. Da es in dem kleinen Raum, in dem sie im Altersheim schlief, keinen Schrank gab, bewahrte sie alle Kleider zu Hause auf und nahm jeweils nur mit, was sie für die nächsten Tage benötigte. Jetzt wühlte ihre Mutter in den wenigen Kleidern und nahm ausgerechnet, das neue, damals für die Hochzeitsfeier gekaufte Kleid heraus.
«Nein, bitte nicht», bat Silvia.
«Das hast du doch nur einmal getragen, das steht dir», bestimmte die Mutter unerbittlich.
Silvia fügte sich, aber sie sann verzweifelt nach einem Ausweg. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, sah sie die Gelegenheit. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch.
«Kann ich noch einen Kaffee haben?», fragte sie und griff, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Kanne.
Sie hob die Tasse ein wenig an und leerte das Getränk in einem vollen Schwall hinein. Dabei hielt sie die Tasse bewusst schief und natürlich ergoss sich das schwarze Gebräu über ihr Kleid.
Entsetzt starrten die Eltern auf den angerichteten Schaden. Der Kopf des Vaters wurde rot vor Zorn und das erste Mal in Silvias Leben, hob er die Hand und schlug sie ins Gesicht.
Weinend rannte Silvia in ihr Zimmer, zerrte sich das Kleid vom Leib, wobei es auch noch zerriss.
Dann wählte sie das Sonntagskleid, das sie normalerweise zum Kirchgang trug und zog es an. Sie trocknete die Tränen und ging trotzig wieder hinunter.
Auf dem Flur stand ihre Mutter und hielt sie auf.
«Vater weiss, dass er sich versündigt hat», flüsterte sie.
«Bitte nimm seine Entschuldigung an.»
Silvia nickte und betrat das Wohnzimmer.
Ihr sonst so dominanter Vater stand geknickt am Fenster. Als sie eintrat, drehte er sich um und sah ihr flehend entgegen.
«Vergib mir», flüsterte er fast unhörbar.
Silvia nickte nur. Dann begann sie das Geschirr abzuräumen und diesmal passte sie auf, dass kein Krümel oder Tröpfchen auf ihre Kleidung fiel.
In der Küche stopfte ihre Mutter gerade das verunstaltete Festkleid in einen Kehrrichtsack.