Das vergessene Lied - Leni Behrendt - E-Book

Das vergessene Lied E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Dem Kalender nach war es Frühlingsanfang, in der Natur jedoch noch tiefer Winter. Es schneite lustig und unaufhörlich in großen dichten Flocken. Blitzschnell setzten sich Millionen weißer Sternchen auf die Schutzscheibe des rasch dahinrollenden Autos, so daß die beiden Scheibenwischer es kaum schaffen konnten, die weißen Störenfriede hinwegzufegen. Dazu tobte ein Sturm, daß selbst der schwere Wagen nur mit Mühe die gerade Fahrtrichtung halten konnte. Dieses unvorschriftsmäßige Wetter war zwar nichts Ungewöhnliches in Ostpreußen: Man war daran gewöhnt, daß der Frühling immer auf sich warten ließ, manchmal sogar bis in den Mai hinein. Allein den Besitzer des eleganten Wagens schien das rauhe Wetter irgendwie zu beunruhigen; denn tiefe Besorgnis lag in seinem Blick, der immer wieder hinausschweifte. Fürchtete er sich etwa vor dem Schneetreiben? Er fürchtete sich tatsächlich, so sonderbar das auch anmuten mochte. Allerdings nicht für sich; er war an die rauhe Witterung gewöhnt. War in Norddeutschland geboren, als zweijähriger Knabe mit seinen Eltern nach Ostpreußen gekommen und dreiundzwanzig Jahre unausgesetzt dort geblieben. Wenn er sich jetzt vor dem rauhen Winter fürchtete, so geschah es um des neunjährigen Mädchens willen, das, fest in seinen Arm geschmiegt, mit nachtdunklen Augen in das weiße Flockengewirr hinaussah. Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem schwarzen Lockenköpfchen hin. Jetzt wandte die Erzieherin sich den beiden hinter ihr Sitzenden zu, und ihre grauen Augen, das einzig Schöne an diesem unscheinbaren Menschenkind, ruhten mitleidig auf dem Gesicht des Mannes. »Sie machen sich wirklich zuviel unnötige Sorgen, Herr Uhde«, sagte sie in der ihr eigenen Ruhe, die immer so angenehm berührte. »Graziella ist kerngesund, wie die Untersuchung des Berliner Professors erwiesen hat; sie wird daher den Klimawechsel ohne Schaden überstehen. Zumal sie ja auf der langen Seereise und in Berlin schon andere Luft geatmet hat als in Brasilien.« »Ich wünschte, Sie behielten recht«, seufzte der Mann. »Sie wissen nicht, was mir das Kind bedeutet.«

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Leni Behrendt Bestseller – 10 –

Das vergessene Lied

Leni Behrendt

Dem Kalender nach war es Frühlingsanfang, in der Natur jedoch noch tiefer Winter. Es schneite lustig und unaufhörlich in großen dichten Flocken. Blitzschnell setzten sich Millionen weißer Sternchen auf die Schutzscheibe des rasch dahinrollenden Autos, so daß die beiden Scheibenwischer es kaum schaffen konnten, die weißen Störenfriede hinwegzufegen. Dazu tobte ein Sturm, daß selbst der schwere Wagen nur mit Mühe die gerade Fahrtrichtung halten konnte.

Dieses unvorschriftsmäßige Wetter war zwar nichts Ungewöhnliches in Ostpreußen: Man war daran gewöhnt, daß der Frühling immer auf sich warten ließ, manchmal sogar bis in den Mai hinein. Allein den Besitzer des eleganten Wagens schien das rauhe Wetter irgendwie zu beunruhigen; denn tiefe Besorgnis lag in seinem Blick, der immer wieder hinausschweifte. Fürchtete er sich etwa vor dem Schneetreiben?

Er fürchtete sich tatsächlich, so sonderbar das auch anmuten mochte. Allerdings nicht für sich; er war an die rauhe Witterung gewöhnt. War in Norddeutschland geboren, als zweijähriger Knabe mit seinen Eltern nach Ostpreußen gekommen und dreiundzwanzig Jahre unausgesetzt dort geblieben.

Wenn er sich jetzt vor dem rauhen Winter fürchtete, so geschah es um des neunjährigen Mädchens willen, das, fest in seinen Arm geschmiegt, mit nachtdunklen Augen in das weiße Flockengewirr hinaussah. Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem schwarzen Lockenköpfchen hin.

Jetzt wandte die Erzieherin sich den beiden hinter ihr Sitzenden zu, und ihre grauen Augen, das einzig Schöne an diesem unscheinbaren Menschenkind, ruhten mitleidig auf dem Gesicht des Mannes.

»Sie machen sich wirklich zuviel unnötige Sorgen, Herr Uhde«, sagte sie in der ihr eigenen Ruhe, die immer so angenehm berührte. »Graziella ist kerngesund, wie die Untersuchung des Berliner Professors erwiesen hat; sie wird daher den Klimawechsel ohne Schaden überstehen. Zumal sie ja auf der langen Seereise und in Berlin schon andere Luft geatmet hat als in Brasilien.«

»Ich wünschte, Sie behielten recht«, seufzte der Mann. »Sie wissen nicht, was mir das Kind bedeutet.«

Doch, Fräulein Agathe wußte es. Sie war Zeuge der glücklichen Ehe gewesen, die Uhde mit Graziellas Mutter in Brasilien geführt hatte, nachdem sie durch den Tod ihres Mannes de Avido Witwe geworden war.

Fräulein Agathe hatte die Bemühungen der Donna Elvira um den Deutschen miterlebt, von dem sein Onkel erzählt hatte, daß eine Frau ihn aus seiner Heimat vertrieben hätte und daß er diese Frau noch immer nicht vergessen könnte.

Da hatte Donna Elvira mitleidig gelächelt. Den Mann wollte sie einmal sehen, der ihrer Schönheit und ihrem Charme nicht unterläge. – Tatsächlich war der blonde Deutsche ihr Gatte geworden, und sie hatte an seiner Seite das Glück gefunden, das sie schon immer ersehnt und erträumt hatte. Ob er jedoch restlos glücklich gewesen war, das hatte Fräulein Agathe nie ergründen können; dazu war der Mann zu beherrscht und verschlossen. Auf jeden Fall hatte er seine Frau verwöhnt und ihr jeden Wunsch erfüllt, und seine Trauer war tief und echt gewesen, als die glückselige Frau schon im zweiten halben Jahr ihrer Ehe von einer tückischen Krankheit dahingerafft wurde.

Schwere Wochen und Monate waren gefolgt, in denen Fräulein Agathe der gute Geist des prunkvollen Hauses, das ohne die Herrin so öde und leer er­schien, wurde. Sie war es auch, die dem ruhelosen Mann geraten hatte, wieder in die Heimat zurückzukehren und so alles hinter sich zu lassen, was ihn peinigte und quälte. Das hatte er zuerst entschieden von sich gewiesen. Er wollte doch seine Stieftochter Graziella, das Vermächtnis der Toten, nicht zurücklassen, zumal das Kind mit seinem ganzen leidenschaftlichen Herzen an ihm hing. Und diese verzärtelte fremde Blume, das Kind spanischer Eltern, nach dem rauhen Norden zu verpflanzen, war ihm damals unmöglich erschienen. Aber als er erfuhr, daß das Rittergut, auf dem sein Vater Verwalter und später Inspektor gewesen war, zum Verkauf stände, war sein Freund, Rechtsanwalt Dr. Greißner, auf schnellstem Wege beauftragt worden, das Gut um jeden Preis für Uhde zu erwerben. Und als dann endlich die Nachricht von dem glücklichen Gutskauf gekommen war, da hatte der allzeit beherrschte Mann geweint wie ein Kind.

Die Vorbereitungen zur Reise waren dann mit solcher Eile und Eindringlichkeit betrieben worden, als gälte es, keine einzige Stunde mehr zu versäumen. Die Erzieherin Fräulein Agathe und Otto Wicht, ein nach Brasilien ausgewanderter Deutscher, wurden mit hin­übergenommen.

*

Als das Auto in die mit Blutbuchen umsäumte Allee einbog, die zur Herrschaft Rotbuchen führte, lief ein junger Mann wie aufgescheucht kurz vor dem Wagen auf die andere Seite und verschwand hinter den dicken Stämmen.

»Wer war das?« fragte Graziella.

»Ich weiß es nicht, Liebling«, antwortete Uhde. »Es sah bald so aus, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte.«

Einige Minuten später hielt man vor dem Portal des Herrenhauses, an dem es von Menschen förmlich wimmelte.

Die Beamten und Arbeiter, die Förster mit ihren Gehilfen, alle waren hier versammelt, um den neuen Besitzer zu empfangen. Selbst der Lehrer mit seiner kleinen Gutsschule fehlte nicht.

Da sah er es wieder, das Herrenhaus von Rotbuchen, das er stets mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet hatte und das ihm als schönstes und vornehmstes Haus weit und breit erschienen war. Und jetzt sollte er der Herr in diesem Haus sein, das er einst nur bei besonderen Anlässen und nie ohne Herzklopfen betreten hatte? Das war ein Gedanke, an den er sich erst gewöhnen mußte.

Langsam stieg er, Graziella an der Hand, die Freitreppe empor und kam in die hohe weite Halle, die er als Knabe immer mit einem so feierlichen Gefühl betreten hatte, als ginge er in die Kirche.

Tief ergriffen streckte er der treuen Tante Mienchen, die mitten in der Halle stand, die Hand entgegen. Sie war in seinem Leben gewesen, solange er denken konnte. Hatte als treue, selbstlose Gehilfin seiner Mutter zur Seite gestanden und war nach seines Vaters Tode in ein Stift gegangen.

Uhde hatte sie von Brasilien aus schriftlich gebeten, nach Rotbuchen zu kommen und seinem Hause vorzustehen. Doch als er sie jetzt vor sich sah, klein und unscheinbar, ängstlich und scheu, da zweifelte er, daß das gute Mienchen die rechte Repräsentantin seines Hauses sein würde.

»Auf ein glückliches Leben in Deutschland, Tante Mienchen.« Er stellte Graziella und Agathe vor. – »Und nun, Tante Mienchen, zeigst du uns vielleicht einmal das ganze Haus.«

Freudig ging Tante Mienchen voran, und Uhde folgte mit Graziella und ihrer Erzieherin.

Es war wirklich alles so eingerichtet, wie er es von Brasilien aus angeordnet hatte. Das hatte sich ja leicht machen lassen, weil ihm die Räume des Hauses genau bekannt waren. Und selbst er, der doch im Hause seiner Frau von Pracht und Schönheit umgeben gewesen war, fand an seinem neuen Hause nichts auszusetzen.

»Das war hier vielleicht ein Wirrwarr!« erzählte Mienchen. »Sogar ein Architekt war hier, der das Haus eingerichtet hat. Das muß ja ein sündhaftes Geld gekostet haben! Hast du dabei auch keine Schulden gemacht, Olaf?«

Er stritt das belustigt ab, und selbst das stille Fräulein Agathe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken bei der Zumutung, daß der Erbe der Donna Elvira bei der Einrichtung eines Landhauses Schulden gemacht haben könnte.

»Na, Prinzeßchen, alles zu deiner Zufriedenheit, hm? Gefällt es dir?« wandte er sich an Graziella.

»Oh, Papi, sehr! Ich möchte hier nie wieder fort. Hier ist es noch schöner als bei uns.«

»Wir sind hier bei uns, mein Kleines. Hier ist deine zweite Heimat.«

»Und meine erste?«

»Ist die Heimat deiner Mutter, mein Kind.«

»Die lebt aber nicht mehr – und du lebst. Also ist dieses meine Heimat. Von der anderen will ich nichts wissen.«

»Das kann ja gut werden!« seufzte er halb bestürzt, halb erheitert auf. »Doch darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Vor allen Dingen wollen wir uns zuerst einmal umkleiden und dann feststellen, was für ein Festessen Tante Mienchen uns anrichten lassen wird. Aber noch vor der Mahlzeit möchte ich mir meine Arbeit etwas ansehen.«

Er hieß Fräulein Agathe und Graziella, sich weiter mit dem Haus vertraut zu machen, und ging hinüber in sein Arbeitszimmer. Wohlgeordnet lagen auf seinem Schreibtisch Akten und Wirtschaftsbücher. Doch trotz aller Ordnung fand er sich nicht in ihnen zurecht.

Uhde überlegte einige Sekunden, dann drückte er auf die Klingel.

»Sie wünschen mich zu sprechen, Herr Uhde?«

Der Mann am Schreibtisch fuhr herum – sprang auf – und ein Ausdruck maßloser Überraschung ging über sein Gesicht. Unwillkürlich beugte er sich vor, um besser sehen zu können.

»Sie hier –?«

»Sie haben mich doch zu sprechen gewünscht«, sagte das Mädchen.

»Ich warte hier auf meine Privatsekretärin.«

»Die bin ich, Herr Uhde.«

Man sagte Uhde nach, daß er sich eisern beherrschen konnte – und in diesem Augenblick gab er eine glänzende Probe davon. Was andere, weniger beherrschte Menschen hätte fassungslos werden lassen, tat er mit einem kurzen Aufblitzen der Augen ab – das der Sekretärin allerdings sehr viel verriet.

»Das ist allerdings eine ungeahnte Überraschung, gnädige Frau – oder noch Fräulein Grall?« fragte er sehr langsam und merkwürdig betont.

»Letzteres, bitte! Und nun eine Frage, Herr Uhde: Wünschen Sie das Angestelltenverhältnis mit mir zu lösen?«

Nun dauerte es doch einige Sekunden, bis er antwortete. Er schien erst mit etwas fertig werden zu müssen, das ihn stark beschäftigte – und dabei verhärtete sein Gesicht sich mehr und mehr, wurden seine Augen kalt und glitzernd.

»Durchaus nicht, Fräulein Grall. Ich habe sämtliche Angestellten meines Vorgängers übernommen. Warum sollten Sie da eine Ausnahme machen? Herr Härtner, der mir einen genauen Bericht über Rotbuchen sandte, hat Sie mir als tüchtige, zuverlässige Kraft geschildert. Es war wohl nur Zufall, daß Ihr Name dabei nicht genannt wurde. Jedenfalls bitte ich Sie, in meinen Diensten zu bleiben.«

Nach diesen kühlen, geschäftsmäßigen Worten war es eine Weile sehr still. Olaf Uhde und Iris Grall standen sich gegen­über wie zwei Menschen, die sich zum erstenmal sehen. Und doch war der Mann um dieses Mädchens willen vor sechs Jahren aus der Heimat geflohen, um in einem abenteuerlichen Leben Vergessen zu suchen.

*

»Heino, woher kommst du denn?« fuhr Iris Grall erschrocken auf, als der Bruder so ganz unerwartet und in völlig erschöpftem Zustand ins Zimmer taumelte. »Du siehst ja furchtbar aus!«

»Ich – ach, Iris, – ich –«, stöhnte er und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. Seine Hand, mit der er die Mütze vom Kopf ziehen wollte, zitterte so heftig, daß er sie wieder sinken lassen mußte. Behutsam nahm die Schwester ihm die Mütze ab, klappte auch den Pelzkragen herunter und sah nun in ein todblasses, verzerrtes Gesicht und in flehende, angstvolle Augen.

»Heino – lieber Heino –«, sagte sie leise und strich ihm den blonden Haarschopf zurecht. »Ist es sehr schlimm, was ich da wieder zu hören bekomme?«

Da umklammerte er sie mit beiden Armen. Der kraftvolle Körper wurde von einem harten, stoßweisen Schluchzen förmlich hin und her geworfen. Sie ließ ihn eine Weile gewähren, dann bat sie gequält: »Heino, so sprich doch endlich! Bist du etwa wieder von deiner Lehrstelle fortgelaufen?«

Ein heftiges Nicken, dann sah er auf. In dem Jungen Gesicht stand jetzt Trotz – und trotzig klang auch seine Stimme, als er sagte: »Ja, ich bin ausgerissen – auf der Stelle, Knall und Fall. Soll ich mir etwa gefallen lassen, daß man mich des Diebstahls beschuldigt?«

»Heino –!!!«

»Jawohl, gestohlen soll ich haben, Iris. Kannst du das von mir glauben?«

»Das kann doch nur ein Irrtum sein. Um welche Summe handelt es sich denn?«

»Um zwanzig Mark.«

»Und ausgerechnet du sollst sie genommen haben?«

»Ja, gerade ich! Weil ich der jüngste Lehrling bin, bei dem man nicht jedes Wort auf die Waage zu legen braucht. Ich habe ihnen aber zu verstehen gegeben –«

»Heino, du bist doch nicht etwa unhöflich gewesen?« unterbrach sie ihn vorwurfsvoll. Da brauste er auf.

»Gewiß bin ich das gewesen! Ich werde mir doch nicht ohne weiteres eine ehrenrührige Handlung nachsagen lassen! In dem Betrieb weiß nämlich einer vom anderen nichts, und einer sucht seine Schuld auf den anderen zu wälzen. Selbst wenn der Irrtum sich aufklären sollte, gehe ich nicht mehr zurück. Nein, Iris, ich tue es nicht – und wenn du mich deswegen noch so vorwurfsvoll ansiehst!« setzte er trotzig hinzu.

»Heino, es ist deine dritte Lehrstelle in einem halben Jahr. Was soll aus dir werden, wenn du es so weitertreibst? Man muß sich ja schämen, deinem Vormund unter die Augen zu treten.«

»Und ihr sollt euch schämen, mich in einen Beruf zu zwängen, der mir durchaus nicht liegt!« trumpfte er auf. »Gebt meiner Bitte nach und laßt mich Landwirt werden! Dann habe ich einen Beruf, der mir Freude macht, und werde euch nie mehr Anlaß zur Klage geben.«

»Immer noch das gleiche Lied, Heino. Du weißt doch, daß du nicht Landwirt werden kannst. Sieh das doch endlich mal ein, und mache mir mit deinem törichten Wunsch nicht das Leben so schwer! Ein Landwirt ohne Grund und Boden hat es furchtbar schwer, Junge.«

»Ein Kaufmann ohne Vermögen wohl nicht?«

»Heino, du bist fürchterlich in deiner Beharrlichkeit! Hast du dich noch immer nicht mit deinem Schicksal abgefunden?«

»Nein – und das werde ich auch nie! Am wenigsten, wenn ich einem Beruf nachgehen soll, der mir verhaßt ist. – Fünfzehn Jahre hindurch hat man mich in den Glauben gelassen, daß ich der Erbe Rotbuchens sei, hat mich zu den größten Ansprüchen erzogen –«

»Heino, mir ging es doch auch nicht anders als dir«, unterbrach die Schwester ihn hastig. »Glaubst du etwa, daß es mir Freude macht, als Sekretärin mein Leben zu verbringen? Aber es muß sein, darum füge ich mich. Was sollte wohl aus uns werden, wenn ich mich so anstellen wollte wie du?«

»Verzeih mir, Iris«, bat er zerknirscht und umhalste sie stürmisch. »Ist schon wieder gut. Ich werde in meine Lehrstelle zurückkehren – dir zuliebe, weil du dir so große Mühe mit mir gibst.«

Das klang so in sein Schicksal ergeben, daß es der Schwester ins Herz schnitt.

»Das sollst du nicht eher, als bis ich mit deinem Lehrherrn gesprochen habe«, begütigte sie. »Jetzt beruhige dich erst einmal, dann wollen wir beraten, was wir am besten tun. Hast du überhaupt schon Mittag gegessen?«

»Nein – ich bin seit morgens unterwegs.«

»Und jetzt haben wir Kaffeezeit! Wo bist du denn so lange gewesen, Junge?«

»Och – so ein bißchen herumspaziert –«, versuchte er auszuweichen. Allein die Schwester sah ihm so ernst in die Augen, daß er die seinen davor senken mußte. Dabei stieg ihm tiefe Röte bis in die Stirn.

»Nun, Heino? Mich kannst du doch nicht täuschen. Ich sehe doch deine Erschöpfung, deine jammervolle Verfassung. Wie soll ich dir helfen können, wenn du mir nicht alles sagst?«

»Iris – ich – ich schämte mich so sehr, nach – Hause zu kommen –«, bekannte er so leise, daß sie sich zu ihm neigen mußte, um ihn verstehen zu können. »Ich habe mich auf einen Kilometerstein gesetzt und würde wahrscheinlich noch dort sitzen – wenn – wenn Uhdes Auto nicht gekommen wäre und mich durch sein Hupen aufgescheucht hätte.«

»Hat Uhde dich erkannt?« fiel Iris hastig ein.

»Nein! Ich bin schnell aufgesprungen und davongelaufen. Das fehlte gerade noch, daß mich dieser – Eindringling angesprochen hätte!«

»Heino, jetzt wirst du aber kindisch!« Die Schwester schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du etwa vor, deine Abneigung gegen Härtner auf Uhde zu übertragen, nur weil er jetzt der Besitzer Rotbuchens ist?«

»Gewiß! Er sitzt warm und weich auf dem Platz, auf den ich eigentlich gehöre. Ach, Iris, ich möchte davonlaufen, weit – weit weg, um das alles nicht mehr mitansehen zu müssen!«

»Und ich werde zusehen, daß du etwas zu essen bekommst, damit deine weltschmerzliche Stimmung nachläßt«, entgegnete sie trocken und verließ rasch das Zimmer.

Eine Weile später kam sie in Begleitung Jettchens wieder, die mit viel Liebe und Umsicht das kleine Haus und seine wenigen Bewohner betreute. Sie trug ein besetztes Tablett in den Händen, und ein forschender Blick ging zu dem Jüngling hinüber.

»Nun, Heino, wieder einmal zu Hause?« begrüßte sie ihn harmlos, während sie das Geschirr hinstellte und flink den Tisch deckte.

Heino brummte etwas, was wohl einen Gegengruß bedeuten sollte, und starrte unentwegt weiter zu dem Fenster hinaus, an dem er stand. Erst als die Schwester ihn ansprach, fuhr er herum und setzte sich an den Tisch.

Während die Geschwister aßen, ging Iris’ Blick verstohlen zum Bruder hin.

Es war nicht das erstemal, daß er so vor ihr saß, unzufrieden mit sich und seinem Geschick. Aber diesmal schien er besonders verbittert zu sein. Er konnte es eben nicht verwinden, daß er Kaufmann und nicht Landwirt werden sollte; konnte sich nicht damit abfinden, daß nun ein anderer Herr Rotbuchens war, an das er ein heiliges Recht zu haben glaubte.

Daran trug hauptsächlich der Vater die Schuld, der seine beiden Kinder in diesem Geist erzogen hatte. Deswegen war es ihnen doppelt schwergefallen, sich nach dem Zusammenbruch mit dem neuen Leben voll Not und Entbehrung abzufinden.

*

»Ich habe etwas Eiliges zu erledigen«, sagte Uhde, als Iris zu ihm ins Arbeitszimmer trat. »Hoffentlich habe ich Ihre Mittagszeit nicht zu sehr verkürzt?«

»Nein!« antwortete sie ihm mit demselben kühlen Ton in der Stimme.

Dann sprachen sie über geschäftliche Dinge.

Es war mehr als eine Stunde darüber gegangen, als Rechtsanwalt Greißner nach kurzem Klopfen das Zimmer betrat. Sein Gesicht spiegelte peinliche Verlegenheit wider, als er die Privatsekretärin neben dem Gutsherrn gewahrte.

»Willkommen in der Heimat, Olaf!« rief er dann, schnell gefaßt, und schüttelte dem Freund kräftig die Hände. »Laß dich mal anschauen, alter Junge! Potztausend, du bist ja ein Bild von einem Kerl geworden! Ich freue mich unbändig, daß du wieder da bist. Hast auch höllisch lange auf dich warten lassen!«

Iris wollte das Wiedersehen der Freunde nicht stören; sie zog sich unauffällig in das Nebenzimmer zurück, einen mäßig hohen Raum, in dem sie bisher gearbeitet hatte. Sie wußte nicht recht, ob sie gehen oder bleiben sollte. Aber ihre Dienststunden waren ja noch nicht um; da konnte es doch leicht sein, daß Uhde sie noch zu sprechen wünschte.

So machte sie sich denn an die Arbeit, die es ja immer reichlich für sie gab. Leider unterhielten sich die Freunde so laut und lebhaft, daß sie durch die geschlossene Tür jedes Wort verstehen konnte.

Wie peinlich das war! Aber für sie nicht zu ändern; sie mußte während der Dienstzeit auf ihrem Platz verharren. –

»Wieder zu Hause zu sein – was für ein wundersames Gefühl das doch ist!« hörte sie soeben Uhde sagen. »Sämtliche Palmen und Zypressen können mir gestohlen bleiben – jetzt will ich mich wieder einmal an Tannen und Eichen sattsehen!«

»So schlimm war das Heimweh, Olaf?«

»Noch schlimmer, Oskar! Eine wahre Höllenfolter! In der ersten Zeit ließ es sich noch von all dem Neuen, Nie­geschauten verdrängen, und dann hielt mich meine Ehe mit tausend Banden fest –«

Er schwieg, und der Freund sah ihn mitleidig an. »Der Tod deiner Gattin ist dir wohl sehr nahe gegangen, du armer Kerl, wie?«

»Allerdings! Wäre meine kleine Stieftochter nicht gewesen, die mit ganzem Herzen an mir hängt, wer weiß – doch so hielt mich noch immer die Verantwortung, die ich dem Kind gegenüber habe. Ich wußte, daß Graziella mit mir alles verlieren würde.«

»Wie lange ist eigentlich deine Frau tot?«

»Fast zwei Jahre.«

»Und warum kamst du da nicht gleich in die Heimat zurück?«

»Zuerst fehlte es mir an der nötigen Willenskraft, um mein Leben zu ändern. Dann fürchtete ich auch, daß meine Tochter das rauhe Klima hier nicht vertragen könnte. Doch als du mir schriebst, daß Rotbuchen verkäuflich sei, da waren alle Bedenken wie weggeweht, da war nur noch der übermächtige Wunsch in mir, auf schnellstem Wege in die Heimat zurückzukehren. Und wenn Graziella unser Klima vertragen sollte, dann will ich diese Ungeduld segnen, jeden Tag aufs neue.«

»Wo ist eigentlich Fräulein Grall geblieben?« fragte Greißner nach einer längeren Gesprächspause.

»Sie wird nach Hause gegangen sein. Warum hast du mir nichts davon geschrieben, daß sie Privatsekretärin in Rotbuchen ist?«

»Weil ich fürchtete, daß dich das am Heimkommen hindern könnte; denn schließlich bist du ja um dieses Mädchens willen ins Ausland gegangen. Ich bin zwar kein Arzt – und ein Seelenarzt schon gar nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, daß es nicht guttäte, eine Wunde wieder aufzureißen, weil sie sich dann nie schließe. Und die Wunde, die du damals davontrugst, schien bedenklich schwer zu sein. Wenn ich dir da noch viel über Iris Grall geschrieben hätte, so wäre das eben ein solches Wiederaufreißen der gefährlichen Wunde gewesen.«

»Du bist ein guter Kerl, Oskar«, sagte Uhde warm. »Aber deine Rücksicht wäre nicht nötig gewesen, weil ich bald über meinen damaligen Kummer hinweggekommen bin. Ich habe in Graziellas Mutter so vollkommen mein Frauenideal gefunden, daß ich der Art einer Iris Grall gewiß keinen Geschmack mehr abgewinnen kann.«

»Dann sage ich: Gott sei Dank!« atmete der Freund befreit auf. »Da hätte ich mir bestimmt nicht so schwere Gedanken darüber zu machen brauchen, wie ich dir am geschicktesten beibringen könnte, wer deine Privatsekretärin ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie ihre Stellung sofort aufgeben müssen; denn ein erquickliches Zusammenarbeiten wird es kaum zwischen euch werden. Die Art, wie sie dich damals abfallen ließ, war doch immerhin so beleidigend, daß ein Mann das kaum jemals ganz verwinden könnte.«

»Du irrst, Oskar. Fräulein Grall ist mir jetzt genauso gleichgültig wie jede andere Sekretärin.«

»Das ist ja großartig! Da hätte ja dann alles wunderbar geklappt, und mein Zittern und Zagen um deine Seelenruhe ist unnötig gewesen. Hat es dich wenigstens überrascht, deine einstige Angebetete als deine Privatsekretärin wiederzusehen?«

»Das kann ich allerdings nicht leugnen. Ich wollte mich nämlich hier gleich tatendurstig in die Arbeit stürzen und vertiefte mich zu dem Zweck sofort in die Akten, die musterhaft geordnet auf meinem Schreibtisch lagen. Trotzdem waren sie mir ein Buch mit sieben Siegeln. Und da ich hörte, daß meine Sekretärin mir darüber genaue Auskunft geben könnte, ließ ich die Dame herrufen – in der ich selbstverständlich niemals Iris Grall vermutet hätte. Ich glaubte sie doch längst mit Almrudt verheiratet. Wie kommt es überhaupt, daß dieses verwöhnte, hochmütige Mädchen Gutssekretärin geworden ist?«

»Das ist in wenigen Worten gesagt, Olaf; denn es ist viel zu bekannt, als daß es noch ein Geheimnis wäre: Zusammenbruch der Finanzen, weil Herr Grall schon immer über seine Verhältnisse gelebt hatte – und sich durch einen reichen Schwiegersohn gesund zu machen hoffte. Da muß er aber doch bei dem Almrudt gründlich vorbeigetippt haben, denn die Heirat kam nicht zustande. Man munkelt sogar, daß Gralls Hände nicht ganz – sauber waren, und daß er in Machenschaften steckte, die große Ähnlichkeit mit – Betrug hatten. Jedenfalls ging er allem, was unweigerlich folgen mußte, aus dem Wege, indem er sich eine Kugel durch den Kopf schoß. Die Frau rührte darüber der Schlag, so daß sie jetzt noch an den Rollstuhl gefesselt ist. Die Hauptleidtragenden waren jedoch entschieden die beiden Kinder. Aus der schönen, vergötterten Iris wurde eine Sekretärin – und der Junge, der auf Wunsch seines Vaters schon als kleiner Knirps von den Gutsleuten als späterer Herr respektiert werden mußte, macht sich jetzt als Kaufmannslehrling recht unbeliebt.

Das alles hat damals – fünf Jahre sind es wohl her – viel Staub aufgewirbelt. Man gönnte allgemein den hochmütigen Leuten ihr trauriges Geschick – hauptsächlich der selbstherrlichen Iris, die erfahren mußte, wie weh es tut, wenn der Bräutigam die Braut kaltlächelnd sitzenläßt, um eine andere zu nehmen, die ihm der Erbonkel aussuchte. Du bist also glänzend gerächt, Olaf. Das Schicksal hat da wieder einmal gerechte Vergeltung geübt.«

»Da hat das Schicksal sich diesmal umsonst angestrengt; denn ich spüre keinerlei Rachegelüste in meiner Brust«, gab Uhde gelassen zurück. »Ich hätte der einst so gefeierten Iris Grall weiß Gott ein besseres Los gegönnt.«

»So willst du sie also als deine Privatsekretärin behalten?«

»Ganz entschieden! Herr Härtner schrieb mir übrigens in den begeistertsten Worten von seiner Sekretärin; er schilderte sie mir als außerordentlich tüchtig. Da wäre ich ja ein Trottel, wenn ich mich um diese tüchtige Kraft brächte.«

*

Plötzlich schrak Uhde von seiner Arbeit auf, denn im Nebenzimmer wurde eine Tür geräuschvoll geöffnet und eine polternde Männerstimme bot einen Gruß. Und zu seiner Überraschung hörte der Mann auch die unwillige Stimme seiner Sekretärin.

»Sie kommen hierher, Herr Mollgeit?«