Das Vermächtnis 2 - Judith Pientschik - E-Book

Das Vermächtnis 2 E-Book

Judith Pientschik

0,0

Beschreibung

Trotz der Gefahren auf ihrer ersten Zeitreise beschließt Katharina, abermals ins 17. Jahrhundert zu reisen. Dabei lernt sie auf einem rauschenden Ball einen jungen Herrn kennen, welcher sich ihr als Sir Paul vorstellt. Wie Katharina und ihr Bruder bald herausfinden, scheint er mehr Geheimnisse zu verbergen als zunächst gedacht. Als die beiden Geschwister ihn jedoch fernab der Zivilisation und noch dazu verletzt wiederfinden, stehen sie vor einem Rätsel: Zählt er nun zu ihren Freunden oder ist er ihr Feind? Und eine weitere Frage beschäftigt die beiden: Gibt es noch jemanden, der seine Macht im Spiel hat und von dem sie nichts wissen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2015

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zu diesem Buch

Trotz der Gefahren auf ihrer ersten Zeitreise beschließt Katharina, abermals zurück ins 17. Jahrhundert zu reisen. Dabei lernt sie auf einem rauschenden Ball einen jungen Herrn kennen, welcher sich ihr als Sir Paul vorstellt. Wie Katharina und ihr Bruder bald herausfinden, scheint er mehr Geheimnisse zu verbergen als vorerst angenommen. Als die beiden Geschwister ihn jedoch fernab der Zivilisation und noch dazu verletzt finden, stehen sie vor einem Rätsel: Zählt er nun zu ihren Freunden oder ist er ihr Feind? Und eine weitere Frage beschäftigt die beiden: Gibt es noch jemanden, der seine Macht im Spiel hat und von dem sie nichts wissen?

Judith Pientschik wurde 1996 in Schwabmünchen geboren. Seit Herbst 2014 studiert die junge Autorin Lehramt in München. Wenn sie nicht gerade schreibt, musiziert sie gerne oder treibt Sport. Ihre restliche Freizeit verbringt sie zudem auch mit alten Sprachen.

Für Miriam.

Mit bestem Gruß an Rosalie.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Vorschau

Danksagung

- Prolog -

August 1686

Noch immer befinde ich mich in London inmitten des Barockzeitalters. Dank der über Jahre hin andauernden intensiven Vorbereitung und gewiss auch wegen meines bestimmt schon an die drei Monate grenzenden Aufenthaltes im 17. Jahrhundert habe ich mich mittlerweile an die einzelnen Gepflogenheiten hier gewöhnt, auch wenn es mir anfangs noch etwas schwer fiel.

Doch möchte ich behaupten dürfen, selbst am ersten Tag in der mir persönlich bis dahin nie bekannten Zeit kein bisschen aus der Reihe gefallen zu sein. Ich habe mich gemäß dem Motto „nur nicht auffallen“ orientiert und hoffe, dies auch weiterhin praktizieren zu können.

Bisweilen ärgere ich mich ein wenig darüber, dass ich meine Erfahrungen regelmäßig zu Papier bringe: So etwas tun ja sonst nur die kleinen Mädchen in ihren Tagebüchern. Als ob ich ein kleines Mädchen wäre! Da lachen ja die Hühner! - Andererseits sehe ich es optimistisch. Und zwar aus zwei Gründen:

Erstens, weil es mir gewiss während meines Studiums helfen wird, endlich einmal ordentliche Notizen zu machen und diverse Unterlagen anzufertigen.

Apropos Studium - das vernachlässige ich ja momentan ganz schön. Wenigstens sind gerade Semesterferien. Aber dennoch: Diese Runde werde ich wohl nochmal machen dürfen. Es sei denn, ich kann diese Mission hier bald zu Ende bringen und finde anschließend endlich einmal Zeit, mein bisher erarbeitetes Wissen wieder aufzufrischen, um gestärkt ins neue Semester zu starten - und keine Ehrenrunde drehen zu müssen.

Aber genug der sinnlosen Plauderei: Ich wollte ja noch meinen zweiten Grund nennen.

Also zweitens: Das, was ich mir notiere, wird mir helfen, die einzelnen Puzzlestücke leichter zusammenzufügen. Und das kann gewiss sehr praktisch werden. Immerhin handelt es sich bei dem Rätsel, vor dem ich seit gefühlten Ewigkeiten stehe, um ein mindestens 1000 Teile Puzzle. Ach was! Das wäre weit untertrieben! Mindestens 5000 Teile. Und der Hacken an der Sache ist: Ich weiß noch nicht einmal, welches die Randteile sind, denn im Augenblick sind mir die ganzen Ereignisse hier ziemlich unklar: Vor einigen Wochen habe ich davon gehört, dass geheime Mitarbeiter von Turner eingetroffen sind. Ob sie ebenfalls aus der Zukunft stammen, davon habe ich leider nicht den leisesten Hauch einer Ahnung. Fest steht nur, dass sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, das Vermächtnis an sich zu bringen. Sie wollen es für sich alleine haben. Thomas hatte wohl wirklich Recht gehabt mit seiner Vermutung. Leider nützt ihm das jetzt auch nichts mehr - immerhin schaut er sich jetzt die Radieschen von unten an.

Aber zurück zum eigentlichen Thema: Wir waren beim Vermächtnis stehen geblieben. Also ich bin ja immer noch der Meinung, es wäre besser gewesen, diese Erfindung wäre nie ans Tageslicht gekommen. - Sobald ich jedenfalls davon gehört habe, dass die beiden geheimen Mitarbeiter eingetroffen sind, habe ich mich auf den Weg nach London gemacht. Unterwegs kam ich beim Gasthof zum Goldenen Stein vorbei, wo sich ein Handgemenge abspielte. Eine Gruppe von Räubern, so scheint es mir, muss sich wohl an zwei Reisenden vergriffen haben. Was mich bis heute verwundert, ist die Tatsache, dass die offensichtlich weibliche Gestalt zum Degen gegriffen hatte, während ihr Begleiter damit beschäftigt war, sich gleich mehrere Angreifer vom Leib zu halten, und ihr dadurch nicht zu Hilfe kommen konnte. Ich kam keine Sekunde zu spät, denn gerade als ich eintraf, sah ich die Frau verletzt zu Boden sinken.

Glücklicherweise bin ich ziemlich waffengewandt. Ich also nichts wie hin, habe den ersten wortwörtlich aus dem Weg geräumt und dafür gesorgt, dass der jungen Lady nichts weiter geschehen konnte.

Kaum hatte ich sie in eines der Gästezimmer gebracht und auf einem Bett abgelegt, als der Wirt des Hauses mich nach draußen rief. Irgendjemand wollte sich an meinem Pferd vergreifen und mit ihm auf und davon. Klar, dass ich mir das nicht bieten lasse!

Als ich zurück in das Zimmer trat, war die junge Lady allerdings aus heiterem Himmel spurlos verschwunden. Ihr (ebenfalls junger) Begleiter genauso.

Es ärgert mich, dass ich die beiden nicht bei Tageslicht gesehen habe, denn dann würde ich sie unter allen Umständen wieder erkennen, wenn wir uns noch einmal begegnen sollten. Außerdem hätte ich zu gern gewusst, ob sie möglicherweise nicht im Besitz eines besonderen Edelsteins gewesen sind. Mich soll der Affe lausen, wenn sie nicht diejenigen sind, denen die beiden Feueropale übertragen worden sind.

Wieso ich erst jetzt davon schreibe, wenn es schon einige Zeit her ist?

Nun, ich habe die beiden bisher kein einziges Mal mehr gesehen und die Sache damit für erledigt geglaubt. Doch gestern sind mir zwei junge Leute begegnet, die mich auf ähnliche Art und Weise zum Staunen gebracht haben: Sir William Rosehill, der Sohn eines gewissen Lord Henry Rosehill, hat ein Fest in seinem Wohnsitz in London ausrichten lassen, bei dem unter anderem, wie er mir erzählte, Richard Turner eingeladen gewesen wäre. Da dieser aber angab, nicht kommen zu können, erschien an seiner Stelle eine junge Frau, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt, in Begleitung eines nicht viel älteren Herrn. Beide waren sehr vornehm gekleidet, was darauf schließen lässt, dass sie tatsächlich den Kreisen entsprechen, die mir Sir Rosehill nannte. Die Dame, sie selbst bezeichnete sich als Cousine Turners, nannte er Katharina Turner. Ihr Name stimmt mit dem, den sie mir sagte, überein. Ihr Begleiter, John Turner, soll, zumindest laut Rosehill, ein wissenschaftlicher Geselle Richard Turners sein.

Allerdings traue ich der ganzen Sache nicht so wirklich.

Katharina Turner erwies sich jedenfalls als eine äußerst gebildete Frau mit einem scharfsinnigen Verstand. Was mich jedoch in große Verwunderung versetzte, war die Tatsache, dass sie, sobald einzelne der Gäste ihr musikalisches Können unter Beweis stellten, sich vollkommen der Musik hingab, ähnlich wie in einem klassischen Konzert des 21. Jahrhunderts. Sie schien völlig empört darüber zu sein, dass sich die Gäste während der musikalischen Darbietungen lautstark unterhielten und dabei ungeniert aßen, was in diesem Jahrhundert doch wirklich keine Ausnahme ist! Außerdem erzählte sie mir, sie würde unheimlich gerne reisen, was ebenfalls sehr außergewöhnlich ist für diese Zeitumstände, noch dazu für eine Dame! Diese unbequemen Kutschen... Mir tut jetzt noch mein Hintern weh, wenn ich an meine erste Fahrt in diesem Höllenteil zurückdenke...

Aber ich sehe schon: Heute bin ich wirklich nicht ganz konzentriert. Jetzt schweife ich schon wieder vom Thema ab! Also, wo war ich nochmal? - Genau, bei Katharina Turner. Sollte sie tatsächlich eine der beiden Personen sein, die sich hier bei uns eingeschlichen haben, um das Vermächtnis an sich zu bringen und damit die gesamte Weltmacht zu erlangen? Wenn ja, gehört sie dann auch wirklich auf die Seite Turners und zur Newton-AG?

Möglich wäre ja, dass sie gar keine von diesem Jahrhundert ist, sondern ebenfalls aus der Zukunft hierher geschickt wurde, vielleicht gar mit einem zweiten Begleiter. Ob das dieser John Turner ist?

Ziemlich leichtsinnig - diese beiden.

Andererseits... Ich hätte mir im Voraus besser auch einen Decknamen zulegen müssen: Da fragte mich diese Lady doch glatt nach meinem Namen! Aber nachdem sie den ihren schon so offen zugegeben hatte, konnte ich ihr meinen ja schlecht verheimlichen. Tja, nannte ich mich eben mal Sir Paul.

Merkwürdig, dass sich dich Dame nicht darüber wunderte. Sie musste doch sehen, dass ich eigentlich noch etwas jung war für einen solchen Titel. Und den Auskünften Sir William Rosehills nach zu urteilen, stamme ich zwar aus vornehmen, aber nicht unbedingt aus adeligen Kreisen.

Auch wenn ich diese Katharina äußerst mysteriös finde und ganz und gar nicht einzuschätzen vermag, in welche Kategorie ich sie stecken soll - Feind oder Freund - sie ist mir sehr sympathisch.

Ich hoffe nicht, sie zu meinen Feinden zählen zu müssen. Wäre schön, wenn wir uns noch öfter begegnen könnten.

Wie ich sehe, es sind schon wieder etliche Seiten zustande gekommen. Spät ist es auch schon geworden. Zeit also, um Schluss zu machen.

Nur eine Bemerkung sei noch getan:

Heute war ich bei Sir Isaac Newton. Dass ich diesen Herren doch einmal persönlich kennenlernen darf! - Welch eine Ehre! - Er war gar nicht verwundert über meinen Besuch und schien im Gegenteil sogar damit zu rechnen. - Ob ihn jemand im Voraus informiert hatte?

Meinen Namen wollte er nicht wissen. Es genügte ihm, dass ich mich als geheimen Mitarbeiter ausgab. Jedenfalls weiß ich nun, wohin ich mich begeben muss, um das zu verhindern, was wohl oder übel dennoch eintreffen wird.

Und folgendes Rätsel scheint sich ebenfalls gelöst zu haben:

„Zeit und Ewigkeit - für immer getrennt und für immer zusammen - der Schlüssel der Zukunft, der Schlüssel der Vergangenheit. Zeit und Sein - Werden und Vergehen - Verbinden und Trennen. Alles eins und alles nichts - es liegt alles im Schloss der Liebe.“

P.M.

- 1 -

Ein leichter Ruck ging durch meinen Körper. Es war, als hievte mich irgendwer durch die Gegend. Unter mir fühlte ich etwas Warmes, Weiches.

Wo um alles in der Welt war ich?

Da ich es mit geschlossenen Augen wohl schwerlich herausfinden würde, blinzelte ich vorsichtig. Bedauerlicherweise reichte das nicht aus. Dafür musste ich meine Augen schon ganz öffnen. Aber es blieb ihnen gar nicht die Zeit, sich an das helle Licht zu gewöhnen, denn es fingen bereits kleine bunte Kreise an, vor meinem Blickfeld auf und ab zu springen.

Leise stöhnend schloss ich meine Augen wieder.

Trotzdem ließ es mich nicht in Ruhe.

Ich wollte wissen, wo ich mich befand, und deshalb blinzelte ich erneut.

„Katharina?“, hörte ich eine dunkle Stimme neben mir. Überrascht schlug ich die Augen auf. Diesmal waren keine bunten Kreise zu sehen, sondern ein Mann in weißem Kittel und freundlichem Gesicht.

„Katharina? Schön, dass Sie wach sind! Die OP ist gut verlaufen.“

Und weg war er.

Meine Besinnung allerdings auch.

Wie lange? - Keine Ahnung. Irgendwann jedenfalls wurde ich wach und blinzelte abermals.

Sonderbar überrascht war ich nicht, dass wieder jemand neben mir stand. Allerdings handelte es sich diesmal nicht um einen Mann in weißem Kittel, sondern in einem hellblauen Hemd.

„Katharina, wie fühlen Sie sich?“, fragte er. Seine Stimme schien unendlich weit weg zu sein.

„Gut...“, hörte ich mich murmeln, obgleich ich mich in Wirklichkeit alles andere als gut fühlte. Mir war speiübel.

„Wir werden Sie noch etwa eine halbe Stunde hier in Beobachtung behalten. Danach kommen Sie auf Ihr Zimmer.“

„Hm...“

Mehr konnte ich nicht sagen. Denn ich war abermals eingeschlafen.

Als ich zum dritten Mal aufwachte, spürte ich, wie sich jemand an meinem Oberarm zu schaffen machte und mir etwas vom Finger zog, das sich anfühlte wie eine Wäscheklammer.

Mit einem Mal setzte sich die Decke über mir in Bewegung. Beinahe wäre ich ihn Ohnmacht gefallen.

Oh mein Gott!, dachte ich nur noch. Und: Jetzt drehst du völlig durch...

Glücklicherweise war dem nicht so. Nicht die Decke war es, die sich über mir bewegte, sondern ich selber war es. Oder nein. Vielmehr das, was unter mir war, bewegte sich. Mein Bett.

Rechts und links von mir zog ein langer Gang mit einigen Türen vorbei. Es ging in einen Aufzug hinein und ein paar Stockwerke später wieder hinaus. Anschließend kam noch ein Gang und irgendwo bogen wir links ab.

Als Wände und Decke wieder komplett ruhig standen und sich nichts mehr bewegte, fielen mir vor Erschöpfung die Augen zu und ich fiel in einen endlos scheinenden Tiefschlaf.

Du bist im Himmel!

Das war der einzige Gedanke, der mir in Sekundenschnelle durch den Kopf schoss, als ich meine Augen einen klitzekleinen Spalt weit öffnete und dabei feststellte, dass sich um mich herum nichts anderes befand als glänzendes Weiß. Ok, das war ja immerhin besser, als direkt in der Hölle gelandet zu sein. Aber trotzdem: Mit gerade mal 17 Jahren hatte ich eigentlich doch bessere Sachen vor, als einen Abstecher mal so eben ins Jenseits zu machen.

Bis jetzt hatte ich mir gar nicht so genau vorstellen können, wie das eigentlich sein würde - im Himmel.

Dass man mir meinen Verstand gelassen hatte, davon war ich im ersten Moment ziemlich überrascht. Ich war immer davon ausgegangen, dass man im Himmel nichts dachte, sondern einfach nur da war: Dass man nur da war und nichts tat - und vor allem keine Schmerzen empfand. Genau das versetzte mich in noch größeres Erstaunen, naja, eigentlich viel eher in Entsetzen: Hatte der Lehrer im Religionsunterricht nicht immer gesagt, dass man im Himmel von allem Leid erlöst sein würde? - Und ich Esel war natürlich so blöd gewesen und hatte ihm alles geglaubt. Jetzt hatte ich das Schlamassel! Von wegen, im Himmel gäbe es kein Leiden und so. Klar, dass unser Lehrer davon überhaupt nichts wissen konnte - er war ja schließlich auch noch nie tot gewesen. Also wirklich, da hätte ich schon früher darauf kommen können, dass er uns das nur sagte, weil er selbst darauf hoffte, im Himmel ein besseres Leben zu haben. Zum Beispiel Schüler, die ihm endlich mal Gehör schenkten.

Oh Mist!

Wieso hörten denn die Schmerzen nicht auf? War ich am Ende vielleicht doch in der...?

Ich wollte lieber gar nicht weiter darüber nachdenken, sondern öffnete meine Augen kurzerhand ganz, sodass ich erkennen konnte, dass die Sache mit dem Himmel wohl... ähm, naja, nicht so ganz gestimmt hatte.

Bei allen guten Geistern!

Wo hatte es mich denn hin verschlagen?

Um mich herum sah ich kristallweiße Wände. Seltsam.

Behutsam drehte ich meinen Kopf nach links. Jetzt konnte ich durch eine große Fensterfront direkt in eine mit Bäumen und Sträuchern bepflanzte Parkanlage blicken, in der sich mattes Sonnenlicht träumerisch wiederspiegelte. Was sich auf der anderen Seite befand, vermochte ich nicht festzustellen, da sich mein Kopf leider nicht weiter bewegen ließ. Er war viel zu schwer und ich viel zu sehr erschöpft. Also ruhte ich mich einige Zeit aus und genoss den Blick nach draußen.

Obwohl sich mein Kopf noch immer anfühlte, als habe jemand ganze Tage damit verbracht, auf ihm herum zu trampeln, versuchte ich, ihn nach einer Weile etwas anzuheben, was mir nur halb und dabei auch nur unter großen Schmerzen gelang, weshalb ich ihn gleich wieder zurück in das weiche Kissen sinken ließ, das mich ein wenig an die weißen Wattewolken erinnerte, über die wir vor ein paar Wochen geflogen waren.

Da kam mir mit einem Mal ein sonderbarer Gedanke: Wenn ich mich nicht mehr im 17. Jahrhundert befand, war ich dann wenigstens am richtigen Ort gelandet? - Ich erinnerte mich nur zu gut an meine Ankunft im Barockzeitalter: Eine wirklich wunderschöne Wiese war es gewesen, auf der ich hatte landen dürfen. Herrlich duftende Blumen rings um mich herum. Überall dieses Gesumme und Gebrumme von Insekten... Dabei ist es ein Wunder, dass ich diesen Zeitsprung überlebt habe - immerhin bin ich gegen Bienen und Wespen allergisch. Das bedeutet: Ein Stich und es ist Feierabend.

Immerhin hätte ich in London landen sollen!

Selbst jetzt war ich noch immer felsenfest davon überzeugt, dass sich diese Herren von der Newton-AG gewaltig vertan hatten und mich aus Versehen eben nicht nach London, sondern in eine beinahe menschenleere Gegend verfrachtet hatten. Wobei - wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob sie das nicht mit Absicht getan hatten - und eben nicht aus Versehen?

Gerade hatte ich mich dazu entschlossen, einfach wieder die Augen zu schließen und ein bisschen auszuruhen, als es hinter meinem Rücken zaghaft klopfte.

„Katharina?“, hörte ich eine weibliche Stimme meinen Namen rufen.

„Hm?“, machte ich nur und gab ein paar unverständliche Laute von mir, die mich irgendwie an das Grunzen von Schweinen erinnerten.

„Du hast Besuch. Möchtest du ihn sprechen?“

Besuch? Hörte ich da soeben die Englein singen?!

„Er soll kommen.“, murmelte ich schwach, wobei ich nicht nur erstaunt darüber war, dass ich meine Sprache wiedergefunden hatte, sondern mich zugleich wunderte, dass Engelsstimmen so einen harschen Unterton hatten.

„Bitte, treten Sie ein. Ich werde Sie beide allein lassen.“ Der Engel (oder vielmehr das, was ich anfangs für ein solches Wesen gehalten hatte) hatte sich offenbar zurückgezogen. Ein leises Klacken verriet mir, dass sich irgendwo eine Türe geschlossen hatte. Ob der Besuch auch wirklich eingetreten war?

Einen Augenblick lang blieb es mucksmäuschenstill.

„Mensch, dich haben sie aber ganz schön zugerichtet.“, hörte ich mit einem Mal eine mir bestens bekannte Stimme glucksen.

„John?“, forschte ich vorsichtig nach.

„Bingo!“ Mein Bruderherz lachte leise. „Du hast es erraten. Der Kandidat hat hundert Punkte.“

„Haha, wie witzig. Kannst du mir mal bitte sagen, wo ich eigentlich bin und was das alles hier soll?“

Ich zuckte ordentlich zusammen, als plötzlich - wie aus dem Nichts - das Gesicht meines Bruders vor mir auftauchte.

„Mann, hast du mich vielleicht gerade erschreckt!“, stöhnte ich.

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Er betrachtete mich einige Augenblicke lang mitleidig. „Vor allem, weil die Tanten da draußen ständig Zeit sagen, dass du gaaaanz viel Ruhe bräuchtest.“

„Na, herzlichen Glückwunsch!“, murmelte ich. „Die Ruhe ist vielleicht gar nicht schlecht, aber finden werde ich sie nicht, wenn ich nicht endlich gesagt bekomme, was eigentlich passiert ist. - Hörst du, ich habe rein gar keine Ahnung von alldem, was sich wohl irgendwie und irgendwann ereignet hat. Wo bin ich und was soll ich hier?“

Einen Moment lang sagte John nichts. Gar nichts. Es war wie gerade eben vollkommen still um uns herum. Mir kamen schon Zweifel auf, ob ich vielleicht nicht doch im Jenseits gelandet war... Oder träumte ich etwa?

„Du kannst dich wirklich an nichts erinnern?“, hackte mein Bruder plötzlich mit zweifelnden Blicken nach. Ich schüttelte nur stumm den Kopf.

„Aber an das davor schon, oder? An unseren Sprung ins 17. Jahrhundert und so?“

Er hielt für einen Augenblick die Luft an.

„Natürlich!“, erwiderte ich gereizt. „Denkst du, dass ich blöd bin oder so? Klar: Wir sind mitten im Jahr 1686 gelandet. Es ging um die Sache mit Turner, Morgan und Newton. Stell dich nicht auf dumm!“

John hob abwehrend die Hände. „Das tu ich doch gar nicht! Mich wundert es nur, dass du dich an all das erinnern kannst, nicht aber an das, was zuletzt geschehen ist.“

„Wenn du mir nicht endlich sagst, was passiert ist, kann ich dir auch nicht sagen, ob ich mich daran erinnere.“, gab ich ihm patzig zur Antwort, wobei ich über mich selbst ins Staunen geriet. Obgleich ich mich nämlich hundeelend fühlte, konnte ich meinem Bruder doch irgendwie ziemlich barsch antworten.

„Kaum ist sie wach, wird sie schon wieder frech!“ Er seufzte, wobei er gekonnt seine Augen verdrehte. „Wir waren beim Gasthof zum Goldenen Stein, als uns irgendwelche Typen aus dem Hinterhalt angegriffen haben. Wärst du mir nicht zu Hilfe gekommen, ehrlich, die hätten mich so weit gebracht, dass ich über die Klinge springe.“

Aha.

Langsam dämmerte es irgendwo in meinem Hinterstübchen. In irgendeiner Schublade schienen sich ein paar Schrauben zu lockern.

Mein Bruder fuhr währenddessen ungehindert fort: „Also jedenfalls wäre ich ohne deine Hilfe nicht mehr hier. - Leider hat es dich dafür erwischt.“

„Mich?“

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit über schon einen dicken weißen Verband an meiner linke Hand trug.

„Was - ist - passiert?“, fragte ich noch einmal. So ganz hatte sich die Schraube noch immer nicht gelöst.

„Eigentlich müsstest du das ja besser wissen als ich.“, erwiderte John gelassen. „Allzu viel weiß ich nämlich nicht, jedenfalls nur, dass dich irgendwer fast umgebracht hätte, was aber glücklicherweise nicht geschehen ist, weil nämlich irgendein Fremder, der plötzlich in unser Gefecht hineingeplatzt kam, dich sofort gepackt und in die Gaststube getragen hat. Kaum, dass ich meinen Gegner von mir abgeschüttelt hatte, bin ich natürlich sofort hinterher. Doch der mysteriöse Unbekannte war weg. - Na, als ich dich sah, war mir klar, dass wir sofort zurück in die Gegenwart mussten.“

„Du meinst: In die Zukunft.“

„Fängst du schon wieder damit an?“

Da mussten wir beide auf einmal kichern.

„Aua.“, jammerte ich jedoch nach wenigen Sekunden. „Meine Schulter schmerzt.“

„Na, wundert dich das? Immerhin hast du eine ordentliche Stichwunde.“

„Wie bitte?“

Ich traute meinen eigenen Ohren nicht. Was hatte mein Bruder da soeben gesagt?

„Ja, der Arzt hat gesagt, dass du eine kleine Schnittwunde am linken Handgelenk hast - falls es dir nicht aufgefallen ist: deswegen auch der Verband - und außerdem eine ordentliche Stichwunde oberhalb des rechten Schulterblatts. Deshalb hat man dich kurzerhand ein bisschen zusammengeflickt. Sei froh, dass der Angreifer dich nicht ganz durchstochen hat - und vor allem nicht auf der linken Seite. Da wäre nämlich das Herz gewesen.“

Ich seufzte. Das klang ja wunderbar!

„Ich bin also im Krankenhaus, oder?“, forschte ich mit einem Seufzer auf den Lippen nach.

„Genau.“ John nickte. „Und da wirst du wohl auch noch die nächsten Tage über bleiben müssen. Der Schlag ins Gesicht muss noch abgeklärt werden.“

„Deswegen die Kopfschmerzen?“

„Na, in deinen Kopf kann ich mich nicht hineinversetzen. Aber es ist schon gut möglich, dass du deshalb Kopfweh hast, ja.“

„Wie geht es jetzt weiter?“

Doch er zuckte zunächst einmal nur ahnungslos die Schultern. „Ich weiß nur, dass der Arzt gesagt hat, dass er dich vorerst hier behalten möchte. Außerdem wollte die Newton-AG auch noch irgendwann aufkreuzen.“

„Ja, genau, die meine ich doch!“, unterbrach ich ihn. „Ist unsere Mission jetzt zu Ende? Weißt du das? Oder müssen wir nochmal ins 17. Jahrhundert? Oder vielleicht jemand anderes an unserer Stelle...“

„He, dir scheint es ja gar nicht mal so schlecht zu gehen, Schwesterlein.“, lachte John, während er mir verschmitzt zuzwinkerte. „Aber ich weiß - ehrlich gesagt - genauso viel wie du, nämlich nichts. Am besten fragst du das die Herren selbst, wenn sie kommen.“

„Wieso bist du eigentlich hier - und nicht Mum oder so?“

„Weil ich derjenige war, der dich hierher gebracht hat. Wir sind nämlich nur hundert Meter weit vom Eingang des Krankenhauses hier gelandet.“

„Aha.“

„Du willst lieber gar nicht wissen, was für Augen die Pfortenschwester gemacht hat, als ich dich, ohnmächtig wie du warst, in den Eingangsbereich geschleppt habe.“, fuhr er ungehindert fort. „Auf die Frage, was passiert sei, habe ich ihr nur geantwortet, dass es bei einem Mittelalterspiel bei uns im Garten zu einem kleinen Unfall gekommen wäre.“

„Mittelalterspiel? Bei uns im Garten?“

Ich legte die Stirn in tiefe Falten.

„Hör auf, so zu runzeln. Das gibt hässliche Falten.“, erklärte mein Bruder sofort. „Also das mit dem Zeitreisen hätte die mir gewiss nicht abgekauft.“

Was ja irgendwie nachvollziehbar war, oder?

„Ich möchte lieber nicht wissen, wie die dich aus dem Kleid herausgeholt haben, beziehungsweise, ob das Ding noch existiert.“

„Du meinst mein Pseudo-Fischbein-Korsett-Kleid mit Anti-Ohnmachts-Garantie?“

„Richtig.“ Mein Bruder nickte.

„Seit wann sind wir eigentlich hier? Also, ich meine, wie viele Tage sind seitdem vergangen?“, unterbrach ich ihn.

„Seit wann wir wieder hier in der Gegenwart - ähm, 'tschuldigung, also im 21. Jahrhundert sind? - Seit ziemlich genau 12 Stunden. Es ist jetzt 9:00 Uhr morgens.“

„Hat dieses Krankenhaus überhaupt schon Besuchszeit?“, wunderte ich mich.

„Nein.“, erklärte John. „Aber es gibt Ausnahmen.“ Er grinste verschwörerisch.

„Ach, und du bist so eine?“

„Sehe ich so aus oder wäre ich sonst hier?“

Er grinste sein Ach-bin-ich-nicht-toll-?-Lächeln.

„Weiß Mum schon Bescheid?“, fragte ich gleich weiter. John nickte erneut. „Klar, die habe ich sofort informiert, als sie dich in den OP-Saal gebracht haben. Zur Beruhigung: Es war nur eine sehr kleine OP.“

Ich atmete erleichtert auf.

„Mum will bis heute Mittag hier sein und dir was zum Anziehen bringen.“

„Und die N-AG?“, fragte ich schnell, um auf andere Gedanken zu kommen. Das mit der OP klang ja wirklich super gruselig... - absolut kein Thema für mich!

„Hm, wahrscheinlich hat Mum ihnen bereits alles haarklein erzählt. Die werden wohl auch jeden Moment hier aufkreuzen.“

„Kannst du, auch wenn sie kommen, weiter bei mir bleiben?“, bat ich meinen Bruder.

„Geht klar, Schwesterlein. Ich kann dich doch nicht im Stich lassen, oder?“

„Danke.“

Ohne, dass es mir aufgefallen war, hatte es kurz geklopft und eine Frau in weißem T-Shirt und weißer Hose war hereingekommen.

„Na, unsere Patientin ist wieder wach?“, begrüßte sie mich und grinste dabei von einem Ohrläppchen zum anderen. „Hast du Schmerzen?“, fragte sie mich.

Ich nickte wortlos.

„Deine Infusion ist auch leer. Ich werde eine neue bringen.“

Damit verließ sie den Raum - so plötzlich, wie sie gekommen war.

„Infusion?“, wandte ich mich an meinen Bruder. „Wo bitte habe ich die denn?“

„Na hier!“

Dabei zeigte er auf meinen rechten Handrücken.

Tatsächlich: Ein dünner, durchsichtiger Schlauch führte von einem kleinen Verband direkt zu einem über mir befestigten Beutel, aus dem, solange er gefüllt war, irgendeine Flüssigkeit tröpfelte, was jetzt natürlich nicht der Fall war.

„Oh, den habe ich gar nicht bemerkt.“, stellte ich nüchtern fest.

„Na, dann wird es ja höchste Zeit.“, erwiderte John lächelnd.

Ich wollte soeben fragen, was wir jetzt machen würden, als die Türe erneut aufging und die Schwester zurückkehrte. Sie hantierte irgendwo an meinem Schlauch herum und meinte dann nur noch, ich solle doch klingeln, wenn der Beutel leer sei.

„Dazu müsste ich erst einmal an den dämlichen Knopf kommen.“, raunte ich leise, als sie schon längst wieder draußen auf dem Gang war.

Wie gut, dass John bei mir war! Er konnte wenigstens den Klingelknopf, der an einem telephonartigen Hörer angebracht war, welcher wiederum über meinem Kopf an einem völlig verknoteten Kabel baumelte, auf mein Nachtkästchen legen.

„Drücken musst du aber selber.“, erklärte er, als er sich wieder gesetzt hatte.

„Wann wohl die Newton-AG auftaucht?“, fragte ich eher beiläufig.

Er zuckte die Schultern.

Doch wie es so oft ist, wenn man von jemandem spricht, so war er auch gleich da: Keine Sekunde später klopfte es nämlich an der Tür.

„Ah, Besuch!“, brummte es hinter meinem Rücken.

Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass das Earl persönlich war. Eigentlich hieß er ja Edgar Earl. Aber der Spitzname, den ich ihm verpasst hatte, lautete einfach nur Earl.

Direkt hinter ihm wackelte Sir Eduard ins Zimmer, Dracula persönlich. Man hätte ihn für jeden Gruselfilm prima als Vampir einsetzen können. Eigentlich bin ich ja nicht abergläubisch, aber stammte er nicht sogar aus Transsilvanien? Auch Gregory Ashton alias Nickelbrille und Lord Timothy, besser bekannt als der Lord, hatten sich eingefunden. Sogar Robert John, der Schnauzbart in leibhaftiger Person, war da.

Nun saßen die Männer - woher sie die ganzen Stühle hatten, konnte ich mir nicht erklären - im Halbkreis um mich herum und starrten mich einige Sekunden lang aus weit geöffneten Augen an, bis schließlich Dracula die Stille unterbrach und mit seiner unheimlichen Geisterstimme fragte: „Es war also ein Überfall?“

Ich nickte in Johns Richtung, in der Hoffnung, dass er das Wort für mich ergreifen würde. Aber als er nichts zur Antwort gab, war mir klar, dass ich nicht anders konnte, als selbst irgendetwas zu sagen.

Ich räusperte mich.

„Ähm... ja, ein... Überfall...“

„Von Unbekannten?“

Ja, von wem denn sonst?

„Also ich habe die Herren nicht gekannt.“, antwortete ich etwas zögerlich.

„Aber es waren schon Männer oder?“

Na aber hallo! Eine Frau im Barock, die einen Überfall ausführt. Haha.

Glaubte er, mich auf diese Art und Weise schneller auf die Beine zu bringen?

„Natürlich waren es Männer.“ Ich schnaubte beleidigt. „Das hört man doch schon an ihren Schritten. Und außerdem tragen die Frauen im 17. Jahrhundert nicht so mir nichts dir nichts eine Waffe bei sich.“

„Du hast es offenbar doch getan.“

Einen Augenblick lang war ich wie vor den Kopf geschlagen. Woher hatte Sir Dracula all die Informationen? Hatte John sie etwa unserer Mum gegeben und die hatte es der N-AG gesagt? Oder hatte er selbst...?

„Ich habe die Waffe nicht bei mir getragen, sondern aufgehoben.“, erklärte ich leise. „Sie lag am Boden. Genauso wie ich. Irgendeiner der Angreifer hatte mich zu Boden geschlagen. Als ich Johns Hilferufe hörte, wollte ich ihm zu Hilfe eilen und deshalb habe die Waffe an mich genommen.“

Ich war selbst über mich erstaunt, dass ich auf einmal wieder so viel wusste. Es war, als hätte sich in meinem Kopf eine Art Schalter umgelegt, sodass keiner meiner Gedankengänge mehr blockiert war und ich mich wieder bestens erinnern konnte. Dabei wurde ich aber das dumme Gefühl nicht los, dass die Herren der N-AG wesentlich mehr wussten, als sie tatsächlich zugaben. Sie reagierten so äußerst merkwürdig, als wären sie zutiefst verwundert, was sie in Wirklichkeit aber auf mysteriöse Art und Weise nicht waren. Das spürte ich.

Oh je, ich merke schon wieder, wie mein Kopf Achterbahn fährt.

„Sind im Laufe des Gefechts irgendwelche Namen gefallen?“, übernahm nun der Lord das Gespräch.

„Nein, kein einziger.“, erwiderte ich.

Merkwürdig. Mir war es gerade so vorgekommen, als hätten die Herren innerlich aufgeatmet.

Was ging hier vor sich?

Ein rascher Blick zu John. Nein, der schien nichts zu bemerken. Dass er nicht einfach nur schauspielte, dafür kannte ich ihn zu gut. Er war immerhin mein Bruder.

„Und weißt du denn, wer dich in das Gästezimmer getragen hat?“, fragte nun Schnauzbart.

„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Ich war doch halb tot.“

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Schnauzbarts Lippen. Hatte er das hören wollen? Hatte er hören wollen, dass ich nicht den blassesten Schimmer davon hatte, mit wem wir es in dem Gefecht zu tun gehabt hatten? Aber warum? Was war der Grund?

„Können Sie sich erklären, wer hinter dem Überfall steckt?“, schaltete sich urplötzlich John in das Gespräch mit ein.

Dracula horchte überrascht auf. „Wir dachten, dass euch das selbst schon längst in den Sinn gekommen sein muss.“

Mein Bruder und ich zogen eine Miene hin, als ob sieben Tage Regenwetter war. (Naja, in London vielleicht nicht einmal ungewöhnlich.) Aber jetzt mal ehrlich: Was bildete sich dieser Typ da eigentlich ein? Der hielt sich wohl für einen besonders tollen Hecht...

„Nein, wir kannten die Angreifer nicht.“ Mein Bruder blieb völlig ruhig. „Es war zu dunkel, um überhaupt irgendetwas zu sehen.“

Prima! Eine solche Coolness hätte ich auch gerne einmal. Vor allem, wenn man sich vor Dracula persönlich rechtfertigen muss.

Und wieder war es mir, als würden die Herren erleichterte Blicke austauschen.

„Na, denkt doch einmal scharf nach: Weshalb habt ihr euch auf die Reise ins 17. Jahrhundert begeben?“

John zögerte einen Moment. Doch dann sagte er im Brustton der Überzeugung: „Es ging um die Sache mit Morgan. Er soll die bahnbrechende Erfindung über die Unsterblichkeit, die Macht und das Reisen in der Zeit gestohlen haben. Um zu verhindern, dass er dieses Wissen uneingeschränkt nutzen und dadurch missbrauchen wird, sind wir in die Vergangenheit gereist.“

„Wunderschön erklärt.“, lobte Nickelbrille ihn und zwinkerte ihm freundlich zu. Er war mir von allen N-AG-Herren immer noch am sympathischsten.

„Nun, welcher der drei Personen - Newton, Turner oder Morgan - könnte es daran gelegen sein, zu verhindern, dass ihr eurem Auftrag nachkommt?“, übernahm Dracula das Wort.

„Na, Morgan.“, antwortete John. „Aber ich verstehe nicht, wie das gehen soll, denn er war zu dem Zeitpunkt, als wir uns im 17. Jahrhundert befanden, schon längst tot.“

Über Draculas blutleere Lippen huschte ein schauriges Lächeln. Aber er sagte nichts.

„Wusstet ihr nicht, dass er einen geheimen Mitarbeiter hatte?“, bemerkte der Lord scheinbar beiläufig.

„Doch. Richard Turner hat uns davon erzählt.“, erwiderte mein Bruder.

Na, und angeblich soll ja auch ein gewisser Paul Morgan zurück ins 17. Jahrhundert gereist sein, wenn ich mich recht erinnere...

„Aber wie sollte Morgan bereits im Voraus davon wissen, dass wir kommen würden, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, sodass er uns aus dem Weg räumen musste?“, unterbrach ich meinen Bruder.

„Das musste er ja nicht. Sein geheimer Mitarbeiter hat es einfach im Nachhinein beschlossen.“