Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine international operierende Bande hat sich auf die Fälschung von wertvollen Kunstgegenständen und deren Austausch gegen die Originale spezialisiert. Geleitet wird sie von einer unbekannten, unsichtbaren Person mit dem Decknamen Dagobert, die wie eine Spinne in ihrem Netz sitzt und die Fäden zieht. Interpol versucht schon lange, dieser Spinne habhaft zu werden, hat aber keinerlei Anhaltspunkte. Als zwei junge Leute einen Mann beobachten, der eine wertvolle antike Lekythos fotografiert, kommt ihnen das verdächtig vor, und sie schicken ein Bild dieses Mannes an Matt, ihren Freund bei Interpol. Der Mann ist dort aber bestens bekannt, und diese Foto ergibt nun den lang erhofften Anhaltspunkt und die Gelegenheit, Dagobert eine Falle zu stellen. Dazu organisiert interpol eine Ausstellung in Basel, als deren Prunkstück diese Lekythos fungieren soll. Die Bande schluckt den Köder und tauscht beim Versand während eines Zwischenstops das Original gegen eine Kopie aus. Gleichzeitig versucht die Bande, antike Goldmünzen aus einem Einbruch so zu verändern, dass ihr Wert um das Mehrfache gesteigert wird. Ein Münzenhändler in einem bescheidenen Antiquitätengeschäft in der Berner Altstadt soll diese Münzen zur Auktion bringen, aber die Numismatikerin des angefragten Hauses wittert Probleme. Auch die Lekythos findet gleichzeitig ihren Weg in dieses Antiquitätengeschäft, wo sie später abgeholt und dem Besteller überbracht werden soll. Der Mord am Ueberbringer weiterer Goldmünzen bringt die Angelegenheit schliesslich zu ihrem Höhepunkt, zur Aufdeckung der Identität von Dagobert und zur Zerschlagung des Spinnennetzes.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Susanne und Jürg Seiler
Umschlag:© 2023 Copyright by Susanne und Jürg Seiler
Verantwortlich
für den Inhalt:Susanne und Jürg Seiler
Bettenhausenstrasse 22
3360 Herzogenbuchsee (Schweiz)
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden, allfällige ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
Das Interesse am neusten Exponat im Museum Ulm war schon etwas abgeflaut. Vor zwei Wochen war die Vase aus Athen hier eingetroffen, ein ganz besonders schönes Exemplar mit Malereien, so schön und kaum verblasst, wie sie noch selten gesehen wurden. Die Vase war extrem kostbar und dem Museum als Leihgabe nur für kurze Zeit überlassen worden. Jede Zeitung in der Umgebung hatte über das wundervolle Ausstellungsstück berichtet, die meisten sogar samt Bild. Mehrere Lehrer hatten sich dazu entschlossen, mit ihren Schülern einen Museumsbesuch zu machen.
«Wow, ist das schön,» hatte ein Knirps geschwärmt, «ich erzähle das Mama, sie soll auch eine solche kaufen. Ich habe gerade gestern die grösste Vase zerbrochen, aber die stand auch so dumm auf dem Tischchen beim Fenster, und ich wollte ja nicht, dass der Fussball dort reinfliegt, eigentlich wollte ich die Mauer daneben treffen.»
«Ach weisst du, Marco,» erklärte die Lehrerin, «diese Vase ist so teuer, die kann deine Mama wohl nicht kaufen, und stell dir bloss vor, du würdest sie wieder mit dem Fussball treffen!»
«Kein Problem,» fand Marco, «ich würde sie dann schon etwas weiter hinten aufstellen, oder das Fenster zumachen oder so.»
Dann dachte er angestrengt nach und sagte: «Vielleicht sage ich es besser Papa, dass er eine solche Vase kaufen soll, die teuren Sachen kauft ja meist er. Oder was meinen Sie?»
Die Lehrerin lächelte: «Nun ja, du kannst es ja mal probieren!»
Unterdessen war der erste Ansturm aber vorbei, der Wächter im ersten Stock hatte nicht mehr so viel zu tun und kämpfte wie vorher auf seinem Stuhl beim Eingang mit dem Schlaf. Es war einfach, die wenigen Besucher zu überwachen, ein Blick in die Runde genügte.
Doch der gut gekleidete Herr, der jetzt die Vase besichtigte, schreckte den Wächter auf. Nicht, dass der Herr gegen irgendwelche Regeln verstossen hätte, nein, er stand nur da, aber trotzdem war etwas daran eigenartig. Der Wächter setzte sich aufrecht hin und liess den Besucher nicht aus den Augen. Dieser betrachtete die Vase von allen Seiten, und nun holte er eine Kamera aus seiner Tasche. Der Wächter erhob sich und spazierte langsam zu der Vitrine mit der Vase. Der Besucher fotografierte das Exponat von allen Seiten, und dann passierte es. Er kletterte über die Abschrankung und starrte die Vase an, sozusagen mit der Nase an der Scheibe. Und zu guter Letzt fotografierte er auch noch mit Blitz. Das war eindeutig zu viel.
«Wusste ich es doch!» schoss es dem Wächter durch den Kopf, «ich habe dem doch gleich und noch von hinten angesehen, dass er nichts Gutes im Schild führt! Überall sind Hinweise, dass fotografieren mit Blitz verboten ist und dass die Abschrankungen eingehalten werden müssen, aber der hält sich nicht dran.»
Mit Donnerstimme sagte er nun: «Fotografieren mit Blitz ist verboten, über die Abschrankung klettern schon gar! Schauen sie sich mal all die Hinweise an, die sind doch nicht zu übersehen!»
Der Besucher betrachtete das Bild auf seiner Kamera lange, änderte noch etwas die Helligkeit und betrachtete es wieder.
Dann erst wandte er sich dem Wächter zu und sagte: «Ja, ich weiss, dass das verboten ist, und es tut mir auch leid, aber ich dachte, man sieht es so vielleicht etwas genauer. Das ist aber leider nicht so.»
«Kommen sie zurück hinter die Abschrankung!» befahl nun der Wächter. Aber der Besucher drückte wieder seine Nase an der Scheibe platt.
Da hatte der Wächter genug. Energisch nahm er den renitenten Besucher am Arm und sagte: «Sie kommen mit zum Direktor! Und zwar sofort!»
Der Besucher wehrte sich keineswegs, sondern sagte: «Ja, das ist gut, das wollte ich auch vorschlagen, bitte zeigen Sie den Weg.»
Für einen kurzen Moment stand der Wächter etwas unschlüssig da. Die meisten Besucher, die man zum Direktor schleppen wollte, weigerten sich oder versuchten, sich doch herauszureden. Dass einer aber sogar selber zum Direktor wollte, das war noch nie vorgekommen. Dann fasste er sich wieder und sagte barsch: «Kommen Sie, da geht es lang.»
Der Direktor seufzte, als ein Besucher, der die Regeln gebrochen hatte, angemeldet wurde, wies aber auf einen Stuhl und sagte: «Setzen Sie sich doch. Was ist genau passiert?»
Der Wächter hatte sich bei der Türe aufgestellt und sagte nun: «Er hat mit Blitz die griechische Vase fotografiert und ist einfach über die Abschrankung geklettert. Dann hat er die Nase an der Scheibe plattgedrückt, ich wette, man sieht noch den Abdruck auf dem Glas! Empörend!»
«Ist das wahr?» fragte der Direktor den Besucher.
«Ja, das ist ganz richtig so, das habe ich tatsächlich gemacht.»
«Aber Sie wussten doch, dass es verboten ist!»
«Natürlich wusste ich das, aber, es tut mir leid, es ging nicht anders.»
Der Direktor schüttelte den Kopf und sah fragend zum Wächter hin. Dieser zuckte die Achseln wie um zu sagen: «Sehen sie, der hat doch nicht ganz alle Latten am Zaun.» Der Besucher kramte nun in seinen Taschen herum und überreichte dem Direktor eine Karte.
«Sehen sie, Weils mein Name, ich bin Archäologe und befasse mich besonders mit griechischen Antiquitäten. Darum wollte ich diese Vase genau anschauen und...» er räusperte sich verlegen, «ich muss ihnen sagen, die Vase ist eine Fälschung.»
Totenstille herrschte im Raum.
Der Wächter stand wie vom Donner gerührt bei der Türe. Er hätte zu seinem Posten zurückkehren sollen, aber nach dieser monströsen Behauptung konnte er sich nicht bewegen. Das schönste Ausstellungsstück, zur Zeit der Stolz des Museums und auch sein eigener, da er ja der Bewacher davon war, das sollte eine Fälschung sein?
Der Direktor wischte sich den Schweiss von der Stirn, versuchte etwas zu sagen, aber dies misslang kläglich. Erst nachdem er ein paar mal Luft geschnappt hatte, gelang es ihm.
«Hören sie, Herr Weils, diese Behauptung ist ungeheuerlich. Einer der besten Experten hat die Vase in Athen für uns ausgesucht und die Echtheit der Vase bestätigt. Vielleicht haben sie schon von ihm gehört? Dr. Marburg?»
Dr. Weils nickte: «Natürlich kenne ich Dr. Marburg, persönlich sogar, und er ist der Beste. Wenn er bestätigt hat, dass die Vase echt ist, dann stimmt das auch.»
«Sehen Sie, wusste ich es doch!» rief der Museumsdirektor, «was sollen also Ihre haltlosen Behauptungen?»
«Die sind keineswegs haltlos! Die Vase, die Dr. Marburg in Athen angeschaut hat, war ganz bestimmt echt. Was aber hier steht, ist eine Fälschung. Schauen Sie sich doch diese Bilder an!»
Weils, der Archäologe holte nun seine Kamera hervor, suchte lange darauf herum und zeigte dann dem Direktor ein Bild: «Sehen Sie, das ist die Vase.»
«Ja, ganz genau, das ist unsere Vase! Und? Wo ist das Problem?» fragte nun der Direktor.
«Dieses Bild habe ich im Museum in Athen gemacht. Dort ist die Vase ja beheimatet. Und jetzt...» wieder suchte er auf seiner Kamera herum «schauen Sie sich dieses Bild an!»
Der Direktor lächelte: «Ja, jetzt steht die Vase bei uns. Und?»
«Schauen Sie sich die Füsse der Figuren genau an auf diesem Bild...» wieder suchte er auf seiner Kamera herum «und auf diesem Bild. Fällt Ihnen etwas auf?»
Der Direktor schaute angestrengt das erste und dann wieder das zweite Bild an. Schliesslich sagte er: «Die Bilder sind genau gleich, nur der Hintergrund ist verschieden.»
«Eben nicht! Hier sind die Füsse weiter auseinander als beim andern Bild.»
Nun zeigte er die beiden Bilder hintereinander, immer wieder. Schweissperlen entstanden auf der Stirn des Direktors, er wurde hochrot und dann blass.
«Diese Vase ist eine Fälschung, eine ausgezeichnete, aber eben doch eine Fälschung. Hier unten sind die Abstände zwischen den Figuren ungleich. Es ist nur minim, darum wollte ich es ja genau ansehen, aber das ist eindeutig. Ausserdem ist hier unten am Fuss ein winziger Farbspritzer, man sieht ihn kaum, da war der Fälscher wohl in Eile. Ich kenne diese Vase, ich habe sie schon in Athen bewundert, aber dies hier ist nicht das Original aus Athen.»
Dr. Weils zeigte nun wieder die letzten Fotos, die er von der Vase gemacht hatte.
Der Direktor starrte auf das Bild und wieder wurde er blass und dann hochrot. Dann griff er zum Telefon und sagte: «Das kann bestimmt aufgeklärt werden. Ich versuche, Dr. Marburg zu erreichen.»
Eine aufgeregte Diskussion am Telefon erfolgte, und dann lehnte sich der Direktor zurück.
«Das haben wir gleich, Dr. Marburg ist in einer halben Stunde hier. Dann werden Sie sehen, dass das ein Irrtum ist.»
Der Wächter kehrte nun zu seinem Saal zurück und betrachtete die Vase lange. Sollte das beste Stück nun doch gar nicht so wertvoll sein? Irgendwie kam er sich persönlich betrogen vor. Daher schaute er immer wieder aus dem Fenster. Als ein Taxi in rasanter Fahrt daher rauschte und vor dem Eingang des Museums anhielt, nickte er. «So,» brummte er, «das haben wir gleich, der Herr, der da die Treppe hinaufeilt, ist bestimmt der Experte.»
Kurz darauf stürmte der Direktor gefolgt von einem atemlosen Herrn und Dr. Weils in den Saal mit der Vase. Der Wächter wurde angewiesen, alle Besucher aus dem Raum zu scheuchen und niemanden mehr herein zu lassen. Dann öffnete der Direktor die Vitrine und der Experte nahm die Vase sorgfältig heraus. Alle drei Männer beugten sich über das Exponat. Dr. Weils deutete auf die Figuren, der Experte starrte darauf, und der Direktor scharrte in seiner Aufregung fast ein Loch in den Boden.
Dann richtete sich Dr. Marburg auf, rückte seine Brille zurecht, räusperte sich und hauchte: «Ich verstehe das nicht, das ist eine Fälschung!»
Der Direktor schien zu schwanken, der Wächter konnte ihn gerade noch zu seinem Stuhl in der Ecke geleiten und dafür sorgen, dass er auf und nicht neben den Stuhl sank.
Schweissperlen erschienen nun wieder auf der Stirn des Direktors, und er stöhnte: «Was machen wir jetzt?»
Nun nahm Dr. Marburg das Heft in die Hand. Er sagte: «Die Vase war zweifellos echt in Athen. Jetzt steht da aber eine Fälschung. Wir müssen die Polizei benachrichtigen. Irgendwo unterwegs wurde das Stück ausgetauscht. Ich habe schon einmal von so einem Fall gehört, es aber nicht so richtig geglaubt.»
Der Saal wurde nun geschlossen, und die drei Herren kehrten ins Büro des Direktors zurück. Dieser griff zum Telefon, aber Dr. Weils bat ihn zu warten. Dann suchte er auf einem Handy herum und erklärte: «Ich hatte schon einmal mit einem Fall von gefälschten Antiquitäten zu tun. Es gibt eine besondere Abteilung von Interpol, die sich damit befasst. Ich habe keine direkte Nummer dieser Abteilung, aber ich kenne jemanden, der uns weiterhelfen kann.»
Er fand die Nummer und rief an. Offensichtlich wurde die Sache ernst genommen, denn schon kurze Zeit später fuhr ein Auto mit drei Herren in Zivil vor.
Diebstahl von Antiquitäten und der Handel mit meist ausgezeichneten Fälschungen, so erfuhren sie, hatten in letzter Zeit ein erschreckendes Ausmass erreicht. Genau wie in diesem Fall wurden die echten Stücke irgendwann auf dem Transport durch gute Fälschungen ersetzt. Diese waren oft so gut, dass sie über längere Zeit nicht entdeckt wurden. Wo und wie der Austausch stattfand, war immer noch ein Rätsel, allerdings eines, an dem eine ganze Gruppe von Leuten arbeitete. Dies war also nicht etwa ein Einzelfall, sondern sozusagen ein Steinchen in einem Mosaik.
Der Direktor verstand nicht ganz, warum er plötzlich etwas beruhigt war, denn die Tatsache, dass die hoch gerühmte Vase eine Fälschung und er erst noch darauf hereingefallen war, blieb ja bestehen. Er liess den Saal mit der Vase vorläufig sperren, die Fälschung wurde beschlagnahmt, aber niemand glaubte daran, dass sie irgendwelche Hinweise auf die Fälscher liefern würde. Dafür war sie zu gut, die Fälscher waren offenbar Profis, und so leicht liessen die sich sicher nicht zu Fehlern, die auf sie hinweisen würden, hinreissen.
Der Raum, der den Eingeweihten nur als die Zentrale bekannt war, war ein fensterloses, nicht allzu grosses Zimmer, dessen einziges Mobiliar aus einem grossen Schreibtisch samt ledernem Bürostuhl, einem halben Dutzend Uhren an der Wand, die verschiedene Zeitzonen anzeigten, einem Computer und einigen Monitoren bestand.
Dieser Raum war ursprünglich einer von mehreren Kellern unter einem Konglomerat von verschiedenen grösseren und kleineren Häusern gewesen, deren Grundrisse bereits im Mittelalter bestanden, und die im Laufe der Zeit zu einem undurchsichtigen und unüberschaubaren Netzwerk von Räumen, Treppen und Gängen geworden waren. Er war aber schliesslich vor Jahren für die heutige Verwendung radikal umgebaut worden: Die Wände und die einzige Türe waren speziell schallisoliert, so dass nicht der geringste Laut nach aussen dringen konnte; selbst wenn drinnen eine Handgranate explodiert wäre, hätte man sie draussen nicht gehört. Auch die Lüftung war so konzipiert, dass sich keine Schallwellen durch ihre Kanäle nach aussen fortpflanzen konnten.
Kernstück der Zentrale war aber der grosse, leistungsstarke Server, der im gleich ausgestatteten Raum nebenan stand. Dieser Server verfügte über modernste Sicherheitseigenschaften, die den unbefugten Zugriff auf das System und auch seine Lokalisierung verunmöglichen sollten. Ein äusserst fähiger Softwareentwickler hatte die ganzen Programme geschrieben, eingerichtet und ausgetestet. Leider war er allerdings kurz nach deren endgültiger Installation und Inbetriebnahme bei einem von der Polizei nie aufgeklärten Autounfall ums Leben gekommen.
Eine einzige Person hatte Zugang zu diesem Raum, in welchem sie wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes sass und auf Beute lauerte. Niemand hatte sie je zu Gesicht bekommen, und bekannt war sie den Eingeweihten nur unter dem Decknamen Dagobert. Hier sass also Dagobert in der Mitte eines weltumspannenden Netzes von Personen aus dem Umfeld renommierter Kunsthändler, deren Namen einerseits als Referenz, andererseits eigentlich nur zur Deckung dienten. Es waren ausschliesslich diese Personen, welche die Firma nach aussen vertraten. Dagobert selbst blieb unsichtbar und zog nur an den Fäden des Netzes.
Als Kunden hatte Dagobert eine kleine, aber stets wachsende Zahl von sehr vermögenden Kunstsammlern, die sich nicht unbedingt nur am öffentlichen Kunstmarkt eindecken wollten, sondern die auch sehr gerne Gegenstände von nicht lupenreiner Herkunft erwarben, vorausgesetzt sie waren etwas Spezielles und ihre exorbitanten Preise wert. So fanden Museumsstücke oder bedeutende Kunstgegenstände aus privater Hand, die irgendwann einmal Teil eines spektakulären Raubes oder Einbruchs gewesen waren, ihre neuen Besitzer, die sich deswegen jedoch nur privat und ganz im Geheimen an ihnen erfreuen konnten. Da die gehandelten Gegenstände allesamt ausschliesslich im Hochpreissektor angesiedelt waren und die Preise zudem einen beträchtlichen Risikoaufschlag enthielten, war der Gewinn, den diese Geschäfte abwarfen, natürlich immens.
Alle drei Monate traf sich die Geschäftsleitung zu einer virtuellen Sitzung, an der die Marktsituation besprochen, neue Klienten geprüft, neue Anschaffungen vorgestellt und mögliche Interessenten dafür diskutiert, sowie die Machbarkeit von Bestellungen verhandelt wurden. Vor wenigen Jahren noch waren diese Sitzungen jeweils am europäischen Nachmittag angesetzt, weil es dann in New York Vormittag war, und nur das Mitglied in Dubai hatte so statt eines Feierabends einen vollen Arbeitsabend vor sich. Aber jetzt, wo sich das grosse Geld auch mit Kunden aus China und Südostasien machen liess, hatte die Firma ihre Vertretungen in Singapur und Hong Kong aufstocken müssen.
Deswegen sass Dagobert nun morgens um 1 Uhr in der Zentrale vor dem Computer und begrüsste die zugeschalteten Mitarbeiter der Reihe nach. Auch wenn die Audio- und Video-Verbindungen untereinander in der höchstmöglichen Sicherheitsstufe gesichert waren, und alle Daten und Gespräche nach neuesten Standards verschlüsselt übermittelt wurden, beachteten die Teilnehmer dieser Videokonferenzen zusätzliche Sicherheitsmassnahmen, damit in keiner Weise auf die Präsenzorte der Teilnehmenden geschlossen werden konnte; es wurden keine Uhrzeiten erwähnt und auf keine Geschäftsbeziehungen in direkter Weise hingewiesen. Ausserdem sorgte ein «voice scrambler» dafür, dass niemand jemals eine der Stimmen erkennen sollte. Und zuletzt konnte nur Dagobert die einzelnen Teilnehmer der Konferenz sehen, alle anderen sassen vor einem schwarzen Bildschirm ohne jegliche Information, weder über Dagobert, noch über die anderen Teilnehmer. Diese waren ohnehin nur durch Buchstaben bezeichnet, welche mit den im Luftverkehr üblichen Bezeichnungen angesprochen wurden.
Das ganze Netz war vor etwas über zwanzig Jahren entstanden, nachdem einzelne Angestellte, die allesamt einen gewissen dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit aufwiesen und in renommierten Häusern arbeiteten, von einer unbekannten Person angesprochen worden waren. Diese Person hatte den Betreffenden einen lukrativen Vorschlag unterbreitet, ihnen jedoch auch erklärt, dass ihr die dunklen Punkte bekannt seien und sie mit ausgesprochen hässlichen Konsequenzen für ihre soziale, berufliche und finanzielle Stellung rechnen müssten, wenn sie den Vorschlag ablehnen würden. Eine Mischung aus Furcht, Neugier, Gier und Nervenkitzel hatte schliesslich alle so Angesprochenen bewogen, auf das Angebot einzugehen und sich in den Dienst dieses Netzwerkes zu stellen.
Nach einigen Begrüssungsworten eröffnete Dagobert die Sitzung mit den Worten:
«Wir wollen unsere Sitzung mit einer Auslegeordnung der grösseren Verkäufe im letzten Quartal beginnen. Whisky, du hast das Wort.»
Eileen McGrath, alias Whisky, war die Assistentin eines bekannten Kunsthändlers in New York, dessen Firma sich auf Keramiken aller Art spezialisiert hatte, und deren Besitzer als Koryphäe auf dem Gebiet chinesischer Vasen galt.
«Wir hatten in der Berichtsperiode den Verkauf einer griechischen schwarzfigurigen Vase durchgezogen. Es handelte sich um eine Vase des Eupator-Malers, für welche unser Kunde einhundert Millionen US-Dollar geboten hatte. Wir hatten wenig Schwierigkeiten, das Original durch eine Kopie zu ersetzen, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte. Der Kunde hat sich sehr zufrieden gezeigt über die Abwicklung dieser Transaktion und uns die Kaufsumme wie vereinbart in Bitcoins überwiesen. Leider ist der Bitcoin-Kurs kurz nach der überweisung massiv unter Druck geraten, und wir erachteten es als inopportun, diese Summe sofort in Dollars zurück zu wechseln. Wir warten lieber, bis sich der Kurs wieder etwas erholt hat, sonst würde unser Wechselkursverlust allzu gross geraten. Wie auch immer … Ich habe erwähnt, dass unser Kunde sehr zufrieden war, und wir haben von ihm unmittelbar im Anschluss zu dieser Transaktion eine neue Bestellung bekommen.»
«Okay, Whisky,» unterbrach Dagobert, «zu den neuen Bestellungen kommen wir später. Ich bin aber sehr einverstanden, dass wir mit dem Umtausch der Bitcoins zuwarten. Der Kurs wird sich bestimmt wieder erholen, und ausserdem können wir ja Lieferanten in Bitcoins bezahlen, könnte durchaus sein, dass auch sie lieber in dieser Währung honoriert werden möchten.»
«Wir haben noch einige andere Bestellungen erfolgreich erledigt,» fuhr Whisky fort. «Unser Umsatz hat sich gegenüber dem Vergleichsquartal des Vorjahres – sogar ohne Berücksichtigung des 100-Millionen-Geschäftes – um beinahe 50 Prozent erhöht. Insgesamt also ein sehr gutes Quartal, und die Vorschau auf das nächste ist ebenfalls äusserst viel versprechend, denn wir haben einige potenziell lukrative Verbindungen aufgebaut.»
Auch die anderen legten nun ihre Ergebnisse vor, und Dagobert sparte nicht mit Lob, denn die Gesellschaft hatte durchs Band weg überaus profitabel gearbeitet.
«Aber gehen wir jetzt zum nächsten Punkt auf unserer Traktandenliste,» sagte Dagobert, «zu den grösseren und schwieriger zu erfüllenden Bestellungen. Hast du etwas, Delta?»
Tian Cheng war stiller Hauptaktionär einer kleinen, aber feinen und relativ unbekannten Internet-Handelsfirma für ein gut betuchtes Publikum, die sich damit rühmte, es gebe für sie keine unmöglichen Wünsche. Seine nächsten Worte waren aber nicht dazu angetan, diesem Anspruch gerecht zu werden.
«Ein chinesischer Kunde hat sich nach der Möglichkeit erkundigt, die Mona Lisa zu erwerben.»
Heiterkeit machte sich in der Runde breit.
«Er behauptete, dass er bereit sei, bis zu einer Milliarde US-Dollar aufzuwerfen, aber ich glaube doch, dass die Beschaffung dieses spezifischen Werks unsere Möglichkeiten eher übersteigen würde. Ich habe ihm das klar gemacht, und er würde sich durchaus mit einem Raffael, einem Leonardo oder einem anderen Werk eines berühmten Renaissance Malers zufriedengeben – wir sollen ihm ein Angebot machen. Hat jemand einen Vorschlag?»
Dagobert lächelte vergnügt und sagte: «Ich glaube nicht, dass wir hier und jetzt gleich einen Vorschlag machen können, die ganze benötigte Logistik zu analysieren erfordert etwas mehr Zeit, aber wenn jemand eine Idee hat, soll er sich melden. Wir können dieses Projekt dann bilateral weiterverfolgen. Einverstanden, Delta?»
«Sicher, kein Problem, der Kunde hat Geduld – ein richtiger Asiate.»
«Gut. Weitere Anfragen? Hotel?»
Robin Richardson war ein unbedeutender Angestellter einer bekannten Galerie in London, mit Ablegern in Glasgow und Dublin, der ausschliesslich dafür verantwortlich war, die Auktionsgegenstände in den Saal hinein und wieder hinaus zu tragen. Dabei hatte er sich jedoch profunde Kenntnisse in der Malerei des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts angeeignet. Er schüttelte nun den Kopf und sagte in etwas bedauerndem Ton:
«Ja, wir haben ein paar Bestellungen, aber ich kann heute finanziell mit den Kollegen nicht mithalten. Es ist nichts Grösseres dabei, halt so das übliche – zwei oder drei mittelalterliche Ikonen und Altartafeln, etwas in antiken Statuen, aber nichts, was bei der Beschaffung Probleme bieten sollte. Was wir nicht auf dem freien Markt erwerben können, das steht meist in kleineren Museen, Kirchen oder sonst wo herum und ist somit ebenfalls ziemlich leicht erhältlich. Falls dort überhaupt Alarmsysteme vorhanden sind, so sind sie doch erfahrungsgemäss jeweils noch von vorgestern und bieten keine Hindernisse für unsere Profis.»
«Schön, wenn du also keine Hilfe brauchst, ist das okay, sonst melde dich einfach wieder. Weitere Meldungen? Sierra? November? Golf? alles im grünen Bereich? Nichts? keine grösseren Sachen?»
Guy de Chavaleyres, alias Sierra, der Financier hinter einem der bekanntesten Pariser Kunsthändler mit einem Geschäft gleich hinter den Champs-Elysées, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber wieder und schüttelte den Kopf. Er habe eine Kleinigkeit, aber die könne warten, das Problem von Whisky sei sicher bedeutsamer.
Dagobert schwieg einen Moment, dann nahm er wieder das Wort:
«Also gut, in dem Fall jetzt wieder zu dir, Whisky. Du hast eine etwas kniffligere Bestellung, nicht wahr, oder sehe ich das falsch?»
«Ja, genau, du hast schon Recht,» meinte Eileen. «Mein Kunde ist versessen auf berühmte antike Keramiken, die logischerweise fast ausschliesslich in grösseren Museen stehen. Die Vase, die er soeben erhalten hat, kommt aus einem solchen, woher spielt keine Rolle. Er hat sich aber nun in ein kleineres Stück verliebt, das er unbedingt haben muss, und er ist bereit, auch dafür einen grösseren Betrag zu bezahlen. Es handelt sich um die berühmte Lekythos im Archäologischen Museum von Heraklion auf Kreta mit der Darstellung des Theseus, wie er den Minotaurus erschlägt. Diese Lekythos zu entwenden stellt uns natürlich vor sehr viel grössere Probleme als die, welche Hotel soeben erwähnt hat. Wächter, Alarmsysteme, Polizei, alles ist in viel stärkerem Masse zu berücksichtigen, als in einem Kirchlein in den apulischen Bergen oder dem bulgarischen Hinterland. Prinzipiell möchte ich deshalb gleich vorgehen, wie bei der vorherigen Vase, also dem Museum eine Kopie unterjubeln. Aber diese Lekythos ist, soweit ich weiss, im Moment nicht dazu vorgesehen, anderswo als Leihgabe eine Sonderausstellung zu schmücken. Es ist ja ganz klar, dass nur während eines Transportes ein Austausch bewerkstelligt werden kann, ohne grosse Aufmerksamkeit zu erregen. Ich habe mir krampfhaft überlegt, wie eine Entfernung dieses Stücks aus dem Museum einzufädeln wäre, bin aber da nicht weitergekommen. Ideen wären also gefragt!»
Stille. Gesenkte Köpfe. Dann schaute Robin, alias Hotel, auf:
«Es müsste doch irgendwie möglich sein, jemanden für die Organisation einer kleineren oder grösseren Ausstellung zu interessieren, Thema 'Antike Mythen in Vasenbildern' oder so ähnlich. Wir haben doch genügend Verbindungen zu Althistorikern und Museumsleuten, oder etwa nicht? Man müsste ja nicht direkt werden und eine solche Ausstellung propagieren, nur hie und da und dort einen Hinweis fallen lassen, wie interessant dieses Thema doch sein könnte. Wäre das allenfalls ein Weg? Ich weiss, es würde Zeit brauchen, aber der Kunde muss sich halt in Geduld üben.»
Eileen zuckte die Achseln und meinte, der Kunde werde das bestimmt einsehen und nicht darauf dringen, die Lekythos bereits nächste Woche geliefert zu bekommen.
Dagobert blickte einen Monitor nach dem anderen an, dann bestimmte er:
«Was Hotel sagt ist wahr, ich werde schauen, ob sich da etwas machen lässt. Eine Ausstellung in einem eher provinziellen Museum wäre gut, dort sind Sicherheitsvorkehrungen wahrscheinlich leichter zu umgehen, und ein Austausch mit einer Kopie dürfte weniger auffallen, aber wir werden nehmen müssen, was sich so anbietet. Also gut, dann wäre das erledigt, ich werde alles in die Wege leiten. Hat sonst noch jemand etwas vorzubringen, ausser Sierra? Nicht? Dann kommen wir zu dir, Sierra, du hast das Wort.»
Guy räusperte sich, schloss für einen Moment die Augen, dann erklärte er:
«Ich habe einige Hinweise erhalten auf eine Sache, die zu unserem Geschäftsmodell passen könnte, aber im Moment sind wir da noch aussen vor, und es fragt sich, ob wir uns da hineindrängen sollten. Andererseits scheint das Ganze sehr lukrativ zu werden, falls es denn funktioniert, und eine Möglichkeit, durch einen relativ geringen Einsatz Millionen zu verdienen, sollte auch für einen so erfolgreichen Betrieb wie den unseren nicht leichtfertig ausser Acht gelassen werden.»
«Du machst uns wirklich neugierig, erzähle mal.»
«Es geht um einen Teil der Beute, welche die Diebe beim spektakulären Einbruch in den Tresorraum der Gold- und Münzenhandelsfirma Klunker in Frankfurt gemacht haben. Der grösste Teil der Beute bestand aus Goldbarren, und die sind relativ einfach zu verhökern. Dann haben sie aber auch noch eine Schatulle mit antiken Goldmünzen mitlaufen lassen, in den Zeitungen war die Rede von rund zwei Dutzend Dareiken. Die sind jedoch gar nicht so einfach verkäuflich, denn diese Goldmünzen haben alle einen Steckbrief mit genauer Beschreibung aller Besonderheiten und einer Fotografie, der sofort an alle Münzhandelsorganisationen weltweit verschickt wurde. Würde also irgendwo eine dieser Münzen im Handel angeboten, wäre ihre Herkunft aus diesem Raub sofort ersichtlich. Das können sich die Diebe aber ganz klar nicht leisten. Einschmelzen wäre eine Lösung, aber bei den dafür entstehenden Kosten wäre dann der Profit zu gering. Zudem sind die per Stück mindestens tausend Euro wert, bei einem Materialpreis von nur rund zwanzig Euro, da liesse man sich einen schönen Batzen entgehen. Anscheinend suchen sich diese Leute andere Möglichkeiten, diese Münzen profitabel los zu werden, beispielsweise durch gewisse Veränderungen an den Münzbildern.»
«Ich sehe nicht ganz ein, wie gewisse Veränderungen an den Münzbildern diese plötzlich um ein Vielfaches wertvoller machen würden,» unterbrach ihn Clyde, «eine Dareike ist und bleibt eine Dareike. Höchstens würde sie durch solche Veränderungen handelbarer gemacht, aber ihr Wert bliebe doch gleich oder würde sich sogar verringern.»
«Ganz klar. Ich weiss auch nicht, worauf die Bande hinauswill, es muss schon etwas Besonderes sein. Aber genau deshalb frage ich ja auch: Soll ich mich weiter damit befassen und versuchen herauszukriegen, was die im Schilde führen und wie wir uns da reinhängen könnten, oder lassen wir es bleiben?»
«Es wäre sicher nicht schlecht, wenn du da noch etwas dranbleiben würdest,» sagte Dagobert, «aber wende nicht zu viel Zeit und Mühe auf, es lohnt sich nicht, solange du nichts Genaueres in Erfahrung bringen kannst. Ich danke dir jedenfalls für den Hinweis, aber ob das auch ein gutes Geschäft werden kann, bleibt natürlich abzuwarten. Hast du noch weitere Bemerkungen dazu? Nein? Sonst noch jemand? Nein? Dann erkläre ich unser Meeting für beendet, und wir treffen uns in drei Monaten wieder, es sei denn, irgendwelche Umstände würden eine frühere Besprechung notwendig machen. Ich werde euch jedenfalls auf dem gewohnten Weg die Info zum Login mit Datum und Uhrzeit bekanntgeben. Alles klar? Dann Adieu.»
Damit lehnte sich Dagobert zurück, schlug mit einem Finger eine Taste auf seinem Keyboard an und die Monitore erloschen.
Der Flug aus Zürich war mit etwas Verspätung in Kreta gelandet, fast gleichzeitig mit einem Flug aus Rom. Vor dem Durchgang beim Zoll bildeten sich lange Schlangen, und es schien kaum vorwärts zu gehen. Die zwei jungen Leute aus Bern störte dies aber nicht, sie strahlten beide um die Wette und freuten sich auf ihre wohlverdienten Ferien.
«Einfach Ferien diesmal, Strand, ein paar Sehenswürdigkeiten, aber nichts, das uns in Teufels Küche bringt wie letztes Jahr!» betonte Anna wieder einmal.
«Das sagst du alle zwei Stunden! Aber diesmal passiert wirklich nichts. Ich kaufe nichts, aber auch gar nichts, und lasse mich nicht in dunkle Machenschaften hineinziehen! Versprochen!» bestätigte Timo.
«Gut,» sagte Anna, «ich freue mich wirklich!»
Sie rutschten ein paar Meter nach vorn.
«Aber spannend war es doch. So richtig Action!» fand Timo.
«Aber sicher,» bestätigte Anna, «unser Hotelzimmer wurde durchwühlt, wir mussten über Dächer abhauen, wurden in den Keller gesperrt ...»
«Und es war überhaupt nicht langweilig!» sagte Timo.
Anna gab ihm einen Stoss und schloss wieder auf die Warteschlange auf.
Da stand plötzlich ein dunkelhaariger, rundlicher Herr vor ihnen und bat inständig: «Bitte helfen Sie mir! Ich habe hier eine Umhängetasche, die bringt mich um. Mein Rücken schmerzt dermassen, dass ich sie einfach nicht mehr schleppen kann. Sie ist nur klein, aber für meinen lädierten Rücken einfach zu viel. Draussen wartet ein Bekannter auf mich, Sie müssten die Tasche also nur bis dort hinaus tragen.»
Anna hatte sofort Mitleid mit dem Mann und wollte die Tasche nehmen, aber Timo drängte sich dazwischen:
«Das geht leider gar nicht, sehen Sie, mein Rücken ist auch eine Katastrophe, ich habe volles Verständnis, ich weiss wie es Ihnen geht, aber ich kann Ihnen nicht helfen!»
«Vielleicht die Dame?» fragte der Herr nun hoffnungsvoll.
Anna wollte schon zustimmen, da sagte Timo:
«Auf gar keinen Fall, meine Frau ist schwanger, die darf nichts tragen, sehen Sie, darum hat sie nur ein winziges Rucksäcklein und ein Rollköfferchen! Nein, nein, das geht gar nicht.»
Enttäuscht wandte sich der Mann um und fädelte sich weiter hinten in der Schlange wieder ein.
Anna aber fauchte Timo an: «Spinnst du! Seit wann sind wir verheiratet und ich erst noch schwanger?»
Timo zuckte die Schulter und fand: «Man weiss ja nie!»
Das brachte ihm einen Tritt ins Schienbein ein.
«Autsch!» rief er, «lass das!»
Aber dann sagte er: «Da stimmt was nicht, glaub mir, der will etwas schmuggeln und braucht ein Opfer, das es durch den Zoll bringt. Das ist kein armer Mann, sondern ein Halunke, ganz bestimmt, und ich habe dir doch versprochen, dass wir uns nicht mir solchen Figuren einlassen. Ich hätte aber nicht gedacht, dass ich ausgerechnet dich daran hindern muss. Wer, bitte, wollte jetzt nur geruhsame, schöne Ferien?»
«Ach wo, das war sicher nur ein gewöhnlicher Tourist. Was sollte er schon in dieser kleinen Tasche schmuggeln können?»
«Drogen, die brauchen nur wenig Platz und bringen viel ein, in jeder Hinsicht, viel Geld oder auch viel Gefängnis für unbedarfte Touristen, die so was schmuggeln.»
Anna schüttelte den Kopf. Aber jetzt hatten sie auch schon die Zollbeamten erreicht, die sie beide aber gelangweilt durchwinkten.
«Da hast du es, du siehst so harmlos aus, dass du eine ideale Drogenschmugglerin wärst.» sagte Timo.
«Hör bloss auf mit dem Unsinn! Wir suchen jetzt den Mann vom Hotel, der sollte uns ja hier abholen.»
Beim Ausgang warteten jede Menge Leute, Angehörige, die ihre Familienmitglieder in Empfang nehmen wollten, Taxifahrer, Reiseleiter, die alle gebannt auf die Reisenden starrten, die nun durch den Ausgang strömten.
Anna und Timo lasen eingehend alle die Tafeln, die ihnen entgegengestreckt wurden, aber ihr Name war nicht zu finden.
«Wir sollten doch abgeholt werden,» brummte Timo, «irgendwo muss der Kerl ja stecken.»
Und wieder liessen sie ihre Blicke über die Tafeln gleiten.
Da entdeckten sie einen jungen Mann etwas weiter hinten, der eine Tafel mit ihren Namen immer wieder über die Köpfe der vor ihm Stehenden hob.
«Da ist er ja,» freute sich Anna.
Der junge Mann drängte sich nun durch die anderen Wartenden nach vorn, packte Annas Koffer, und sagte: «Folgen Sie mir bitte, das Auto steht etwas weiter hinten.»
Er brachte sie zum Auto, lud ihr Gepäck ein und bat sie, noch einen kurzen Moment zu warten, er sei gleich zurück. Dann rannte er zurück zum Flughafen.
Im Auto war es sehr heiss, also warteten sie im Schatten daneben und betrachteten das Hin und Her vor dem Flughafen.
«Schau,» sagte Anna, «dort drüben ist unser Bekannter mit der Tasche.»
«Ja, tatsächlich,» bestätigte Timo, «und schau mal, was unser armer Kranker so macht! Die Tasche schultert er locker, und da ist weit und breit kein Bekannter, der ihn abholt und die Tasche trägt.»
«Aber schau wie nett,» fand Anna, «er kümmert sich um die alte Dame neben ihm. Da, er bringt sie weg aus dem Gewühl. Sie wartet wohl auf jemanden. Da hast du es. Dein Halunke ist einfach ein hilfsbereiter Mensch.»
Aber Timo liess sich nicht von seiner Theorie abbringen.
«Woher weisst du,» sagte er, «dass er der Dame nicht längst das Portemonnaie geklaut hat? Vielleicht auch noch gleich den Pass, und den kann er dann verhökern. Auch das wäre ein gutes Geschäft!»
Anna lachte: «Aber sicher, da hat es ganz viele alte Damen, die krumme Dinger gedreht haben und sich jetzt mit einem gefälschten Pass absetzen wollen. Also wirklich, manchmal geht deine Fantasie einfach mit dir durch.»
Nach einer Weile eilte ihr Fahrer wieder daher und brachte noch einen weiteren Gast mit.
Timo schaute zum rundlichen Herrn zurück, der nun tatsächlich mit einem anderen Mann sprach. Rasch machte Timo ein Foto.
«Wozu fotografierst du ihn?» fragte Anna.
«Er ist ein Halunke, da bin ich mir sicher, alte Dame hin oder her. Das wirst du noch sehen! Jetzt habe ich doch wenigstens ein Bild von ihm.»
Anna seufzte: «Wenn es dich beruhigt ...»
Zwei Stunden später standen sie vor ihrem Hotel und schauten auf das glitzernde Meer in der Bucht vor Agios Nikolaos. Die Ferien konnten beginnen.
Der Versuch, die Tasche dem harmlosen Pärchen unterzujubeln, war gescheitert. Milo versuchte, die Nervosität, die in ihm aufsteigen wollte, in den Griff zu bekommen. Das musste einfach klappen, es war ausserordentlich wichtig, dass er die Unterlagen problemlos durch den Zoll brachte.
«Das ist leicht, das kriege ich locker hin, kein Problem,» hatte er versichert. Und jetzt das! Der lange Kerl mit den krausen, grauen Haaren, der ganz kurz beim Ausgang zu sehen war, kannte ihn natürlich, ganz bestimmt hatte er ihn nicht vergessen. Wie aber konnte der plötzlich hier auf dieser griechischen Insel auftauchen? Der war doch in Belgrad stationiert, oder wenigstens hatte er Milo dort verhaftet. Dort hatte er sich zwar noch nicht Milo, sondern Petro genannt, aber das half nun auch nichts, ganz bestimmt würde der ihn und sein Gepäck auf den Kopf stellen, all die Unterlagen finden, eins und eins zusammenzählen und schon wäre das ganze wichtige Geschäft im Eimer und er in einem griechischen Gefängnis.
Das wäre verheerend, alle hatten ihm erklärt, dass Fehler in der neuen Organisation nicht geduldet würden. Ausserdem hatte Milo versichert, dass er ein unbeschriebenes Blatt und den Ordnungshütern noch nie aufgefallen sei. «Nicht mal eine Parkbusse,» hatte er beteuert, und das hatten sie ihm auch geglaubt. Vielleicht wenigstens.
In dieser Branche waren alle misstrauisch, und niemand nahm es mit der Wahrheit so genau. Das konnte man ja auch nicht, dachte Milo, die hätten mich ja nie mit dem Job beauftragt, wenn ich ihnen meine ganze Vergangenheit aufgetischt hätte. Und ein Stück weit stimmte es ja sogar, als Milo hatte er noch nie Ärger mit der Polizei gehabt.
Schweisstropfen bildeten sich auf Milos Stirn, der Hemdkragen war plötzlich viel zu eng, und die Zeit drängte, er musste eine Lösung finden, so lange die Menschenschlange vor dem Ausgang noch schön dicht war. Er holte die kleine Mappe aus der Tasche und hielt sie in seiner Hand. Milo fädelte sich nun wieder ein und schaute sich um. Da fiel ihm die Lösung für sein Problem buchstäblich auf die Füsse. Eine alte Dame hatte ihre umfangreiche Umhängetasche fallen lassen. Eifrig hob er die Tasche auf und gab sie der Dame zurück, die kleine Mappe war nun gut versorgt, und sicher wie in Abrahams Schoss, denn wer würde das Gepäck einer alten Dame filzen?
Milo hoffte, dass er am Zoll nicht allzu lange aufgehalten würde.
Er wollte ja nicht, dass die Dame schon über alle Berge verschwunden war, wenn er endlich das Gebäude verlassen konnte. Sicherheitshalber wand er sich etwas weiter nach vorn. Jetzt musste er sich einfach noch beruhigen. Tief durchatmen, sagte er sich, wenn du aufgeregt scheinst, werden sie dich sofort durchsuchen, die haben einen Blick dafür.
Noch zehn Menschen vor ihm, jetzt noch drei, vom grauhaarigen Mann war nichts mehr zu sehen, aber Milo wollte nicht allzu sehr starren, denn auch das konnte auffallen. Und jetzt passierte es: Die Zollbeamten winkten ihn einfach durch. Milo war so verblüfft, dass er fast stehen geblieben wäre. Dann aber riss er sich zusammen und spazierte gemessenen Schrittes davon.
«Nicht rennen, nicht zurückschauen, ruhig, ruhig!» sagte er sich.
Jetzt kam der nächste Schritt. Er musste der alten Dame wieder habhaft werden, und die Unterlagen aus der Umhängetasche klauben. Das sollte nicht allzu schwierig sein, jedenfalls wenn er die Dame gefunden hatte, aber dies war im Moment nicht der Fall. Sie sollte unterdessen auch durch den Ausgang gekommen sein, war aber weit und breit nicht zu sehen.
«Das gibt es doch gar nicht, die halten doch nicht etwa Grossmütter zurück?» dachte Milo, wandte sich um und spazierte langsam zum Ausgang zurück.
«Wo gehst du hin?» herrschte ihn da ein Mann an.
Erschrocken äugte Milo ihn an und schätzte ihn kurz ein. Ein Grieche dachte er, schon etwas älter, sieht man an der zurückweichenden Haarlinie, die er zu verstecken versucht. Aber da kann er noch so viel Oel auf seine Locken pappen und versuchen, die über die Ratsherrenecken zu kleben, man sieht es doch. Aber sonst ein recht eleganter Kerl.
«Wie lange soll ich noch warten? Her mit der Ware, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit,» schnauzte der Mann nun.
Zweifellos war das der Kontakt, dem er die Ware übergeben sollte. Also fragte er: «Konstantin?» denn alles, was man ihm mitgeteilt hatte, war dieser Name.
«Sicher,» war die Antwort, «und du bist Milo, also her mit dem Zeug!»
Sollte er sagen: «Im Moment habe ich die Ware nicht, ich muss zuerst die alte Dame finden.» Das tönte doch zu stümperhaft und zudem durfte er sich von dem Kerl nicht unterbuttern lassen. Also zischte er: «Mach, dass du wegkommst, du gefährdest alles! Verschwinde und warte draussen auf mich. Aber unauffällig, hörst du? Oder willst du gleich noch die Flughafenpolizei auf uns aufmerksam machen? «
Konstantin schaute ihn von oben bis unten an, wandte sich dann aber, ohne ein Wort zu sagen, um und spazierte gemütlich davon.
«Sonderbarer Kerl,» dachte Milo. «Aber jetzt an die Arbeit!»
Wo war die alte Dame? Milo schaute sich wieder um, suchte bei den Leuten, die auf ein Taxi warteten, bei der Bushaltestelle, bei den Geldwechselschaltern, aber nirgends war sie zu sehen. So schnell konnte sie doch nicht verschwunden sein. In Luft auflösen konnte sie sich ja auch nicht.
Dicke Schweisstropfen rollten Milos Rücken herunter und liessen sein Hemd kleben. Die alte Dame hatte sich als Rettungsanker präsentiert und ihm die Lösung für sein Problem buchstäblich vor die Füsse geworfen, und jetzt das! «Da verschwindet die vermaledeite Alte einfach so,» zischte er vor sich hin.
Milo wischte sich erneut den Schweiss von der Stirn und schlich zum Ausgang zurück. War sie etwa doch vom Zoll aufgehalten worden? Fast nicht möglich, aber er schaute vorsichtig durch den Ausgang zurück zu den Zollbeamten. Was er sah, liess ihn erstarren. Die alte Dame stand dort bei einem Zöllner und unterhielt sich angeregt mit ihm. Ihre Handtasche stand vor dem Beamten auf dem Tisch. Das durfte doch nicht wahr sein, seit wann durchsuchten sie das Gepäck von Grossmüttern? Milo stöhnte, und eine Frau neben ihm erkundigte sich mitleidig, ob sie ihm helfen könne.
In diesem Moment spazierte das Mütterchen strahlend durch den Ausgang. Milo setzte sein freundlichstes Gesicht auf, eilte zu ihr und sagte:
«Ach, Sie haben es auch geschafft. Haben die Zöllner Sie lange aufgehalten?»
«Oh nein,» sagte die alte Dame, «das war mein Neffe, der arbeitet hier. Es war schön, mal wieder mit ihm zu plaudern.»
Leute, die Neffen beim Zoll oder der Polizei hatten, mochte Milo gar nicht, aber jetzt musste er die alte Dame von hier weg manövrieren und unauffällig an die Handtasche kommen.
Daher fragte er: «Kann ich Ihnen helfen? Brauchen sie ein Taxi?»
«Oh nein,» versicherte sie, «ich werde abgeholt, meine Tochter ist sicher schon hier,» und suchend schaute sie sich um.
«Das auch noch,» dachte Milo. «Jetzt eilt es aber.»
«In dem dichten Gewühl hier findet Ihre Tochter Sie sicher nicht,» sagte er, «kommen Sie, dort drüben ist das Gedränge nicht so gross, dort kann Ihre Tochter Sie besser sehen!»
Sie liess sich von ihm willig auf die andere Seite steuern. Dass unterwegs eine Kollision mit einem kofferbewehrten Touristen stattfand, war natürlich nur Zufall, aber die kleine Mappe hatte wieder den Besitzer gewechselt. Milo verabschiedete sich von der alten Dame und überlegte. Die Sache war gut gelaufen, sehr gut sogar, und er konnte stolz auf sich sein. Sein erster Job in der neuen Organisation, und er hatte eine perfekte Arbeit abgeliefert. Sein neuer Arbeitgeber war bestimmt sehr zufrieden mit ihm. Aber da war noch etwas. Er hätte ja zu gerne gewusst, wo er in der ganzen Organisation angesiedelt war. Zuunterst? Oder doch etwas höher auf der Leiter? Nur war es unmöglich, das zu fragen. Der Kerl, der ihn angestellt hatte, hatte sofort klar gemacht, dass hier nur er Fragen stellte und Milo nur zu nicken hatte. Aber jetzt sah es doch recht gut aus. Milo hatte den Kontakt doch ziemlich barsch behandelt, und was hatte der gemacht? Er hatte augenblicklich gehorcht. Dies war ja wohl ein klares Anzeichen dafür, dass der unter ihm und Milo zumindest auf der zweituntersten Treppenstufe stand. Erfreut stellte er also fest: «Ich habe schon einen Untergebenen, das ist doch vielversprechend!»
Stolz marschierte er also aus dem Flughafengebäude und sah sich um. Konstantin wartete im Schatten. Milo eilte zu ihm und sagte: «Na also, da bist du ja!»
Aber da fauchte Konstatin: «Was war denn das für eine lausige Arbeit! Der ganze Flughafen konnte ja zusehen, wie du der alten Dame die Mappe aus der Tasche geholt hast. Ein glattes Wunder, dass die Flughafenpolizei dich nicht verhaftet hat. Da haben sie mir ja einen richtigen Anfänger geschickt! Her mit der Ware!»
Ein schmaler Pfad führte vom Hotel an blühenden Büschen und Blumen vorbei hinunter zur Badebucht. In jeder Ecke tauchten kleine Nischen mit Liegestühlen und Sonnenschirmen auf, so gut versteckt, dass man sie erst entdeckte, wenn man davor stand. Nach einigen Kehren und Treppen erreichte der Pfad die kleine Bucht. Genau das war es, was Timo und Anna sich gewünscht hatten, so hatten sie es sich vorgestellt, kein überlaufener Badestrand, sondern lauschige Ecken, ein kleiner, feinsandiger Strand, natürlich strahlender Sonnenschein und angenehm warmes Wasser. Da sie nun schon zwei Tage hier waren, kannten sie die besten Plätzchen, und es war ihnen auch gelungen, rechtzeitig die von ihnen aus gesehen schönste kleine Nische zu erobern. Vorher waren ihnen immer andere Gäste zuvorgekommen, aber heute hatte es geklappt.
Anna seufzte glücklich: «Genau so stelle ich mir das Paradies vor.»
Von Timo kam ein unverständliches Gebrumm, also wandte sie sich wieder ihrem Buch zu. Nach einer Weile aber schaute sie zu Timos Liegestuhl hinüber und betrachtete ihn eingehend. Was war da los? Er sollte jetzt doch überglücklich sein, er sah aber gar nicht so aus, im Gegenteil.
«Timo,» fragte sie vorsichtig, «ist was? Geht es dir nicht gut?»
«Warum?» brummte Timo.
«Na, weil du aussiehst...»
«Wie sehe ich aus?»
«Nun ja, wie ein Bär mit Zahnweh!»
Timo schoss in die Höhe: «Ein Bär mit Zahnweh? Wie bitte?»
«Entspann dich Timo, geniess es, lass deine Seele baumeln!»
Timo liess sich auf seinen Liegestuhl zurücksinken, und Anna wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Plötzlich flog Timos Buch in die Luft, der Liegestuhl klapperte und Timo sprang auf.
Erschrocken fragte Anna: «Was ist passiert, hat dich eine Wespe gestochen?»
«Nein, aber ich habe mir beim Gähnen fast den Kiefer ausgerenkt! Es ist schön hier, wunderschön sogar, aber wenn ich noch einen einzigen Tag hier bin, habe ich mich entweder zu Tode gelangweilt oder es besteht die akute Gefahr, dass ich aus dem Fenster springe oder irgendjemanden ins Bein beisse!»
«Ach so,» sagte Anna und lehnte sich wieder zurück, «das lässt du lieber, oder wenn du es unbedingt machen musst, empfehle ich dir aus dem Fenster von unserem Hotelzimmer zu springen. Drunter ist Rasen, und es ist nur etwa ein Meter hoch, da hast du höchstens ein paar blaue Flecken.»
«Dann beisse ich halt jemanden!»
«Gut, mach das! Schau mal den Herrn dort unten in der Bucht.»
Sie zeigte auf einen grossen und ungeheuer dicken Herrn in der kleinen Badebucht.
«Seine dicken, haarigen Waden dürften genau das Richtige für dich sein.»
Auch Timo schaute hinunter. «Gut sind wir so weit oben, wenn der ins Wasser steigt, werden die untersten Liegeplätze überschwemmt. Nein danke, seine Waden locken mich nicht. Aber morgen müssen wir etwas anderes machen, einen Ausflug irgendwohin!»
Nun legte Anna ihr Buch weg und sagte:
«Wir wollten ja mal ins Museum in Heraklion, wie wäre das? Mein Vater hat das sehr empfohlen. Dann könnten wir noch etwas das Städtchen anschauen, die Festung beim Hafen und vielleicht noch sonst dies und das. Ich hole mal den Reiseführer, nein das machst besser du, du wolltest ja Abwechslung.»
Timo eilte die Treppenstufen hinauf, und Anna lehnte sich seufzend zurück. Sie hatte ja gewusst, dass er es nicht allzu lange aushalten würde, und ein Besuch in Heraklion konnte wirklich interessant sein.
Am nächsten Tag schlenderten sie durch das Museum in Heraklion auf der Suche nach dem berühmten Diskos von Phaistos. Aber da waren so viele interessante Exponate, dass sie immer wieder vor einer Vitrine stehen blieben.
Weiter vorne sahen sie einem Saal mit wunderschönen Vasen. Anna wollte die unbedingt sehen, die schwarz-ockerfarbenen Exemplare hatten es ihr besonders angetan. Als sie in den Saal eintreten wollte, packte Timo sie plötzlich von hinten und zog sie zurück. Sie wollte gerade sagen: «Was ist los?» da hielt er ihr den Mund zu und und zog sie hinter eine grosse Vitrine.
«Psst», sagte er, «da vorne ist der Kerl, der unseren Taschenmann am Flughafen getroffen hat. Er macht Fotos von einer Vase, aber schau mal wie!»
Vorsichtig schlichen sie zurück und guckten um die Ecke.
Tatsächlich, da stand der Mann und fotografierte eine wunderschöne Lekythos. Er machte nicht ein Foto oder gar zwei, nein, er lichtete sie von allen Seiten, von oben und unten aus allen Perspektiven ab. Er schien hunderte von Fotos zu machen. Timo fotografierte ihn heimlich, dann zogen sie sich wieder in den letzten Saal zurück.
«Bist du sicher, dass das der Mann ist, der unseren Taschenmann abgeholt hat?» fragte nun Anna.
Timo zeigt ihr das Foto auf seinem Handy: «Ganz sicher, schau! Das ist doch sonderbar, der führt etwas im Schilde!»
«Vielleicht ist er doch nur ein harmloser Tourist, der seiner Oma ein Foto schicken will.»
«Schickt man der Oma ein Foto, so macht man ein oder zwei Bilder, dann noch eins von irgendwas anderem, einer Figur oder Schmuck oder eben dem berühmten Diskos, aber kein Mensch schickt der Oma hundert Bilder aus allen Winkeln von ein und derselben Vase! Oh nein, ich wusste es doch, das sind Halunken, und die machen krumme Geschäfte.»
«Und, was tun wir jetzt?» erkundigte sich Anna, «wir können ja schlecht die Polizei rufen, weil ein Mann Fotos macht!»
In diesem Moment kam der Mann aus dem Saal. Sofort starrten sie ein paar kleine Figuren in der nächsten Vitrine an und warteten, bis der Herr verschwunden war. Dann eilten sie zurück zu der Vase, die so ausgiebig fotografiert worden war.
Ein kleines Schild informierte sie, dass dies keine Vase, sondern eine Lekythos sei.
«Was ist eine Lekythos?» erkundigte sich Timo.
«Ein Salbgefäss. Da hatte man Oel drin, mit dem man sich salben konnte,» erklärte Anna.
«Ach so, so wie all die Töpfe mit Schmiere, die die Damen brauchen um die Falten verschwinden zu lassen?» sagte Timo.
«Wie bitte, Schmiere? Das sind ausgesuchte Salben!»
«Ausgesucht ist wohl eher der Preis, und Runzeln haben die alten Damen ja dann doch!»
«Lassen wir das,» fand Anna, «aber schau mal wie wunderschön die Figuren auf der Lekythos sind! Die stellen Theseus und Minotaurus dar.»
Timo betrachtete die Lekythos eingehend und sagte dann. «Aber da ist noch etwas Interessantes. Schau dich mal um. In jeder Vitrine stehen zwei oder mehr dieser kleinen Objekte. Nur die ganz grossen Vasen sind allein. Aber dieses kleine Ding hat eine Vitrine für sich allein. Das bedeutet doch, dass es sich hier um etwas Kostbares handelt. Kein Wunder, hat der Kerl das so eingehend fotografiert. Etwas ist da faul.»
Anna schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht!»
Nun fotografierte Timo die Lekythos und sagte: «Du meinst, der Kerl hier und der Taschenmann sind harmlose Touristen. Ich bin der Ansicht, das sind Kriminelle. Ich weiss, wie wir vielleicht herausfinden können, wer von uns beiden recht hat. Ich schicke die Bilder von den beiden am Flughafen, von dem Herrn da und von der Lekythos an Matt. Erinnerst du dich? Auf Mykonos hat er mir seine Nummer gegeben, für den Fall, dass wir wieder in Teufels Küche geraten. Das sind wir zwar nicht, aber vielleicht kennt er die Herren und weiss, in welcher Branche die tätig sind.»
Timo, der keine noch so lange Nummer je vergass, schickte sofort die Nachricht mit den Bildern los.
Langsam spazierten sie weiter durch das Museum, aber immer wieder starrten sie auf das Handy. Kam etwas zurück, las Matt die Nachricht?
Erst einmal passierte gar nichts, dann sah Timo, dass die Nachricht gelesen worden war. Als lange keine Antwort kam, beschlossen sie, zur Festung zu pilgern und diese anzusehen. Sie spazierten durch die Stadt, betrachten die bunten Auslagen der kleinen Läden, besuchten die Kirche Agios Titos, wanderten erst durch kleine Gassen, dann eine breite Strasse abwärts, und plötzlich war die Sicht frei auf das Meer, die Boote im Hafen und die imposante Festung.
Eine Weile schauten sie dem Treiben im Hafen zu, dann spazierten sie über die Mole. Plötzlich vibrierte Timos Handy. Sofort riss er es aus seiner Tasche, und beide starrten gebannt darauf.
Die Nachricht war enttäuschend:
«Schön von euch zu hören, aber die beiden Herren sind hier nicht bekannt, sicher Touristen. Geniesst eure Ferien auf Kreta. Herzliche Grüsse, Matt.»
Sie blieben vor der Festung stehen und lasen die Nachricht nochmals durch.
Schliesslich sagte Timo: «Schade! Ich habe gehofft, dass da krumme Dinger gedreht werden, das hätte für uns doch spannende Ferien gegeben.»
«Oh nein!» widersprach Anna, «wir haben beschlossen, Ferien zu machen, gemütliche, nette, erholsame Ferien! Es ist gut, dass das nur Touristen sind. Komm, wir schauen uns die Festung an.»
Etwas geknickt zottelte Timo hinter ihr her, war aber bald begeistert von der imposanten Anlage.
Als sie durch einen dunklen Gang spazierten, blieb Anna plötzlich stehen. Ein Besucher hinter ihr stiess mit ihr zusammen und schimpfte: «He, was machen Sie, versperren Sie nicht den ganzen Gang!»
Anna rückte zwar etwas zur Seite, blieb aber immer noch stehen.
«Was ist los?» erkundigte sich Timo.
«Das überlege ich mir eben. Da stimmt doch was nicht. Die Nachricht ist: ‘geniesst eure Ferien auf Kreta’. Oder?»
«Ja, genau!»
«Und woher weiss er, dass wir auf Kreta sind? Kann man das auf den Fotos erkennen? Oder hast du das geschrieben?»
Timo runzelte die Stirn. Dann sagte er: «Komm, wir müssen an einen hellen Platz und die Nachricht und die Fotos ansehen!»
Sie eilten zum Ausgang und lehnten sich an die Mauer der Mole vor der Festung. Dort lasen sie Timos Nachricht durch. Da stand kein Wort von Kreta. Jetzt betrachteten sie die Bilder eingehend. Sah man auf dem Bild beim Flughafen ein Schild ‘Flughafen Heraklion’? Oder eine Abfahrtstafel eines Busses? Ein Taxi mit der Aufschrift ‘Taxi Heraklion’? Aber sie fanden nichts dergleichen.
«Vielleicht steht etwas auf dem kleinen Schild bei der Vitrine mit der Lekythos?» fragte Anna.
Aber auch da war nichts, das auf Heraklion hindeutete. Warum also wusste Matt, dass sie Ferien auf Kreta machten?