Der Katzenwürger - Ursula Wintsch - E-Book

Der Katzenwürger E-Book

Ursula Wintsch

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Beschreibung

Im Dorf geht jemand um, der Katzen erwürgt. Gleichzeitig gibt es eine heimliche Liebschaft. Die einzige Person, die, ausser den beiden Liebenden, davon weiss, wird ermordet. Polizeileutnant Hunziker, tatkräftig unterstützt von Polizeiwachtmeister Bachmann, versucht Licht in das Geheimnis zu bringen.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Anmerkung der Autorin

Die Personen, Firmen und Schauplätze der Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und unbeabsichtigt. Die Handlung spielt im Zürcher Oberland, aber die Orte, sind einfach typische Oberländer Gemeinden und Städte, die es in der beschriebenen Form nicht gibt, auch wenn gewisse Details vielleicht zufällig an bestehende Orte erinnern können.

Das Titelfoto zeigt Böbbeli, die Katze meiner Tochter.

Inhaltsverzeichnis

Anmerkung der Autorin

Prolog

Teil 1 - Vor einem Jahr

Teil 2 - Am Tag nach dem 1. Katzenmord

Teil 3 - Ermittlungen

Epilog

Prolog

Das erste Opfer fand ihn, nicht umgekehrt. Er hatte auch nicht vor, es zu töten. Er war einfach nur verzweifelt.

Nach einer Nacht, in der er sehr schlecht geschlafen hatte, war er mit bösen Vorahnungen erwacht. Tatsächlich traf es ihn dann noch schlimmer, als erwartet. Nun befand er sich auf dem Heimweg, obwohl es dafür viel zu früh war. Er hätte sich in ein Café setzen können, aber er wollte allein sein. Er musste ungestört seine Gedanken ordnen können.

Also fuhr er ziellos herum, bis er im Naturschutzgebiet einen leeren Parkplatz entdeckte, der normalerweise von Spaziergängern am See besucht wurde. Aber bei dem heutigen Nieselwetter war er unbenutzt.

Zuerst wollte er im Auto sitzen bleiben, aber da fühlte er sich eingesperrt. Deshalb stieg er aus und ging in Gedanken versunken am Bach entlang.

Die Bank war durch Weiden etwas von der Nässe geschützt, sodass er sich hinsetzen konnte. Er überdachte seine neue Situation. Was konnte er noch tun? Seine Verzweiflung wurde grösser und je länger er nachdachte, umso weniger fand er eine Lösung.

Plötzlich merkte er, dass er beobachtet wurde. Sie stand ungefähr einen Meter von ihm entfernt und betrachtete ihn aufmerksam. Als sie erkannte, dass er sie bemerkt hatte, stiess sie einen begrüssenden Laut aus. Er lächelte. Augenblicklich hatte er das Bedürfnis nach Wärme.

Er lockte sie her und sie kam. Sie setzte sich zutraulich neben ihn. Er streichelte sie und jetzt setzte sie sich auf seinen Schoss.

Das konnte doch nicht sein, dass er hier sass und eine Katze streichelte. Er, der Katzen hasste.

Das brachte ihn dazu, seine verkorkste Ehe zu analysieren. Das Streicheln wurde immer mechanischer. Die Katze miaute und wand sich unter seinem harten Griff. Er klemmte sie zwischen die Beine. Er wollte sie nicht loslassen. Das ganze Übel seiner Situation hielt er hier stellvertretend in den Händen. Der Hass wurde grösser und er drückte zu.

Irgendwann stellte er fest, dass das Tier stillgeworden war. Er liess sie los und sie fiel zu Boden. Sie regte sich auch jetzt nicht, rannte nicht davon. Nach einer Weile begriff er, dass sie tot war. Entsetzt sprang er auf. Er hatte sie umgebracht!

Er lief einige Schritte davon und blieb wieder stehen. Er sah zurück zu dem Häufchen Katze neben der Bank. Er konnte sie nicht so sichtbar liegen lassen. Er ging zurück, nahm sie mit einem Ekelgefühl und schleuderte sie ins Gebüsch.

Vorsichtig schaute er sich um. Nirgends war jemand zu sehen. Ein Gefühl der Erleichterung ergriff ihn. Nicht nur, dass er seine Tat unbeobachtet verübt hatte, die Tat selbst hatte ihm den Druck genommen.

Aber er musste seine Hände waschen können und er brauchte etwas zu trinken. Er ging zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr davon.

Teil 1

Vor einem Jahr

Adrian Bürger sass an seinem Arbeitsplatz und schaute ins Grossraumbüro. Als Hauptbuchhalter hatte er einen etwas abgeschirmten Arbeitsplatz, der ihm aber doch Blickkontakte zu den anderen Schreibtischen erlaubte.

Seit es das Rauchverbot gab, machte er öfters eine Denkpause, während der er ein Bonbon lutschte. Das dauerte ungefähr gleich lang, wie er früher für eine Zigarette benötigt hatte.

Es war Mitte Monat und der letzte Monatsabschluss schon seit einer Woche vorbei. Jetzt plagte er sich mehr mit Bilanzstatistiken herum, eine Arbeit, die er nicht gerne machte. Deshalb nahm in dieser Zeit sein Konsum an Süssigkeiten spürbar zu. Aber er kaufte immer zuckerlose Produkte, sodass wenigstens seine Zähne geschont wurden.

In dem Raum sassen neben einem Kollegen noch sechs andere Buchhalterinnen. Sie waren nach Sachgebiet gruppiert. Vorne links von ihm, die Damen der Debitorenabteilung und, im hinteren rechten Teil, diejenigen, welche die Kreditorenrechnungen bearbeiteten. Dazwischen Dominik Schuhmacher, der eigentlich Debitorenbuchhalter war, ihn aber auch am Monatsende und vor allem beim Jahresabschluss unterstützte.

Adrian seufzte, schluckte den Rest des Bonbons herunter und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Heute hatte er extrem Mühe sich auf seine Zahlen zu konzentrieren. Er hasste die Kuchendiagramme und Vergleichsstatistiken, obwohl er einsah, dass sie der Geschäftsleitung einen schnellen Überblick verschafften. Aber die mussten sie ja auch nicht erstellen.

Wieder liess er den Blick schweifen und blieb an Liliane Nachbauer hängen. Sie sass ganz hinten im Raum, hatte, von der Lichtverteilung her, den schlechtesten Arbeitsplatz, aber eine gute Sicht zu ihm.

Sie war etwas pummelig, weshalb sie auch schnell ungepflegt wirkte, aber wenn er in ihre Nähe kam, roch sie immer nach frischem Duschmittel. Auch ihre rost-braunen Haare waren immer sauber. Sie wirkten nur strähnig, weil sie ihr ohne Locken fast auf die Schultern fielen. Der schlechte Eindruck entstand mehr durch ihre unvorteilhafte Kleidung und weil sie einfach kein Selbstbewusstsein ausstrahlte. Sie wurde nicht gerade gemobbt, aber man konnte auch nicht behaupten, dass sie mit den Kolleginnen befreundet war. Man grüsste sie, bezog sie aber nicht in die Scherze am Kaffeeautomaten ein. Deshalb ging sie meistens erst Kaffee holen, wenn die anderen ihre Pause beendet hatten oder sie trank ihn am Arbeitsplatz, was nicht gerne gesehen wurde. Das grenzte sie weiter aus.

Adrian hatte sich schon manchmal gefragt, weshalb sie blieb. Sie war tüchtig und hätte von der Qualifikation her sicher eine andere Stelle gefunden. Dann waren ihm ihre Blicke aufgefallen. Sie beobachtete ihn verstohlen. Wenn sie sich ertappt fühlte, lächelte sie ihn entschuldigend an.

Alle paar Tage richtete sie es ein, ihn beim Kaffeeautomaten zu treffen. Aber nur, wenn er dort alleine war. Ein Gespräch entwickelte sich jedoch nicht, da sie meist nur verlegen mit Ja oder Nein auf seine Fragen antwortete. Sie selbst sprach ihn nie an. Da er nicht viel über ihr Privatleben wusste, konnte er ihr nur berufliche Fragen stellen, was sich schnell erschöpfte. Also trennte man sich mit kurzem Nicken, nachdem der Becher leer war.

Adrian hatte sich schon überlegt, ob sie in ihn verliebt war. Sie war keine Schönheit, aber er konnte sich vorstellen, dass sie zumindest für etwas Aufmerksamkeit dankbar wäre. Anders als seine Frau, die zwar immer noch attraktiv war, sich aber, zumindest ihm gegenüber, gefühlskalt zeigte.

Aber er wollte keinen Ärger am Arbeitsplatz. Ausserdem wusste Frau Nachbauer sehr genau, dass er verheiratet war. Mit seinen zweiundvierzig Jahren war er dazu noch wesentlich älter als sie. Vielleicht täuschte er sich ja auch total in ihr und sie versuchte einfach nur freundlich zu sein.

Dieser Gedanke bewog ihn, einen Versuch zu machen. Demonstrativ stand er auf und ging zur Tür. Am Kaffeeautomaten suchte er umständlich das Geld zusammen, um ihr die Zeit zu geben, dazu zu stossen. Tatsächlich öffnete sich die Bürotür und Frau Nachbauer trat auf den Flur. Leider kam Schuhmacher mit einigen Papieren in den Händen hinter ihr her, sodass sie mit einem bedauernden Blick zu Adrian in die Richtung der Damentoilette abbog.

Ein Lächeln unterdrückend, schüttelte Adrian leicht den Kopf.

«Ist etwas?»

Sein Kollege blieb kurz stehen und sah ihn fragend an.

«Nein, mir ist nur gerade etwas eingefallen», lächelte Adrian.

Schuhmacher ging mit den Unterlagen zum Lift.

Eigentlich hatte Adrian vorgehabt, den Kaffee draussen zu trinken, aber nun wollte er doch nicht allein mit Frau Nachbauer zusammentreffen. Man sollte solche Komplikationen nicht noch bewusst fördern. Er kehrte mit dem Becher an seinen Arbeitsplatz zurück und vermied es, aufzusehen, als Frau Nachbauer nach fast zehn Minuten ohne Kaffee wieder hereinkam.

Liliane Nachbauer war enttäuscht. Zu dumm, das sie nicht bemerkt hatte, dass Schuhmacher ausgerechnet diesen Augenblick benutzte, um aus dem Raum zu gehen. Sie hätte sonst kurz umkehren können. So, als hätte sie am Schreibtisch etwas vergessen. Nun war die Gelegenheit vertan.

Sie wandte sich der Tür mit dem Damenzeichen zu. Dort ging sie auf die Toilette, obwohl sie nicht musste, aber sie hatte plötzlich Angst, dass noch jemand aus dem Büro auftauchen würde. In der Kabine kamen ihr unvermittelt die Tränen. Schnell nahm sie ein Taschentuch und tupfte sie weg. Nur nicht reiben, damit keine Rötung sichtbar wurde. Sie machte einige tiefe Atemzüge, um die Tränen zu unterdrücken.

Warum nur konnte sie diese aussichtslose Sache nicht beenden? Sie hatte sich sogar schon Stelleninserate angesehen, dabei war es ihr klar gewesen, dass sie nicht wechseln würde. Sie hatte sich zu fest in Adrian verliebt, obwohl sie wusste, dass es hoffnungslos war. Nicht nur weil er verheiratet war, das würde sie nicht stören, aber er beachtete sie nicht. Sie war für ihn genauso Luft, wie für die anderen. Ein Büromöbel, das man in die hinterste Ecke stellte, damit es aus dem Weg war.

Sie war sich schon bewusst, dass man ihr bei der Neuverteilung letztes Jahr den schlechtesten Platz zugeschanzt hatte. Als sie jedoch feststellte, dass sie Adrian fast dauernden im Blick hatte, sobald sie nur den Kopf hob, war sie mit der Situation ausgesöhnt. Sollten die anderen ruhig über sie lachen, sie hatte das bestmögliche aus der Sache gemacht.

Seither litt sie still aus der Ferne vor sich hin, nur auf Adrian fixiert. Sie war jemand, der die Freizeit meistens zu Hause verbrachte, vielleicht mal ins Kino oder ein Eis essen ging, aber jetzt blieb sie noch öfters als vorher daheim. Einzig den Kontakt zu ihrer Freundin Gundela hatte sie aufrechterhalten. Ihr erzählte sie von der Arbeit, wobei Adrian, ein sehr netter Kollege, viel öfter vorkam, als es sich in Wirklichkeit abspielte. In ihren Erzählungen erlebte sie all das, was sie im realen Alltag vermisste.

Sie sah unwillkürlich auf die Uhr. Nun sass sie schon über fünf Minuten da. Schnell verliess sie die Kabine und wusch sich die Hände. Mit einem Kontrollblick in den Spiegel, - nein, man sah nicht, dass sie geweint hatte, - verliess sie die Damentoilette.

Der Flur war leer. Einen Moment überlegte sie, ob sie sich einen Kaffee mitnehmen sollte, verwarf es jedoch.

Sie betrat das Grossraumbüro. Adrian sass an seinem Platz und war in seine Arbeit vertieft. Er hob nicht einmal den Kopf.

Festen Schrittes ging sie auf ihren Schreibtisch zu. Die nächste Gelegenheit würde schon kommen, morgen oder in einer Woche. Zeit spielte keine Rolle.

Am frühen Abend hatte Adrian seine Statistiken und Diagramme beendet und weitergeleitet. In diesen weniger arbeitsreichen Wochen machte er meistens pünktlich Schluss.

Mit seinem Wagen fuhr er nach Hause. Da er von seinem Wohnort mit dem öffentlichen Verkehr zweimal umsteigen musste und dann immer noch zehn Minuten zu gehen hatte, war er mit dem Auto eindeutig schneller. Allerdings wusste er nicht so recht, wieso das eigentlich relevant war. Da seine Ehe in einer Krise steckte, zog es ihn doch nicht wirklich nach Hause. Es war einfach bequemer mit dem Wagen, als das Umsteigen mit den Wartezeiten, vor allem am Morgen oder bei schlechtem Wetter.

Als er den Dorfrand erreichte, atmete er tief ein und versuchte sich für den Abend zu wappnen. Wie würde ihn seine Frau heute empfangen?

In letzter Zeit gab es zwei Varianten. Entweder keifte sie wegen jeder Kleinigkeit oder sie schwieg demonstrativ. Das war nicht ganz richtig. Sie redete, jedoch nicht mit ihm. Mit Miezi, der Katze, sprach sie schon, wobei das, was sie zu ihr sagte, als Seitenhieb auf ihn gedacht war. Adrian stellte dann seine Ohren auf Durchzug, wie sie es ausdrückte, aber natürlich bekam er es doch mit. Manchmal fragte er sich, ob das nicht die perfidere Art war, ihm weh zu tun, denn so konnte und wollte er sich nicht wehren.

Es war kurz vor sechs Uhr, als er die Wohnung betrat. Der Tisch war noch nicht gedeckt.

Der Fernseher lief und Hilde, seine um zwei Jahre jüngere Frau sass auf dem Sofa. Miezi lag auf ihrem Schoss und liess sich kraulen, wobei sie ein wohliges Schnurren von sich gab. Sie drehte, im Gegensatz zu seiner Frau, den Kopf, als er näher trat.

Einen Moment schien es ihm, als wollte sie sagen: «Ich weiss schon, dass ich der Liebling bin, nicht du.»

Aber vielleicht täuschte er sich.

«Guten Abend», grüsste er mit neutraler Stimme.

«Sch, sch», wehrte Hilde ab.

Sie starrte demonstrativ auf den Bildschirm, auf dem gerade etwas über den Enkel der englischen Königin und seine hübsche Frau gezeigt wurde.

Heute war er wieder einmal Luft für sie.

Er zuckte die Schultern und wandte sich der Küche zu. Er öffnete den Kühlschrank und sah sich nach etwas um, das er unkompliziert, das hiess, ohne zu kochen, als Abendmahlzeit nehmen konnte. Er fand ein bisschen geschnittene Wurst, bestrich ein Stück Brot mit Mayonnaise, belegte es und deponierte das Ganze auf einem kleinen Teller.

Die Kaffeemaschine war im Stand-by Modus und musste sich erst aufheizen. Nachdem er auch noch zu einem Kaffee gekommen war, setzte er sich mit seinem frugalen Mahl an den kleinen Küchentisch.

Er hatte gerade den ersten Bissen im Mund als Hilde hereinkam. Auf dem Arm trug sie die Katze, die sie zärtlich streichelte.

«Ach, ist das nicht schön, ein solches Glück zu sehen und jetzt hat das junge Paar auch noch ein Baby», redete sie auf Miezi ein.

«Miau», gab diese zur Antwort.

Darauf streichelte sie nochmals zärtlich die Katze, stoppte aber, als sie seinen Teller sah.

«Isst du allein!», schrie sie ihn an.

Adrian fand es müssig, darauf eine Antwort zu geben. Es war schliesslich ofensichtlich, womit er beschäftigt war.

«Ach so, ich muss wissen, wann der gnädige Herr nach Hause kommt und das Abendessen sofort bereithalten. Man kann ja nicht mal fünf Minuten warten.»

Da sie ihn diesmal direkt ansprach, konnte er auch seinen Standpunkt vertreten.

«Ist das deine ganze Begrüssung?»

«Du platzt mitten in die Sendung, wo sie doch so schön über das Baby berichten und das soll ich verpassen?»

Sie war den Tränen nahe, ob vor Wut oder Enttäuschung war ihm nicht klar.

«Ein ‹guten Abend› hätte wohl drin gelegen», entgegnete er mürrisch.

«Ausserdem wollte ich dich absichtlich nicht stören. Ich kann mir schon selber etwas machen».

«Und weshalb isst du in der Küche?»

«Sagte ich doch gerade, ich wollte dich nicht stören.»

Wortlos drehte sich Hilde um und verliess die Küche.

Nun war Adrian doch etwas erstaunt. Er hatte sich auf ein stundenlanges Gekeife vorbereitet. Andererseits war er froh, dass es keine weiteren Vorwürfe gab.

Immerhin war das Reizwort Baby gefallen. Kinder, vor allem kleine, das war ein Thema, bei dem er Hildes Reaktion nie voraussagen konnte. Ein Wort an dem eine Ehe zerbrechen konnte.

Denn sie konnten keine eigenen Kinder haben. Das hatten sie aber erst erfahren, als sie schon einige Jahre verheiratet waren und sich einfach kein Nachwuchs einstellen wollte. Dabei hatte sich Hilde so sehr ein Baby gewünscht.

Anfangs hatte sie noch die Pille genommen. Das erste Ehejahr wollten sie noch allein verbringen.

Aber auch als sie danach auf Verhütung verzichteten, klappte es nicht. Nach einiger Zeit begann Hilde sich bei Freunden und Verwandten zu beklagen und wurde prompt mit guten Ratschlägen eingedeckt. Nicht zu fest wünschen, das baut nur Stress auf. Mondkalender und Temperaturmessungen und weiss der Kuckuck, was es noch alles gab. Sie, vor allem Hilde, hatten alles ausprobiert. Darüber vergingen die Jahre und die biologische Uhr tickte.

Schliesslich liess Hilde sich vom Frauenarzt untersuchen. Die Tests ergaben, dass bei ihr eigentlich alles in Ordnung war. Es müsse an Adrian liegen, meinte der Gynäkologe.

Endlich hatte er ihrem Drängen nachgegeben und sich selbst abklären lassen. Der Arzt hatte ihm dann eröffnet, dass er zeugungsunfähig war. Er hatte ihn auch nach Kinderkrankheiten gefragt, aber Adrian konnte sich an keine erinnern.

Er erkundigte sich jedoch bei seiner Mutter und erfuhr, dass er als kleiner Junge, noch vor dem Kindergarten, Mumps gehabt hatte. Also lag es doch an ihm.

Damit konnte Hilde sich nicht abfinden. Es regnete Vorwürfe, die er ungerecht fand.

Was konnte er dafür, dass er als Dreikäsehoch krank geworden war. Er hatte das ja nicht extra gemacht, nur um Hilde später zu verletzen.

Sie warf ihm vor, es verschwiegen zu haben, um sie heiraten zu können. Doch er hatte es ja wirklich nicht gewusst, als sie Hochzeitspläne schmiedeten. Wie hätte er sie da informieren sollen?

Egal wie er es drehte und wendete, er war am Ende immer der Schuldige. Dabei litt er selbst darunter, nur ein halber Mann zu sein. Er fühlte sich mehr und mehr in die Defensive gedrängt, fing an, den Diskussionen auszuweichen, flüchtete vor den Streitereien, indem er lange Spaziergänge machte, auf denen er meist tief in Gedanken versunken war. Diese Grübeleien taten ihm aber auch nicht gut. Manchmal hatte er Angst, depressiv zu werden.

Sie fingen an, gefühlmässig getrennte Wege zu gehen. Zwar lebten sie noch zusammen, aber gemeinsame Gespräche oder gar Zärtlichkeiten wurden immer seltener.

Während er sich stärker in seine Arbeit stürzte, begann sie sich auf die Katze zu konzentrieren, die als Babyersatz verwöhnt und sogar verzogen wurde. Sie durfte zum Beispiel im Ehebett am Fussende schlafen, obwohl ihn die Katzenhaare, die dabei unweigerlich liegenblieben, störten. Miezi war dann auch oft Anlass zu einem Streit.

Aber heute hatte sie nicht gestritten. Keine Vorwürfe wegen der fehlenden Kinder.

Er nahm noch einen Schluck Kaffee und beschloss ihr nachzugehen.

Das Wohnzimmer war leer.

Hilde sass im Schlafzimmer auf ihrem Bett, immer noch die Katze auf dem Schoss, und weinte.

Adrian konnte sich das nicht erklären. Er setzte sich neben sie und sprach unwillkürlich mit einem Tonfall, den er früher gehabt hatte, als ihre Ehe noch in Ordnung war.

«Was ist denn los?»

Hilde sah auf.

«Das Baby», seufzte sie.

«Sie haben ein Baby und das ist so süss.»

Sie sah ihn mit so sehnsuchtsvollen Augen an, dass er sie unwillkürlich in die Arme nahm.

Miezi, der es zu eng wurde, befreite sich und verliess das Schlafzimmer.

So plötzlich mit seiner Frau alleingelassen, fühlte sich Adrian beinahe überfordert.

«Tut mir leid, ich habe nicht mehr an das Baby gedacht», gestand er mit einem mulmigen Gefühl.

«Ich meine das von England», fügte er erklärend hinzu.

«Sie haben ja nur die Eltern gezeigt, als ich reinkam.»

Hilde nickte und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Er streichelte ihr sanft über den Rücken. Nur jetzt nicht reden, nicht den Augenblick mit den falschen Worten zerstören.

Er merkte, wie sich Hilde langsam entspannte. Dann hob sie den Kopf und er küsste sie und sie erwiderte den Kuss. Es war das erste Mal seit Wochen.

Liliane Nachbauer hatte gewartet, bis Adrian nach Hause ging, ehe sie ihren Schreibtisch aufräumte und für heute ebenfalls Schluss machte. Sie vermied es nach Möglichkeit, vor ihm nach Hause zu gehen, ausser wenn er während des Monatsabschlusses offensichtlich Überstunden machte. Da hätte sie ihre Anwesenheit nicht mehr begründen können.

Sie benutzte die Eisenbahn und den Stadtbus, um die elterliche Wohnung in der Kleinstadt zu erreichen. Obwohl schon neunundzwanzig Jahre alt, lebte sie immer noch bei ihrer Mutter. Ihr Vater war schon vor Jahren gestorben, sodass sich zwischen den beiden Frauen eine enge Bindung ergeben hatte, zumal Liliane keine Geschwister hatte.

Eigentlich wäre sie gerne zu Hause ausgezogen, nicht weil es ihr dort nicht mehr gefiel, sondern um einfach mal selbständig zu sein. Sie konnte sich jedoch nicht gegen ihre Mutter durchsetzen und auf einem eigenen Appartement bestehen.

Das Hauptargument, nämlich die doppelte Miete, liess sich nicht zerreden, zumal die kleine Witwenrente der Mutter für die Wohnung, obwohl sie in einem Altbau gelegen und deshalb günstig war, nicht gereicht hätte. Sie brauchte den Zuschuss von ihrer Tochter.

Dazu kam, dass Liliane sowieso innerhalb des Ortes geblieben wäre, es somit auch keinen räumlichen Grund für getrennte Adressen gab. Sie hatte sich schon überlegt, weiter weg zu ziehen, aber das wäre dann auch mit einem Stellenwechsel verbunden gewesen, kam also ebenfalls nicht in Frage.

Zudem hatte ihre schon siebzigjährige Mutter in letzter Zeit gesundheitlich stark nachgelassen. Sie konnte gewisse anstrengende Tätigkeiten, wie Staubsaugen, nicht mehr durchführen, ohne sich hinterher total erschöpft hinlegen zu müssen. Liliane hatte es ihr deshalb verboten. Sie hatte Angst, dass ihre Mutter einen Schlaganfall bekommen könnte und dann allein hilflos in der Wohnung liegen würde, bis ihre Tochter von der Arbeit kam. Lieber besorgte sie den Haushalt am Abend oder an den Wochenenden selbst. Womit ein weiterer Grund gegen eine Änderung der Verhältnisse gegeben war.

Liliane übersprang einen Bus, um noch schnell eine Kleinigkeit fürs Abendessen einzukaufen.

Sie kochte am Abend jeweils ein schnelles Menü oder brachte Hamburger, Pizza oder Fertiggerichte mit. Ihre Mutter ass mittags, da sie alleine war, immer kalt. Sie fand, dass sich das Zubereiten einer warmen Mahlzeit für eine Person nicht lohne, womit sie ihre Tochter bezüglich des Auszugs noch mehr unter Druck setzte. Dafür wurde Liliane von ihr an den Wochenenden mit ausgezeichneter Hausmannskost entschädigt. Leider waren das keine Schlankheitsdiäten und zusammen mit den Fastfood-Gerichten ergab es ein sichtbares Ergebnis.

Aber damit hatte sich Liliane schon lange abgefunden. Sie hatte nie einen festen Freund gehabt. Natürlich hatte sie als Teenager für Jungen, meist Klassenkameraden geschwärmt. Sie war jedoch immer etwas abseits gestanden, war unscheinbar und unbeachtet gewesen. So hatte sie sich angewöhnt das Leben von der Ferne zu betrachten. Sie flüchtete in die Phantasie und malte sich dort aus, wie es sein könnte. Das war dann immer perfekt. Da gab es keine Schatten, nur eitel Sonnenschein, Harmonie und, ganz wichtig, die grosse Liebe. Als Partner suchte sie sich jemand aus ihrer Umgebung, der meistens ahnungslos blieb, welche Rolle er für die Frau, der er fast täglich irgendwo begegnete, spielte.

Im Moment war das Adrian Bürger und hier hatte sie nun die Möglichkeit selbst aktiv zu werden. Aber das war so schwierig, wie der Vorfall heute Nachmittag zeigte. Es erforderte Mut und da haperte es bei ihr. Wenn er sie nur ein bisschen ermuntern würde. Ein kleines Entgegenkommen seinerseits würde vielleicht genügen, um sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken.

Dabei konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, wie sich das entwickeln sollte. Schliesslich war er verheiratet und wohnte mit seiner Frau zusammen. Dass sie noch zu Hause lebte, machte die Situation auch nicht einfacher. Sie konnte ihn doch nicht zu sich einladen und ihn dann mit ihrer Mutter konfrontieren.

Falls, wenn überhaupt, sie jemals engeren Kontakt zu Adrian bekommen sollte, musste eben spontan eine Lösung gefunden werden. Darüber würde sie sich erst zu gegebener Zeit den Kopf zerbrechen.

Inzwischen träumte sie davon, wie sie ihn in ihrer eigenen Wohnung, von deren Einrichtung sie eine genaue Vorstellung hatte, empfing. Da spielten sich Candle-light-Dinner mit anschliessenden Liebesszenen, die im Bett endeten, ab. Das war ihr richtiges Leben.

Die Wirklichkeit war für sie nur Arbeit und Verpflichtung. Da funktionierte sie nur, Gefühle waren unerwünscht und störten, denn sie wurden nie erwidert. Also hatte sie gelernt, sie zu unterdrücken.

Ihre Mutter hatte schon den Tisch gedeckt, als Liliane mit ihren Einkäufen die Wohnung betrat.

«Hallo, Mutter, ich habe zwei Pizzas mitgebracht», grüsste sie und gab ihr einen Wangenkuss.

«Warum hast du nicht angerufen, damit ich den Backofen vorheizen konnte», nörgelte die ältere Frau.

«Jetzt dauert es wieder ewig, bis wir essen können und ich habe Hunger.»

Liliane seufzte.

«Mutter, ich habe mich erst im Laden entschieden. Beim Fleisch war nichts mehr da, das man schnell zubereiten konnte und Bratwurst hatten wir gestern.»

«Du hättest trotzdem anrufen können, dann wäre der Backofen jetzt schon bereit», beharrte Frau Nachbauer auf ihrem Standpunkt.

Liliane schwieg mit schlechtem Gewissen, denn ihre Mutter hatte ja recht. Wenn Liliane nicht so in Gedanken an Adrian gewesen wäre, hätte sie, während sie an der Bushaltestelle wartete, angerufen.

Schnell richtete sie den Backofen her und begann den Salat zu rüsten.

Ihre Mutter murmelte ärgerlich vor sich hin und verzog sich ins Wohnzimmer. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal nicht richtig gegessen am Mittag, was in letzter Zeit öfters vorkam und Liliane Sorgen machte. Irgendetwas stimmte nicht mehr. Aber es war nicht möglich, ihre Mutter dazu zu bringen, einen Arzt aufzusuchen. Was Liliane noch mehr fürchtete als einen Schlaganfall war Alzheimer. An andere Krankheiten dachte sie bisher sonderbarerweise nicht. Was sollte sie jedoch tun, wenn ihre Mutter wegen Demenz ständige Aufsicht benötigte.

Sie brachte den Salat ins Wohnzimmer. Sie hatten nur eine Dreizimmerwohnung, sodass sie dort am grossen Tisch assen. In der Küche war dafür kein Platz. Sie war lang, aber schmal, mit Einbauschränken auf beiden Seiten.

Adelheid Nachbauer sass auf dem Sofa und sah eine ihrer Lieblingssendungen im Vorabendprogramm. Die würde auch noch während des Essens laufen und ein Gespräch verhindern, was Liliane nicht ungelegen kam. Sie hatte heute kein Mitteilungsbedürfnis, zumindest nicht ihrer Mutter gegenüber.

Von der Uhr am Herd ertönte ein Piepsen, das anzeigte, dass die Pizzas fertig waren. Während Liliane sie holte und gleich auf die Teller verteilte, setzte sich ihre Mutter schon an den Tisch.

«Endlich! Guten Appetit», sagte sie ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

«Wünsch ich dir auch», entgegnete Liliane.

Dann assen sie schweigend. Ihre Mutter musste wirklich hungrig gewesen sein, denn sie vertilgte die ganze Pizza. Inzwischen war auch die Sendung zu Ende und Liliane stellte den Ton mittels Fernbedienung sehr leise.

«Was hast du denn heute Mittag gegessen?», fragte sie mit beiläufigem Ton.

«Heute war mir gar nicht gut. Ich habe noch um zehn Uhr einen Kaffee getrunken, der mir dann Sodbrennen verursacht hat. Ich habe nur ein Stück trockenes Brot heruntergebracht und mich hingelegt. Erst nach einem Tee wurde es mir besser», erklärte Frau Nachbauer.

«Trink doch jeweils schon am Vormittag einen Tee», schlug Liliane vor.