Das Verhängnis begann in der Scala - Jürg Seiler - E-Book

Das Verhängnis begann in der Scala E-Book

Jürg Seiler

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Beschreibung

Ein offiziell für tot erklärter Mafiaboss, Don Aldo Rumpolo, geniesst sein luxuriöses Leben, doch stellen sich mehr und mehr Rückschläge bei seinen Geschäften ein. Auch sein Finanzberater ist beunruhigt, er ahnt, dass irgendwo in der Organisation ein Spion sitzen muss. Dann beobachtet Luca, sein Leibwächter, bei einem Opernbesuch in der Scala von Mailand, wie ein junges Paar den Zuschauerraum mit der Loge des Chefs fotografiert. Ein Foto mit dem totgeglaubten Mafiaboss darf natürlich nicht an die Oeffentlichkeit gelangen, und das Handy mit dem Foto wird deshalb durch einen "Unfall" zerstört, doch Matt, der Freund von Anna und Timo bei Interpol, hat das Foto bereits erhalten. Natürlich löst es geheime, hektische Aktivität bei Interpol und den Carabinieri aus, die hier eine Chance sehen, den totgeglaubten Capo dei Capi doch noch zu fassen. Unglücklicherweise hat aber ein Spitzel erfahren, dass dieses Foto immer noch existiert und Don Aldo gewarnt. Dieser muss also sofort untertauchen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die beiden Augenzeugen seiner Existenz raschestens eliminiert werden. Während die beiden jungen Leute fröhlich und unbekümmert in die Ferien ins Tessin fahren, werden deshalb mehrere Killer auf sie angesetzt. Allerdings hat auch die Polizei davon Wind bekommen, dass das bestens gehütete Geheimnis dieses Fotos aufgeflogen ist und leitet fieberhaft Massnahmen zum Schutz der beiden ein. Ein erstes Attentat auf die Zwei kann in letzter Sekunde vereitelt werden, dann beginnt jedoch ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Jägern und Gejagten in den Hügeln und Wäldern des Malcantone. Gelingt es dabei, die beiden "Detektive" zu schützen, und welche Rolle spielt der Zettel mit der kryptischen Zahlenfolge, welche Timo in der Scala zu Gesicht bekommen hat?

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Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jürg und Susanne Seiler

Das Verhängnis begann in der Scala

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Disclaimer

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Kapitel XLII

Kapitel XLIII

Kapitel XLIV

Kapitel XLV

Kapitel XLVI

Kapitel XLVII

Kapitel XLVIII

Kapitel XLIX

Impressum neobooks

Disclaimer

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden, allfällige

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und

unbeabsichtigt. Bei den geografischen Angaben haben wir zum

Teil künstlerische Freiheit walten lassen, jedoch entsprechen die

Ortsnamen tatsächlich existierenden Dörfern und Städten.

Kapitel I

Grenze Schweiz-Italien – Spätherbst

Der alte Lastwagen quälte sich keuchend über die holprige Strasse talaufwärts gegen die Alpe Colmine. Nach den Angaben, welche der Fahrer erhalten hatte, liess sich die Grenze von Italien in die Schweiz dort ohne Aufsehen und ziemlich einfach überqueren. Mitternacht war vorbei, der Mond beleuchtete den Pfad nur schwach, und der Fahrer hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet, um nicht aufzufallen. Es war kalt, und der Beifahrer hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt, während der Fahrer hie und da seine steif werdenden Finger anhauchte, um sie wieder ein bisschen warm zu bekommen. Meistens gelang es ihm, den grössten Schlaglöchern etwas auszuweichen, aber hie und da sackte doch ein Rad unvermittelt ab und schüttelte alle Menschen an Bord gehörig durch. Während die zwei in der Fahrerkabine sich dabei noch festhalten und die Schläge etwas abfedern konnten, war dies für die Passagiere auf der Ladefläche unmöglich. Erstens waren sie dicht gepackt und ohne Möglichkeit, sich irgendwo, ausser aneinander, festzuhalten, und zweitens waren die Blachen rundherum derart festgezurrt, dass diese Menschen auch keine Sicht nach draussen hatten und deshalb von jedem Rumpler überrascht wurden. Kein Wunder, dass jeder Schlag mit einem vielstimmigen Geheul quittiert wurde, obschon der Beifahrer Mal für Mal «Ruhe» nach hinten brüllte.

«Wie lange geht das denn noch?», fragte der Beifahrer unwirsch.

«Du hast ja die Karte», gab der Fahrer zurück, «und du solltest es also selber herausfinden können.»

Der Beifahrer brummte etwas und griff nach der Karte. Seine Taschenlampe warf einen trüben Schein darauf, und er kniff die Augen zu, um die Planzeichen besser sehen zu können. Dann blickte er auf und fragte: «Hast du auf deiner Seite mal eine Kapelle gesehen?»

Der Fahrer sah rasch zu ihm hinüber und sagte: «Kann sein. Sollte ich?» Dann konzentrierte er sich wieder auf die Strasse, fluchte dann und riss unvermittelt das Steuer herum und wieder zurück. Der Lastwagen schlingerte bedenklich, und ein kurzes Gepolter zeigte an, dass einige Leute auf der Ladefläche in die Seitenplane geprallt waren. Der übliche Protest und der Ausruf «Ruhe» folgten, aber das liess den Fahrer ungerührt.

«Ich glaube, ich habe so etwas gesehen, aber du siehst ja, ich kann nicht dauernd auf alle Seiten blicken. Aber warte mal. Ist das dort vorne eine Verzweigung, gleich nach der Hütte da rechts neben der Strasse?»

Der Beifahrer beugte sich wieder über die Karte.

«Richtig! Du musst das Strässchen nach links nehmen, dann ist es noch etwas mehr als ein Kilometer bis zum übergang und zur Grenze.»

Der Fahrer gab einen unbestimmten Laut von sich, schaltete einen Gang tiefer und umkurvte ein weiteres Schlagloch, dann meinte er:

«Bin froh, wenn wir droben sind, unsere Fracht abgeladen haben und wieder in sicherer Distanz zur Grenze sind.»

«Geht mir genau gleich», stimmte ihm der Beifahrer zu. «Diese Fahrten sind einfach Stress pur, auch wenn sie bis jetzt immer problemlos zu Ende gingen. Aber manchmal habe ich schon Albträume, wenn wieder einmal die Zeitungen von einem berichten, der einen Wagen voller Leichen fuhr. Da ist man richtig froh, dass die Leute da hinten ein wenig schreien, wenn die Fahrt etwas ruppig wird.»

Der Fahrer nickte, beide schwiegen, eine Minute verging, für einige Meter tauchte der Lastwagen in ein Wäldchen ein, der Fahrer schaltete wieder hoch, dann wurde der Blick frei auf die geringfügige Delle in der sich gegen den Himmel abzeichnenden Krete.

«Aha», bemerkte der Beifahrer, «dort ist unser Ziel, noch eine Minute, und wir sind dort.»

Der Fahrer steuerte nun sein Gefährt über diesen unbenannten Pass auf die andere Seite der Hügelkette, wo die Strasse aufhörte. Zur Sicherheit fuhr er jedoch noch einige Meter in die Alpweide hinaus, dorthin, wo sich ein Fussweg abzeichnete, der kurz darauf im Wald verschwand.

«Hier sind wir ...», er wollte sagen «auf der Schweizer Seite der Grenze», als er vom Licht zweier starker Scheinwerfer geblendet wurde, und eine Stimme rief: «Schweizer Grenzpolizei, haltet eure Hände hoch und klettert langsam aus der Kabine!»

Der Fahrer hob gehorsam seine Hände hoch, doch der Beifahrer duckte sich und griff nach der unter seinem Sitz versteckten Pistole.

«Mach keinen Scheiss», knurrte jedoch der Fahrer aus dem Mundwinkel. «Du kannst die nicht alle erledigen, du kannst sie ja nicht einmal sehen hinter diesem Lichtzauber.»

Der Beifahrer richtete sich wieder auf, zuckte die Achseln und hob nun auch seine Hände. Der Fahrer öffnete die Wagentüre langsam, dann sprang er aus der Kabine auf den Alpboden.

«Nimm die Hände hinter den Kopf und komm langsam hierher … gut so, stopp.»

Der Fahrer gehorchte der Stimme, hinter ihm sprang der Beifahrer aus der Kabine und erhielt die gleichen Befehle. Sofort wurden sie von hinten gepackt, und die Handschellen klickten. Die beiden wurden unsanft zu Boden gestossen, und ein Grenzwächter stellte sich mit der Maschinenpistole im Anschlag hinter die beiden.

Der Beifahrer begann zu reklamieren: «Seid ihr verrückt, ich liege auf einem spitzigen Stein, das tut weh, verflucht nochmal.»

Der hinter den beiden stehende Grenzwächter lachte nur und sagte zu seinem Kollegen: «Oh, hast du gehört, ein Steinchen tut ihm weh, dem Armen. Können wir da was dagegen tun?»

«Ich glaube nicht», war die sarkastisch tönende Antwort, «da müssten wir ihn irgendwie zur Seite rollen, und so eine Behandlung ist ja sicher nicht menschenrechtskonform.»

«Ich kann ihm ja einen Tritt geben, so dass er ein wenig zur Seite rutscht, aber das könnte ihm einen Grund geben, uns wegen Polizeibrutalität zu verklagen, meinst du nicht auch?»

«Genau, deshalb lassen wir ihn am besten, wo er ist, er wird sich an das Steinchen gewöhnen müssen.»

In der Nähe erwachte jetzt ein Funkgerät zum Leben, die Grenzwächter machten die Verschnürung der Blachen los, und vom Tal her drang plötzlich das Geknatter der Rotoren von zwei Super Pumas herauf.

Kapitel II

Samuel, London - Herbst

Samuel Turnwell sass an seinem Schreibtisch im 17. Stockwerk des Bank Street Towers, das von den Büros der van den Berghe Financial Services Ltd. belegt war, und studierte wieder einmal intensiv die Berichte über die Enthüllungen der Panama Papers in verschiedenen Finanzzeitungen. Von Zeit zu Zeit konsultierte er eine daneben liegende dünne Akte, welche er von einem erfahrenen Fachmann hatte erstellen lassen. Es war ihm ein Anliegen, ganz zweifelsfrei festzustellen, ob nicht doch irgendwo der Name irgendeiner der unzähligen Stiftungen, Immobiliengesellschaften oder Finanzdienstleister, die sein weitreichendes und auf mannigfache Weise miteinander verwobenes Netz darstellten, in diesen Enthüllungen auftauchte. Bisher hatte er keine Hinweise darauf gefunden, dass die van den Berghe Financial Services Ltd. in diesen Papieren direkt auftauchte, oder aber indirekt über andere Firmen als deren ‘wirtschaftlich Berechtigte’ zu identifizieren war.

Im Stillen gratulierte er sich zu seinem damaligen Entschluss, nicht direkt mit der Fonseca Kanzlei in eine Geschäftsbeziehung zu treten, obschon ihm das von verschiedenen Seiten – sogar vom Boss, dem Ehrenwerten Don Aldo Rumpolo selbst – nahegelegt worden war. Er war aber in seiner ganzen Karriere als Finanzmann stets darauf bedacht gewesen, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Das hatte sich schon einmal ausbezahlt, vor wenigen Jahren, als er sein damaliges Doppelleben plötzlich hatte aufgeben müssen. Damals hatte man ihn in der öffentlichkeit eigentlich nur in seiner zweiten Existenz als Martin Kaufmann gekannt, doch ohne seine Vorsichtsmassnahmen wäre es ihm kaum möglich gewesen, so ganz spurlos unterzutauchen.

Und so war er auch hier seinen Prinzipien gefolgt: Er hatte über den Strohmann eines Strohmannes mit der Kanzlei Fonseca einen losen Kontakt aufgebaut, mit viel mündlichen Vereinbarungen und ganz wenig Schriftverkehr. So war es ihm gelungen, einerseits zwar vom weitläufigen Netz der Kanzlei zu profitieren, aber andererseits praktisch keine Spuren in deren ausführlichen Dokumenten zu hinterlassen. Obschon er also eigentlich ziemlich sicher sein konnte, dass sein Name oder der eines seiner vielen finanziellen Konstrukte in diesen geleakten Papieren nicht auftauchen würden, sagte er sich stets «Sicher ist sicher» und überprüfte von Zeit zu Zeit – wie eben gerade jetzt – minutiös die neuesten Veröffentlichungen zu diesem Thema.

Nachdem er, wie immer bisher, zum Schluss gekommen war, dass von diesen Panama Papers keine Gefahr für sein finanzielles Imperium drohte, lehnte er sich befriedigt zurück, zog die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein Glas und eine Flasche heraus. «Ein kleiner, 24-jähriger Single Malt ist da wohl ganz in Ordnung», sagte er vor sich hin und goss einen Finger breit von der goldenen Flüssigkeit in das Glas.

Bevor er jedoch dazu kam, sich einen Schluck davon zu genehmigen, klopfte es an die Türe, und Shirley Watts, seine Assistentin, trat ein. Sie war eine grosse, knochige Mittvierzigerin mit rötlichen Haaren, die auf eine irische Abstammung hindeuteten, und sie konnte es sich erlauben, nicht auf sein «Herein» zu warten. Schliesslich war sie seit vielen Jahren seine rechte Hand, und die beiden hatten keine Geheimnisse vor einander.

«Anscheinend hast du was zu feiern», meinte sie in einem ganz klein wenig sarkastischen Ton. Bevor er jedoch etwas dazu sagen konnte, fuhr sie schon fort:

«Jedenfalls nicht das, was soeben hereingekommen ist. Wir haben schon wieder eine Ladung verloren, diesmal an der Schweizer Grenze. Das nimmt langsam besorgniserregende Züge an, meinst du nicht auch?»

Samuel nickte und nahm einen Schluck, auch wenn die Lust zum Feiern auf diese Mitteilung hin augenblicklich verflogen war. Dann stand er auf, ging zum Fenster und blickte eine Weile auf die City hinunter. Schliesslich drehte er sich um, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und sagte:

«Du hast bereits beim ersten Mal angedeutet, da sei ein Maulwurf am Werk. Ich bin zur überzeugung gekommen, dass du absolut Recht hast. Den Spitzel gibt es, da besteht kein Zweifel. Aber wo sitzt er? Ich hoffe, nicht in unserer Organisation. Oder kannst du dir jemanden bei uns vorstellen, der so was täte?»

Shirley liess die rhetorische Frage unbeantwortet, meinte aber:

«Ich würde am ehesten auf jemanden tippen, der mit der ganzen Sache direkt nichts zu tun hat, der aber gewisse Kenntnisse von unseren Handelspraktiken und -routen hat. Jemanden aus der Konkurrenz, der sich zum Beispiel einen grösseren Happen des Geschäfts verspricht, oder einer, der glaubt, er habe mit unserem Boss ein Hühnchen zu rupfen.»

«Kann sein», erwiderte Samuel etwas zweifelnd. «Aber das wäre dann ein weites Feld, man könnte da unversehens in ein Wespennest greifen und böse Stiche davontragen.»

Shirley setzte sich auf die Schreibtischecke und schlug die Beine übereinander.

«Natürlich, aber etwas unternehmen müssen wir doch! Ich würde vorschlagen, einzelne Informationen gezielt nur an spezifische Stellen zu schicken und dann zu warten, welche dieser Infos geleakt werden. Das könnte die Sache doch etwas eingrenzen, was meinst du?»

«Das ist eine Möglichkeit, aber auch das bringt uns nicht viel. Was, wenn wir entdecken müssen, dass die Schwachstelle in einer Organisation ausserhalb unseres Einflussbereichs steckt? Wenn wir eine ganze Familie in der Cosa Nostra, der ‘Ndrangheta oder sonst wo als Quelle identifizieren? Wir können doch nicht zu deren Capo gehen und ihn beschuldigen, das würde nur zu bösem Blut führen, und die Konsequenzen für das gesamte Geschäft wären wohl unabsehbar.»

Shirley sah auf Samuel hinunter und blickte in sein kummervolles Gesicht.

«Ist mir auch klar. Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn du dich mal mit dem Boss unterhalten könntest. Du kannst ihm vielleicht beliebt machen, ein Treffen von allen grossen Capos, Dons, Chefs einzuberufen, auf dem das Problem mit dem Maulwurf zur Sprache gebracht werden soll. Vielleicht haben die anderen ja ebenfalls Mühe mit diesem Spitzel, wir wissen das nicht, denn sowas hängt man ja nicht gerne an die grosse Glocke.»

«Ich mache das nicht sehr gerne, du weisst, wie öffentlichkeitsscheu der Boss ist. Wir müssten uns im Geheimen treffen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas zu bewerkstelligen wäre. Vielleicht ...», doch Shirley unterbrach ihn.

«Das lass doch die Sorge von Aldo – ehm, Ernesto natürlich – sein, der wird sich schon was einfallen lassen. Schick ihm einfach eine selbstlöschende WhatsApp mit der Bitte um ein Treffen und schau, was dabei herauskommt.»

«Du hast Recht», meinte Samuel nachdenklich, «ich glaube auch, dass das die einzige Lösung ist. Allein können wir dem Spitzel kaum sein Handwerk legen, und für ein koordiniertes Vorgehen braucht es konkrete Absprachen unter all diesen Alphatieren. Also, ich mache das!»

Shirley glitt von der Schreibtischkante hinunter, schenkte Samuel ein aufmunterndes Lächeln und verliess das Büro, während Samuel zu seinem Handy griff und begann, die so wichtige Anfrage einzutippen.

Ein paar Tage später kam die Antwort: Negativ! Der Don sah keine Notwendigkeit, eine solche grosse Zusammenkunft einzuberufen, er würde das selbst zu regeln versuchen. Samuel solle einfach weiter die Augen offenhalten und ihm berichten, falls etwas Auffälliges geschehen sollte.

Samuel stöhnte. Natürlich, er würde dann schuld sein, wenn etwas aus dem Ruder laufen sollte, und der Boss würde nie zugeben, dass er von diesen Verdachtsmomenten erfahren hatte. «Na, warte nur», brummte er, «ich werde dir schon noch die Augen öffnen. Du kannst mich nicht einfach so hängen lassen, mir die Verantwortung aufhalsen, aber mich auch die Risiken tragen lassen. Rumpolo und Dinge regeln, das kennen wir doch: Eine Salve aus einer Uzi, und die Sache ist geregelt. Aber dafür musst du zuerst den Spion finden, bevor du ihn vor die Laufmündung kriegen kannst, und das dürfte nicht so einfach werden.»

Samuel schaute zu, wie sich die WhatsApp vor seinen Augen in Nichts auflöste, dann fasste er einen Entschluss. Er würde in diesem Fall selbst aktiv werden und sich mal bei einigen Kollegen aus anderen Clans, die er gut kannte, umhören, ob auch sie von derartigen Missgeschicken betroffen seien. Klar, niemand würde offiziell zugeben, dass seine Organisation unterwandert sein könnte, und jeder würde die Zuverlässigkeit seines Clans in allen Geschäftsbereichen betonen. Aber hinter vorgehaltener Hand wurde trotzdem oftmals auch über derartige Sorgen gesprochen, und Samuel hoffte sehr, auf diese Weise etwas herauszufinden.

Kapitel III

Anna und Timo, Bern – Mitte Dezember

Glitzernde Weihnachtsdekorationen verzauberten die Altstadt von Bern. Viele Leute drängten sich durch die Lauben auf der Suche nach den letzten Geschenken. Mitten drin spazierten Anna und Timo. Oft war an ein Weiterkommen nicht mehr zu denken, Menschen mit riesigen Taschen voller weihnachtlich verpackter Geschenke versperrten den Weg.

«Ah, ist das schön! All die Lichter, eine richtig weihnachtliche Stimmung! Darum wollte ich die Stadt hoch spazieren.»

«Was heisst da spazieren», brummte Timo, «meist bleiben wir ja hinter all den taschenbewehrten Leuten stecken. Was kaufen die nur alles ein! Das ist ja unglaublich!»

«Ich versteh das auch nicht. Da haben die Leute ja ohnehin schon alles und noch ein bisschen mehr, und dann schenken sie sich auf Weihnachten noch alles Mögliche dazu.»

«Und nach dem Fest stürmen wieder alle durch die Stadt, um alles umzutauschen oder zurückzubringen. Den Leuten geht es einfach zu gut!»

Anna nickte: «Stimmt, gut haben wir in unserer Familie beschlossen, einander nichts mehr zu schenken. Statt vorweihnachtlicher Stress beim Geschenke suchen entspanntes Geniessen der weihnachtlich dekorierten Altstadt!»

Unter dem Glasdach vor dem Bahnhof, genannt der Baldachin, warteten sie auf den Bus in die Länggasse. Plötzlich sagte Timo: «Dieses Jahr schenken wir uns aber trotzdem was.»

«So? Und was denn?», wollte Anna wissen.

«Billette für die Oper, das Teatro alla Scala, natürlich. Wir haben doch Matt erzählt, dass wir nach Mailand in die Scala möchten. Das tun wir jetzt aber auch, ein Weihnachtsgeschenk für uns beide!»

«Gute Idee, das machen wir, und wenn wir dann in der Scala sind, schicken wir Matt ein Selfie von uns.»

Zuhause angekommen starteten sie sofort den Computer auf und suchten den Spielplan der Scala.

Januar, fanden sie beide, Januar wäre ein guter Zeitpunkt für einen Besuch. Aber was wurde da aufgeführt? Madame Butterfly war auf dem Programm.

«Das wäre doch schön», fand Anna, «der 18. Januar wäre ein guter Termin für uns. Wir buchen doch Tickets für diesen Termin.»

Aber die Ernüchterung folgte sofort. Alles war ausgebucht, nur in den Logen waren da und dort noch die hintersten zwei Plätze frei. Diese wollten sie aber auf keinen Fall, denn die Logen hatten ja nur die Masse eines winzigen Badezimmers, die vordersten zwei Besucher hatten eine wunderbare Sicht auf die Bühne, die in der zweiten Reihe noch ein bisschen, falls sie sehr gross waren, und die hintersten eigentlich nur, wenn sie über den Hals einer Giraffe verfügten. Natürlich war die Musik die Hauptsache, aber wenn man schon in der berühmten Scala sass, wollte man doch auch etwas sehen. Der Januar war ausgebucht. Und der Februar? Da wurde «Fidelio» aufgeführt. Timo war entzückt: «Schau Fidelio, das ist sicher eine lustige, fidele Oper, das wäre doch gut.»

Anna schmunzelte und sagte: «Lies mal, da siehst du worum es geht.»

Timo las mit zunehmendem Entsetzen die Handlung durch: «Das schlägt ja richtig aufs Gemüt! Von wegen lustig. Etwas Tristeres kann man sich ja gar nicht vorstellen!»

Anna lachte: «Du wärst nicht der Erste, der auf den Namen hereingefallen ist. Fidelio heisst es, weil die Frau so treu zu ihrem Mann hält und nicht, weil es lustig ist. Aber ich möchte das wirklich auch nicht sehen. Also März.»

Im März wurde Rigoletto aufgeführt. Das war zwar auch eine tragische Handlung, aber doch bestimmt spannend. Sofort sicherten sie sich gute Plätze vorne in einer Loge. Beide freuten sich auf ihren Besuch in der Scala, und sie waren sich einig: Manchmal waren Weihnachtsgeschenke eben doch eine gute Sache.

Kapitel IV

In der Umgebung von Winterthur – Februar

Im verrauchten Hinterzimmer eines mittelgrossen, etwas abseits der grossen Durchgangsstrassen gelegenen Restaurants sassen sieben Männer um einen Tisch herum. Die Haufen farbiger Chips vor den Männern und die Karten in ihren Händen zeigten an, dass sich hier eine Pokerrunde zusammengefunden hatte, in der mit hohen Einsätzen gespielt wurde. Dass alle Profis waren, konnte man an der Tatsache erkennen, dass zwar halbvolle Weingläser auf dem Tisch standen, sich aber nur hie und da einer einen kleinen Schluck gönnte.

Gerade hatte ein neues Spiel begonnen: Die Starteinsätze waren in die Tischmitte geschoben und die Karten neu verteilt worden, die erste Bieterrunde war durch, Karten wurden abgelegt und neue ausgeteilt, und das Bieten begann wieder. Die ersten drei tätigten ihre Einsätze, der Vierte jedoch, ein Mann mit sonnengebräuntem Teint und langen, in einem Rossschwanz zusammengebundenen Haaren, ein veritabler Playboy, brummte: «Ich passe», und schmiss seine Karten verärgert hin.

«Kein Glück im Spiel heute, was?», spöttelte der ihm zunächst Sitzende, ein schmächtiger Mann mit schwarzen Augen, dunklen Locken und einer Habichtsnase. «Man sagt zwar, Unglück im Spiel bedeute Glück in der Liebe, aber wie steht es denn damit?», und ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er: «Ich erhöhe!»

Während die anderen sich dem Fortgang des Spiels widmeten, lehnte sich der Playboy zurück, trank sein Weinglas aus und verkündete: «Ich höre auf, ich muss ohnehin morgen schon früh auf den Beinen sein, ich erwarte eine neue Ladung.»

Dies liess die anderen in ihrem Spiel innehalten und aufblicken. «Du bist also immer noch im gleichen Business?», fragte einer, und ein anderer meinte: «Ich habe diese Geschäfte für eine unbestimmte Zeit sistiert, mir sind in der letzten Zeit zu viele Ladungen beschlagnahmt worden, das höhlte den Profit aus, so kann man einfach nicht arbeiten.»

«Genau», warf der erste wieder ein, «aber was haben wir für Alternativen? Die Bettlermasche zieht nicht mehr, seit immer mehr der grösseren Städte Bettler nicht mehr tolerieren wollen. Und auch die Senioren und Seniorinnen fallen immer weniger auf unsere Telefontricks herein, wir müssen da verdammt vorsichtig agieren. Also was bleibt uns noch?»

«Sprengungen von Bankomaten? Sind nur im Einzelfall profitabel, zudem können wir die nicht im Stundentakt ablaufen lassen», gab der nächste zu bedenken. «Auch Falschgeld ist kein Asset mehr, die Sicherheitsmerkmale machen die Sache nur noch für Amateure interessant, die ihre kruden Scheine irgendwelchen unbedarften Leutchen anzudrehen wissen», meldete sich ein weiterer Spieler, den die anderen den ‘Neuen’ nannten, weil er zum ersten Mal bei einer solchen Pokerrunde dabei war. «Ausserdem habe ich gehört, dass gerade letzthin in den Niederlanden ein ganzer Van voller Falschgeld aufgeflogen ist. Eine Polizeikontrolle wie aus dem Nichts, hat man mir gesagt.»

Zustimmendes Gemurmel wurde in der Runde hörbar.

«Eigentlich merkwürdig», sinnierte ein weiterer, etwas behäbiger Typ, der mit seiner randlosen Brille gut als biederer Beamter hätte durchgehen können, «diese Ereignisse haben sich in der letzten Zeit gehäuft, früher kam man doch immer bestens durch, weder Zöllner noch Polizei hatten etwas zu beanstanden. Aber jetzt ist man nie sicher, ob man schon an der Grenze, oder vielleicht erst im Hinterland angehalten wird. Dann werden unsere Studentinnen, Putzfrauen oder Spitalhilfskräfte genauestens kontrolliert und nach Arbeitsverträgen, Studienunterlagen und anderen Papieren befragt, und dann ade schöner Verdienst für die Vermittlung hübscher Mädchen an unsere Kunden.»

«Stimmt», bestätigte ein anderer, «irgendwie scheint die Polente Informationen über unsere Transporte und sonstigen Aktivitäten zu haben, dass sie uns so gezielt im Visier haben. Man könnte beinahe meinen, es gäbe einen Maulwurf in unseren Reihen.»

«Siehst du, du kommst langsam auf die richtigen Gedanken, es sieht nämlich ganz danach aus, dass irgendwo ein Spion am Werk ist», sagte der Mann, der das Spiel aufgegeben hatte und nun aufgestanden war. «Ich habe zwar bisher noch nicht mit euren Widrigkeiten zu kämpfen gehabt. Wer deswegen jetzt aber denkt, ich sei der Informant, der liegt völlig falsch. Die Infos müssen von weiter oben kommen, von jemandem, der die ganzen Geschäfte in unserem Sektor bestens kennt.»

Diese Feststellung rief ein teils zustimmendes, teils skeptisches Gemurmel am Tisch hervor. Zwei oder drei der Anwesenden schüttelten die Köpfe; anscheinend waren sie nicht der Meinung, jemand aus der Leitung könnte einen solch frappanten Vertrauensbruch begehen. Andere hingegen nickten bestätigend.

Das Spiel wurde wieder aufgenommen, während der Playboy seinen Mantel unter den anderen Kleidern hervorsuchte und ihn anzog. Er hatte aber kaum begonnen, die Knöpfe zu schliessen, als einer aus der Runde wieder aufsah, den anderen mitteilte «ich passe», dann den Mann im Mantel anblickte und sagte:

«Ich bin mir sicher, an dem was du da gesagt hast, ist etwas dran. Willst du nicht noch ein wenig dableiben, wir könnten ja unser Spiel für eine Viertelstunde oder so unterbrechen und einmal unsere Situation besprechen, wenn wir doch jetzt gerade so schön beieinander sind. Was meinst du?»

Der Angesprochene zuckte seine Achseln und begann, mit gleichgültiger Miene, seinen Mantel wieder auszuziehen.

«Gut», sagte er dann und setzte sich wieder an den Tisch, «aber ich möchte nicht, dass das Gespräch nur darin besteht, einander Vorwürfe zu machen und Schuldzuweisungen anzubringen. Wenn wir über diese Sache diskutieren wollen, dann nur auf der Grundlage von Fakten.»

«Fakten?», fragte einer. «Es gibt doch gar keine Fakten ausser der Tatsache, dass unsere Lieferungen zu einem schmerzhaften Teil nicht mehr ankommen. Oder weisst du vielleicht mehr als wir?»

«Ich weiss nicht mehr als ihr, und mit Fakten meine ich nicht diese einfachen Tatsachen. Aber wenn jeder von uns mal nachdenkt und versucht sich zu erinnern, wie die Auftragserteilung ablief, wer da involviert war, wer etwas über die Details gewusst hat, und so weiter, dann treten vielleicht Einzelheiten zu Tage, die vor allem bei den verunglückten Lieferungen zu finden sind. Also, denkt nach, läuft immer alles genau gleich ab?»

«Natürlich nicht», protestierte der ‘Beamte’, «wir können nicht jede Fracht genau gleich ablaufen lassen, das würde zu sehr auffallen. Wir verwenden je nachdem einmal einen Kühllaster, dann wieder einen kleineren Transporter, oder einen Anhängerzug, kommt drauf an, wie viele Leute zu transportieren sind.»

«Klar müsst ihr die Kapazitäten anpassen, aber das meine ich ja auch nicht. Was ich meine ist: Woher kommt die Info für den Auftrag, wer gibt die Anweisungen, wer bestimmt die Route, wer besorgt die Papiere – das sind die Punkte, die wir untersuchen müssen, dort muss etwas zu finden sein, das uns auf die Spur des Maulwurfs bringen kann. Ich weiss, wir alle gehören zu verschiedenen Gruppierungen, aber irgendwo ist eine Gemeinsamkeit versteckt.»

Alle senkten die Köpfe, man sah sie förmlich rauchen. Einige Minuten vergingen in tiefem Schweigen. Dann sah der Mann auf, welcher in der beendeten Runde die Karten gemischt und verteilt hatte, Pietro Malvoglio, ein langer, dünner Kerl mit abstehenden Ohren und einer beginnenden Glatze, und sagte:

«Ich weiss nicht, ob das etwas ist, in der Art, wie du dir das vorstellst. Aber mir ist eingefallen, dass unser Logistiker eine Zeitlang mit einem Mädchen befreundet war, die – soweit ich herausfinden konnte – eine entfernte Verwandte des Buchhalters eines anderen Clans war. Aber das war vor ein, zwei Jahren, unterdessen hat er mit ihr Schluss gemacht.»

Er schüttelte den Kopf, als ob er damit die Unwichtigkeit dieser Information betonen wollte.

«Seht ihr», erklärte der Playboy in beinahe triumphierendem Ton, «seht ihr, da können Sachen zu Vorschein kommen, wenn ihr nur ein bisschen nachdenkt. Ich will nicht sagen, dass die Freundin deines Logistikers nicht etwas hätte aufschnappen und weitergeben können, aber man weiss nie. Alle Clans und Familien haben doch ihre Spitzel, und einer davon könnte ja durchaus versucht sein, das erworbene Wissen gewinnbringend anzulegen – und damit meine ich nicht nur, dass er es innerhalb der Organisation an Unberechtigte weitergibt.»

Alle machten nachdenkliche Gesichter, auf ihnen war klar abzulesen, dass dies unerfreuliche Gedanken heraufbeschwor.

«Also», ergriff der Playboy wieder das Wort, «ich muss jetzt wirklich gehen. Wenn ihr noch heute zu einem Schluss gelangt, wer als Maulwurf in Frage kommen könnte, dann informiert mich bitte auch. Würde mich ausserordentlich interessieren, auch wenn ich, wie gesagt, bisher von seinen Aktivitäten nicht betroffen war.»

Damit erhob er sich, zog seinen Mantel an und verliess das Zimmer.

Die anderen blieben zunächst schweigend zurück. Schliesslich sagte der Neue, der sich bisher in der Diskussion zurückgehalten hatte:

«Ich weiss nicht so recht. Sollen wir jetzt wirklich die intimsten Details unserer Prozesse voreinander ausbreiten? Ich schlage vor, wir setzen unser Spiel fort, dann kann anschliessend jeder im stillen Kämmerlein für sich überlegen, wo die Schwachstelle in seiner Familie zu finden sein könnte.»

Die anderen waren offensichtlich erleichtert, denn keinem war so richtig wohl beim Gedanken, vertrauliche Interna in diesem Kreis auszuplaudern. Zwar gehörten sie alle zu den oberen Kadern, aber was die Chefs von Plaudertaschen hielten, das war ihnen hinlänglich bekannt. So stimmten sie dem Vorschlag stillschweigend zu, indem sie sich wieder ihren Karten widmeten.

Gerade hatte der ‘Beamte’ sich eine höchst interessante und gewinnversprechende Hand zusammengestellt, als jemand leise an die Türe klopfte. Sie ging einen Spalt breit auf, ein Kellner streckte den Kopf ins Zimmer und flüsterte: «Drei Wagen sind vorgefahren, besser ihr räumt blitzgeschwinde auf.»

Alle schauten sich erschreckt an, dann brach hektische, aber stille Aktivität aus. Man raffte das Geld zusammen, versteckte die Pokerkarten und begann, Papiere, Akten und Dokumente auf dem Tisch zu verteilen, in der Absicht, ihre Zusammenkunft wie die normale Sitzung eines Vereinsvorstandes aussehen zu lassen. Damit waren sie aber nicht weit gekommen, denn schon wurde die Türe aufgerissen. Eine Anzahl schwer bewaffneter Polizisten stürmte ins Zimmer, und im Nu standen die sechs Männer aufgereiht mit erhobenen Händen an einer Wand und wurden nach Waffen abgetastet. Ausrufe des Protestes wurden laut, aber die Polizisten verstanden ihr Handwerk und hatten bald Ruhe hergestellt.

Malvoglio, der am Ende der Reihe stand, drehte derweilen seinen Kopf langsam zur Seite. Neben ihm stand der ‘Beamte’, der seinen Kopf, wie zufällig, ebenfalls etwas gegen ihn neigte.

«Wie zum Teufel konnte das passieren?», raunte Pietro seinem Kollegen aus dem Mundwinkel zu, ohne die Lippen sichtbar zu bewegen.

«Die Polente muss irgendwie Wind von unserer Zusammenkunft bekommen haben», antwortete der Angesprochene auf die gleiche Weise. «Man könnte ja wirklich langsam unseren Playboy verdächtigen, der bringt es immer fertig, durch die Maschen eines jeden Netzes zu schlüpfen, so als ob er im Voraus von den jeweiligen Aktionen Bescheid wüsste.»

«Ruhe dort», herrschte sie aber jetzt ein Polizist an. «Keine Privatgespräche!» Die beiden schwiegen folgsam und hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach. Es musste eben doch einen Spitzel in ihren Reihen geben, dachte Pietro, aber ob es tatsächlich dieser Playboy sein könnte, das fragte er sich. Schliesslich hatte er ihnen doch den Tipp gegeben, wie sie nach dem Maulwurf suchen sollten. Und ein Spitzel würde ihnen kaum erklären, auf welche Weise sie ihn demaskieren könnten. Das ergab doch einfach keinen Sinn.

Aber wer denn hatte noch von ihrem Treffen gewusst? Der Capo, natürlich, der hatte diese Pokerrunde doch organisiert mit der Absicht, dass sich die Teilnehmer über die verschiedenen Aktivitäten austauschen und etwas absprechen könnten. «Unterschwellige Koordination», hatte er es genannt. Aber gerade deswegen konnte es nicht der Capo und auch keiner aus seinem Umfeld gewesen sein. War dieser Spitzel doch eher in der Truppe des Playboys zu suchen?

Malvoglio seufzte, was den sie bewachenden Polizisten zum Lachen brachte. «Ja, ja, du hast guten Grund zu seufzen», sagte er und stiess ihn mit dem Ellenbogen an. «Du denkst wahrscheinlich daran, was euch jetzt blühen wird. Nichts Schönes, das kann ich dir geigen.» In diesem Augenblick ging die Türe wieder auf, und einige Polizeibeamte in Zivil traten ein. Sie erteilten eine Reihe von knappen Befehlen, den sechs Spielern wurden Handschellen angelegt, dann brachte man sie hinaus zu den wartenden Gefängniswagen.

Die Detektive begannen nun, das Zimmer und die Gegenstände der Verhafteten minutiös zu durchsuchen. Die Pokerkarten waren rasch gefunden, die Papiere auf dem Tisch und in den Mappen durchgesehen, aber den enttäuschten Mienen der Detektive war anzusehen, dass sie sich von dieser Durchsuchung mehr erhofft hatten.

«Nach unseren Informationen hätte das doch eine Koordinationssitzung der Mafia sein sollen», gab schliesslich der Leiter der Razzia, Roland Niederhauser von der Kapo Zürich, frustriert von sich. «Jetzt können wir die Kerle höchstens wegen illegalen Glücksspiels belangen, und ihre Anwälte werden beteuern, es habe sich doch bloss um ein Spielchen unter Freunden gehandelt, worauf sie mit einem gelinden Klaps aufs Händchen wieder freigelassen werden müssen. Es ist zum Haaröl saufen.»

«Ich weiss nicht so recht, ich habe da vielleicht etwas», sagte da aber plötzlich eine junge Frau aus dem Hintergrund. «Es ist nur ein Gefühl, aber jedenfalls passt dieser Fetzen irgendwie nirgendwo hin. Ich kann mir einfach keinen Reim drauf machen.» Sie trat zum Chef hin, hielt ihm eine Agenda unter die Nase und deutete auf eine Stelle. «Da wurde eine Seite herausgerissen. Man bemerkt noch den Anfang eines Eintrags, irgend etwas hat der Besitzer da hineingekritzelt, aber dann das Blatt herausgerissen. Dieser Fetzen hier …», sie hielt ihm das ominöse Stück hin, «sieht so aus, als ob er aus der Agenda stammen könnte, aber er passt nicht ganz zu der Abrissstelle, und die paar Zahlen da drauf können auch nicht die Fortsetzung des Geschreibsels hier drin sein.»

Niederhauser nahm das zerknüllte und wieder geglättete Stück Papier entgegen und studierte es eingehend. Tatsächlich waren da einige, kaum lesbare Zahlen zu erkennen.

«Ich brauche mehr Licht», brummte er. Die Kollegin schaltete sofort ihre Lampe ein und lenkte den Lichtstrahl auf das Papier. «Ist das eine 8 oder eine 3?», stellte er die rhetorische Frage. «Man kann wirklich kaum etwas mit Sicherheit erkennen, aber wir schicken das mal ins Labor, die können uns dann sicher sagen, was auf diesem Fetzen geschrieben stand.»

Aus dem Hintergrund trat nun Max Beglinger von der Fedpol zu diesen beiden hinüber und verlangte, den Fetzen zu sehen. Er drehte ihn hin und her, versuchte mit zugekniffenen Augen die Zahlen besser zu lesen, gab dann aber auf. «Ist tatsächlich am besten, wenn Sie das ins Labor schicken. Vielleicht können die Zahlen uns ja einen Hinweis geben, wir müssen nur herausfinden, was sie bedeuten. Kann eine Telefonnummer sein, die Nummer eines Banksafes, oder eine PIN für was-weiss-ich-was.»

Damit gab er den Zettel zurück, die Kollegin öffnete einen kleinen Plastiksack und liess das Papierstück hineingleiten, und auch die Agenda wurde in einen solchen Evidenzbeutel verpackt.

«Hat sonst noch jemand etwas aus der Norm Fallendes gefunden? Keine Gebäudepläne für Einbrüche? Keine Strategiepapiere für Finanzkrisen? Keine Aufstellungen von Banksafe-Inhalten?» Die Fragen des Chefs waren mit Absicht so krass formuliert, sie sollten die Stimmung im Team trotz des offensichtlichen Misserfolges dieser Razzia etwas aufheitern, und in der Tat brachten sie seine Kollegen zum Lachen.

«Machen wir, dass wir hier drin fertig werden», bestimmte Niederhauser, jetzt wieder mit ernsthafter Stimme und Miene. «Die Autos der Kerle werden wir morgen bei Tageslicht untersuchen. Bis dann bleiben sie unter Bewachung auf dem Parkplatz. Hoffentlich finden wir dann in einem der Wagen etwas mehr Belastendes als hier im Spielzimmer. Das Restaurant wird ebenfalls geschlossen und unter Bewachung gestellt. Also los, damit wir anschliessend noch einen Rest Schlaf kriegen.»

Kapitel V

Samuel, London – Mitte März

Samuel Turnwell betrat sein Büro und sah auf den ersten Blick, dass der längst erwartete Bericht über die finanziellen Transaktionen der verschiedenen Casinos, die von der Lucky Guys Holding verwaltet wurden, auf dem Schreibtisch lag. Sein Gesicht hellte sich sofort auf, als er den Bericht sah, und er stürzte sich förmlich darauf. Die Lucky Guys Holding wurde von Gino Bertaggia gemanagt, einem Grossneffen des Chefs, der ihm als CEO der Holding aufgezwungen worden war. «Gino ist ein vielversprechender junger Mann, der seinen Weg machen wird», hatte der Boss gesagt und alle seine Einwände beiseite gewischt. «Er muss nur eine Position erhalten, in der er seine vielfältigen Talente voll ausspielen kann.»

Samuel hatte selbstverständlich gehorcht; wer war er denn schon in der Hierarchie dieser eng verbundenen Familie, dass er seine Meinung durchsetzen konnte. Für ihn war Gino ein jugendlicher Draufgänger, ohne Erfahrung, und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Aber eben, so war das Leben in dieser Organisation: Wenn es gut lief, war es das Verdienst des Chefs, wenn es schlecht ging, hatte ein Unterhund den Kopf hinzuhalten. Deshalb hatte Samuel – natürlich ganz im Geheimen – veranlasst, dass alle Tätigkeiten von Gino exakt und lückenlos verfolgt wurden.

Die ersten Berichte hatten keinerlei Anzeichen ergeben, dass Gino irgendwie ausserhalb der ihm zugewiesenen Schranken operierte. Aber in letzter Zeit hatten sich die Anzeichen gemehrt, dass er sich nicht mehr ausschliesslich den Aktivitäten im Glücksspielsektor widmete, sondern dass er auch andere Ziele verfolgte. Deshalb öffnete Samuel rasch die dünne Akte und überflog die erste Seite mit dem ‘Executive Summary’. Und da stand es, schwarz auf weiss, was er schon seit einiger Zeit vermutet hatte. Gino hatte sich offensichtlich auf etwas eingelassen, das nicht nur in sich selbst sehr riskant war, sondern sogar die ganze Gesellschaft bedrohen konnte.

Dass in seinen Casinos Geld gewaschen wurde, gehörte zwar zum Geschäftsmodell. Doch auch hier gab es gewisse Leitlinien, an die man sich halten musste, um das Risiko einer Entdeckung zu minimieren. Samuel hatte dabei stets darauf bestanden, dass die Herkunft der Gelder, die dort gewaschen wurden, soweit als möglich verschleiert werden musste. Diese Gelder wurden deshalb, bevor sie in den Casinos unter die Menge der nichtsahnenden Spieler verteilt wurden, von Stiftung zu Stiftung und von Bankkonto zu Wertpapieren und wieder zurück transferiert, mit ständig wechselnden wirtschaftlich Berechtigten, so dass am Ende ihr Ursprung kaum mehr festzustellen war.

Jetzt aber hatte Gino offensichtlich damit begonnen, auch Falschgeld über seine Betriebe unter die Leute zu bringen. Und das war in höchstem Masse leichtsinnig, wenn nicht sogar kriminell zu nennen. Samuel kicherte, als ihm plötzlich klar wurde, was er da gedacht hatte. Kriminell, in der Tat! Als ob Geldwäscherei und der ganze Betrieb der Casinos nicht auch als kriminell zu gelten hätte. Er schüttelte den Kopf und begann nun, den ganzen Bericht sorgfältig zu studieren. Was er da lesen musste, liess ihn einerseits wütend werden über die Unverschämtheit dieses Grünschnabels Gino, aber andererseits musste er den Hut ziehen vor dessen Raffiniertheit. Gino hatte sich über alle regelmässigen Besucher der einzelnen Casinos ins Bild gesetzt, vor allem über Spielsüchtige, die eigentlich gar nicht mehr hätten zugelassen werden sollen. Bei all denen, und es waren nicht wenige, die sich ihre Sucht eigentlich gar nicht mehr leisten konnten, und sie deshalb mit Hilfe von Krediten, aufgenommen unter unwahren Angaben, oder sogar durch Veruntreuung finanzierten, hatte Gino sein System in Anwendung gebracht. Es war eigentlich ganz einfach: Nach einer Reihe von verlustreichen Tagen liess er den Spielsüchtigen eine ziemlich grosse Summe – aber nie mehr als zwanzig Prozent der vorangegangenen Verluste – gewinnen, und das jeweils kurz vor Schliessung des Casinos, was den Spieler dazu zwang, seine gewonnenen Chips in Bargeld einzuwechseln. Und diese Auszahlung bestand dann bis zur Hälfte in Blüten, die sich Gino mit einem neunzig-prozentigen Diskont im Darknet beschafft hatte.

Bei seinem System hatte sich Gino darauf verlassen, dass der Spielsüchtige, selbst wenn er die Blüten erkennen sollte, sich nicht getrauen würde, damit zur Polizei zu gehen und das Casino anzuklagen. Selbst wenn der Betreffende am nächsten Abend genau dieses Geld wieder in Chips wechseln würde, so hatten offenbar die Kassiererinnen die Anweisung, beim ersten Mal die Blüten kommentarlos zurückzunehmen; erst beim zweiten oder dritten Mal sollten sie ihn höflich darauf hinweisen, dass er da Falschgeld in Umlauf bringen wolle. Sollte der Kunde das diskussionslos akzeptieren, dann gut. Sollte er aber darauf bestehen, dass es sich dabei um genau die Geldscheine handelte, die ihm am Abend vorher vom Casino ausbezahlt worden seien, dann wurde der Spieler in ein privates Zimmer bei der Direktion gebeten. Dort wurden ihm seine Sünden vorgehalten und vor Augen geführt, was ihm geschehen könnte, falls alle seine Missetaten ans Tageslicht kämen. Das hatte bisher immer wunderbar funktioniert, aber Samuel war sich nicht ganz so sicher, ob das auch beim hundertsten Mal noch der Fall sein würde.

Die Akte enthielt jedoch nicht nur Informationen zu den Methoden, die Gino anwendete, um die Rentabilität aller Casinos zu erhöhen. Sie enthielt auch einige Seiten mit ausführlichen finanziellen Kennzahlen, und Samuel studierte diese mit erhöhter Aufmerksamkeit. Irgendwann liess ihn etwas stutzig werden. Einige Zahlen schienen nicht ganz kongruent zu sein mit anderen Angaben, die er zwei oder drei Seiten vorher zu sehen geglaubt hatte. Um sicher zu gehen, blätterte er zurück. Jawohl, er hatte Recht gehabt! Da waren doch Ausgaben verbucht, die eigentlich unter einer anderen Rubrik bereits einmal aufgeführt worden waren. Wer also hatte dieses Geld erhalten? Die Antwort lag auf der Hand. Gino hatte eine nicht unbeträchtliche Summe, die sich aus relativ kleinen Einzelbeträgen zusammensetzte, abgezweigt und in seine eigene Tasche fliessen lassen. Das war Betrug an der Familie! Da musste doch selbst der Don höchstpersönlich seine schützende Hand von diesem Frechdachs abziehen, oder etwa nicht?

Samuel klappte die Akte zu, schloss die Augen und überlegte. Am liebsten würde er Gino feuern, aber den Grossneffen des Dons? Was, wenn Rumpolo eine solche Anschuldigung als Verleumdung betrachten würde? Da hätte er seine, Samuels, eigene Haut mutwillig zu Markte getragen, und er wäre bestimmt seines Lebens nicht mehr sicher. Eine solche Situation durfte nicht eintreten, er musste dieses Problem auf eine andere, subtilere Weise lösen. Vielleicht könnte er in einem harmlosen Gespräch mit Rumpolo einmal eine ganz allgemeine Andeutung fallen lassen und beobachten, wie der Don darauf reagierte. Keine direkte Anschuldigung eines Familienmitglieds, aber eine hypothetische Situation ansprechen. Das könnte funktionieren, dachte er, und es liesse ihm freie Hand in den sich anschliessend eröffnenden Szenarien.

Samuel öffnete seine Augen wieder, stand auf und schloss die Akte in seinem Privatsafe ein. Solange alles gut lief mit den Casinos, und die Gewinne der Lucky Guys Holding kontinuierlich anstiegen, so lange konnte man die Sache ruhig laufen lassen, aber sie musste unter strikter Beobachtung bleiben. Bei nächster Gelegenheit würde er Gino merken lassen, dass er über seine Aktivitäten Bescheid wusste, und dass Gino gut daran täte, etwas vorsichtiger zu agieren. Ob und wann auch Rumpolo davon erfahren musste, das liess Samuel aber vorläufig noch in den Sternen stehen.

Eine Woche später hatte sich jedoch die Situation plötzlich vollkommen verändert. Gino hatte anscheinend über mehrere Tage hinweg kurzfristige Schuldscheine auf den Namen der Holding ausgegeben, und diese Transaktionen drohten ihre finanzielle Lage dermassen aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass sie in Schwierigkeiten geraten musste, wenn sich die finanzielle Grosswetterlage auch nur ein klein wenig auf die negative Seite hin verändern sollte. Das konnte Samuel nicht zulassen, und er hatte Gino zur Rede gestellt. Dieser hatte ihm aber ziemlich rüde zu verstehen gegeben, dass es ihn einen feuchten Dreck angehe, was er mit den Finanzen der Lucky Guys Holding unternehme. Mit einem höhnischen Grinsen hatte er ihn zudem wissen lassen, dass er, Gino, sich als von ganz anderem finanziellem Kaliber betrachte, und dass Samuel noch staunen werde, was er da aus dem Hut hervorzaubern werde.

Kurz und gut, Samuel hatte keinen Erfolg mit seinen Vorhaltungen gehabt. Aber, und das war ihm sonnenklar geworden, diesem jungen Schnösel mussten Zügel angelegt werden, je eher, desto besser. Und zügeln konnte den sicher nur einer: Don Rumpolo, sein Grossonkel. Also griff er seufzend zu seinem Handy und schickte eine WhatsApp Anfrage an seinen Boss, in der er dringend um ein persönliches Treffen bat.

Es dauerte lange, sehr lange, bis eine Antwort kam. Samuel hatte sich schon Sorgen gemacht, ob Rumpolo die Anfrage wohl übelgenommen hätte, aber die Antwort machte klar, weshalb sie nicht sofort hatte erfolgen können: Samuel sollte an einem bestimmten Datum nach Mailand fliegen, er würde am Flughafen Malpensa abgeholt, zu ihm gebracht und nachher könne er mit Rumpolo zusammen in der Scala eine Verdi-Oper geniessen. Es sei alles organisiert, der Flug gebucht – mit der Bordkarte im Anhang – und Samuel könne nach der Oper in Rumpolos Villa übernachten.

Samuel war sehr erleichtert, und er genehmigte sich daraufhin einen beruhigenden Schluck Whisky aus seiner Privatschublade.

Kapitel VI

Luca, Mailand – Ende März

Ein schwacher Windstoss liess die Blätter der Tessinerpalme im Hof flattern, ein paar trockene Blätter wurde über den Pfad geblasen, der Garten vor dem imposanten Haus, in dem Aldo Rumpolo sein luxuriöses Dasein pflegte, lud auch im Winter immer noch zu einem Spaziergang ein.

Luca allerdings hatte keine Lust auf Spaziergänge. Er starrte aus dem Fenster, ohne von der Schönheit des Gartens etwas mitzubekommen, und überlegte. Der Chef hatte einen neuen Auftrag für ihn, und der hatte es in sich. Nicht auf den ersten Blick. Der Chef wollte ja nur etwas Abwechslung, und Luca war für seine Sicherheit zuständig. Nicht allein natürlich, er hatte eine ganze Truppe von Leuten, die er dafür einsetzen konnte. Aber in diesem Fall ...

Luca runzelte wieder die Stirn und seufzte. Warum konnte der Chef nicht ein Open Air, ein richtig tolles Konzert von Beyoncé oder Taylor Swift oder wem auch immer besuchen? Die Tickets waren sündhaft teuer, aber das war für den Boss ja kein Hinderungsgrund. Dort wäre es auch einfacher, die Sicherheit zu gewährleisten. Lucas Leute sahen aus wie alle anderen auch und könnten, ohne im Geringsten aufzufallen, unter den Zuschauern verteilt werden. Zudem waren doch sicher viele Fans so zugedröhnt, dass sie von ihrer Umgebung rein gar nichts mitkriegten.

Aber nein, der Chef wollte eine Oper besuchen, und das in der Scala in Mailand. Wie schirmt man unter zweitausend Opernbesuchern einen Menschen ab? Zuerst schien das ja noch einfach. Man bringt den Boss in einer Limousine mit schwarz abgedunkelten Fenstern etwas spät zur Oper, er betritt seine Loge erst bei den ersten Tönen der Ouvertüre, wenn die Blicke aller Zuschauer auf die Bühne gerichtet sind, und am Schluss könnte man die Oper beim letzten Ton sofort verlassen, bevor all die andern Zuschauer zu den Ausgängen strömen. Selbstverständlich hatte der Boss eine Loge für sich und natürlich für Luca, seinen persönlichen Leibwächter, ganz allein. So weit so gut. Was aber, wenn ein Unglückswurm sich irrte und versehentlich in die Loge des Chefs platzte? Auch das konnte man verhindern, man stellte zwei Leibwächter vor die Loge in den Gang. Aber wen? Luca liess seine Leute vor seinem geistigen Auge vorbeidefilieren. Plötzlich lachte er. Da wäre doch Leandro mit seinem kahlen Schädel und seinen Tattoos, die bis über beide Ohren reichten. Der würde den feinen Damen in der Oper einen schönen Schreck einjagen. Also sicher nicht Leandro. Matteo? Sein grimmiges Gesicht würde alle verscheuchen, war aber vielleicht auch nicht die beste Wahl.

Dann war ja noch das Problem der Kleidung. Die zwei Leibwächter konnten ja nicht in kurzen Hosen und einem schmuddeligen T-Shirt in der Oper stehen, vermutlich würden sie schon beim Eingang aufgehalten. Also mussten Herren in einem korrekten Anzug mit Krawatte her. Für Luca war das ja kein Problem, da er den Boss ja überall hinbegleitete. Aber wer aus dem Fussvolk war sozusagen krawattentauglich? Schlussendlich entschied er sich für Rico und Toni. Die konnte man ein bisschen trimmen, und dann würden sie durchaus als normale Opernbesucher durchgehen. Sicherheitshalber noch ein Reservemann? Alessandro wäre da auch ganz brauchbar. Das wäre also geklärt.

Aber wieder runzelte Luca die Stirn. Da war aber noch das klitzekleine Problem, dass der Boss ja tot war und das schon seit fünf Jahren. Es war damals ein eleganter Schachzug, ausgeklügelt von Luca. Aldo Rumpolo, der Mafiaboss, war mit einer Schrotflinte ermordet worden, sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Beerdigung fand darauf mit viel Aufmerksamkeit von Medien und auch der Polizei statt. Alle waren vollends überzeugt, dass der Boss wirklich gestorben war, und die letzten Zweifel hatte Lucas raffiniert eingefädelter Austausch der DNA-Proben ausgeräumt. Leider war der Angestellte der Rechtsmedizin, der sich mit diesen Proben befasst hatte, ein paar Tage später in den Abruzzen von einer Klippe gestürzt, aber Unfälle passierten eben immer mal wieder.

Aldo war also tot, die wunderbare Villa, in der er wohnte, gehörte einem reichen Financier namens Ernesto Grillo und niemand hatte bis jetzt gemerkt, dass der Boss putzmunter unter diesem Namen weiterlebte. Den Namen hatte Aldo damals selbst ausgesucht. Unterdessen ärgerte er sich masslos, dass er mit diesem Namen behaftet war. Er hasste ihn richtiggehend, aber schon wieder eine neue Identität herstellen, mit allem, was dazu gehörte, das war zu aufwändig, also fügte er sich in sein Schicksal, schnaubte aber immer wieder: «Ernesto Grillo, wie konnte ich nur so blöd sein.»

Aldo Rumpolo war immer ausgesprochen medienscheu gewesen, es gab kaum öffentliche Auftritte von ihm und demzufolge nur sehr wenige Fotos. Auch Mitglieder seiner Konkurrenz hatten ihn kaum je persönlich zu Gesicht bekommen. In seiner eigenen Organisation hatten die Leute wohl Befehle von ihm erhalten, die meisten hatten ihn aber nie gesehen. Auch die Polizei verfügte nur über sehr dürftiges Fotomaterial. Dies war jetzt, da er offiziell tot war, natürlich sehr hilfreich. Das Personal in seiner Villa war durchwegs neu ohne die geringste Verbindung zu seinem früheren Leben. Einzig der alte Hausmeister, der Aldo schon seit jeher treu ergeben war, kannte die alte und die neue Identität des Bosses. Und natürlich Carla. Carla war Aldos Nichte, genauso skrupellos und durchtrieben wie Rumpolo.

Lange Zeit hatte Aldo seine Villa kaum verlassen, nicht einmal für seine früher so geliebten nächtlichen Pokerrunden. Aber jetzt schien ihm das Dach auf den Kopf zu fallen, und er wollte immer wieder aus seinem goldenen Käfig ausbrechen, was Luca ja auch verstehen konnte. Aber musste es gleich eine Oper in der Scala sein? Sicher, nach fünf Jahren würde kaum jemand ihn erkennen, die Leute der Konkurrenz gingen wohl kaum in die Oper, ältere Herrschaften, die Aldo doch vielleicht einmal gesehen hatten, würden sich sicher nicht mehr erinnern, und die Polizei, die natürlich noch über Fotomaterial verfügte, war wohl auch kein Problem. Für Polizisten war die Scala doch bestimmt viel zu teuer. Aber was war mit den führenden Köpfen? Und mit der Staatsanwaltschaft? Ein Auftreten in der öffentlichkeit war immer ein Risiko.

«Du machst das schon», hatte der Boss zu ihm gesagt, als ob das so einfach wäre. Zudem war auch noch ein Treffen mit dem Finanzchef, dem Luca nicht so ganz über den Weg traute, geplant. Auch dieser war bei der Polizei ja kein unbeschriebenes Blatt, aber wer war das schon in diesem Metier.

«Auch das noch», hatte Luca gedacht, aber das half alles nichts, er musste nun an die Arbeit und die ganze Sache organisieren. Noch einmal schaute er auf den Garten hinunter und wünschte sich, er könnte ganz gemütlich um den kleinen Teich spazieren, sich dann auf die Bank unter der Pinie setzen und eine Netflix Serie auf dem Tablet schauen. Aber eben, die Pflicht rief.

«Habe ich alles durchgedacht?», fragte sich Luca, und schon tauchte vor seinem geistigen Auge das nächste Problem auf. Die Pause. Bestimmt verlangte Aldo in der Pause Champagner. Vermutlich würde er sich sogar gerne etwas unter das Opernvolk mischen, aber das ging ja nun gar nicht, das musste Luca schlicht verbieten. Man stelle sich nur vor, der Boss holt sich seinen Champagner und steht unvermittelt vor dem Staatsanwalt mit einem Glas in der Hand. Nicht auszudenken! Folgerichtig musste jemand den Champagner holen, womit aber die Wache vor der Loge ausgedünnt wurde. Also drei Wächter, und einer holt den Schampus, oder doch besser zwei? Die Kerle waren ja kein ausgebildetes Servierpersonal, da musste man damit rechnen, dass die Hälfte verschüttet war, bevor sie wieder in der Loge ankamen.

Luca liess nun Rico, Toni und Alessandro in sein Büro rufen. Alle schienen etwas nervös zu sein. Hatten sie etwas angestellt, von dem er noch nichts wusste?

Luca befahl ihnen, sich in einer Reihe aufzustellen und musterte sie von oben bis unten. Schliesslich erkundigte er sich: «Wer von euch hat einen Anzug?»

«Motorradanzug?», fragte Toni.

Alessandro runzelte die Stirn: «Skianzug? Ich habe einen, ich fahre immer mal wieder Ski.»

«Nein, Anzug und Krawatte, so richtig elegant.»

Die drei schauten sich verblüfft an, und schliesslich sagte Rico: «Was sollte ich mit einem Anzug?»

«Also ich habe keinen», fand Toni, und Alessandro nickte zustimmend.

«Dachte ich mir. In einer Stunde seid ihr hier, frisch geduscht und rasiert. Wir gehen dann einkaufen. Toni, trimm deine Haare noch etwas, du siehst aus wie ein struppiger Strassenköter. Und jetzt Abmarsch.»

«Wozu der Aufstand?», wagte Rico noch zu fragen, aber die Antwort war nur: «Später».

Luca dachte nach. Kleider kaufen mit diesen drei Figuren, das war doch das Letzte. Aber ohne die richtigen Klamotten ging es nun mal nicht. Dann aber kam ihm die Erleuchtung. Carla! Sofort rief er sie an: «Carla, könntest du mir was helfen?»

Stille. Dann endlich die Antwort: «Ich weiss nicht, ich habe viel zu tun. Worum geht es?»

«Kleider kaufen.»

Augenblicklich sagte Carla: «Kleider kaufen? Natürlich, und was soll ich mir kaufen?»

Luca schmunzelte: «Komm in einer halben Stunde hierher, ich erkläre dir das Ganze.»

Carla kam immer zu spät, das wusste jeder, aber Luca hoffte nun, dass sie mit Rico, Toni und Alessandro zusammen hier eintreffen würde.

Der Plan ging auch fast auf. Die drei jetzt nicht mehr ganz so struppigen Herren standen da, als Carla ins Büro rauschte. Sie blickte sich kurz um und fragte dann: «Also, was soll ich tun?»

Luca zeigte auf die Männer und sagte: «Sie brauchen Anzüge.»

«Anzüge? Wofür?»

«Sie wollen in die Oper, die Scala. Kannst du sie korrekt einkleiden? Anzug, Hemd, Krawatte, du weisst schon.»

Carla starrte entgeistert auf die drei: «Die wollen in die Oper? Machst du Witze?»

«Wir wollen gar nicht, wir müssen!», protestierte nun Rico.

Aber jetzt war Carla in ihrem Element angekommen. Sie musterte die drei von oben bis unten und sagte dann: «Gut, ich verstehe, mein Onkel will wohl in die Scala. Da könnt ihr nun wirklich nicht wie ein paar Krähen im Sturmwind aussehen. Ich sorge dafür, dass ihr perfekt gekleidet auftreten könnt. Kommt mit.»

Zackig drehte sie sich um und marschierte zur Tür.

«Aber nicht zu meinem Schneider!», rief Luca ihr noch nach, als sie mit den drei Männern im Schlepptau die Treppe hinunter stürmte.

Zwei Stunden später klopfte es kurz an Lucas Türe, und bevor er irgendetwas sagen konnte, marschierte Carla, gefolgt von den dreien herein.

Was für ein Unterschied! Aus den struppigen Kerlen waren Männer von Welt geworden, perfekte Opernbesucher. Oder doch fast perfekt. Toni zerrte ununterbrochen an seinem Hemdkragen und behauptete, das Hemd sei zu klein, er würde erwürgt. Ricos Krawatte hing schief, und Alessandro behauptete, er würde in all dem Zeug drin ersticken.