Das vergessene Experiment - Len Lasar - E-Book
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Das vergessene Experiment E-Book

Len Lasar

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Beschreibung

Spannend von der ersten bis zur letzten Seite wagt das Buch einen Sprung in die Zukunft, verknüpft die Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, mit der verzweifelten Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität und macht es zu einer Schnitzeljagd der besonderen Art! Lana ist Anfang zwanzig und lebt in einer Hochhaussiedlung in Bern-West. Als sie in einem Amulett ein Rätsel ihres leiblichen Vaters findet, beginnt für sie eine Reise zu ihrem Ursprung. Mit ihrem Freund Cica folgt sie den Hinweisen, um mehr über ihren Erzeuger und ein utopisches Experiment, das er vor ihrer Geburt leitete, herauszufinden. Ein angesehener Unternehmer will das mit allen Mitteln verhindern und setzt die beiden jungen Freunde immer mehr unter Druck. Welches Geheimnis versucht er zu verbergen?

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Epilog

Impressum

Ambühl Publishing, Neuhausweg 5, 3097 Liebefeld

Grafik Umschlag: OpenAI

Lektorat: Sophie Niemann (www.sophieniemann.de)

ISBN: 978-3-75-791858-3

«Wenn die Vögel mit Singen aufhören, ist der Mensch dem Tode geweiht. Wenn du die Vögel nicht singen hörst, lebst du nicht.»

Ken Robayashi

1

Lana saß in ihrer Kammer auf dem kleinen Bett, als sie die Entdeckung machte, die ihrem Leben eine so überraschende Wendung gab. Obwohl sie keine fünf, sondern über zwanzig Jahre alt war, schlief sie noch immer in einem Kinderbett mit einer lächerlichen Größe von nur siebzig mal hundertsechzig Zentimetern. Es war genau sechs Zentimeter zu klein, und sie hatte zwei Möglichkeiten, wie sie damit umgehen konnte: Entweder ließ sie ihre Beine über das Fußende hängen oder sie lag auf der Seite und faltete sich wie ein Embryo zusammen. Meistens bevorzugte sie Letzteres. Es war auch nicht wirklich ein Zimmer, in dem sie schlief. Ihr Zuhause war eine Kammer, die muffig roch und gerade genug Platz für ein Kinderbett, einen kleinen Tisch und einen Stuhl bot. Ihre Wäsche war mangels Stauraums in einem Einbauschrank im Flur untergebracht. Die beengten Verhältnisse wären für Lana noch zu ertragen gewesen, aber das Schlimmste war, dass sie nicht alleine in der Hochhauswohnung an der Waldmannstrasse wohnte; da war noch ihre Familie. Keine gewöhnlichen Menschen, die am Samstag ihr Auto wuschen und sonntagmorgens zum Bäcker gingen. Damit hätte sie sich vielleicht arrangieren können. Nein, Vater, Mutter und Bruder hatten eine andere Art von Routinen. Sie lebten wie Geister, wie willenlose Hüllen, die sich jeden Tag aufs Neue, ohne das kleinste Zeichen von Aufbegehren, ihrer Trägheit hingaben. Das löste ein Gefühl von Fremdheit in Lana aus. Seit sie denken konnte, hatte sie sich nie diesen Geschöpfen zugehörig gefühlt. Sie war eine Außenseiterin in ihrer eigenen Familie.

Lana betrachtete die stolze Nase, die wachen Augen und die altmodische Frisur, die einer Haube glich. Das Gesicht von Simone de Beauvoir zeugte von Entschlossenheit. Das Poster, das über der Kopfseite ihres Bettes hing, war einer ihrer persönlichen Schätze. Wie es wäre, eine solche Frau als Freundin zu haben? Eine Kämpferin. Eine Frau, die sich nicht von Männern unterjochen ließ.

Sie war so in die Betrachtung des Bildes versunken, dass sie die gehässige Stimme anfangs nicht hörte. Erst als sie wie ein Grollen anstieg, nahm sie den Ton bewusst wahr. Vater. Er war arbeitslos und darum stets zu Hause. Für Arbeiter wie ihn fand sich immer weniger Beschäftigung. Als er seine Ausbildung zum Logistiker absolvierte, hatte es in der Branche noch Jobs im Überfluss gegeben. Er hatte in einem Logistikzentrum Waren vom Lastwagen abgeladen und die grünen Kisten mit Ananas oder Mangos von der Elfenbeinküste mit einem Gabelstapler so lange an den richtigen Ort gebracht, bis ihn Roboter ersetzten. Diese Arbeit war so einfach zu automatisieren gewesen, dass Zehntausende Jobs in der Logistik gestrichen wurden. Es war jetzt zwanzig Jahre her, dass er seine Stelle verlor, und er war sogar einer der Letzten gewesen, weil er eine richtige Ausbildung genossen hatte. Die Ungelernten waren längst weg gewesen. Seit dem Tag der Kündigung hatte er nie wieder regelmäßig gearbeitet. Die Familie lebte von Sozialgeld, Gelegenheitsjobs und den Zuwendungen von Lanas Tante.

Mit immer lauterer Stimme rief er nach ihr. Widerwillig erhob sie sich von ihrem Bett, öffnete die Tür und ging durch den Flur in Richtung Wohnzimmer. Dort lag er in seiner wüsten Mattheit auf dem abgewetzten Sofa. Den schwarzen Adidas-Trainer zog er nur noch selten aus. Seine Haare waren dünn und grau geworden, das Gesicht rot vom Alkohol, der ihm überhaupt erst ermöglichte, den Tag zu beginnen. Das monströse Endgerät zeigte eine Show, in der arme Menschen gezwungen wurden, makabere Dinge zu tun. Ein Mann mit strähnigem Haar leckte an einer Wand mit Schimmel. Ihrem Vater gefiel es, dass andere noch schlechter dran waren. Das besserte für gewöhnlich seine Laune. Heute nicht.

«Lana, was machst du hier?», geiferte er.

Es roch nach männlichen Säuferausdünstungen, Zwiebeln, abgestandener Luft. Mutter musste irgendwo in der kleinen Wohnung sein. Höchstwahrscheinlich in der Küche. Sie hatte es perfektioniert, ihn zu meiden.

«Ich wohne hier.»

Er musterte sie mit trübem Blick.

«Das weiß ich. Ich zahle die Miete.»

Nicht du. Das Sozialamt und andere Menschen, die uns nicht verrecken lassen wollen, dachte Lana. Es brachte nichts, das zu sagen. Es würde ihn nur unnötig wütend machen.

«Was gibt‘s?», fragte sie, die Hände in die Hüften gestemmt.

Er grunzte und antwortete: «Wann gehst du endlich arbeiten und trägst etwas zu unserer Familie bei?»

Das mit der Arbeit war so eine Sache für Lana. Sie arbeitete. Hin und wieder. Sie hatte in Restaurants gekellnert, alten Leute im Altersheim die verklebten Pobacken gesäubert und sich sogar zweimal in Unterwäsche vor einer Webcam geräkelt. Doch das waren alles nur befristete, kleinere Sachen gewesen. So ging es vielen in Bern-West. Kaum einer hatte einen dauerhaften Job, der ihm Sicherheit und Wohlstand garantierte. Wenn doch, zogen sie weg. Hier war der übrig gebliebene Rest eingekerkert, der Bodensatz der Gesellschaft.

Lana hätte gerne studiert. Ihre Noten in der Schule waren auffallend gut gewesen. Sie hatte alle Voraussetzungen, nur eine nicht: Geld. Seit die Universitäten privatisiert waren, war es nicht mehr eine Frage der schulischen Fähigkeiten, sondern des Mammons, wer in den Genuss einer höheren Ausbildung kam. Ein Studium konnte sie sich nicht leisten, und würde sie auch in Zukunft nie können, da konnte sie noch so viele Gelegenheitsjobs haben.

«Du weißt, dass es keine Jobs gibt. Du hast ja auch keinen», sagte sie schon ermüdet von diesem öden Gespräch. Lana wusste, dass ihr Vater nicht wirklich darüber reden wollte. Es machte ihm einfach Spaß, sie zu piesacken. Mit ihrem Bruder Marco tat er das nie, bei ihr aber hatte er schon immer die perverse Lust verspürt, sie zu quälen. Als sei sie eine Aussätzige, etwas Minderwertiges, das man nach Belieben herumstoßen konnte.

«Wie redest du mit deinem Vater?»

Er richtete sich ein Stück auf, ließ sich dann aber wieder ins Sofa fallen. Er hatte es sich anders überlegt. Lana schaute ihn mit mitleidigem Blick an. Was war ihr Vater doch für eine elende Kreatur. Er lebte von Fertigpizzen, weißem Toast und billigem Wodka.

«Es tut mir leid, Papa. Kann ich gehen?»

Sie wollte zurück in ihr Zimmer. Weg aus diesem stinkenden, tristen Raum, weg von diesem Haufen Fett und Fleisch auf der Couch. Ihr Blick wanderte zu den verblichenen, grünen Vorhängen an den Fenstern.

«Es tut dir leid? Dich kann man zu nichts gebrauchen! Ich füttere dich durch und du machst keinen Finger krumm. Verdammt nochmal, du könntest wenigstens für jemanden die Beine breitmachen. Dann wären wir dich los. Aber selbst dafür bist du zu dumm.»

Er nahm einen Schluck aus der Flasche und wandte sich wieder der Show zu. Lana drehte sich um und verließ das Wohnzimmer. Was aus seinem Mund tropfte, machte sie schon lange nicht mehr traurig. Sie war gegenüber den Anfeindungen ihrer Familie gleichgültig geworden, weinte nicht einmal mehr. Sie hatte sich geschworen, damit aufzuhören, als er ihr das erste Mal ihre Träume nahm. Lana wusste nur zu gut, dass Schläge und Beleidigungen nicht halb so wehtaten wie ein zermalmter Kindertraum.

Zurück in ihrer Kammer setzte sie sich auf den Rand des Bettes und nahm das Amulett in die Hand, das sie um den Hals trug. Sie spielte manchmal mit ihm, wenn sie alleine war. Es war rund, silbrig und hatte an den Außenflächen verschiedene, verschnörkelte Verzierungen. Doch es war auch groß, darum trug sie die Kette auf der Straße nur selten. In der Mitte befand sich eine Art Blume mit vier Blütenblättern. Die Blüte im Zentrum bestand aus einem roten Stein. Auf der Rückseite war ihr Geburtsdatum eingraviert. Lana mochte das geheimnisvolle Aussehen des Amuletts. Es war ein Geburtsgeschenk ihrer Eltern, obwohl das so gar nicht zu ihnen passte. Sie hatten keinen Geschmack und auch kein Geld für Präsente. Als sie Mutter vor Jahren danach fragte, hatte diese gesagt, sie könne sich nicht erinnern. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ihren Vater rülpsen. Dieses Schwein! Warum musste sie nur mit solchen Menschen zusammenleben? Sie schloss die Augen, ihr Körper fiel in sich zusammen, die Schultern sanken herunter. Ihr sehniger Körper fühlte sich auf einmal schwer an. Sie verspürte starke Lust, sich hinzulegen. Nicht nachgeben, nicht fallen lassen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, drückte den Rücken durch und streifte die Kette von ihrem Hals. Sie drehte das Schmuckstück in ihrer Hand und betrachtete den funkelnden Stein in der Mitte, der nichts wert war. Es war kein Rubin, sondern irgendein anderer roter Stein von minderer Qualität. Lana warf es in die Höhe und fing es wieder auf, wie man es aus Langeweile mit einem Tennisball tat. Beim ersten Mal klappte das gut. Doch beim zweiten Mal entglitt ihr das Amulett und fiel zu Boden. Klack. Lana erschrak. Vorsichtig hob sie es hoch. Ihre Finger erkannten vor ihrem Geist, dass sich etwas gelöst hatte, denn da war eine neue, scharfe Kante. Sie hielt das Amulett vor ihre Augen und entdeckte auf der Rückseite einen kleinen Spalt. Wie bei einer mechanischen Uhr hatte sich eine Art Deckel ein Stück gelöst. Lana versuchte, den Verschluss wieder an seinen Platz zu drücken, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen zog sie an der Verriegelung und zu ihrer Überraschung ging sie ohne großen Kraftaufwand ab. Doch was sie darunter fand, überraschte sie noch weit mehr: Ein kleiner Hohlraum ließ einen zusammengefalteten Zettel zum Vorschein kommen.

Sie klaubte das Papier aus der Vertiefung, faltete es auseinander und setzte sich endgültig gerade hin. Das Papier hatte die Größe eines Din-A5-Bogens und eine Zeichnung beanspruchte fast den gesamten Weißraum. Es war eine Art Stadtbild von oben. Eine Gasse mit Häusern, Dächern und Brunnen. Es musste von einem Balkon oder einer anderen Erhöhung aus gezeichnet worden sein. Darunter stand in schwungvoller Handschrift und mit Bleistift geschrieben:

«Die Welt wird nicht von den Menschen bedroht, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.»

In Liebe, dein Vater

Lana las den Text ein zweites Mal. Dann noch einmal. Sie war so perplex, so überrascht, dass sie Mühe hatte, zu glauben, was sie vor sich sah. Dieser erloschene, bösartige Mann im Wohnzimmer hatte ihr eine Zeichnung mit einer Widmung in das Amulett getan? Das war eigenartig. Seit wann machte er sich Gedanken um den Lauf der Welt und von was sie bedroht wurde? Er soff, lag herum und ließ sich den ganzen Tag von Shows aus seinen Endgeräten berieseln. Aber vielleicht war er bei ihrer Geburt anders gewesen und in ihm steckte viel mehr, als sie glaubte?

Lana stand auf und tat ein paar Schritte. Bewegung steigerte bekanntlich die Konzentration. Die Kammer bot kaum Platz und so drehte sie sich nach wenigen Schritten wieder um und tapste in die entgegengesetzte Richtung. Das Blatt Papier hielt sie in der Hand. Sie würde ihn fragen. Herausfinden, was er damit meinte und warum er den Zettel in das Amulett getan hatte. Die zerbrechliche Hoffnung, ihr Vater hätte sie doch lieb, loderte in ihr auf. Verbarg sich am Ende hinter dem ablehnenden Verhalten von Papa Sandro etwas Schönes? Hatte er nicht geschrieben: In Liebe, dein Vater? Nie zuvor hatte er das zu ihr gesagt.

In ihrem Gesicht erblühte der Anflug eines Lächelns, als Lana die Tür ihrer Kammer öffnete und durch den Gang, vorbei an den Babyfotos ihres Bruders, ins Wohnzimmer ging. Ihr Vater saß noch immer auf dem schäbigen Sofa, vor sich ein Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit, und blätterte in einer Werbebroschüre für Kleinkredite.

«Papa, ich …»

Er unterbrach sie, indem er seine Hand hob. «Jetzt nicht. Ich lese etwas Wichtiges.»

Lana ließ sich nicht beirren. «Papa, ich will dich etwas fragen.»

Er drehte den Kopf zu ihr. «Was, verdammt noch mal, ist denn jetzt schon wieder? Kann man hier nie seine Ruhe haben?»

In zögerlicher Manier fragte sie: «Hast du mir einen Zettel in mein Amulett gelegt? Ich wollte dir nur sagen, dass ich es schön fand.»

Lana lächelte ihn an. Er tat nichts dergleichen, runzelte nur die Stirn.

«Was soll ich gemacht haben?»

«Einen Zettel in mein Amulett gelegt. Früher. Vielleicht bei meiner Geburt?»

Er schüttelte den Kopf.

«Was für eine Scheiße reimst du dir jetzt schon wieder zusammen? Bist du völlig übergeschnappt? Ich habe gar nichts in dein verkacktes Amulett getan. Für wen hältst du mich eigentlich?»

Er drehte seinen wabbeligen Körper zurück in die Ausgangsposition und vertiefte sich wieder in die Werbebroschüre. Für ihn war das Thema erledigt.

Lana schlich zurück in ihre Kammer. Das bisschen Hoffnung auf Nähe zu ihrem Vater war schneller gestorben als eine Eintagsfliege. Nicht weinen. Nur nicht weinen. Das gönnte sie ihm nicht. Trotzdem begann sich Feuchtigkeit in ihren Augen auszubreiten und war auf dem Weg, sich zu einem reißenden Fluss zu entwickeln. Das durfte sie nicht zulassen. Das würde sie in einen Abgrund reißen, aus dem es kein Entkommen gab. Sie kniete sich auf das Kinderbett und hämmerte mit den Fäusten so lange ins Kissen, bis es ihr besserging und sich die beginnenden Tränen durch den Wutausbruch und die körperliche Anstrengung verflüchtigt und in ihre dunklen Kanäle zurückgezogen hatten wie Maulwürfe in einen Bau.

Lana legte sich auf die Matratze und betrachtete ihre Füße, die über den Bettrand hinausragten. Wieso wollte ihr Vater nichts von dem Zettel wissen? Alkoholikerdemenz? Vielleicht erinnerte er sich einfach nicht daran. Doch so weit war er noch nicht. Er war ein Säufer, fies und dumm, aber er hatte noch einen schrumpeligen Rest seines Gehirns übrig, der manchmal mit erstaunlicher Klarheit funktionierte. Was gab es dann für einen Grund? Auf dem Zettel stand ohne Zweifel: In Liebe, dein Vater. Sie hatte nur einen Vater. Oder hatte das Amulett früher einem anderen Kind gehört? Aber auch das konnte nicht sein. Sie hatte es schon immer besessen und ihr Geburtsdatum war eingraviert.

Die Schrift, dachte sie. Die Schrift würde es zeigen. Eine Handschrift war ein Persönlichkeitsmerkmal. So einzigartig wie die Iris eines Menschen. Ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Auf Zehenspitzen, damit Vater sie nicht hörte, schlich sie in die Küche. Ihre Mutter saß am Küchentisch. Sie beugte sich über ihr Endgerät, kabellose Kopfhörer in den Ohren. Die Sitzposition betonte den leichten Buckel, den sie in den letzten Jahren bekommen hatte. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie ganz ohne Alkohol erloschen. Das Leben hatte sie einfach so niedergedrückt, ohne richtigen Grund und ohne schlimmes Ereignis. Nur Tristesse. Teigwaren kochen, ihrem Mann aus dem Weg gehen, mit dem übrig gebliebenen Geld etwas Vernünftiges einkaufen. Sie musste keine Drogen nehmen, war auch so wie auf einem nie endenden, natürlichen Dormicum, dröge und ermattet.

Ihre Mutter blickte nicht auf, als Lana die Küche betrat. Entweder war es ihr gleichgültig oder sie hatte ihre Tochter nicht gehört. Neben den Küchenschränken stand ein kleines Regal, auf dem Rechnungen und sonstige Papiere herumlagen. Sie hoffte, dort etwas zu finden, das ihr Vater geschrieben hatte.

Nun hatte ihre Mutter sie bemerkt, drehte in der für sie typischen Abgespanntheit den Kopf zu Lana. Ohne die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen, sagte sie: «Schatz, gehst du mir nachher Zigaretten kaufen?»

Außer ihrer Mutter rauchte kaum jemand. Rauchen war vorbei. Es war in den letzten Jahren aus der Mode gekommen. Die Wenigen, die noch pafften, taten es zu Hause, gepeinigt von heimlicher Verschämtheit. Lana nickte und durchwühlte einen Stapel Zettel.

«Suchst du etwas?»

Ihre Mutter nahm die kabellosen Kopfhörer heraus und legte sie auf den Tisch. Ein schwacher Fettgeruch stieg Lana in die Nase, obwohl sie fast nie mit Öl kochten oder brieten. Es war der Geruch von früher, als sie noch Geld für Fleisch übrig hatten und sich der ölig-stinkende Duft von Gebratenem in den Wänden und der Decke abgelagert hatte.

«Ach, nichts Besonderes. Ich suche eine Notiz von mir.»

Sie fand eine Rechnung, an deren Rand ihr Vater Lek mich am Arsch! geschrieben hatte. Sie griff sich das Papier, ließ ihre Mutter in der Küche sitzen und kehrte in ihre Kammer zurück. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, der ihr als Schreibtisch diente, und begann, die beiden Schriften zu vergleichen. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit, und waren doch grundverschieden. Die aus dem Amulett war viel runder, harmonischer. Das Gekritzel ihres Vaters krakeliger, mühevoller.

Es war nicht Sandro, der den Zettel geschrieben hatte.

Ihr Herz begann zu pochen. War das, was sie schon immer gespürt hatte, wahr? Gehörte sie wirklich nicht in diese Familie und der verwaschene Mann sieben Meter Luftlinie von ihr entfernt war gar nicht ihr alter Herr? Gab es einen anderen Vater, der ihr diesen Zettel geschrieben hatte? Ihr richtiger Erzeuger?

Lana stand auf. Sie zitterte, verließ die Kammer und ging durch den Flur ins Badezimmer. Sie schloss die Tür ab und betrachtete sich im verkratzten Spiegel.

Ich bin keine Malizzo, dachte sie. Ich bin keine verdammte Malizzo. Sie war nicht Teil dieser kaputten Familie. Das war eine Erleichterung. Doch wer war sie dann?

Sie strich sich mit beiden Händen die Haare nach hinten, band den Zopf neu und seufzte. Sie wusste, dass sie es herausfinden musste. Das war sie sich selbst schuldig.

2

Das ist der erste Eintrag meines neuen Tagebuchs, das ich mir extra für das Experiment besorgt habe und das in seiner Beschaffenheit hervorragend dazu passt. Es ist ein gebundenes Büchlein aus grau-weißem Recyclingpapier, das nicht sonderlich schön, dafür nachhaltig ist.

Die Sommer scheinen immer heißer zu werden. Das ist jetzt schon der fünfte Rekordsommer in Folge. Viele meiner Kollegen haben davor gewarnt. Kyoto, Paris, all diese Konferenzen und Vereinbarungen, aber genützt hat es nichts. Nicht einmal die große Pandemie hat etwas bewirkt. Das Klima verändert sich weiterhin auf dramatische Weise. Es gibt immer schlimmere Wetterextreme. In Kalifornien brennen wieder einmal die Wälder. Hamburg, Venedig und anderen Küstenstädten droht das Ersaufen. Wie schade das wäre, schade um die vielen Kulturstätten, schade um die Menschen, die ihr Zuhause verlieren. Ich hoffe, dass das, was wir machen, auch darauf einen Einfluss haben wird.

Wir haben das Projekt vor genau drei Wochen gestartet. Und bis jetzt ist es alles andere als ein Erfolg. Die drei Testgruppen haben die Dörfer bezogen und auch die Referenzgruppe steht unter Beobachtung.

Als die Testpersonen zur abgemachten Zeit ankamen, inspizierten sie zuerst den Platz. Einige knieten sich hin, nahmen Gras oder Erde in die Hände. Es sah aus wie ein Ritual. Paare hielten sich an den Händen, lachten und flüsterten sich erste Eindrücke zu. Andere schauten in ihrer Nervosität mit unruhigem Blick umher und wippten mit den Füßen auf dem Erdboden.

Aber das ist normal, die Teilnehmer des Projektes kannten einander vorher nicht. Es war wie bei einer Schulklasse, die sich das erste Mal sieht. Es lag eine unsichere Spannung in der Luft. Wie Tiere mussten sie sich zuerst beschnuppern und kennenlernen. Also sprach ich zu ihnen, stellte mich vor die Gruppe und versuchte, wie ein lieber Onkel zu reden, der ihnen Halt gibt. Sie beruhigten sich, hörten mir zu. Einige schrieben sogar mit. Dann bezogen sie die kleinen Häuser, die nur wenige Quadratmeter messen.

«Waaaas, so klein?», monierten sie. «Da hat ja mein Hund eine größere Hütte.»

Aber das gehört halt zum Testdesign dazu. Das kann ich nicht ändern. In den folgenden Tagen nahmen sie die Arbeit auf und begannen, die Felder zu bestellen. Wir standen ihnen mit Rat zur Seite. Aber noch haben sie Mühe, den Alltag so umzusetzen, wie wir wollen. Jeden Tag kommen Bewohner zu uns und tauschen sich mit uns aus. Sie sagen, die Häuser seien zu winzig, oder beklagen sich, sie seien es nicht gewohnt, auf dieses und jenes zu verzichten.

«Ich hätte gerne ein Flatscreen für mein Haus. Es ist langweilig hier. Das macht mich unruhig. Ich bin doch kein Affe, der an einem Tierversuch teilnimmt», äußerte ein Mann mit einem Schnurrbart, der in seinem vorherigen Leben als Schuhverkäufer gearbeitet hatte. Ich beruhigte ihn, mahnte zur Geduld.

Aber ich gestehe auch ein, dass ich sie verstehe. Es ist schließlich nicht einfach, etwas so Radikales zu probieren. Das braucht seine Zeit. Es sind pro Dorf hundert Menschen, die sich freiwillig (und gegen eine angemessene Bezahlung) für das Projekt gemeldet haben. Hundert ist die optimale Zahl für Gemeinschaft und Veränderung. Wir nennen sie darum auch «Centen». Bevor wir mit dem Experiment anfingen, mussten die Teilnehmer die Lebenszufriedenheits-Skala ausfüllen. Das ist ein psychologischer Test, bestehend aus fünf Fragen. Bewertet wird mit einer Punktzahl von 1 bis 7. Neben neurologischen Untersuchungen sind diese Tests ein guter Weg, um die Zufriedenheit der Teilnehmer abzuschätzen. Schulter an Schulter saßen sie an den Tischen, als sie den Bogen ausfüllten. Sie rissen Witze: «Warum brauche ich das? Mir geht es doch schon gut.»

Ich nickte nur, lächelte und spürte bei ihnen auch Stolz, dass sie bei unserem Projekt dabei sind.

Wir beobachten die Dörfer mit Wachsamkeit und begleiten sie, so gut wir können, indem wir präsent sind. Wir betrachten, geben Antworten auf Fragen. In der Anfangsphase braucht es diese intensive Betreuung. Ich bin froh, dass ich über ein Team von so engagierten Wissenschaftlern verfüge, die mich dabei unterstützen. Sebastian ist dabei und vor allem auch Alena. Sie ist ein Genie, hat ein gutes Auge für Gruppendynamiken und erkennt schnell, wer welche Rolle in der Gruppe übernimmt und wo wir später eventuell eingreifen müssen. Ich glaube, ihr gefällt die Arbeit. Sie strahlt, wenn sie neben mir im Gras sitzt, einen Schluck Wasser trinkt und ihren khakibraunen Sonnenhut richtet.

Wenn ich am Abend ins Bett gehe, bin ich unglaublich dankbar, dass es mit dem Projekt geklappt hat und wir auch die finanziellen Mittel auftreiben konnten. Aber halt! Ich verliere mich im Überbau. Wie gesagt, läuft noch nicht alles prächtig in den Dörfern. Es gibt Konflikte und die Menschen haben Mühe, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Über Jahre gewöhnten sie sich daran, immer mehr zu haben, zu konsumieren und ihre Smartphones und das Internet für fast alles zu konsultieren. Jetzt sieht ihr Alltag anders aus. Und mit dieser Freiheit und den veränderten Anforderungen an sie als Menschen müssen sie zuerst einmal zurechtkommen. Es wirkt wie ein Entzug. Sie haben das Gefühl, ihnen würde etwas fehlen, und sie werden missmutig und abweisend. Vorgestern hat eine Frau mit wallender Mähne, sie heißt Monique, eine andere ältere Frau, Birte, auf dem Platz im Dorfzentrum beschimpft.

«Du arbeitest nicht richtig. Verdammt nochmal, alles muss man selbst machen. Ich hab die Schnauze voll!», schrie sie und ihre Augen funkelten vor Bosheit.

Sie kamen zu uns und wir haben in einem Gespräch versucht, gemeinsam Lösungen zu finden. Für uns war klar, dass der fehlende Arbeitseinsatz von Birte nur vorgeschoben war. Menschen, denen es nicht gut geht, finden oft ein beliebiges Thema, an dem sie sich abreagieren können. Immerhin gaben sich die beiden Frauen zum Schluss des Gesprächs die Hand. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen diesen Entzug überwinden. Es braucht eine Übergangsphase, bis sie sich auf das Projekt einlassen können. Und das werden sie sowieso müssen. Das Ziel ist es, fünf Jahre so zu leben. Da haben sie noch genug Zeit.

Aber ich komme ins Fabulieren. Es ist schon nach 22 Uhr. Ich bin hundemüde und gehe jetzt schlafen, was wir übrigens nicht in den Dörfern selbst tun. Das wäre ein Eingriff in das Experiment. Wir haben es uns in Wohnwägen gemütlich gemacht. So können wir auch schnell und bequem zwischen den Orten wechseln. Ich bin gespannt, wie es weitergeht und ob wir alles in den Griff bekommen. Ich setze all meine Hoffnungen in das Projekt. Es muss einfach gelingen.

3

Lana schlich auf Zehenspitzen zurück in ihr Zimmer. Seit jeher bewegte sie sich so durch die Wohnung, dass der Trinker im Wohnzimmer möglichst nichts bemerkte. Sie wollte ihm keinen Anlass geben, sie zu rufen. Sie nahm den Brief ihres Vaters und das Amulett vom Schreibtisch und schob alles in ihre schwarze Stofftasche mit den aufgedruckten, weißen Totenköpfen.

Sie verließ ihre Kammer, schlich durch den Flur und, ohne ein Geräusch beim Öffnen und Schließen der Tür zu hinterlassen, schlüpfte sie ins Treppenhaus.

Als sie hinaus auf die Waldmannstrasse trat, schlug ihr die klebrige Hitze wie eine Welle entgegen. Sie erschwerte das Atmen und ließ die Menschen schlurfen. Niemand hatte bei neununddreißig Grad im Schatten mehr die Energie, etwas mit Schnelligkeit zu tun. Die langsamen Bewegungen waren Selbstschutz, sonst ermüdete man in Rekordtempo und rang nach Luft wie ein Lungenkranker.

Lana ging auf dem Gehsteig die Straße hoch, vorbei an anderen Hochhäusern und tristen, grauen Betongebäuden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren hinter einem nicht allzu hohen, dicken Metallzaun zwei Gleise in den Boden eingelassen. Manchmal fuhr die Straßenbahn hier vorbei. Doch, seit sich die Bewohner des Stadtteils diese Art des Verkehrs kaum noch leisten konnten, immer seltener. Private Firmen hatten sich vor ein paar Jahren den bis dahin öffentlichen Verkehr gekrallt. Lana erinnerte sich an einen Livestream, in dem der strahlende, gefrackte Bürgermeister mit einer großen Schere ein Band zerteilt und Hände geschüttelt hatte. Seitdem vergammelten die Gleise, die Preise für Fahrkarten stiegen und die Mittellosen wie Lana gingen meistens zu Fuß. Sie sah die Kirche, die nur entfernt einem Gotteshaus ähnelte. Die katholische Kirche St. Mauritius hatte, zumindest von außen, den Charme einer Lagerhalle. Einst waren Kirchen Wahrzeichen gewesen, aber im letzten Jahrzehnt durch die Monumente der neuen Götter ersetzt worden. Selbst von hier aus konnte Lana bei gutem Wetter den Cowden-Tower sehen. Jedes Kind wusste, dass der Turm weit über hundert Meter hoch war und dem Unternehmen Cowden Inc als Europazentrale diente. Er sah aus wie eine Reihe aufeinandergestapelte, leicht verschobene Klötzchen, von denen jeweils drei Seiten verglast und eine Seite voller grüner Pflanzen waren. Aus architektonischer Sicht konnte die erodierende Institution Kirche mit ihren Lagerhallen und Backsteinhäusern nicht mehr mit den prunkvollen Firmenzentralen mithalten. Aber wer besuchte überhaupt noch eine Messe? Lana kannte niemanden persönlich.

Als sie beim Zentrum Betlehem ankam, einem beinahe toten Ladenareal, sah sie die Gruppe schon von weitem. Es waren fünf Jungs, die den Parkplatz vor dem Zentrum zum Hauptort ihres Seins erkoren hatten. Sie standen unter einem dunkelgrauen Vordach und lehnten sich an die Außenwand des Gebäudes. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, sie suchten Schatten. Ein Endgerät prügelte harte Beats und eine computerisierte Stimme in die Luft hinaus.

Lanas Bruder Marco war mit zwanzig Jahren bereits auf bestem Weg, seinem Vater als überflüssigen Menschen harte Konkurrenz zu machen. Lana empfand vor allem Verachtung für ihn. Aber wahrscheinlich war er ja gar nicht ihr Bruder. Die Vorstellung, dass sie die gleichen Gene teilten, hatte sie immer angewidert, und darum spürte sie jetzt beim Näherkommen nichts als Erleichterung. Sein Schädel war kantig und er hatte die trüben, blauen Augen seiner Mutter geerbt. Sie sahen oft so aus, als würden sie tränen. Seine Haare trug er kurz, am Hinterkopf rasiert. Seine liebsten Freizeitbeschäftigungen waren Herumhängen, Krafttraining, Pornos und Videos schauen, in denen Menschen anderen Menschen wehtaten. In dieser Reihenfolge.

«Schaut mal, wer da kommt, Bros. Wenn das nicht mein Schwesterchen ist.»

Nathan, Sebo, und Kev musterten sie mit abschätziger Miene. Ihre Muskeln und Schweißränder zeichneten sich unter den zu engen T-Shirts ab. Was fing man nur mit solchen Muskeln an? Sie waren an Maschinen in Flatrate-Fitnessstudios trainiert worden, waren groß, voller Wasser, aber ohne echte Kraft. Sie waren geschaffen worden, um auf eine bestimmte Art auszusehen, nicht zum echten Gebrauch. Lana presste die Lippen zusammen und zeigte Marco den Stinkefinger. Der lachte.

«Wann wirst du endlich ein bisschen netter zur Krönung der Schöpfung?»

Lana näherte sich der Gruppe und rief: «Wenn ich echte Männer vor mir habe, keine kleinen Kinder, die meinen, mit ein bisschen Pumpen würde man zum Mann.»

Das saß. Marcos Kopf wurde rot, die Venen am Hals füllten sich mit Blut und sahen wie kleine Schlangen aus. Er konnte sich nicht vor seinen Freunden von einer Frau beleidigen lassen.

«Weißt du eigentlich, dass du eine unfickbare Fotze bist?»

«Zumindest für dich ganz bestimmt.»

Sie drehte sich von ihnen ab und schlenderte um die Ecke zur Vorderseite des Zentrums. Hinter ihrem Rücken hörte sie Marco fluchen. An leeren Schaufenstern hingen vergilbte «Zu vermieten»-Schilder. Früher gab es hier eine Apotheke, einen Billigladen und ein Schuhparadies. Doch nur die Discounter hatten überlebt. Comigro, hervorgegangen aus einer Fusion von Migros und Coop, war die letzte verbliebene Schweizer Supermarktkette. Lana hatte damals mit anderen Kindern des Viertels am Straßenrand gestanden und beobachtet, wie sie die orangefarbenen Migros-Leuchtlettern vom Dach schraubten und durch das neue Logo ersetzten. Jetzt herrschte im Zentrum Betlehem Leerstand, nichts hatte überlebt außer dieser einen Comigro-Filiale, in der die Menschen ihre Sozialgelder für Weißbrot, Margarine und Bier ausgaben. Das reichte zum Überleben, für viel mehr nicht.

Lana marschierte die Riedbachstrasse hoch, bis sie die Kreuzung erreichte. Dort, wo die Feller- auf die Riedbachstrasse traf, hatte früher eine kleine Industriefirma ihr Lager betrieben. Heute war es eine Brache mit ein paar Zäunen, davor ein Schotterparkplatz.

Und dort stand er: Der grüne Wagen.

Ein Farbfleck inmitten der Düsternis. Es war ein ehemaliger Bauwagen, grün angestrichen und umgebaut zu einer Garküche. Durch ein aufklappbares Fenster in der Seitenwand reichte Cica das Essen. Es gab Nudeln mit einer asiatisch angehauchten Soße. Immer. Nur dieses eine Gericht. Sie hörte seine Stimme schon von weitem.

«Lana, Schätzchen, es freut mich ja sooo, dass du mich besuchen kommst.»

Eigentlich hieß er Manolo, Cica war sein Spitzname, die Abkürzung von Cicatrice, was auf Französisch Narbe bedeutete. Und das hatte einen berechtigten Grund: Der linke Teil seines Gesichts schmückte ein Unterteller großes Wundmal, das aussah wie ein Geflecht. Er war noch schlimmer gezeichnet als Lana mit ihrem hängenden Auge. Es gab niemanden, der die Vernarbungen nicht anstarrte, wenn er Cica zum ersten Mal sah. Sogar Lana bewunderte sie hin und wieder, obwohl sie ihn schon seit Jahren kannte.

«Wie geht es dir, Hübsche? Hast du Hunger?»

Wann immer er in der Lage war, gab Cica ihr von seinen Nudeln ab, die er gleich hier an Ort und Stelle kochte. Das Mahl war keine kulinarische Höchstleistung, aber manchmal tat etwas Warmes im Magen gut. Im Sommer hatte er nur wenige Kunden, es war zu heiß für warme Nudeln. Der alte Bauwagen, der kein Namensschild trug und somit einfach der grüne Wagen war, gehörte dem Maghrebiner Ali Mustafi, einem Geschäftsmann aus dem Viertel, der auch zwei Lebensmittelläden betrieb. Er schickte Cica jeden Tag los, um Nudeln mit einer Soße zu kochen, die größtenteils aus Glutamat und anderen künstlichen Stoffen bestand. Ali war nie persönlich anwesend und nahm sich am Ende der Woche die Hälfte der Einnahmen. Den Rest überließ er Cica.

«Irgendwann einmal steche ich diesen aufgeplusterten Drecksack ab», pflegte Cica zu sagen. Er liebte es, spezielle Begriffe wie aufgeplustert zu verwenden, die sonst niemand nutzte. Oft passten sie nicht und er verwendete sie falsch, aber er störte sich nicht daran. Heute trug Cica grüne, kurze Hosen, ein violettes Hemd und, wie immer bei der Arbeit, eine braune Schürze.

«Nein, danke. Ich habe keinen Hunger. Ich bin gerade meinem Bruder und seinen Freunden begegnet. Das hat mir den Appetit verdorben.»

Ein Wagen mit der Aufschrift Kurier 24 fuhr an ihnen vorbei. Lana betrachtete das kleine weiße Auto. Es war nur eine Frage der Zeit, bis selbstfahrende Fahrzeuge den Verkehr dominierten. Es wunderte sie, dass es nicht schon längst passiert war. Dann bräuchte es auch die Kurierfahrer nicht mehr und sie würden in den Armenhäusern der Stadt landen.

«Soll ich ihn für dich etwas bearbeiten?», fragte Cica. Er rührte in seiner Nudelpfanne und sein narbiges Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

«Nein, lass nur. Er kann nichts dafür, dass er ohne Hirn geboren wurde. Außerdem bin ich mir nicht mehr sicher, ob er wirklich mein Bruder ist.»

«Was sagt da mein kleines Mädchen? Wie kommst du darauf, dass er nicht dein Bruder ist?»

Cica war der einzige Freund, den sie hatte. Ihm konnte sie reinen Wein einschenken und sie brauchte jemanden, um über die Botschaft im Amulett zu sprechen.

Vor dem grünen Wagen standen vom Wetter ausgebleichte Sonnenschirme und Lana stellte sich in den herrlichen Schatten, der sie wie ein Kühltuch vor dem erbarmungslosen Himmelskörper schützte. Dafür war sie jetzt der Hitze der Garküche ausgesetzt. Für Cica am Herd musste es höllisch heiß sein.

«Ich habe eine Botschaft von meinem Vater gefunden», murmelte sie, nachdem sie ihm ein paar Sekunden bei seiner Küchenarbeit zugesehen hatte.

«Dein Vater kann schreiben?»

Cica hatte ihren Vater Sandro bisher nur selten gesehen. Er war bei ihnen zu Hause nicht willkommen. «Diese Schwuchtel kommt mir nicht ins Haus», knurrte ihr Vater, wenn das Gespräch auf ihn kam. Aber Cica wusste von Lana, was er für ein Mensch war.

«Nicht dieser Vater. Es war eine andere Handschrift und in meinem Amulett versteckt.»

«Im silbernen, klobigen Klunkerchen?»

«Genau, in dem.»

Sie holte den Zettel hervor, faltete ihn auseinander und reichte ihn Cica. Er studierte ihn in höchster Konzentration. Seine Augenlider zuckten dabei.

«Du meine Güte, war dein Vater eine Art Prophet?» Er las den Text noch einmal und fragte dann: «Was hältst du davon?»

«Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist irgendwie sonderbar. Eine Zeichnung einer Gasse, ein Zitat über das Böse und das alles von meinem angeblichen Vater. Vielleicht hat er das Bild selbst gezeichnet und es ist eine Botschaft an mich. Was denkst du?»

Cica kratzte sich am Kopf und strich durch sein braunes, lockiges Haar.

«Ich frage mich, wieso man so etwas einem Baby ins Amulett legt. Das macht man doch nicht einfach so. Sonst hätte er ja seinen ganzen Namen schreiben können und dir einen Brief hinterlassen, in dem er erklärt, wieso er nicht bei dir sein konnte. So Zeugs halt. Etwas fürs Herz. Doch nicht eine Zeichnung und so ein Zitat. Ich werde aus der Sache nicht schlau.»

Lana musterte Cica und dachte nach. Wie ihr Vater wohl aussah? Hing sein Augenlid auch? Hatte sie die rostroten Haare, ihre feinen Wangenknochen, die dünnen Augenbrauen und den zierlichen Körperbau von ihm geerbt? Sie hätte sich selbst nie als hübsch bezeichnet. Nicht nur aufgrund der roten Haare, sondern vor allem wegen des Auges. Ihr linkes Lid senkte sich über den Rand des Sehorgans hinab. Das war angeboren und zur Kompensation hob sie manchmal das Kinn, da ein Teil ihres Sichtfelds eingeschränkt war. In der Schule war sie dafür oft gehänselt worden. Zudem hatte sie einen kleinen, festen Busen und entsprach damit so gar nicht dem Schönheitsideal ihrer Generation: den Pornofrauen mit vollen Ärschen, Tätowierungen und massiven Brüsten, die mit kaum vorhandener Kleidung in Musikvideos tanzten, die ihr Bruder mit lüsternem Vergnügen verschlang. Sie verzog die Lippen zu einem Schmunzeln. Cica bemerkte es.

«Ist was?»

«Ich habe nur überlegt, wie mein Vater wohl aussieht. Meinst du, er lebt noch und ist irgendwo da draußen?»

«Ich denke schon, er müsste so zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein. Warum sollte er da nicht mehr leben?»

Ein Mann in einem grauen T-Shirt aus Synthetikstoff kam auf den grünen Wagen zu. Als er neben Lana stand, sah sie den großen Schweißfleck, der sich auf seinem Rücken in Ei-Form gebildet hatte. Er bestellte eine Flasche Wasser. Cica reichte ihm eine. Der Mann bezahlte und entfernte sich wieder.

«Wo waren wir stehen geblieben, Schätzchen?», fragte Cica.

«Bei meinem Vater.»

«Ach ja. Komm, wir suchen ihn. Wenn er noch lebt, finden wir deinen Vater. Das ist so eine Art Detektivspiel und wird sicher generös.»

«Ich weiß nicht … wo sollen wir anfangen?»

«Ach, komm schon, du bist doch nicht dumm. Wir starten natürlich mit der Zeichnung. Als Erstes müssen wir herausfinden, was das für eine Gasse sein soll. Sieht mir stark nach der Innenstadt aus, muss irgendwo dort sein, wo die Touristen rumlaufen. Vielleicht hatte die Straße eine bestimmte Bedeutung für ihn oder er wohnt dort.»

Cica rührte wieder mit einem großen Holzlöffel in seiner Pfanne. Es roch nach gebratenen Nudeln und der braunen Soße, die Ali und er als Asia-Soße verkauften, aber deren genauen Inhalt sie den Kunden nicht verrieten, und das war vielleicht auch besser so. Dafür kosteten die Nudeln nicht allzu viel.

«Wollen wir uns während meiner Zimmerstunde wiedertreffen und herausfinden, wo die Gasse ist? Hol mich um zwei hier ab. Dann habe ich drei Stunden Zeit.»

Lana nickte und machte sich auf den Weg nach Hause. Als sie sich noch einmal zu Cica umdrehte, beugte er sich durch die Klappe des Wagens nach draußen und warf ihr eine Kusshand zu. Lana winkte ihm als Antwort. Was für ein guter Mensch. Sie teilten die Andersartigkeit, waren beide Außenseiter, die in kein Schema passten. Vielleicht hatte sie ihn auch deshalb so gerne, und weil er schon lange für sie da war. So wie das erste Mal, als sie ihn sah. Er war wie ein Engel aus der Dunkelheit gekommen und hatte sie gerettet. Das würde sie ihm nie vergessen.

Als sie in ihrer traurigen Kammer ankam, zog sie sich erst einmal um. Das schwarze Trägershirt war verschwitzt und roch nach Asia-Soße. Wenn man zu lange beim grünen Wagen herumstand, nahm man sofort den charakteristischen Geruch an. Lana setzte sich auf ihr Bett und schaute Simone de Beauvoir in die Augen.

«Was meinst du? Was wollte mir mein Vater mit der Botschaft sagen?»

Lana ließ sich auf das Bett fallen und schloss die Augen. Jetzt war sie fast ganz alleine. Nicht einmal mehr eine Familie war ihr geblieben. Da sie keine gute Beziehung zu ihrer bisherigen Familie hatte, war das kein großer Verlust, keine niederschmetternde Erkenntnis. Und doch bereitete ihr das Angst. Ihre Brust waberte, als wäre sie eine Luftakrobatin, deren Sicherungsseil auf einmal fehlte. Sie wusste, wie das Kunststück auszuführen war, aber doch fehlte eine letzte – wenn auch nur dünne – Sicherung. Das machte sie zittrig. Und da war noch etwas anderes, eine eigentümliche Energie befeuerte sie. Sie brauchte einen Moment, um es zu erkennen: Zuversicht, die sich mit gehörigem Respekt anschlich. Hoffnung auf ein neues Leben, Hoffnung auf eine andere, gebildete Familie, Hoffnung auf eine rosige Zukunft.

Doch sie war sich nicht sicher, was sie von diesem Gefühl halten sollte. Ihr bisheriges Dasein hatte sie gelehrt, dem vermeintlich Guten nicht trauen zu dürfen, weil es am Ende doch meistens wie bei einem Burger eines Schnellrestaurants war: In der Werbung sah das Fleisch saftig, der Käse fließend und der Speck knusprig aus, aber wenn man dann hineinbiss, schmeckte der Burger wie koloriertes Styropor und verursachte nichts als Bauchweh. Hoffnung war für Menschen wie sie gefährlich. Das wusste sie seit ihrer Kindheit.

4

Es war einer dieser fürchterlich heißen Sommer gewesen, als die zehnjährige Lana den festen Entschluss fasste, nie mehr in ihrem Leben zu weinen. Sie war an jenem Tag ohne Ziel durch die Straßen geschlurft, offen für eine nächste kindliche Spielgelegenheit, die sich an einem Mäuerchen oder einer leeren Konservendose auftat. Zuerst hatte sie es nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Einen Haufen. Etwas Dunkles lag neben den Müllcontainern am Straßenrand. Sie schaute genauer hin. Schweiß lief ihr unter dem T-Shirt über die mageren Rippen hinab. Neben den Containern hatte jemand Reste eines Wohnungsinventars abgestellt, damit die Müllmänner sie mitnahmen. Die Neugier zog Lana dichter zu dem Haufen hin. Erst als sie dort ankam, merkte sie, mit welcher Aufdringlichkeit sich der Gestank aus den metallenen Behältern verbreitete. Die Hitze ließ die Speisereste in den Müllsäcken in wahnwitzigem Tempo verwesen. Lana stellte sich vor, wie sich im Innern der Container kleine, weiße Würmer schlängelten. Sie traute sich nicht, einen Deckel zu öffnen, um nachzusehen, hielt den Atem an, weil es so stank. Es würgte sie und sie wünschte sich einen Mundschutz herbei, wie ihn manchmal Menschen in der Innenstadt trugen. Sie schlurfte zum Sperrmüllhügel. Wie ein Gipfelkreuz ragte etwas aus dem Müll heraus, es hatte Knöpfe zum Drehen, einen Hals und Lana wusste sofort, was es war: eine Gitarre, eingegraben in diesen Berg von Überresten. Ihr Blick erfasste eine einsame Saite, sie berührte das Ende des Instruments, streichelte über den perfekt gerundeten Hals, zog an der Gitarre, aber sie steckte fest wie eine verklemmte Schraube. Lana blickte auf, suchte in den Fenstern der umliegenden Hochhäuser nach beobachtenden Augen. Nichts konnte in diesem Viertel auf der Straße getan werden, ohne dass jemand hinter einem Vorhang hervorblinzelte. Doch zu ihrer Überraschung sah sie niemanden, keine Gardine raschelte, nur Sonnenstrahlen wurden von den Fensterscheiben zurückgeworfen, die das Mädchen blendeten. Trotzdem schlich sich in ihre Zellen das Gefühl, sie würde etwas nehmen, das ihr nicht gehörte, sie täte etwas Verbotenes, und das ließ sie zögern. Aber es war ja nur Müll, beruhigte sie sich, und so begann Lana dann doch, das Instrument mit der nötigen Sorgfalt freizulegen. Stück für Stück trug sie poröse Regalbretter, Metallschrott und verdreckte Plastikschüsseln ab. Als sie fertig war, musterte sie ihren Fund, dessen lackierte Oberfläche in der Sonne glänzte. Der holzige Gitarrenkörper war zum Glück außer ein paar Kratzer heil, es fehlten lediglich die Saiten, bis auf eine. Lana strahlte und war ganz versunken in die Betrachtung des Holzwunderwerks in ihren Händen, denn sie hatte eine seltene Ausbeute gemacht. Sie war kein Kind, das mit Geschenken überhäuft wurde. Das hier war etwas Besonderes. Sie nahm ihren reparaturbedürftigen Schatz in beide Hände und trug ihn mit einer Zärtlichkeit, als würde sie eine verletzte Katze bergen, nach Hause.

Als Lana dort ankam, nahmen ihre Mutter in der Küche und ihr Vater im Wohnzimmer wie üblich keine Notiz von ihr und so bemerkten sie auch nicht, was das Kind mitschleppte. In ihr Kinderzimmer schleichend, hatte sie bereits einen Plan im Kopf, was sie als nächstes tun würde. Am Kornweg wohnte ein alter Mann, der manchmal vor seinem Häuschen saß und mit einer ebensolchen Gitarre spielte. Sie hatte ihn bei Streifzügen durch das Viertel beobachtet. Er sah nett aus, mit seinem grauen Bart und dem runzligen Gesicht. Ihn wollte sie besuchen und ihm das Instrument zeigen. Er wusste sicher, was damit zu tun wäre.

Als sie am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, schlang sie zuerst verkochte Teigwaren herunter und machte sich dann auf den Weg zum Kornweg. Ihr Herz klopfte im Stakkato, als sie auf die Klingel drückte. Es dauerte eine kindliche Ewigkeit, bis das freundliche Gesicht im Türrahmen erschien.

«Guten Tag, junge Dame. Wie kann ich dir helfen?», fragte der Mann. Mit neugierigem Blick musterte er das Saiteninstrument, das sie in der rechten Hand hielt.

Lana nuschelte: «Ich habe das gefunden und ich möchte spielen lernen.»

Der alte Mann hob seine Augenbrauen.

«Ich hab dich nicht verstanden, Kleine. Kannst du etwas lauter sprechen?»

Sie wiederholte es.

«So, du willst Gitarre spielen lernen. Das ist schön, aber da kann ich dir nicht helfen. Ich kann selbst nicht gut genug spielen, um es jemandem beizubringen, und außerdem ist deine Gitarre kaputt.»

Lana ließ den Kopf hängen, nickte und drehte sich um. Ohne noch einmal zurückzuschauen, ging sie nach Hause. Die Enttäuschung schmerzte.

Zu Hause angekommen, bemerkte ihr Vater das Instrument.

«Was willst du mit dem Sperrmüll?», ging er sie an. Er lachte über seinen fauligen Witz. Als er sich beruhigt hatte, brummte er: «Geh in dein Zimmer. Ich kann dich hier nicht gebrauchen.»

Sie stapfte, die Gitarre fest in der Hand, in ihre Kammer. Seine Lieblosigkeit störte sie nicht, sie war nichts anderes gewohnt. Sie war froh, dass er ihr die Gitarre nicht weggenommen hatte. Im Zimmer bettete sie ihren Schatz wie ein zerbrechliches Kristallglas auf ein Kissen und schaute ihn minutenlang an. Es war zu schön, um wahr zu sein. Sie besaß eine Gitarre. Eine echte Gitarre!

Am nächsten Tag ging sie wieder zu dem alten Mann und klingelte. Er öffnete die Tür, sie fragte: «Können Sie mir das Spielen beibringen?» Dabei blickte sie auf die Zupfgeige in ihren Händen.

«Kleine, ich kann dir wirklich nicht helfen», sagte der graubärtige Alte. Lana nickte, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort wieder nach Hause. Am nächsten Tag kam sie erneut, am übernächsten auch. Nach einer Woche sagte der alte Mann: «Hör mal, du kannst nicht jeden Tag herkommen. Ich kann dich hier nicht gebrauchen und ich kann und will dir auch nicht helfen.»

Lana schaute den Mann an, blickte in seine grünen Augen, auf die grauen Haare. Er hatte ein gutes Herz und irgendwann einmal würde er weich werden, das wusste sie.

«Okay», antwortete sie und trottete zum x-ten Mal vom Kornweg nach Hause. In der Hand trug sie die Gitarre mit der einen Saite. Als sie die Haustür hinter sich schloss und ihr Vater ihre Schritte im Flur hörte, rief er aus dem Wohnzimmer: «Da kommt ja unsere große Musikerin. Kann auf diesem Holzscheit keinen Ton spielen, aber läuft herum, als wäre sie in einem Orchester. Du bist schon eine selten dämliche Göre.»

Von diesem Tag an klingelte Lana nicht mehr an der Tür des alten Mannes. Stattdessen lungerte sie am Kornweg herum und wartete darauf, dass er sich auf der blauen Holzbank vor seinem Häuschen niederließ und seine eigene Gitarre zum Klingen brachte. Oft kam er nicht. Aber wenn er kam, versteckte sie sich hinter der Ecke eines Nachbarhauses und beobachtete ihn. Er spielte flüchtige Töne oder eine Melodie, manchmal summte er dazu. Er versank in seinem Tun und Lana bewunderte ihn aus der Ferne.

An einem Tag im August, die Sommerferien hatten inzwischen begonnen, hörte sie seine Stimme: «Ich sehe dich, Mädchen. Ich weiß, dass du da stehst. Komm doch zu mir und setze dich auf die Bank. Dann hörst du es besser.»

Lana erschrak, wollte wegrennen. Doch sie tat es nicht und blieb wie angewurzelt stehen. Schließlich setzte sich ihre kindliche Neugier gegen den Fluchtimpuls durch und sie näherte sich dem Mann in zaghaften, fast verschämten Schritten.

«Es tut mir leid», stammelte sie. «Ich möchte das einfach so gerne lernen.»

Sie deutete auf die Gitarre. Der alte Mann nickte, spielte eine Melodie. Seine rauen Fingerkuppen drückten mit Präzision auf die metallenen Saiten.

Er legte das Instrument ab und sagte: «Mein Name ist David. Ich werde es dir unter einer Bedingung lehren.»

Lana schaute ihn mit großen Augen an. Er kicherte.

«Keine Angst, nichts Schlimmes. Du übst einfach jeden Tag. Ist das abgemacht?»

Er streckte ihr seine Hand hin. Lana lächelte und legte ihre kleine Hand in die große, mit Altersflecken übersäte von David. Und dann begannen sie mit dem Unterricht. Er machte ihr einen Akkordgriff vor, reichte ihr seine Gitarre und Lana spielte das erste Mal in ihrem Leben mit einem Instrument. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Am nächsten Tag nahm sie ihre eigene Gitarre mit und am Tag danach hatte David die Saiten ersetzt und das Instrument gestimmt. Er zeigte Lana, wie man es nach Gehör stimmte und lehrte ihr die ersten Akkorde: A-Dur und E-Moll. Er spielte nur mit diesen zwei Akkorden ein Liedchen. Und von da an übte Lana jeden Tag in ihrer Kammer und verbesserte ihre Fähigkeiten in erstaunlichem Tempo.

«Kleine Mädchen und Jungen sind die geborenen Lerner», bemerkte David nach der fünften gemeinsamen Übungsstunde. Innerhalb eines halben Jahres spielte sie ein Dutzend Akkorde und übte sich an Tonleitern und einfachen Riffs. Einmal pro Woche ging sie zu David und er brachte ihr seine bescheidenen Gitarrenkünste bei. Noch nie war jemand so nett zu ihr gewesen. Den Herbst und Winter über träumte sie davon, Musikerin zu werden.

Es war ein kalter Februartag, als dieser Traum wie ein an die Wand geworfener Schneeball zerbarst. In zwei Monaten würde Lana elf Jahre alt werden. Draußen schneite es. Einmal mehr. Die Sommer waren brutal heiß, die Winter nicht weniger extrem. Oft schneite es meterhoch und Stürme tobten durch die Straßen. Manchmal war es so kalt, dass die Autos nicht mehr ansprangen. Lana übte seit einer Stunde Tonleitern, als ihr Vater die Kammer betrat. Das tat er sonst nie. Er verließ das Wohnzimmer meist nur, um neuen Wodka zu besorgen. Er riss die Tür auf.

«Hörst du mal mit diesem verdammten Lärm auf!», brüllte er mit hochrotem Kopf. Lana stoppte das Spiel, schaute zu ihm auf. In bedrohlicher Haltung und mit geballten Fäusten baute er sich vor ihr auf.

«Hast du das Gefühl, du bist etwas Besseres als wir anderen?»

«Nein, Papa.»

«Was machst du dann da? Glaubst du, du könntest irgendeinmal dieses verpisste Ding spielen? Ich sag dir was: Dieser Lärm geht mir so was von auf den Sack. Du wirst nie etwas auf die Reihe bekommen und schon gar nicht Musik machen. Gib sie her.»

Lana schaute ihn mit Entsetzen an. Sie flüsterte: «Nein.»

Der Kopf ihres Vaters rötete sich noch mehr.

«Du gibst mir sofort diese Gitarre!»

Lanas Herzschlag geriet in Aufruhr.

«Nein, Papa, bitte nicht», flehte sie.

Mit einer für einen Alkoholiker erstaunlich schnellen Bewegung entriss er ihr die Gitarre. Das Instrument in der einen Hand griff er mit der anderen nach dem Handgelenk des Kindes. Er zog sie vom Bett und schleifte sie ins Wohnzimmer. Dort angekommen, ließ er sie los, marschierte auf die dunkelbraune Kommode zu und zertrümmerte die Gitarre. Einfach so. Er schlug mit einer solchen Wut zu, dass die faserigen Einzelteile in alle Richtungen flogen. Lana hielt sich die Ohren zu, wollte schreien, konnte nicht und dann kamen die heißen Kindertränen, die aus ihr herausbrachen wie ein Sturm. Sandro war fertig und setzte sich auf seinen angestammten Platz auf dem Sofa, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.

---ENDE DER LESEPROBE---