Das verlorene Kleid - Jade Beer - E-Book

Das verlorene Kleid E-Book

Jade Beer

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Beschreibung

London 2017. Lucille liebt niemanden mehr als ihre Großmutter. Als diese sie um einen Gefallen bittet, findet Lucille sich im Zug nach Paris wieder. Sie soll ein Dior-Kleid von unschätzbarem Wert aufspüren. Granny Sylvie hat es Jahrzehnte zuvor in der Stadt der Liebe getragen. Bei der Suche stößt Lucille in einem Pariser Apartment auf eine Frage, die ihr ganzes Leben verändern könnte.

Paris 1952. Das Nachkriegsfrankreich ist glamourös, und Alice ist mittendrin. Sehen und gesehen werden. Darum dreht sich alles im Leben der jungen Frau des englischen Botschafters – doch sie spürt, dass da noch mehr sein müsste. Ihr Ehemann überschüttet sie mit Juwelen und Dior-Kleidern, doch seine Liebe zu ihr scheint erkaltet. Als ein neues Gesicht in Alice’ Salon auftaucht, folgt sie ihrem einsamen Herzen – ungeachtet aller Konsequenzen …

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Seitenzahl: 553

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Der Roman

London 2017. Lucille liebt niemanden mehr als ihre Großmutter. Als diese sie um einen Gefallen bittet, findet Lucille sich im Zug nach Paris wieder. Sie soll ein Dior-Kleid von unschätzbarem Wert aufspüren. Granny Sylvie hat es Jahrzehnte zuvor in der Stadt der Liebe getragen. Bei der Suche stößt Lucille in einem Pariser Apartment auf eine Frage, die ihr ganzes Leben verändern könnte.

Paris 1952. Das Nachkriegsfrankreich ist glamourös, und Alice ist mittendrin. Sehen und gesehen werden. Darum dreht sich alles im Leben der jungen Frau des englischen Botschafters – doch sie spürt, dass da noch mehr sein müsste. Ihr Ehemann überschüttet sie mit Juwelen und Dior-Kleidern, doch seine Liebe zu ihr scheint erkaltet. Als ein neues Gesicht in Alice’ Salon auftaucht, folgt sie ihrem einsamen Herzen – ungeachtet aller Konsequenzen …

Die Autorin

Jade Beer war über acht Jahre Chefredakteurin der Condé Nast Brides, des größten englischen Hochzeitsmagazins. Heute schreibt sie unter anderem für die Sunday Times Style, The Telegraph und Glamour. »Das verlorene Kleid« ist ihr erster Roman im Diana Verlag und entführt in die pulsierende Modemetropole Paris der 1950er Jahre und der Gegenwart. Jade lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in London und den Cotswolds.

JADE BEER

DAS VERLORENE KLEID

Roman

Aus dem Englischen von Uta Baubin

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 06/2022

Copyright © 2022 by Jade Beer

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Last Dress From Paris bei Berkley, New York

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Wiebke Bach

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Lee Avison/Arcangel Images, S.Borisov/Shutterstock.com; akg images/Bildarchiv Pisarek

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28432-9V002

www.diana-verlag.de

Für Della Irene Rainbow Morgan Garrett

Mit so einem Namen musstest du einfach eine ganz besondere Mama sein

… In der heutigen Welt ist Haute Couture eine der letzten Quellen für das Wunderbare, und die Couturiers sind die letzten Besitzer des Zauberstabes der guten Fee.

Christian Dior

PROLOG

______

Christian Dior, Avenue Montaigne

September 1952

Alice kurbelt das Fenster im Fond des Chryslers einen Spaltbreit herunter. Sie hofft, die kalte Luft wird sie wecken, sie schütteln, sie spüren lassen, was für ein unglaubliches Glück sie hat. Sie weiß, dass Frauen lange und hart um solche Einladungen konkurrieren.

Diors Gästeliste hatte die Konversation in ihrem Salon bereits hinreichend beschäftigt, soviel wusste sie also schon.

»Ich fürchte, Sie werden vielleicht ein kleines Stück zurückgehen müssen, Madame Ainsley.« Alice zuckt bei der neuen Anrede. »Ist das in Ordnung? Es sind so viele Wagen, ich kann Sie nicht näher heranfahren.«

»Natürlich, kein Problem.« Alice springt aus dem Chrysler mit eigenem Chauffeur, eine der Vergünstigungen für die Ehefrau des britischen Botschafters in Frankreich, und beginnt, über das Pflaster zurück zum Dior-Stadthaus zu stöckeln.

In ein paar Minuten wird sie von Dutzenden vermögender, gut vernetzter Frauen umringt sein. Jetzt kann sie sie sehen, wie sie in Grüppchen wie gepeinigte Insekten nach draußen schwärmen, rauchen, sich gegenseitig gratulieren, im Schulterschluss der eng verbundenen Gemeinschaft, in die sie sie aufnehmen wollen. Aber als Alice näher kommt, spürt sie nur den konkurrierenden Schwarm Frauen, die von allem mehr wollen. Das Beste.

Alice geht durch die schwarze polierte Flügeltür und hält ihre Nase in die Luft: frische Farbe. Die Wände des Salons müssen über Nacht für die heutige Modenschau neu gestrichen worden sein. In der Empfangshalle hält sie inne, streicht mit den Händen über ihre dunkelblaue Wolljacke. Eine nervöse Energie pulsiert um sie herum. Viel wird über die neue Kollektion geschrieben werden, und Alice spürt, wie diese Nervosität auch sie überkommt. Warum ist sie so ängstlich? Sie dreht sich um und blickt in einen der riesigen, makellosen Wandspiegel und versucht, ihre eigene Frage zu beantworten, um sich sofort eine andere zu stellen. Wie kann es sein, dass ein Mädchen, das immer in alten Gummistiefeln und einem verschmutzten Dufflecoat am glücklichsten war, bei Dior in Paris in einem Modellkleid des Designers steht? Sie prüft, ob ihr dunkler Kurzhaarschnitt akkurat sitzt. Die dezente Nude-Farbe ihres Lippenstifts. Ihre klassischen Perlen.

Alice wird zu einem schmalen, goldenen Stuhl in der ersten Reihe geführt, sie fühlt, wie jedes Augenpaar sie mustert und zweifellos darüber urteilt, ob sie die richtigen Accessoires zu dem Dior-Look gewählt hat. Fast kann sie schmecken, wie Neid die Luft vergiftet, den jede Frau ausströmt, die glaubt, dass Alice den Platz in der ersten Reihe zu leicht erhalten hat. Was wissen sie schon? Schnell nimmt Alice ihren Platz ein, erleichtert, dass sie ihren eigenen Catwalk durch den Raum geschafft hat. Sie lächelt und hofft, dass es echt aussieht. Ihre Nachbarinnen müssen ihre Plätze noch einnehmen, so überfliegt sie das Programm, dabei hebt sie alle paar Minuten ihren Kopf, in der Hoffnung, einen flüchtigen Blick auf die berühmten Dior Mannequins in ihren weißen Backstage-Overalls zu erhaschen, bevor sie heraustreten auf den abschüssigen, feinen, cremefarbenen Teppich vor Alice, der an diesem Morgen ihre Bühne ist.

Sie fragt sich, welcher der Entwürfe in ihrem Programm wohl zuerst an ihrem Speisetisch sitzen wird. Sie wendet die Augen von den grellen Scheinwerfern und dem Kronleuchter über ihrem Kopf, mit jeder Minute steigt die Hitze weiter ihren Hals hinauf, und die Schau beginnt noch immer nicht. Stühle füllen sich weiter, es werden immer mehr Menschen rund um den Raum und an den Fenstern, wo es nur Stehplätze gibt. Dicker Zigarettenrauch kratzt hinten in Alices Hals, und sie muss sich auf die hübschen Wolken elfenbeinfarbener Rosen und Nelken konzentrieren, um ruhig zu bleiben. Sie zieht ihre Handschuhe aus, fühlt die Hitze auf ihren Handflächen, und wird sich panisch bewusst, dass sie jetzt nicht weglaufen kann, der Weg zum Ausgang ist versperrt von Frauen, die immer noch durch die Tür drängen. Jemand reicht ihr einen Papierfächer – sie lässt ihn aufschnappen, gierig nach ein wenig Erleichterung auf ihren Wangen – und ein kleines hartes Fruchtbonbon. Nie mehr wird sie den Fehler begehen, pünktlich zu sein.

»Madame Ainsley, wie wunderbar, Sie wiederzusehen«, eine große Frau faltet sich in den Platz links von Alice, sie hat ihre Ankunft viel besser geplant als Alice. »Ich bin Delphine Lamar, wir haben uns bei dem Begrüßungscocktail vor ein paar Wochen getroffen. Ihre erste Dior-Schau?« Sie zieht eine Augenbraue hoch. Etwas in Alices Haltung macht diese Tatsache deutlich.

»Ja, beeindruckend, nicht?« Alice ist dankbar, dass sich jemand an ihren Namen erinnert, es waren so viele neue Gesichter in den letzten Wochen.

»Es dauert ein bisschen, bis man sich an den Zirkus gewöhnt hat. Lohnt sich natürlich, aber kommen Sie das nächste Mal etwa vierzig Minuten zu spät, dann sind Sie genau rechtzeitig.« Sie schenkt ihr ein ermutigendes Lächeln. »Sagen Sie, was macht Ihre Suche nach einem Hausmädchen? Es war schwierig, kann ich mich erinnern, wenn Sie immer noch suchen, kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Vielen Dank. Alle, die ich gesehen habe, sind hervorragend qualifiziert und erfahren, wahrscheinlich könnte ich jede von ihnen einstellen und würde nicht enttäuscht werden, aber ich habe einfach noch mit keiner eine besondere Verbindung gespürt. Vielleicht bin ich zu pingelig, aber …«

»Keiner könnte Ihnen das vorwerfen, nicht in Ihrer Stellung.«

»Vielleicht.« Alice erwidert ihr Lächeln, dankbar, dass Delphine sie nicht töricht findet, weil sie sich eine emotionale Verbindung zu der Frau wünscht, mit der sie die meiste Zeit innerhalb der Residenz verbringen wird.

»Hier«, sie nimmt ein winziges ledernes Notizbuch aus einer Handtasche, die nicht viel größer ist, und schreibt einen Namen und eine Nummer auf und gibt sie Alice. »Marianne kommt auf beste Empfehlung der Ehefrau eines anderen hochrangigen Diplomaten. Ihr Mann hat seine drei Jahre in Paris absolviert, und jetzt werden sie in den Nahen Osten versetzt. Sie können Marianne nicht mitnehmen. Aber Sie müssen sich sehr beeilen. Sie beten sie an, und andere werden sie auch haben wollen. Ich würde sie mir selbst schnappen, wenn ich eine Stelle zu vergeben hätte.« Sie beugt sich ein bisschen näher zu Alice. »Ich habe sofort an Sie gedacht. Marianne ist zur Hälfte Britin und wird Ihre Vorlieben und Bedürfnisse verstehen, ohne dass Sie alles besonders erklären müssen.«

»Vielen Dank«, Alice nimmt die Nummer dankbar entgegen. »Ich sehe sie mir an, sobald ich kann.«

Delphines Aufmerksamkeit wird durch die Ankunft eines anderen Gastes abgelenkt, und sie überlässt Alice den Gesprächen über Shopping in Mailand und Skifahren in St. Moritz und die Must-haves der Garderobe. Hälse werden gereckt, damit Frauen über die Hüte vor ihnen sehen können, es ist ein ständiges Auf und Ab von den Sitzen, um spät ankommenden Freunden zuzuwinken und selbst gesehen zu werden.

Erst etwa eine halbe Stunde später, als Name und Nummer des ersten Modells angekündigt werden, tritt eine barmherzige Stille ein, und Alice spürt, dass sie wieder normal atmen kann.

»Marianne, danke vielmals, dass Sie so kurzfristig kommen konnten, ich freue mich.« Alice bedeutet ihr, den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches zu nehmen. »Kann Patrice Ihnen einen Kaffee bringen?«

»Vielen Dank. Ich hätte bitte lieber Tee, English Breakfast, wenn Sie haben?« Sie lächelt, sie weiß, selbstverständlich hat Alice ihn.

»Natürlich«, Patrice nickt und verschwindet nach hinten durch die Tür der Bibliothek und lässt die beiden Frauen allein.

»Madame Lamar sagte, Sie seien zur Hälfte Engländerin?«

»Ja, meine Mutter lernte meinen Vater in London kennen, als er geschäftlich dort war, und sie haben kurz darauf geheiratet. Dadurch habe ich lange Zeit auf beiden Seiten des Kanals verbracht. Ich bin die perfekte Mischung aus beiden Kulturen, hoffe ich. Immer pünktlich, sehr britisch, und nie Angst, Nein zu sagen, typisch Französisch.« Marianne gestattet sich ein kurzes Lachen, um Alice zu zeigen, dass sie sich nicht allzu ernst nimmt. »Ich habe Ihnen einige Referenzen mitgebracht.«

»Sie klingen schon jetzt, als könnten Sie mir hier eine große Hilfe sein.« Alice betrachtet Marianne genauer, während diese in ihrer Handtasche nach den Papieren sucht. Sie sitzt ganz vorn auf der Stuhlkante, eigentlich gar nicht auf der Sitzfläche. Ihr Rücken ist völlig gerade und vermittelt Engagement, die Schultern entspannt, vielleicht nicht leicht einzuschüchtern, und ihre Hände liegen hübsch gefaltet in ihrem Schoß. Sie sieht natürlich aus und angenehm ungezwungen. »Sie sind mir ja Jahre voraus, Marianne. Können Sie mir noch einen anderen wichtigen Rat geben, wenn es darum geht, zwischen beiden Nationalitäten zu vermitteln?«

»Nach meiner Erfahrung sind Franzosen nicht zu Selbstironie fähig und werden es bei Ihnen nicht verstehen. Aber sie erwarten auf jeden Fall, dass Briten kalt sind und vielleicht ein wenig reserviert, deshalb ist es immer wunderbar, sie damit zu überraschen, nichts dergleichen zu sein. Sicher ist es auch das Beste, nicht dem hinreichend bekannten Vorurteil zu verfallen, dass die Franzosen eine zweifelhafte Moral haben und zu Arroganz neigen«, sie macht eine Pause und fügt hinzu, »obwohl die meisten es ehrlicherweise tun.«

Die Tür zur Bibliothek geht wieder auf.

»Ah, unser Tee.« Aber es ist ihr Mann Albert, der unerwartet zu ihnen stößt, nicht Patrice.

»Oh, Albert, entschuldige, ich dachte, ich hätte es gesagt, ich bin mitten in einem Vorstellungsgespräch …«

Albert ignoriert Alice, geht mit großen Schritten durch den Raum und fängt an, Bücher aus einem Regal zu ziehen und jedes nach einem flüchtigen Blick laut auf einen Beistelltisch zu werfen.

»Mein Gott«, schimpft er, »kann das mal jemand so organisieren, dass man es auch verwenden kann?«

Marianne blickt mit ausdruckslosem Gesicht zu Albert, dann genauso schnell wieder zurück zu Alice, sie erwartet, dass sie trotz der Unterbrechung fortfahren. Alice bemerkt, wie Mariannes Augen auf die konturierte Wolljacke fallen, die sie heute trägt.

»Mögen Sie Mode, Marianne?«

»Ich denke, es wäre unmöglich, im Moment in Paris zu leben und Mode nicht zu mögen. Meine Mittel sind bescheiden, aber eine Stunde in der Vogue zu blättern ist herrlich inspirierend, und man weiß immer, was neu ist. Haben Sie einen Lieblingsdesigner, Madame Ainsley?«

»Nun, ich habe bisher nie einen gebraucht …«

»Wo ist es!«, brüllt Albert in einer Lautstärke, die keine von beiden mehr ignorieren kann.

»Kann ich helfen, Albert?« Alice versucht, die Verärgerung in ihrer Stimme zu überspielen.

»Die Anthologie der Government Art Collection, ich weiß, dass sie hier irgendwo ist. Ich werde da draußen zu Objekten in meinem eigenen Haus befragt, und es wäre hilfreich, wenn Dinge dorthin zurückgestellt würden, wo man sie gefunden hat.«

»Drittes Fach von unten, Sir. Das größte der gebundenen Bücher.« Patrice ist mit dem Tee und einer Problemlösung für Alberts Unhöflichkeit zurückgekommen.

Albert findet das Buch, lässt alle anderen verstreut auf dem Tisch liegen und geht ohne ein Wort des Dankes hinaus. Die Wangen von Alice werden warm.

»Wen schlagen Sie vor, Marianne? Wer soll mein Lieblingsdesigner werden?«

»Christian Dior.« Sie sagt es, ohne eine Sekunde zu zögern, und wäre die Frage als Test gemeint, hätte Marianne ganz sicher bestanden. Alice stimmt zu, doch weil mehrere Designer darum konkurrieren, Geschäfte mit ihr zu machen, ist sie froh über die objektive Lenkung. »Natürlich wird er von den Franzosen angebetet, aber er ist auch engagiert anglophil. Sie werden in sehr guter Gesellschaft sein, Nancy Mitford und Margot Fonteyn tragen ihn. Und Sie erinnern sich sicher an Prinzessin Margarets Kleid an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. So viel Tüll! Wenn Sie Zeit haben, sehen Sie sich die Bilder von seiner allerersten Modenschau in London letztes Jahr im Hotel Savoy an, die Vogue hat darüber berichtet.«

»Ein großartiger Vorschlag, Marianne.« Alice blickt hinunter auf die Arbeitszeugnisse, die immer noch unberührt auf dem Schreibtisch vor ihr liegen. »Wie schnell können Sie anfangen?«

»Wann es für Sie passt.« Instinktiv stehen die beiden Frauen auf und geben sich über dem Tisch die Hand. »Aber bitte nennen Sie mich Anne – alle, die mir nahestehen, nennen mich so.«

1 LUCILLE

______

Donnerstag

Oktober 2017, London

Ich könnte mich ärgern, dass ich hier bin. Viele Frauen in meinem Alter würden das tun. Dieser Job, als solchen würden sie es betrachten, stünde auf ihrer To-do-Liste ziemlich am Ende, gleich nach Essen online bestellen und Bad putzen. Alles andere würde zufriedenstellend durchgestrichen, aber dieser Eintrag würde auf die nächste Woche verschoben werden, vielleicht sogar die übernächste. Eine neue Liste würde geschrieben, und immer noch stünde er ganz unten.

Aber der Besuch bei meiner Großmutter ist ehrlich gesagt das Highlight meiner Woche, jeder Woche. Ich freue mich darauf, wie andere Frauen sich auf einen Cocktail freuen oder auf eine Stunde allein in der Badewanne. Ich liebe sie mehr als irgendeinen anderen Menschen auf dieser Erde. Granny Sylvie hat die Concorde und Woolworths überlebt. Wenn wir zwei Stunden plaudern, springen wir von der ersten Folge der Archers über den Tod von Elvis und die Krönung der Queen bis zur Mondlandung.

Auch jetzt überrascht sie mich wieder. Wie damals vor ein paar Monaten, als sie mir eine Runde Schach vorschlug. Ich wusste um das Brett in einer Ecke ihres Wohnzimmers auf einem eleganten antiken Tisch mit sanft geschwungenen Beinen, aber zu meiner Schande hatte ich immer angenommen, dass es meinem Großvater gehörte und sie sich nicht davon trennen konnte.

Sie brauchte etwa zwölf Minuten, um mich zu schlagen, ihr Kopf immer drei Züge voraus, während sich meiner noch aufwärmte. Man könnte sagen, sie sieht alt aus – und ich sage aussehen, weil sie sich bestimmt nicht alt fühlt –, aber ihr Verstand ist messerscharf. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber ich muss mein Spiel verbessern, wenn ich Granny besiegen will.

Ich stehe unbemerkt da, sehe sie ein paar Augenblicke an und frage mich, was hinter ihren geschlossenen Augen vorgeht. Sie sitzt wie immer in ihrem Lieblingsohrensessel nahe dem Kamin, die Flammen funkeln in der Libellenbrosche, ohne die sie sich nie ankleidet. Ich frage mich, ob ich sie, anstelle sie anzustarren, schnell etwas zurückziehen soll, bevor die Häkeldecke auf ihrem Schoß einen Funken abbekommt und anfängt zu brennen. Ihre schlanken Hände mit den wie immer schön gepflegten Fingernägeln umfassen die hölzernen Armlehnen, aber ihr Kopf ist nach hinten gelehnt, und ein ganz schwaches Lächeln umspielt ihre geöffneten Lippen. Ich frage mich, wohin sie ihr Unterbewusstsein heute getragen hat. Zurück zu den flüchtigen Wochen im Nachkriegs-Paris, als sie meinen Großvater zum ersten Mal traf? Oder vielleicht zu jenem heißen Sommernachmittag, als sie ihn in einer winzigen englischen Kirche auf dem Lande heiratete? Auf ihrem Kaminsims steht ein Schwarz-Weiß-Foto und zeigt beide in einem Kuss gefangen. Ich fand es immer merkwürdig, diesen Moment einzurahmen. Mein Großvater dreht der Kamera den Rücken zu und ist leicht über sie gebeugt. Aber er bestand immer darauf, dass es sein Lieblingsfoto von ihnen beiden von diesem Tag war. Ihre Augen sind weit geöffnet und funkeln, sie lacht durch den Kuss hindurch, als könne sie ihr Glück nicht fassen.

Ich beginne, meine Pudelmütze und die Handschuhe leise auszuziehen und lege sie auf einen kleinen runden Beistelltisch neben der Wohnzimmertür, durch die ich gekommen bin. Trotz meiner Bemühungen lässt das Klappern meiner Schlüssel ihr rechtes Auge zucken und sich öffnen. Nichts sonst an ihr bewegt sich, sie sieht aus wie ein angriffsbereiter Wachhund, der überlegt, ob er die Zähne fletschen soll. Ihr Mund gibt einem Lächeln nach, als sie sieht, dass ich es bin. Es wird tiefer, wärmer, und als ich neben ihr stehe, ist es, als blickte ich in die Sonne.

»Lucille, mein Schatz. Komm, setz dich zu mir. Alles Gute zum Geburtstag!« Sie beginnt, sich im Stuhl hochzuziehen, und ich mache einen Schritt vorwärts, um ihr zu helfen. Als ich sie anfasse, merke ich wieder, dass sie kaum noch Fleisch auf den Knochen hat. Sie hat mehrere warme Schichten an, und mein Griff wird sanfter, als meine Finger nach etwas Festem unter der Wolle suchen. Ich versuche, nicht an diese eine Schlacht zu denken, die diese unglaubliche, willensstarke Frau nie gewinnen wird: ihr Geist gegen die Macht der Zeit, der ihr Körper eines nicht zu fernen Tages unterliegen wird.

Ich beuge mich nach vorn und gebe ihr einen Kuss auf die weiche Stirn, die sich trotz der Hitze des Feuers unter meinen Lippen kühl anfühlt. Ich schmunzle beim Anblick des Lippenstiftabdrucks, den ich hinterlasse. Sie riecht nach Holzrauch und dem zarteren Duft von Glockenblumen, den sie trägt, solange ich mich erinnern kann.

»Wie geht’s dir, Granny? Hast du es warm genug? War Natasha heute Morgen schon hier?« Natasha ist eine Frau aus der Gegend, die Großmutter hilft. Es begann mit ein bisschen Putzen und ist über die Jahre mehr geworden, jetzt hilft sie ihr beim Waschen und Anziehen und bereitet alle Mahlzeiten für den Tag vor, bevor sie abends wieder kommt und sie zu Bett bringt. Mutter übernimmt die Kosten dafür, aber ich möchte sie unbedingt wenigstens dreimal die Woche besuchen.

»Oh, darum musst du dich nicht kümmern. Wie fühlt es sich an mit, meine Güte, zweiunddreißig.« Zitternd fließen die Wörter aus ihr heraus, ihre Intonation steigt und fällt wenig kontrolliert. Ihre kleinen hellbraunen Augen tränen, und sie greift nach einem Papiertaschentuch, um sie zu trocknen.

Obwohl das Zimmer schön groß ist, hat Granny alles, was sie braucht, in einem Umkreis von zwei Metern um sich herum angeordnet, und es so effektiv auf einen kleinen Halbkreis um das Feuer reduziert. Bücher, Gläser, ein kleiner Teller voll verräterischer Gebäckbrösel, die Fernbedienung für den Fernseher, das Telefon, Block und Stift.

»Na ja, ich kann nicht behaupten, dass ich mich schrecklich anders fühle als gestern, aber …« Ich nehme ein paar Zeitschriften von einem niedrigen quadratischen Hocker zu ihren Füßen und setze mich darauf, während ich ihre Hand halte. »Schau, ich habe dir etwas vom Geburtstagskuchen mitgebracht.« Ich halte ein in eine Serviette gewickeltes Stück hoch, damit sie es sehen kann. »Sie hat dir einen Geburtstagskuchen gebracht?« Sie wird steif und ganz aufmerksam in Erwartung meiner Antwort. »Ich habe ihn gemacht, Granny.« Ich lächle übertrieben in der Hoffnung, dass sie sich auf meine Backkünste konzentriert und nicht …

»Du hast deinen eigenen Geburtstagskuchen gebacken? Hat sie dieses Jahr daran gedacht?« Ihr Lächeln schwindet.

»Sie ist sehr beschäftigt, wie wir wissen. Ich habe nichts erwartet. Es ist okay, wirklich.« Ich wickle den Kuchen aus und lege ihn auf den Gebäckteller. Man muss dazu sagen, dass Mutter noch nie einen Friseurtermin vergessen hat. Ihre mit Balayage-Technik gefärbten Haare sehen Woche für Woche immer gleich frisch aus. Nie weiß sie über die Morgennachrichten nicht Bescheid. Eine Frau, die ihren Vormittag durchgeplant hat, bevor ihre Füße hinunter in die Schaffell-Hausschuhe schlüpfen, die sie jeden Abend sorgfältig neben ihr Bett stellt.

»Eine Karte?« Großmutter gibt nicht auf.

»Ähm, nein.«

»Ein Anruf?« Oh, das sieht nicht gut aus.

»Noch nicht.« Ich versuche, es fröhlich klingen zu lassen. »Sie ruft sicher noch an, Granny, du weißt, sie ruft an, wenn sie einen Moment Zeit hat.«

»Oh, Geneviève.« Sie stößt einen verärgerten Seufzer aus, während sie ihren Kopf senkt und ihren Blick wieder zum Feuer wendet, als ob es irgendwie zum Teil ihr Fehler ist. Dass meine eigene Mutter höchstwahrscheinlich zum fünften Mal in Folge meinen Geburtstag vergessen hat.

»Es ist wirklich nicht schlimm, weißt du.« Ich klinge fröhlicher, als ich mich ehrlicherweise fühle. »Sie war wieder auf Geschäftsreise, sie weiß nie genau, in welcher Zeitzone sie eigentlich ist, oder?«

Sie sieht mich an, ihr Gesicht eine einzige Enttäuschung. »Du hast so viel mehr verdient, Lucille.«

Ist das so? Ich kann mir keine einzige Sache vorstellen, die aus mir jemanden macht, der besonderer ist oder mehr Liebe und Aufmerksamkeit verdient als irgendjemand sonst. Es gab einen kurzen Moment mit meinem letzten Freund Billy, als ich mich fragte, ob es vielleicht doch passiert. Vielleicht würde ich eine Zeit lang fühlen, dass ich für jemanden der Mittelpunkt der Welt bin. Vielleicht würde ich aufwachen mit einer warmen Hand auf meinem Oberschenkel, einer Tasse frisch gemachten Tee auf meinem Nachttisch, einem Lächeln, das sagt: Ich wünsche mir alles, was du dir von diesem Leben wünschst. Aber die Wahrheit war so viel banaler, und ich beschloss, meine Erwartungen selbst zu steuern, indem ich sie drastisch senkte. Ich würde keine romantischen Gesten erhoffen. Ich würde mein eigenes Ego streicheln, darin war ich noch nie sehr gut.

Großmutter spürt, dass in diesem Moment ein wenig Aufregung gut wäre, und klatscht in die Hände.

»Der Umschlag. Auf dem Kaminsims, Schatz.« Sie zeigt auf eine Karte, auf der mein Name quer über die Vorderseite gekritzelt ist. »Das ist für dich.« Hier kommt der Büchergutschein, sie weiß, dass ich mich immer darüber freue.

Aber drin ist eine Karte mit dem Bild eines eleganten Hotels, darunter steht gedruckt Hotel Plaza Athénée. Ich beginne zu lesen.

Alles Gute zum Geburtstag, Lucille, mein Liebling! Du fährst zu einem Abenteuer nach Paris. Sachen sehen. Dinge tun. Leute treffen. Und mir etwas nach Hause bringen, das mir viel bedeutet – etwas, das ich schon seit zu vielen Jahren wieder in Händen halten möchte. In Liebe für immer,Deine Granny Sylvie

Ich höre auf zu lesen, und meine Augen gehen sofort zu ihr zurück. Sie sitzt da und lächelt mich unverfroren an, so als hätte sie gerade den MI5 ausgetrickst.

»Was bedeutet das, Granny?« Ich musste mich verlesen haben. Sie kann unmöglich Paris meinen.

»Ich würde sagen, es bedeutet, dass du nach Paris fährst.« Jetzt lacht sie. »Schau!« Sie zeigt auf den Beistelltisch, auf dem ein Umschlag liegt mit dem Wort Eurostar.

»Aber ich kann nicht, ich …« Ich nehme ihn auf, ziehe das Ticket heraus und prüfe sofort das Abfahrtsdatum. Morgen. Freitag.

Einen Herzschlag lang frage ich mich, ob sie mich begleiten will. Aber natürlich will sie das nicht. In ein paar Wochen wird sie neunzig und verlässt selten das sichere Dreieck zwischen ihrem Häuschen am Wimbledon Common, der Kirche und der Dorfhalle, um einen Filmabend oder den Buchklub zu besuchen.

»Ich kann unmöglich. Ich muss arbeiten und … Oh nein, ich will nicht, dass du dein Geld verschwendet hast, Granny. Hast du gefragt, ob du es erstattet bekommst oder zumindest das Datum ändern kannst?«

»Ich habe nicht die Absicht, um eine Erstattung zu bitten. Natasha hat es für mich gebucht, und ich bezweifle, dass sie sich darum Gedanken gemacht hat.« Granny macht eine ablehnende Handbewegung.

Sie weiß, jetzt hat sie mich, sie hat gesiegt. »Du möchtest also, dass ich nach Paris fahre? Allein?« Vielleicht ist eine Reise allein genau das, was ich brauche. Zeit, um nachzudenken, was ich aus meinem Leben mache, und mir die schwierigen Fragen zu stellen, die ich bisher vermieden habe. Oder vielleicht gar nicht? Vielleicht brauche ich ein paar Tage, an denen ich an all das nicht denke.

»Das ist die richtige Einstellung! Ja, ich tu’s!« Woraufhin sie mit ihrer Faust eine Erfolgsgeste macht.

Ich sehe wieder auf die Karte. Zweiunddreißig Küsse stehen unter ihrem Namen, einer für jedes Jahr, das muss einige Zeit gedauert haben, wenn man bedenkt, wie schwer es ihr heute fällt, einen Stift zu halten.

Vielleicht ist das alles ein gut ausgedachter Plan von ihr. Lucille nach Paris schicken, sie aus ihrem Trott herausholen. Sie nicht einen weiteren Geburtstag einem Essen »to go« und Netflix überlassen (als ob daran jemals etwas falsch sein könnte). Sie in die Arme eines schönen französischen Jungen drücken. Leider übersieht sie dabei, dass ich nicht mit den gleichen perfekt symmetrischen Gesichtszügen gesegnet bin wie sie, oder ihrer Wespentaille, oder dem Selbstvertrauen, das von den Schwarz-Weiß-Porträts auszustrahlen scheint, die auf ihrem Kaminsims aufgereiht sind.

Sie fühlt, dass ich es nicht schrecklich ernst nehme, und spannt plötzlich ihren knöchernen Griff um meine Hand.

»Du musst fahren. Du musst etwas für mich machen, Lucille.« Und was immer es ist, ich weiß, dass ich Ja sagen werde. Ich bete sie an. Ich werde alles tun, um sie glücklich zu machen, solange uns noch Zeit bleibt.

»Es gibt ein Kleid, das Maxim, es wurde von Dior entworfen. Ich habe es vor vielen Jahren einer lieben alten Freundin geliehen, und jetzt, nachdem sie gestorben ist, möchte ich es so gern wiederhaben. Ihre Tochter Véronique hat es jetzt. Ich habe ihre Adresse auf die Rückseite deiner Karte geschrieben. Apartment 6, 10 Rue Volney 75002.« Wenn sie will, kann Grannys Gedächtnis ziemlich beeindruckend sein. »Sie erwartet dich.«

»Ein Dior-Kleid? Von Christian Dior?« Granny hatte immer unglaublich viel Stil, sorgsam blieb sie bei einer dezenten Palette aus Schwarz, Dunkelblau, sanften Creme- und Karamelltönen, nie zu viele Accessoires oder Make-up. Aber es ist sehr schwierig, ein wertvolles Couture-Teil mit den schicken, aber preiswerten Kostümen, Kleidern und Stricksachen guter Qualität zusammenzuhängen, die sich heute in ihrer Garderobe finden, wo sich ein Kaschmirteil wie eine unnötige Extravaganz ausnehmen würde.

»Ja, genau der.« Es ist keine Angeberei, eher die Erwähnung einer Tatsache, etwas absolut Logisches.

»Aber wie konntest du ein Dior-Kleid besitzen, es muss …«

»Entsetzlich viel Geld kosten, ja, aber auf diese Ebene wollen wir uns nicht begeben. Ich möchte es nur noch einmal berühren. Für mich ist es so viel wertvoller als jedes Preisschild, das du ihm anhängen könntest. Also, du bist für zwei Nächte gebucht, aber ich hätte nicht das Geringste dagegen, wenn du deine Reise verlängerst – im Gegenteil, ich wäre begeistert.« Damit zieht sie einen Strich unter jede weitere Diskussion.

Und so sieht es aus, als ob ich morgen einfach so nach Paris fahre – mein Lächeln bestätigt es. Wie schwierig kann das schon sein? Das Kleid holen, ein paar kleine Besichtigungen, mich ein wenig in der Stadt der Liebe verirren, in den sozialen Medien weitaus abenteuerlustiger erscheinen, als ich es bin, nach Hause fahren. Im Kopf beginne ich, alle nicht genommenen Urlaubstage, die ich noch habe, zusammenzusuchen, dabei beobachte ich, wie Granny den Kuchen an ihre Lippen führt und einen zufriedenen, großen Bissen davon nimmt. Dabei wandern ihre Augen zur Seite, um mir heimlich einen Blick zuzuwerfen. Sie feiert ihren geplanten Erfolg, den sie gerade errungen hat.

Eines ist sicher. Es geht hier um mehr, als nur ein Kleid zurückzubringen, das sie nach all den Jahren nicht wirklich wird tragen wollen. Es ist nur ein Kleid, wenn auch ein sehr gut gemachtes. Könnte diese Véronique es nicht einfach per Kurier schicken? Granny hat etwas vor. Das weiß ich ganz genau.

Und so bin ich in Wagen C des Eurostars um Viertel nach drei von St. Pancras nach Paris, an einem Freitagnachmittag und feiere meinen gerade vergangenen Geburtstag mit einem Glas Sekt und danach einem Eclair. Die Zeitungsüberschriften sind alle ein wenig süffisant – Prinz Harry ist nicht mehr auf dem Markt, Kate und William bekommen ein drittes Baby –, und so stelle ich für zwei wohlige Stunden meinen Sitz nach hinten, allein mit Marian Keyes’ Wassermelone, bevor, sechsunddreißig Stunden zu spät, Mums Text eintrifft.

Ja, dieser Text kommt spät, ich weiß, aber aus einem sehr guten Grund. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, was ich dir dieses Jahr schenken soll. Und weil ich unmöglich mit Paris konkurrieren kann, habe ich dir ein bisschen Geld überwiesen. Mehr als sonst. Kauf dir das Schickste, das du findest.

Granny muss sie angerufen haben. Wieder fällt mir auf, sie hat nicht wirklich »Alles Gute zum Geburtstag« geschrieben.

Sie wird enttäuscht sein, aber ich bin nicht sicher, dass ich etwas Schickes in Paris kaufen werde. Mir ist es wichtig, dass ich auf den wenigen Reisen, die ich unternehme, immer bequem angezogen bin – was Mum nie verstanden hat. Sie hat kein Problem damit, in einem die Blutzirkulation beengenden Bleistiftrock und Nahtstrümpfen an Bord eines Flugzeugs zu gehen. Ich dagegen setze auf Jogginghosen, lockere Schichten, keinen BH, sondern ein Unterhemd, damit alles anständig ist. Ich bezweifle ernsthaft, dass Mum jemals das Wort »Jogginghose« in den Mund genommen hat. Die Idee, sie könnte je eine besitzen, wäre eine schwere Beleidigung. Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich sie nach der Arbeit vor ihrem Büro traf. Natürlich war sie die Letzte, die herauskam, sie hatte den Zeitpunkt unseres Treffens völlig vergessen. Als sie irgendwann erschien, fiel mir auf, dass sie die gleiche Uniform trug wie alle anderen Frauen vor ihr, nur dass sie teurer aussah, passend zu ihrem Dienstalter. Alles androgyn, ein Meer von Frauen, ihrer Farbe und Weiblichkeit beraubt. So viel Schwarz! Nicht einmal ihre Handtaschen durften hübsch aussehen. Große, ernste Boxen mit Metallketten und Nieten oder aus grotesk gefärbten Tierhäuten. Eher eine Waffe als ein Accessoire. So gern hätte ich meine Mutter aus ihnen herausstechen sehen, ein Schmetterling unter den Wespen, aber nein. Um eine von ihnen zu sein, musst du aussehen wie sie. Wie deprimierend. Ich fragte mich, wie diese Frauen Erfolg, Wohlstand und Leistung darstellen sollten, aber ich wusste, dass ich nichts von ihrer Konformität haben wollte. Vielleicht hätte ich mich fühlen sollen wie ein Clown in einem gebauschten, cremefarbenen Chiffonrock, wie ihn die meisten Frauen für den Weihnachtsabend aufheben. Aber während ich sie beobachtete, wie sie aus dem Gebäude herausströmten wie eine Reihe Phantom-Arbeiterameisen, fühlte ich mich einfach nur frei.

Schluss damit, jetzt ist Paris dran, und natürlich habe ich mich mehr bemüht. Ein frisch gebügeltes Bretagne-Shirt, das nicht genau weiß, ob es männlich oder weiblich sein möchte, halb hineingesteckt und halb heraushängend aus der schicksten Jeans, die ich besitze und die hoch über meiner Hüfte sitzt. Und ich fühlte mich gut im Zug. Nichts schnitt ein oder schnürte mir die Taille ab, aber als mein Zug in den Gare du Nord einfährt und ich in ein Meer von frühabendlich schick gekleideten Pendlerinnen gespült werde, könnte ich jemanden umbringen für eine Sonnenbrille. Nicht dass mich irgendwer in Paris kennt, aber ich brauche den Deckmantel sofortiger Anonymität. Nur für den Fall, dass sich doch irgendjemand fragen sollte, wer da diesen verbeulten Rollkoffer und aufgerissene Tragetaschen von WH Smith über die sonst so elegante Bahnhofshalle zieht.

Wie kann etwas so einheitlich Graues gleichzeitig so schön sein? Das frühabendliche Paris ist in letzten Tageslicht-Strichen gemalt und sieht aus, als habe jemand über der ganzen Stadt den Dimmer heruntergedreht. Elegante Apartmenthäuser, die sich über den gesamten Block ziehen, haben Fensterreihen mit identischen cremefarbenen Läden, ihre Regelmäßigkeit wird nur durch imposante, hohe Flügeltüren in intensivem Rot, tiefem Salbeigrün und glänzendem Schwarz unterbrochen. Alles scheint zu eng zusammengedrängt. Einige der Steinmauern, an denen ich vorbeikomme, dunkel durch über Jahre angesammelte Straßen- und Umweltverschmutzung, grenzen an die makellosen Modeboutiquen, deren Fenster die Weihnachtseinkäufer hereinlocken. In einem sind riesige Nachbildungen aus Lebkuchen von berühmten Pariser Wahrzeichen – Notre-Dame, dem Arc de Triomphe und dem Eiffelturm, geeist und mit Süßigkeiten bedeckt, darauf sitzen Puppen in Partykleidern.

Während ich nach einem freien Taxi suche, zeigen die filigranen eisernen Balkone über mir die Andeutung eines sich neigenden Pariser Tages. Ein Fahrrad steht sieben Stockwerke hoch auf seinem Hinterrad, bis es wahrscheinlich morgen wieder für die Fahrt zur Arbeit hinuntergeschleppt wird. Ein einsamer Mann, ganz in figurbetonendes Schwarz gekleidet, steht hoch über der Stadt, rauchend, und blickt hinaus über die verblassende Stadtsilhouette, als ob er an seinem neuesten Gedicht arbeitet. Eine Frau in waghalsig hohen schwarzen Stiefeletten umklammert mit einer Hand ein Weinglas, mit der anderen ihr Telefon und neckt ihren Liebhaber, stelle ich mir vor.

Auf Grannys Drängen und auf ihre Kosten wohne ich in dem Hotel auf der Karte, dem Plaza Athénée, das wie sie sagt, »genau gegenüber von Dior« liegt. Nicht dass ich vorhätte, dort Zeit zu verbringen. Während sich mein Taxi durch die verstopfte Stadt im Berufsverkehr schleppt, sehe ich, dass die Bäume, die die Boulevards säumen, schon ihr Laub verloren haben, bronzefarbene Blätter bedecken jetzt die Pflastersteine. Zwischen gestressten Bewohnern, die nach Hause eilen, kämpfen Touristen um Platz, und die nicht endende Baustelle scheint ein Loch durch das Herz der Hauptstadt zu hämmern. Große Räume öffnen sich, wo früher vielleicht Geschäftsstraßen florierten, und zwingen uns, ganze Blocks zu umfahren. Als wir an einer vorübergehenden Ampel halten, starre ich dorthin, wo ein Gebäude abgerissen wurde und nur ein historischer Torbogen übrig geblieben ist, der trotzig am Leben zu hängen scheint, während alles um ihn herum abgerissen wurde. Eine Gruppe von Gebäuden ist in zeitweilige Verkleidungen gehüllt, während sie darunter umgebaut werden – wie die größten Weihnachtsgeschenke der Welt, die geduldig darauf warten, ausgepackt und bewundert zu werden.

Als wir an das Athénée heranfahren, erinnere ich mich an Grannys Abschiedsworte: »Achte auf die roten Fenstermarkisen«, und jetzt sehe ich sie. Jedes der Fenster, die zur Avenue Montaigne gehen – und es müssen mindestens fünfzig sein –, hat eine, und der Effekt ist so schön, dass ich unwillkürlich innehalte, als ich aus dem Taxi steige. Dann erscheint ein Portier und sagt »Willkommen in der Avenue der Mode«, und ich sehe mit einiger Erleichterung, wie meine zerrissenen und schmutzigen Einkaufstaschen entführt werden.

Nun sitze ich auf der Kante meines prächtigen überdachten Doppelbetts in einem Zimmer voller roter Nelken und habe das Gefühl, vor meinem Fenster schwirren eine Million Möglichkeiten durch die Luft. Als ob ich, wenn ich hinaus auf den Balkon träte, der sich um meine enorme Suite schlingt, eine Hand hoch in die beißende Abendbrise halten und mir etwas von diesem Glück pflücken könnte. Der Himmel weiß, wie sich Granny diese Adresse leisten kann. Ich bin hoch über dem Wahnsinn der Pariser Straßen da unten, dem Hupen, dem Straßenlärm dicht an dicht. Autos schieben sich langsam vorwärts, ich bin hier oben am Rand der Sterne, wo sich alles schwerelos anfühlt. Ich möchte mich hinauswagen, ich will diese Frau sein. Die ihren Koffer auf das Bett wirft und in eine fremde Stadt aufbricht, ohne die geringste Idee, wohin sie geht, aber wissend, es wird spannend.

Dieses eine Mal, und ich sage das nicht leichtfertig, sollte ich etwas von Mutter herauskehren. Sie wäre jetzt schon an der Rezeption, der Stadtplan quer über die Theke ausgebreitet, egal, wie lang die Schlange hinter ihr wäre, und würde eine wasserdichte Liste vom Besten verlangen, was diese Stadt zu bieten hat. Warum bin ich nicht dort? Ich möchte, wirklich. Vielleicht, weil ich nicht weiß, wie. Meine Welt fühlt sich plötzlich überraschend klein an. Ich fühle mich völlig fehl am Platz in dieser fremden Stadt.

Ich könnte mit den einfachen Sachen anfangen. Ich werde den Zimmerservice rufen und einen Croque Monsieur bestellen. Dann muss ich Véronique eine Mail schreiben, sehen, ob wir uns, wie geplant, später treffen. Logistik ausarbeiten. Während ich mich durch die ausführliche Zimmer-Speisekarte arbeite, nagt etwas in meinem Hinterkopf. Der Blick in Grannys Gesicht gestern, als sie von Paris sprach. Wie ihre Augen sich aufhellten, als sie über dieses Hotel sprach, als würde sie es gut kennen. Warum habe ich mich nie bemüht, mich eingehender mit der kurzen Zeit zu befassen, die sie hier mit meinem Großvater verbrachte – ich gelobe, sie zu fragen, wenn ich zurück bin.

2 ALICE

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Oktober 1953, Paris

Das Cygne Noir

Heute Abend muss ein Erfolg werden. Alice hat den ganzen Tag damit zugebracht sicherzustellen, dass es einer wird. Ihre ersten Gäste werden in zwei Stunden allmählich in der Residenz eintreffen, was ihr gerade genug Zeit lässt für eine letzte Kontrolle des Salons. Und sich davon zu überzeugen, dass die Blumen, die sie bestellt hat, altmodische Rosen in einer blassen Nude-Farbe, angekommen sind und in die richtigen Vasen an die richtigen Stellen platziert waren. Sie wird die Gästeliste ein letztes Mal studieren. Noch einmal die Notizen lesen, die Eloise, ihre Assistentin für gesellschaftliche Anlässe, immer perfekt für sie vorbereitet, und dabei bedeutende persönliche oder berufliche Entwicklungen ihrer Gäste deutlich hervorhebt. Themen, die es zu vermeiden gilt, Anlässe zu gratulieren, alles, was die unterschiedlichen Menschen im Raum betreffen könnte. Die, die auseinanderzuhalten waren, jene, die man zusammenbringen musste in dem aufregenden Gemisch von Charakteren, die sich heute Abend unter dem riesigen Porträt von King George und Queen Mary mischen werden. Führende Industrielle, der Justizminister, der Präsident der Französischen Notenbank, Entscheidungsträger, andere in Paris akkreditierte Botschafter, und Smalltalk führende Socialites, wie Albert wenig schmeichelhaft die glamouröseren, weniger ernsthaften Kandidaten nennt – die Schönen, die dafür sorgen, dass die Schwergewichte kommen, um zu schauen, zu flirten und sich selbst mit ausreichend interessanten Anekdoten zu versorgen, um sie durch die Partys der kommenden Wochen zu bringen.

Die Ehefrauen werden eingehüllt in Nerz oder Kaninchen kommen, teuer riechend, mit aufgerissenen Augen und bereit, Urteile zu fällen. Und sie werden es genießen, dass all der Druck, gefallen zu müssen, heute Abend auf Alice liegt. Sie weiß, dass sie sie insgeheim über alles ausfragen werden, von ihrer Speisekarte – heute Abend eine sorgfältig ausgewogene Auswahl an Kanapees, die weder Briten noch Franzosen (britisches Rebhuhn, französischer Brie) ungebührlich bevorzugt – bis zu ihrem Gewicht, ihren Kleidern, wie viele Nächte in der Woche ihr Mann zu Hause schläft, wo sie einkauft, mit wie vielen Taschen sie diese Geschäfte verlässt, wie viel sie trinkt. Alles wird der Prüfung unterzogen werden.

Alice dreht sich im Salon einmal langsam um sich selbst. Hat sie alles richtig gemacht? Wird es Albert gefallen? Das Silber ist frisch geputzt. Die Auswahl an Whiskey und Brandy wieder aufgefüllt. Sie kann in ihr Schlafzimmer zurückgehen, um sich mit Annes Hilfe anzuziehen, die bereits das Abendkleid auf das Bett gelegt hat, das Alice wie besprochen an diesem Abend tragen wird.

Ein schwarzes trägerloses Abendkleid von Dior, eine luxuriöse Mischung aus Seidensatin und Samt. Alice hielt den Atem an, als sie den Preis bei der ersten Anprobe im Stadthaus des Designers sah – eine Geldsumme, die vor ihrem Umzug nach Paris ihr gesamtes Kleiderbudget für ein Jahr in den Schatten stellte. Aber Albert, ein Mann, der sich offenbar nie über die Kosten von irgendetwas Sorgen zu machen schien, besteht darauf, dass sie zu jeder Zeit passend gekleidet sein muss, und dass die Rechnung weitgehend irrelevant ist. Zuerst war sie nervös und fürchtete, andere würden sie durchschauen. Eine fünfundzwanzigjährige Frau mit einem Abendkleid, das ganz sicher für eine Dame mit weitaus mehr Lebenserfahrung bestimmt war? Jemand, der es mit einem Körper ausfüllen könnte, der mehr gesehen und mehr getan und es daher mehr verdient hatte.

Aber das hieß, die verändernde Kraft dieses Kleides komplett zu unterschätzen.

»Und keiner unserer Gäste heute Abend hat mich schon einmal in diesem Abendkleid gesehen, Anne?«

»Auf keinen Fall. Ich bin die Aufzeichnungen durchgegangen, Alice. Es wird vollkommen neu für sie sein.«

Alles, was Alice trägt, ist auf Karten vermerkt, ebenso wie die entsprechende Gästeliste, so wird die Möglichkeit für gesellschaftliche Fauxpas, ihre Garderobe betreffend, begrenzt. Alice weiß, dass sie eigentlich nicht zu fragen braucht, aber sie kann nicht anders. Seit dem Tag, an dem Anne durch die Tür kam, hat sie ihr keinen Augenblick Anlass für Besorgnis oder Enttäuschung gegeben. Ganz im Gegenteil.

»Ich helfe Ihnen, Alice«, bietet Anne ihr an und steht schon wartend neben dem riesigen Bett aus dunklem Holz, als Alice beginnt, das praktischere Tageskleid aus dunkelblauer Wolle langsam auszuziehen, das sie heute getragen hat. Anne hebt es leicht über ihre Schultern und hängt es zurück auf einen hölzernen Bügel. »Das Oberteil zuerst bitte.« Das Kleid ist zweiteilig. Ein trägerloses Oberteil, das sich ganz öffnen lässt und jetzt mit der Vorderseite nach unten auf dem Bett liegt, sodass sie das ganze feine Innenleben sehen kann, welches ihr das heute Abend so nötige Selbstvertrauen gibt. Eine Reihe aus sieben dünnen senkrechten Stäbchen, die von einem feinen Netz gehalten werden und eine leicht gefütterte Büste stützen, was das Tragen weiterer Dessous überflüssig macht. Innen ebenso gut gearbeitet wie außen. Das Oberteil ist eingefasst von einer schönen Kante aus schwerem schwarzem Samt, der an ihrer Haut anliegt und den Glanz des Satins unter dem sanften Kerzenlicht im Salon leuchten lassen wird.

Anne hält es an Alices nackten Körper, wobei sie höflich ihre Augen abwendet, und beginnt, die Reihe von dreizehn Haken und Ösen zu schließen, die perfekt über den Rücken hinunter verteilt sind und Alices Körper jedes Mal einen Hauch enger zusammenziehen. Als sie den letzten sicher schließt, sitzt das Oberteil exakt auf ihrer Haut und endet genau unter ihren Schulterblättern.

Dann steigt Alice in den weiten, schweren Rock, wobei sie aufpasst, dass sich ihre Zehen nicht in der steifen Krinoline darunter verfangen. Erst dann kann Anne beginnen, die beiden Kleidungsstücke mit einer komplizierten Kombination aus weiteren Haken und Ösen und Reißverschlüssen zu verbinden, sodass niemand je auf die Idee käme, dass das Kleid aus zwei verschiedenen Teilen besteht. Dann macht Anne einen Schritt zurück, um letzte Hand anzulegen. Die Stoffbahnen aus Seidensatin und Samt, aus denen der Rock gemacht ist, werden auf Alices linker Hüfte von einer riesengroßen Schleife gekrönt; sie ist gefüttert, damit sie in Position bleibt, und lässt Alices Taille noch schmaler erscheinen als sonst. Die Wirkung ist majestätisch, und obwohl Anne dies schon einmal gemacht hat und weiß, dass es ihr nicht zusteht, eine Meinung zu äußern, geht ein breites Lächeln über ihr Gesicht.

»Wunderschön, Alice«, flüstert sie.

»Danke«, bringt Alice heraus und atmet lange aus, ein klares Zeichen, wie sehr ihre Nerven wegen heute Abend angespannt sind.

»Sie werden strahlend aussehen, wie immer.« Sie drückt Alices Hand kurz und fest, bevor sie sie allein lässt, damit sie noch einmal über ihr Make-up gehen, ihre kurzen, in Form gebrachten Locken hinter beide Ohren schieben und ihre Tropfenperlen-Ohrringe anlegen kann, die sie jeden Tag trägt, seit Albert sie ihr an ihrem Hochzeitstag geschenkt hat.

Alice beobachtet, wie sie den Raum verlässt, und würde sie gerne noch bei hundert Dingen um ihren Rat von Frau zu Frau fragen. Albert hat ihr schon frühzeitig eindringlich zu verstehen gegeben, dass ihr Umgang mit dem Personal rein beruflich zu bleiben hatte, sie die Grenze nie übertreten dürfe. Und sie hat es mit keinem anderem getan als mit Anne, und sorgfältig das formellere Marianne verwendet, wenn er in Hörweite war.

Als Albert zur Residenz zurückkommt, hat er noch fünfundzwanzig Minuten, bis ihre ersten Gäste eintreffen werden, gerade so viel, um sich frisch zu machen und seinen Smoking anzuziehen.

»Ist alles in Ordnung?« Es ist nicht die wärmste Begrüßung, aber Alice hat auch keine erwartet. Er ist mit dem vor ihm liegenden Abend beschäftigt, und vielleicht nimmt er sich später Zeit, mit ihr zu plaudern, wenn alle gegangen sind.

»Alles ist so, wie du es gewünscht hast, Albert. Ich lass dich allein, damit du dich umziehen kannst, und sehe dich dann unten. Der Koch ist mit allem fertig, und wenn irgendwelche Gäste früh eintreffen, werde ich sie begrüßen.«

»Sehr gut.« Albert blickt nicht auf, als sie das Zimmer verlässt, und gibt ihr das Gefühl, dass er lieber allein ist.

In diesen letzten kostbaren, friedvollen Augenblicken, bevor der Raum in lebhafte Unterhaltung und laute Ankündigungen umschlägt, gehen Alices Gedanken zurück zu dem Gespräch über das Protokoll, an dem sie teilnahm, bevor sie und Albert nach Paris entsandt wurden. Alles andere, als sie zu beruhigen, machte es sie nur nervöser, wenn sie an die wichtige Aufgabe dachte, die ihr bevorstand, und daran, wie sehr Albert sich auf sie verlassen würde. Unterbrechen Sie nie eine laufende Unterhaltung, aber seien Sie immer gewärtig, eine zu beginnen, schauen Sie nach Leuten, die für sich stehen, antworten Sie in der Sprache, in der Sie angesprochen werden … und so weiter, und so weiter. Sie hörte zu, machte Notizen, sah in allem einen Sinn, und entschied dann, die einzige Art, wie sie das bewältigen konnte, war, sie selbst zu sein. Es wird ihr ein Leitfaden sein, nicht ihre Bibel. Als einziges Kind gesellschaftlich ehrgeiziger Eltern weiß Alice, dass sie auch wertvolle Erfahrung für ihre Rolle mitbringt. Sie hat Stunden damit zugebracht, bei den Cocktail- und Dinnerpartys ihrer Eltern herumzugehen, die Champagnergläser der Gäste aufzufüllen und das Auf und Ab guter Unterhaltung in sich aufzunehmen. Alice beobachtete, wie ihre Mutter eine Unterhaltung dirigierte, während sie ihrem Mann geschickt bedeutete, wenn jemand auf der anderen Seite des Raumes gerettet werden musste. Es faszinierte Alice immer, wie eine Frau, die in ihrem täglichen Leben oft so distanziert war, am Abend lebendig wurde, wenn Herzen zu gewinnen, Egos zu beschwichtigen und persönliches Weiterkommen zu erlangen waren. Vielleicht war es der Umstand, dass ihr komfortables Zuhause in Norfolk im Schatten des größeren Landsitzes stand, zu dem es gehörte, und den ihr Vater als Angestellter verwaltete, der ihre Eltern nach mehr streben ließ. Sicherlich lockte es eine Reihe von Gästen an, die hofften, eine solche Nähe zu Wohlstand könnte auch für sie Türen öffnen.

Für Alice gab es kein großartigeres Gefühl, wenn die Gäste schließlich nach Hause gingen, als zufällig gehörten Klatsch oder nützliche Informationen, die sie beim Herumlaufen im Salon aufschnappte, weiterzugeben. Ihre Mutter überhäufte sie dann mit sonst so seltenem Lob, ihr Vater schenkte ihr vielleicht ein »Gut gemacht, Schätzchen«, und sie wusste, dass sie zufrieden waren mit ihr. Sie hatte sich ihren Platz bei der Party verdient und konnte zu Bett gehen, müde, aber glücklich.

Eines Abends trat Albert, ein Gast des Hauptanwesens, mit einem Arm voller frisch geschnittener Rosen für ihre Mutter und einer Flasche teurem schottischem Whiskey für ihren Vater über die Schwelle und überschüttete sie und ihr Heim mit Komplimenten – wobei ihm doch alles so bescheiden vorkommen musste, verglichen mit seinem eigenem.

Seine Referenzen zirkulierten bereits vor ihm im Raum – erzogen in Eton und dann in Oxford, wo er die beste Auszeichnung in Geschichte sowie einen Ruf als versierter Autor und unnachgiebiger Debattierer erhielt. Es folgte ein rascher Aufstieg durch die Ränge des Diplomatischen Dienstes und des Außenministeriums in London und ein höllisches Programm internationaler Konferenzen und Termine.

Sein Erscheinen änderte die Dynamik im Salon ihrer Eltern völlig. Viele Gäste waren nicht mehr mit ihrer herkömmlichen Begleitung zufrieden und standen förmlich Schlange, um mit ihm zu sprechen. Und er tat ihnen gnädig den Gefallen. Die Tatsache, dass er mit persönlichen Informationen sparsam war, abgesehen davon, dass er eine jüngere Schwester hatte, beide Abkömmlinge wohlhabender Landbesitzer in Gloucestershire, die ihren Vater tragischerweise durch Tuberkulose verloren hatten, als Albert ein Teenager war, erwärmte sie nur umso mehr für ihn. Von diesem Moment an luden ihre Eltern keine alleinstehende Frau mehr zu Abenden ein, an denen Albert mit ihnen speiste.

Alice wuchs in Gesellschaft Erwachsener auf, und ein Salon voller unbekannter Gesichter wird ihr heute Abend keine Angst machen. Aber ist sie noch fähig, Albert so zu gefallen wie früher? Vielleicht genügte sie ihm, bevor sie heirateten, als wenig auf dem Spiel stand und die Erwartungen an sie noch geringer waren. Sieht er sie jetzt in ihrem Ballsaal in Paris und findet, ihre Fähigkeiten reichen nicht aus?

»Ein Glas Champagner, Madame Ainsley?« Patrice balanciert ein Silbertablett vor ihr mit einem einzigen gekühlten Kelch in der Mitte. Er weiß genau, dass sie es nehmen wird. Sie wird keine Gelegenheit dazu haben, wenn erst alle da sind, und ihre Laune könnte einen kleinen Anschub vertragen. Patrice setzt das Tablett zurück auf ein Sideboard und nimmt seine Stellung im Foyer ein, damit er jeden ankommenden Gast ankündigen kann. Viel zu formell, denkt Alice, aber eine ganz nützliche Gedächtnisstütze für das »Who is Who«, wenn ihr Gedächtnis sie einmal erwartungsgemäß im Stich lässt. Und in dem Meer von sechzig Gesichtern heute Abend ist sie sogar noch dankbarer für Patrice und seinen perfekten Auftritt, den er liefern wird.

»Der Generalsekretär des Élysée, Monsieur und Madame Bateaux.« Patrice kündigt das erste Paar an, und da Albert noch nirgends zu sehen ist, muss Alice sich kümmern. Zum Glück kennt sie die beiden bereits. In einer einzigen raschen Bewegung gleitet sie durch den Salon und gibt jedem von ihnen einen liebevollen Kuss auf beide Wangen.

»Mein Salon ist sofort hundert Prozent eleganter, weil Sie hier sind, Chloé!« Alice breitet Chloés Arme zur Seite aus und bildet einen intimen Kreis zwischen ihr und sich, so kann sie den Anblick bewundern. Eine bodenlange, purpurrote Abendrobe, die Farbe ihres Boudoirs, übersät mit zarter Perlenstickerei, sodass das ganze Kleid unter dem Lüster glitzert.

»Dior natürlich!«, gurrt Chloé. »Wer sonst? Warum haben Sie ihn noch nicht hierher eingeladen? Oh, bitte tun Sie es. Einfach ein kleines Mittagessen für ein paar wenige von uns. Nachmittagstee in Ihrem Grünen Salon? Haben Sie schon diese wunderbare Camila in der Avenue Montaigne getroffen? Die beste Verkäuferin in ganz Paris meiner Meinung nach. Sie lässt jede wie eine Lady aussehen.«

»Oh, glänzende Idee, damit er mir wieder ein Jahresgehalt aus der Tasche ziehen kann«, fügt der Sekretär hinzu, bevor Alice antworten kann.

»Und sehen Sie sich an, Alice. Wenn man mich für halb so schick hält wie Sie, bin ich glücklich.« Anstelle eines Komplimentes von Albert ist es genau das, was Alice hören muss.

»Kommen Sie und retten Sie mich von all dem verrückten Unsinn, Albert, bitte!« Der Sekretär hat Albert durch die hohe Flügeltür hereinkommen sehen und will unbedingt die Gelegenheit nutzen, ihn für sich allein in Anspruch zu nehmen.

Innerhalb einer halben Stunde hat sich der Salon der Residenz gefüllt, alles künstliche Lächeln beginnt zu schwinden, in dem Maße, wie sich Pflicht in Unterhaltung verwandelt, und Alice wandert umher, eifrig darum bemüht, mit jedem einige Minuten zu verbringen, bevor sie sich wieder in die angenehme Gesellschaft von Chloé begeben kann. Sie darf sich nicht von den schönen Abendroben ablenken lassen. Einer schweben Federn über einen unglaublich leichten Rock in vielen Schichten; übergroße, zartfarbene Schleifen fallen über die Vorderseite einer anderen, Schichten weißer Rüschen werden von der Verlobten eines bedeutenden Diplomaten getragen. Jacken, die geformt sind, als wären sie gerade von der perfektesten weiblichen Figur abgenommen, und ein anderes Abendkleid mit kunstvoller Stickerei und gekonnt nachempfundenen Blüten in den hübschesten Farben eines englischen Gartens.

Mit einem Auge bei dem Strom von Kanapees, damit sie Patrice zunicken kann, wenn weitere serviert werden können, bewegt Alice sich weiter. Sie findet es immer atemberaubend, wie viel bei solchen Zusammenkünften gegessen wird. Drei Stunden ununterbrochenes Knabbern, bevor die meisten Gäste zu Dinner-Reservierungen irgendwo anders hingehen.

Alice beschließt, einen der leitenden Professoren der Sorbonne zu suchen, der heute Abend unter ihnen ist. Letzten Monat hat sie Schnupperstunden in moderner französischer Literatur besucht und sie geliebt, und sie möchte unbedingt etwas über das Vorlesungsprogramm im nächsten Jahr hören in der Hoffnung, dass etwas ihr Interesse weckt und einige ihrer Stunden zwischen dem Empfang von Gästen und der Leitung des Personals füllt.

»Meine Liebe! Als wir uns das letzte Mal trafen, waren Sie unentschlossen – wird es der Kurs für Stillleben zeichnen oder die Vorlesungen über europäische Kunstgeschichte werden?« Der Professor umfasst sie mit den Armen ohne all die Förmlichkeit, zu der sich so viele andere veranlasst sehen, sobald sie in der Residenz sind. »Die Kurse füllen sich schon, wissen Sie. Wenn Sie noch lange warten, werden Sie enttäuscht sein.«

»Vielleicht mache ich beide!« Alles ist besser, denkt Alice, als gedankenlos in den Sälen der Residenz umherzuwandern, um ausfindig zu machen, womit sie sich beschäftigen könnte. Obwohl sie genau weiß, noch während sie es sagt, dass Albert sich beschweren wird, wenn sie zu viel Zeit außerhalb verbringt. Die offiziellere Rolle, eine, die nicht auf das Unterhalten von Gästen beschränkt ist und die er ihr versprochen hatte, ist trotz zahlreicher Erinnerungen ihrerseits ausgeblieben.

Dann sieht Alice, dass es ihr gelungen ist, sich unbemerkt Rücken an Rücken mit Albert zu stellen. Er hat kaum ein Wort zu ihr gesprochen, seit er nach Hause gekommen ist. Sie wird hellhörig, als jemand ihren Namen erwähnt, und reckt ihren Hals, kann aber den älteren Herrn nicht erkennen, mit dem Albert spricht. Patrice ist nicht in Sichtweite, also keine Hilfe.

»Und wie hat sich Madame Ainsley eingelebt? Sie genießt das diplomatische Leben in Paris, wie ich hoffe?« Es tröstet Alice immer, wenn jemand, nachdem er sich etwas von Alberts nicht leicht gewährter Zeit gesichert hat, nach ihr fragt. Obwohl sie weiß, dass Albert es für eine verschwendete Gelegenheit hält, über Dinge von so geringer Bedeutung zu sprechen.

»Reibungslos, wie erwartet«, gibt Albert sofort zurück. »Alice ist für so etwas gemacht, obwohl ich mich keiner Illusion hingebe, dass sie ganz offensichtlich vom ersten Tag an jeder mehr mag als mich.« Es ist keine Fröhlichkeit in Alberts Ton. Seine Worte bleiben ohne Wirkung, und wenn er hofft, dass ihm widersprochen wird, wird er enttäuscht werden. »Es ist Alice, neben der alle bei Tisch sitzen wollen.«

»Nun, dann sind Sie ein sehr glücklicher Mann, Albert. Sie haben eine Frau, die nicht nur schön und intelligent ist, sondern auch bewundert wird. Ihre einzige Aufgabe ist es, immer daran zu denken, sie wertzuschätzen.« Wer immer es ist, mit dem Albert spricht, er scheint die nonchalante Arroganz von Alberts Angeberei nicht wirklich zu schätzen, genauso wenig wie die unterschwellige Eifersucht, die er kaum zu verhehlen versucht.

»Ich glaube nicht, dass Glück irgendetwas damit zu tun hat. Ich habe mir gesichert, was ich brauchte. Sie ist der effizienteste und gleichzeitig am wenigsten offensive Mensch, den ich kenne. Keine Selbstverständlichkeit in einer solchen Umgebung, finden Sie nicht?« Er sagt es mit einem leichten, wenig überzeugenden Lachen, und Alice hört, wie der ältere Herr etwas über eine Dinner-Reservierung sagt, die er bestätigen muss, und weitergeht. Ihre Wangen werden warm und rot. Es war keine diskrete Unterhaltung, und sie fragt sich, ob der Professor sie auch gehört hat. Wenn ja, verhält er sich wie ein Gentleman und zeigt es nicht, sondern nimmt die rotierenden Kanapees als willkommene Entschuldigung, wegzusehen und Alice ein paar Augenblicke zu lassen, um sich einen Reim auf das Gehörte zu machen. Ihre Ehe war nicht im traditionellen Sinn arrangiert, es hatte immerhin einen Antrag gegeben, den sie hätte annehmen oder ablehnen können.

Aber es gab auch nie einen Zweifel über die Erwartungen ihrer Eltern, wie sehr sie Albert akzeptierten, und den Erfolg, den er in ihrer Gesellschaft selbstbewusst genoss. Wie sie ihre Hoffnungen auf eine Heirat mit Freunden teilten, lange bevor es angemessen war. Und würden ihre Eltern nicht das Beste für Alice wollen? Einen Ehemann, der die Eheversprechen halten würde? Gewiss war Albert seiner Integrität wegen ausgewählt worden, ebenso wie für sein Vermögen und seinen offensichtlichen Ehrgeiz? Wenn ihr Vater irgendwelche Schuldgefühle wegen seiner eigenen Defizite als Ehemann hatte, würde er dann nicht sicherstellen wollen, dass seiner eigenen Tochter dieser Schmerz erspart bliebe? Sie hatte ihrer Billigung vertraut, hatte keinen Grund, sie anzuzweifeln.

Stratege, der er immer war, hatte Albert die Bedingungen für Alice sehr deutlich dargelegt – vor, und mit ernüchternder Sachlichkeit sofort nach seinem Antrag. Sie würde ein privilegiertes Leben führen, aber nie ein rein dekoratives. Er wusste, Alice konnte mehr, und er wollte sie in seinem Team haben. Im Sitzungsraum ebenso wie beim Dinieren. Seine Redeweise war vielleicht unerwartet pragmatisch, aber gleichwohl reizvoll. Eine Gelegenheit, ihre Eltern zu beeindrucken, ihre Flügel auszubreiten, ihren Kopf zu verwenden, etwas Sinnvolles beizutragen mit der Erziehung, die ihre Eltern ihr hatten angedeihen lassen.

Aber jeder, der mit angehört hätte, was Alice gerade gehört hatte, würde annehmen, dass sie und Albert im Wettstreit miteinander lagen, durch die Art und Weise, wie er ihre Beliebtheit abzulehnen schien. War es nicht genau das, was er erhofft hatte? Dass sie nicht nur in seiner Welt angenommen, sondern willkommen geheißen wurde.

Ihre Unterhaltung mit dem Professor stockt, als sie versucht, sich zu beruhigen und das Erröten in ihren Wangen zurückzuhalten, was ihm gerade genug Zeit gibt, den Blick einer anderen Frau jenseits des Raumes zu fangen und sie herüberzuwinken.

»Madame Ainsley, darf ich Ihnen Madame du Parcq vorstellen. Sie liest über klassische französische Literatur an der Sorbonne. Ihr Mann ist Leiter der Vermögensverwaltung bei der Banque de France. Beide außerordentlich erfolgreich, versteht sich.«

»Welch eine Freude, Sie kennenzulernen, Madame Ainsley, und sehr herzlichen Dank für Ihre freundliche Einladung zu diesem Abend. Ich wollte Sie schon eine ganze Weile kennenlernen. Und lassen Sie mich sagen, die Rosen sind einfach wunderbar, kommen sie aus den Gärten der Botschaft?«

Alice öffnet ihren Mund, um zu antworten, hält aber inne, als ein junger Mann neben Madame du Parcq tritt.

»Ah, bitte lernen Sie meinen Sohn Antoine kennen. Er studiert Politikwissenschaft an der Sorbonne und möchte unbedingt eine Karriere in der Welt der Diplomatie einschlagen, nicht wahr, Liebling?« Ihre Hand verschwindet hinter seinem Rücken und schiebt ihn ein wenig nach vorn, näher an Alice.

Einige Sekunden lang sagt Antoine nichts, bevor er nonchalant antwortet: »Ja. Es sieht so aus.« Dabei verziehen sich seine Augenbrauen ein bisschen, was seiner Mutter zu gelten scheint, und Alice tut so, als hätte sie es nicht gesehen. Dann lässt er sich Zeit, seine Augen wandern vollkommen ruhig über Alice hinweg, und es stört ihn nicht im Mindesten, dass er eine Pause in der Unterhaltung verursacht. Er gibt ihr nicht die Hand, tritt aber näher, so nahe, dass sie einen wilden Augenblick lang denkt, er könnte sie küssen. Der Atem stockt in ihrer Brust. Dann hebt er sehr langsam einen Finger an ihre Lippen und entfernt den vorwitzigen Krümel eines Kanapees.

»Oh, danke.« Alice führt ihre eigenen Finger an ihren Mund und bemerkt, wie seine Augen auch auf ihm ruhen.

Seine Mutter plappert dazwischen, wie sehr sie Alices Meinung dazu schätzen würde, und ob sie eventuell Zeit hätte, Antoine ein wenig zu beraten, falls sie das nicht als eine Zumutung empfinden würde?

»Nun, ich bin wirklich keine Expertin«, gibt Alice zu, »aber, wenn ich helfen kann, natürlich gerne.«

Sie beobachtet, wie Antoines Gesicht langsam ein kleines, heimliches Lächeln beschleicht. Niemand außer ihr hat es bemerkt. Was versucht er zum Ausdruck zu bringen – und warum gibt sie es wieder? Es bleibt zwischen ihnen beiden. Sie fühlt ihr Blut in ihren Ohren pulsieren – vielleicht noch von Alberts peinlichem Verhalten? Oder hat es, wie das Spannen tief unter ihrem Bauch, mehr mit dem faszinierenden Mann vor ihr zu tun? Der sich die Mühe gemacht hat, heute Abend einen Smoking anzuziehen, aber den obersten Hemdknopf offen stehen ließ, aus Trotz? Seine Fliege ist nicht ganz gerade, sein schokoladenbraunes Haar sieht nachlässig zerzaust aus. Etwas Verwegenes liegt in der Art, wie er seinen Kopf zur Seite neigt und in seinem Gesicht offene Bewunderung für Alice steht. Und was will er ihr vermitteln? Ein bewusster Versuch, sie aufzuregen? Sie leicht aus der Balance zu bringen? Eine Entschlossenheit, sich nicht an die gesellschaftlichen Konventionen des Abends anzupassen. Und doch ist er makellos sauber rasiert. Seine Augenbrauen so gerade wie seine Kieferkontur. Er ist darauf bedacht, wie er aussieht. Alice kann sehen, dass er darüber nachgedacht hat, wie er heute Abend wahrgenommen wird.

Der Professor und Madame du Parcq haben begonnen, über Stundenpläne und Studentenzahlen zu sprechen. Als Antoine das bemerkt, macht er noch einen halben Schritt auf sie zu. Sie spürt seinen Körper, dessen Nähe zu ihrem, seine Größe, und wie er seinen Kopf mit überraschender Intimität zu ihr neigt, so tief, dass sein Haar ihre Wange streift, und sie den Rhythmus seines Atems spüren kann.

»Ich habe Sie schon einmal gesehen. An der Sorbonne. Letzten Monat.«