Das Vermächtnis von Holnis - Peter Graf - E-Book

Das Vermächtnis von Holnis E-Book

Peter Graf

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Beschreibung

Bei den Renovierungsarbeiten im Keller ihres Hauses auf der Halbinsel Holnis unweit von Flensburg stoßen die Besitzer auf eine baufällige Außenwand, hinter der sie ein geheimes Gewölbe entdecken. Dort machen sie eine große Anzahl an Särgen aus und finden Schriftstücke, die sie in das Jahr 1848 führen, in die Zeit unmittelbar vor dem 1. Deutsch- Dänischen Krieg. Südschleswig und damit auch Flensburg gehört zwar dem Deutschen Bund an und hat eine große Anzahl deutschstämmiger Einwohner, wird aber von Dänemark regiert. Gegen diese Fremdherrschaft lehnt sich die Bevölkerung, z.T. organisiert in Geheimbünden, auf. Der Roman greift diese geschichtlichen Ereignisse in Form eines Krimis auf, an dessen Anfang der Mord an einem Amtsarzt steht. Der ermittelnde dänische Kommissar Feddersen erkennt schnell, dass es bei diesem Verbrechen nicht um einen einfachen Raubmord geht, sondern dass sich in Flensburg etwas Unheilvolles zusammenbraut.

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DasVermächtnis von Holnis

1

Wir hatten Glück, pures Glück, dass ausgerechnet wir den Zuschlag zu dem Haus erhalten sollten. Noch auf dem Weg zum Notar beschlichen uns Zweifel, ob der Kaufvertrag tatsächlich zum Abschluss kommen würde. Es hatte schließlich zahlreiche Interessenten für das Objekt gegeben, von denen einige mit Sicherheit zahlungskräftiger waren als wir.

Die Villa war einzigartig: ein Schmuckstück, unmittelbar an dem Ufer der Förde gelegen, deren Wellen das Grundstück umspülten. Natürlich war es von keiner Stelle innerhalb Flensburgs weit entfernt zum Meer. Flensburgs dicht bebaute Hänge umschlossen die Innenförde, die wie ein angewinkelter Arm aus der Ostsee heraus ins Zentrum Flensburgs hineinragte. Die Altstadt mit ihren eindrucksvollen Backsteinbauten, ihren Kontoren und Hafenanlagen spiegelte sich bei Windstille malerisch im Wasser der Förde. Bei Sturm aber zeigte das Gewässer seine zerstörerische Kraft, wenn die Innenstadt überschwemmt wurde und die Fluten in die tiefer gelegenen Gebäude eindrangen .

So konnte man von vielen Häusern und Wohnungen aus einen kleinen Ausschnitt von der Förde sehen, was aber bei einem Verkauf sofort den Preis in die Höhe schnellen ließ. Auch wir hatten von unserem alten Haus nur wenige hundert Meter zum Strand zu laufen und waren oft wegen dessen Lage am Strand von Solitüde, einem begehrten Stadtteil von Flensburg, beneidet worden. Aber das Landhaus, das wir jetzt erwerben sollten, war einfach ein Traum. Es lag einige wenige Kilometer von Flensburg entfernt auf einer Halbinsel,an deren Stränden sich nur im Hochsommer und an sonnigen Wochenenden vereinzelt Spaziergänger verirrten, die dort ihre Hunde ausführten oder Ruhe am Meer suchten. Ansonsten hatte man die Naturstrände für sich allein, und im Herbst oder Winter kamen oft tagelang keine Menschen vorbei.

Sabine hakte sich bei mir unter, was sie immer dann tat, wenn sie bester Laune war. „Im nächsten Sommer können wir morgens nach dem Aufstehen gleich schwimmen gehen“, schlug sie voller Begeisterung vor, in dem Bewusstsein, dass man bei unserem neuen Haus nur aus der Terrassentür treten musste, um am Strand zu sein. Ich verzichtete darauf, ihre Begeisterung mit der Bemerkung zu dämpfen, dass sie nie baden ging, wenn das Wasser nicht zumindest 22 Grad hatte, ein Wert, den die Förde bestenfalls alle drei Jahre erreichte.

Das Haus lag nicht nur in der Nähe vom Meer, sondern sein Grundstück ging unmittelbar über in einen Strandabschnitt von Holnis, und in jedem Raum des Hauses hatte man das Gefühl, dass die Ostseewellen so nah waren, als ob sie direkt an das Mauerwerk schlagen würden. Überall wo man sich befand, ob im Salon oder im Schlafzimmer, sah man das Meer, roch man das salzige Wasser und hörte den gleichmäßigen, beruhigenden Klang der Wellen, so dass wirkeinen Momentan unseren Kaufabsichten gezweifelt hatten.

Und nicht nur die Lage unseres zukünftigen Heims war einzigartig. Das Haus selbst war von beeindruckender Schönheit. Es war vor 1900 von einem Fabrikanten errichtet worden, der durch die Herstellung von Ziegeln zu Reichtum gekommen war und der offensichtlich seinen Wohlstandin der Ausgestaltung seiner Villa zum Ausdruck hatte bringen wollen. Für uns stand außer Frage, dass es kaum ein schöneres Haus gab. Zur Wasserseite hatte das Landhaus große, bis zum Boden reichende Fenster, die einen berauschenden Blick über die Ostsee möglich machten. In den Türmen an den beiden Giebelseiten des Gebäudes, deren kegelförmige Dächer das Haus wie ein kleines Schloss erschienen ließen, gab eskleine sechseckige Räume. Die boten kaum mehr Platz als für einen Sessel und einen winzigen Tisch. Aber durch die rundherum angeordneten schmalen Fenster erhielt man in dem Raum das Gefühl, als ob man zwischen Meer und Insel schweben würde.

Das Dach unserer Villa war wie bei so vielen anderen Villen aus jener Zeit ein Kunstwerk für sich. Die kunstvoll verzierten Dachpfannen aus rotem Ton waren an vielen Stellen unterbrochen, durch elegant geschwungene Gauben, kleine Türmchen oder fantasievoll gestaltete Ziegel in Form von Tierköpfen, Fabelwesen und Symbolen, deren Bedeutung uns erst später klar werden würde.

Es gab wohl keinen Spaziergänger, der nicht zumindest kurz vor dem Haus stehen blieb und mit Sehnsucht das weiß verputzte Haus mit seinem roten Dach vor dem blauen Meer betrachtete.

Am Abend waren wir Besitzer dieses Anwesens und konnten vor Aufregung und Glück nicht

einschlafen.

Schon am nächsten Tag brach ichin aller Frühe auf, um inRuhe eine Aufstellung zu machen, was an unserem neuen Zuhause alles herzurichten war. Obwohl ich kaum geschlafen hatte, verspürte ich keinerlei Müdigkeit, sondern eher eine, wie mir schien, unbegrenzte Energie, die ich sofort dazu nutzen wollte, unser Heim nicht nur bewohnbar zu machen, sondern auch mit einer Gemütlichkeit zu versehen, die ich in zahlreichen Bildern schon vor Augen hatte. Bei den Besichtigungen war uns schnell klar geworden, dass es bei der Renovierung des Hauses nicht damit getan war, die Wände zu tapezieren oder neue Teppiche zu verlegen. Als ich dann in Holnis ankam, wurde mir das erste Mal die Größe des Grundstückes richtig bewusst. Die Villa befand sich auf einem Gelände, das parkähnliche Ausmaße hatte und durch seine Alleinlage und seine dichte Hecke uneinsehbar war. Nur zum Strand hin war das Gelände offen, so dass der Blick auf das Wasser unversperrt war. Auch der Park musste einmal von atemberaubender Schönheit gewesen sein, denn es standen dort prächtige Bäume, riesige Rhododendren und etliche Pflanzen, die ich noch nie vorher gesehen hatte, überall im Garten scheinbar ungeordnet herum. So verwahrlost der Garten auch war, hinterließ er einen seltsamen Zauber. Mir wurdeschnell bewusst, dass auch die Herrichtung des Gartens eine Aufgabe war, der man sich Monate oder vielleicht sogar Jahre widmen konnte. „Hier kann sich Sabine austoben“, dachte ich und musste bei der Vorstellungein wenigschmunzeln, wie sie in wilder Entschlossenheit den riesigen Brombeerbüschen zu Leibe rücken würde.

Wir hatten für unser altes Haus einen stolzen Preis erzielt. Trotzdem mussten wir bis an die Grenze unserer finanziellen Leistungsfähigkeit gehen, um den Kaufpreis für die Villa in Holnis aufzubringen. Die Instandsetzung des Hauses wollten wir in Eigenleistung erbringen und nur in Notfällen Handwerker damit beauftragen. Bei diesen Gedanken überkam mich doch ein mulmiges Gefühl, als ich durch das Haus ging. Wo ich auch hinschaute, sah ich Aufgaben, mit denen ich die nächsten Monate zu tun haben würde. Hatte ich mich übernommen? Ein Blick aus einem der Fenster über das Meer hinüber nach Dänemark, dessen Küste am Horizont zu erkennen war, ließ meine Zweifel, einen Fehler begangen zu haben, schnell schwinden. Die Ostsee lag so friedlich da. Selten gab es solche Tage wie diesen. Es wehte kaum ein Wind und das Wasser war spiegelglatt. Ich setzte meinen Vorsatz aus, gleich mit der Arbeit loszulegen. Ich musste einfach hinaus, um ein Stück am Strand spazieren zu gehen. Mich erfülltesogleich ein Gefühl von einer solchen innerlichen Ruhe, wie ich sie nur am Meer erleben konnte. Am Seemannsgrab, das nur wenige Minuten von der Villa entfernt direkt am Strand lag, blieb ich wie schon so oft vorher stehen. Auf dem Grabstein war zu lesen, dass hier im Jahre 1850 ein Matrose begraben worden war, auf dessen Schiff die Cholera ausgebrochen und der daran gestorben war. Was mich immer wieder wunderte, wenn ich zu diesem Grab kam, war der gepflegte Zustand der Grabstätte. Auf der kleinen Fläche, die kaum größer als ein mal ein Meter und von einer Kette umgeben war, konnte man nie Unkraut sehen. Stets schien sich jemand um das kleine Grab zu kümmern, und in den Herbstmonaten brannte oft eine kleine Grablaterne inmitten der Blumen und Pflanzen. Wer pflegte ein so altes Grab? Warum tat derjenige das und warum war ich ihm noch nicht begegnet? Als ich wieder über das Meer blickte, kam in mir eine Ahnung auf, dass das Wasser, das doch so friedlich dalag, auch viel Unheil einfach nur überdeckt hatte. Dass unter der bleigrauen Wasseroberfläche eine Vergangenheit versteckt lag, die von Tod und Zerstörung, von Kriegen und Unglücken geprägt war.

Schon bald sollte dieser unvermittelt düstere Gedanke mich einholen und zur Wahrheit werden.

Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Die zahlreichen Arbeiten ließen

kaum Spaziergänge am Strand zu. Das Haus musste schnell so hergerichtet werden, dass wir

einziehen konnten, denn wir sollten unser altes Haus bis Weihnachten geräumt haben. Manche Arbeiten gingen schnell von der Hand, andere Aufgaben zogen sich unerwartet hin, und immer wieder gab es böse Überraschungen, irgendwelche Schäden, die ich nicht erwartet hatte und die mich manchmal verzweifeln ließen. Sabine, die ich in dieser Zeit nur noch im grauen Arbeitsanzug sah, gelang es immer wieder mich aufzumuntern, indem sie gebetsmühlenhaft immer wiederholte: „Wir haben schon so viel geschafft. Nun sei doch mal stolz und freu dich.“ So kamen wir von Tag zu Tag unserem Traum ein Stück näher und die Zweifel, sich zu viel aufgeladen zu haben, verschwanden mit den Werkzeugen, die nicht mehr gebraucht wurden.

Der Herbsttag, der so viel Unheil ans Licht brachte, begann mit Graupelschauern und war ungewöhnlich kalt. Schon Tage vorher hatte ich die alte Heizung im Keller in Betrieb gesetzt. Der Anblick der alten Heizungsanlage, die in einem der zahlreichen kleinen Kellerräume untergebracht war, beunruhigte mich. Bloß nicht hier unten eine neue Baustelle, die mit weiteren Kosten verbunden war! Unser Budget war weitgehend ausgereizt. Es brauchte nicht viel Fantasie herauszufinden, warum die Räume an diesem Tag einfach nicht warm werden wollten.Fluchend musste ich feststellen, dass der Warmwasserbereiter wie ein Sieb tropfte und wohl kein Weg daran vorbeiging, einen neuen Boiler zu kaufen. „Kann nicht auch mal was problemlos klappen!“, fluchte ich voller Wut, und selbst Sabines Beruhigungsversuche empfand ich als völlig unpassend. Am nächsten Tag war der Überziehungskredit ein Stück mehr belastet und im Kofferraum des alten Kombi befand sich ein Paket, das den Laderaum voll ausfüllte und bei dessen Gewicht ich mich die ganze Fahrt über fragte, wie ich diesen sicherlich zwei Zentner schweren Blechschrank nur in den Keller bekommen sollte. Selbst Jan, der auf dem Beifahrersitz saß und als Zimmermann kaum durch schwere Lasten zu beeindrucken war, konnte meine schlechte Laune nicht aufmuntern.„Runter kriegt man alles, rauf ist schwieriger. Hast wohl in Physik nicht richtig aufgepasst“, versuchte er mir zu erklären. Ich blieb ihm eine Antwort schuldig und steckte mir lieber eine Zigarette an.

Jan hatte nach dem Abitur eine Lehre angefangen, und er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er von Akademikern nichts hielt. Das tat aber unserer Freundschaft keinen Abbruch und er war immer da, wenn man Hilfe brauchte. Er schien daran Freude zu haben, wenn eine Aufgabe möglichst kompliziert und fast nicht zu bewältigen war. Vielleicht wollte er damit aber auch deutlich machen, dass er als ordentlicher Handwerker anders als wir „Schreibtischtäter“ vor nichts zurückscheute. Als wir zwei Stunden später diesen Koloss von Heizungsschrank unten im Keller hatten, war ich nicht nur dankbar, ihn als Freund zu haben, sondern es war ein tolles Gefühl, wieder einen Schritt weiter zu sein. Mit den Worten „Pause, Flens“ brachte er zum Ausdruck, dass er sich ein Bier verdient hätte, wofür ich auch gerne den Laufburschen machte.

Inzwischen hatte er die Kartonage entfernt und an der Kellerwand mit seinem Bleistift zwei Kreuze gemacht. „Da muss er ran“, erklärte er mir, noch bevor wir den Bügelverschluss der Flaschen geöffnet hatten. Die Wand sah keineswegs vertrauenserweckend aus. Der Putz war zum Teil abgebröckelt und der Mörtel zwischen den alten Ziegelsteinen war so sandig, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie man dort etwas befestigen sollte. Ich wolltenicht gleich wieder als Zweifler dastehen, um mir hinterher sein selbstgefälliges Gesicht anschauen zu müssen, wenn dann doch alles geklappt hatte. Es dauerte keine zwei Minuten, bis die Flaschen geleert waren und Jan mit dem Bohrhammer an der Wand stand. Obwohl er auch nicht viel Widerstand beim Bohren erwartet hatte, war er offensichtlich erstaunt, mit welcher Leichtigkeit der Bohrer im Stein verschwand. „Da kriegen wir keinen Dübel zum Halten“, stellte er fest. „Und das Ding“, er wies auf den Blechschrank, „wiegt mit Wasser drin allemal fünf Zentner.“ Beim nächsten Versuch musste er zunächst mit mehr Kraftbohren. Hier schienen die Ziegel ausreichend stabil zu sein, aber plötzlich traf der Bohrer auf keinen Widerstand mehr, unddas eiserne Bohrfutter der schweren Maschine krachte unter dem Druck von Jans gesamten Oberkörper gegen die Steine. „Scheiße, so wird das nichts!“, schimpfte ich in der Gewissheit, dass doch mehr Arbeit auf uns wartete, als ich erhofft hatte. Einige Ziegelsteine hatten sich aus dem Mörtelbett gelöst und ich konnte sie einfach so abnehmen, als wären sie lose aufgestapelt. Voller Wut und Frustration riss ich einen Stein nach dem anderen heraus.

„Toll“, fluchte ich, „wir sind hier an der Außenseite vom Haus. Das ist eine tragende Wand; wenn wir die wegreißen, dann hat das ganze Haus keine Standfestigkeit mehr.“ Mittlerweile hatte sich das Loch so vergrößert, dass man seinen Oberkörper hätte durchschieben können.

Erst da wurde mir bewusst, dass hinter der Steinmauer doch eigentlich Erdreich hätte sein müssen. Aber da war nichts, ein Loch, ein schwarzer Hohlraum. Selbst Jan schien verblüfft und trat an das Loch heran. Das schwache Deckenlicht des Kellerraumes drang nur gering in den Hohlraum ein, aber dassnicht nur ein kleines Loch hinter der Maueröffnung lag, war unverkennbar. Jan rieb sich das Kinn wie immer, wenn er über etwas nachdachte, was er nicht gleich verstand. Diese Geste kannte ich von ihm, seit wir damals in der Schulzeit in Latein nebeneinander gesessen hatten. „Das ist doch hier die Außenmauer“, murmelte er mehr zu sich als zu mir. Er schob seinen Oberkörper etwas über den Rand der Mauer. „Nichts zu erkennen“, hörte ich ihn halblaut sagen. Eher zögerlich ging ich nach oben, um eine Taschenlampe zu holen. Ich wollte mir noch ein bisschen Zeit lassen, bis aus der Vermutung Gewissheit wurde, dass unten im Keller noch richtig viel Arbeit auf mich zukommen würde und absehbar noch weitere Verhandlungen mit der Bank. Jan hatte unterdessen das Loch erweitert, was nicht gerade zu einer Verbesserung meiner Laune beitrug.

Ich richtete den Strahl der Taschenlampe in den Hohlraum. Was ich da erblickte, überstiegmein Fassungsvermögen. Das konnte doch nicht sein, nicht hier unter unserem Haus. Sofortspürte ich einen Druck auf dem Magen - ein Gefühl, das ich immer dann bekam, wenn irgendetwas Ungutesmich erwartete.

„ Jan, guck dir das an!“, war das einzige, was mir über die Lippen kam.

„Das gibt`s doch gar nicht“, hörte ich Jan flüstern, der sich neben mich geschoben hatte. „Das kann doch nicht sein!“ Vor uns tat sich im schwachen Lampenlicht ein Kellergewölbe auf, das hier einfach nicht hergehörte. Der Raum lag eindeutig außerhalb der Grundmauern der Villa, seine Wände bestanden aus unverputzten gelben Tonziegeln, die Decke war deutlich niedriger als die der Kellerräume der Villa und der Raum war groß, sehr groß. Die Decke, die in Halbbögen ebenfalls aus Ziegelsteinen gemauert war, wurde an mehreren Stellen in der Mitte des Raumes von eisernen Säulen getragen. Aber nicht der Raum als solcher ließ uns erschauern:

An den Wänden stand in zwei Etagen übereinander gestapelt eine Vielzahl an hölzernen Kisten, deren Ausmaße keinen Zweifel über den Inhalt zuließen. Ich überschlug ihre Anzahl und kam auf allemal sechzig, und auch wenn deren Schatten an der hinteren Wand sie größer erscheinen ließ, waren sie rund zwei Meter lang, einen halben Meter breit undebenso hoch. Es brauchte wahrhaftig nicht viel Fantasie zu erraten, wozu die Kisten dienten.

Jan hatte sich schnell wieder gefangen und begann weitere Steine abzutragen , um einen Durchgang zu schaffen. „Spinnst du!“, schrie ich. Ich hätte am liebsten sofort das Loch wieder zugemauert, um mir den Anblick zu ersparen. Einfach wegdenken, und das Problem gäbe es gar nicht mehr. InJans Stimme war tatsächlich so etwas wie Neugier herauszuhören: „Die sind bestimmt leer.“ Er war einfach nicht aufzuhalten. Das was ich so oft an ihm bewunderte, machte mich jetzt wütend und hilflos. Ich wollte da nicht rein, aber ich wollte auch nicht, dass er da alleine reinging. Also standen wir beide einen Moment später im Gewölbe, und am liebsten hätte ich mich an seinem Arm festgeklammert.

Die Luft hier drinnen war zwar erstaunlich trocken, aber woher der modrige Geruch kam, stand für mich außer Frage. Und als Jan das Ende einer Kiste anzuheben versuchte und es ihm nur mit Mühe gelang, stand für mich fest, dass er mit seiner Vermutung Unrecht hatte. Die Kisten waren ganz sicher nicht leer.

„Das müssen wir irgendwo melden“, flüsterte ich Jan zu und meine eigene gedämpfte Stimme bereitet mir weiteres Unbehagen.

„Lass uns doch erst mal gucken, was drin ist. Das kann doch nicht schaden.“

„Nee, das machst du nicht. Das ist mein Haus.“Ein besseres Argument fiel mir beim besten Willen nicht ein.

Auf einer der Kisten lag ein Paket, und um Jan wenigstens ein bisschen Tatkraft zu demonstrieren, ging ich mit weichen Knien darauf zu und nahm es hoch. Es war eingewickelt in einen alten Lappen, der steif von getrocknetem Öl war. In dem Lappen befand sich ein Buch, eingebunden in billiges Leder, auf das eine Art Baum, ein Doppelbaum, geprägt war. Vorsichtig schlug ich den Einband auf. Seite um Seite war beschrieben in einer makellosen schwarzen Schrift, die mich sofort gefangen nahm. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass Jan im Dunkeln stehen würde, als ich mich auf eine der Kisten hockteund gebannt im Schein der Taschenlampe zu lesen begann.

2

„Geh runter zum Hafen und guck, ob es da Arbeit für uns gibt, Friedrich. Da ist heut Morgen ein Westindiensegler angekommen“. Fritz freute sich, wenn er von seinem Meister solche Aufträge bekam. Zwar machte ihm die Arbeit in der Schmiede nichts mehr aus, aber ein solcher Auftrag war eine willkommene Abwechslung zu den unendlich ermüdenden Tätigkeiten, die er immer wieder Stunde um Stunde ausführen musste. Oft stand er den ganzen Tag am Blasebalg, während der Meister mit dem glühenden Eisen die Arbeiten verrichtete, die sich Fritz zu lernen erhofft hatte. Es hatte sich für ihn nie die Frage gestellt, ob die Lehre beim Schmied das Richtige war. Sein Vater war Schmied und hatte, seit Fritz ein kleiner Junge gewesen war, keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass seine Söhne auch dieses Handwerk erlernen sollten. Schon im frühsten Kindesalter hatte er seine Söhne, wie er immer sagte, an das heiße Handwerk gewöhnen wollen. Fritz würde den Moment sein Leben lang nicht vergessen, wie ihn sein Vater aufgefordert hatte, seine Hände an den gusseisernen Ofen in der Küche zu legen. Sein Vater hatte es ihm vorgemacht, aber bei dessen vernarbten, schwieligen Händen hatte der vermutlich keinen Schmerz gespürt. Fritz dagegen musste unwillkürlich heute noch die Hände zusammenballen, bei der Erinnerung, welcher Schmerz von seinen Händen aus durch seinen ganzen Körper gerast war. Sein Vater hatte dabei nur gelacht und behauptet, dass er nun die Hände eines Schmiedes hätte.

Der Meister ließ sich ungern selbst am Hafen blicken, um nach Aufträgen Ausschau zu halten. Auf den Schiffen war nach den langen Reisen immer viel zu tun. Manchmal benötigte der Schiffszimmermann nur eine Handvoll der bis zu einem halben Fuß langen Plankennägeln, manchmal mussten alle Takelhaken und Rüsteisen an Rumpf , Masten und Spieren ersetzt werden, die durch das salzige Wasser vom Rost fast aufgelöst worden waren. Auf jeden Fall war jeder Auftrag willkommen. Bei den Werften wurde es fast wie Diebstahl betrachtet, wenn Arbeiten an Schiffen nicht auch dort versehen wurden. Der Meister hatte deswegen vor Jahren mal eine prächtige Tracht Prügel am Hafen bezogen. Die Werftarbeiter kannten da keine Zurückhaltung.

Fritz dagegen war es recht, losgeschickt zu werden, und er verzichtete darauf, den Meister daran zu erinnern, ihn doch Fritz zu nennen. Wenn ein Schiff aus Übersee ankam, wurde viel Geld in die Stadt gespült und wenn man sich geschickt anstellte, so konnte auch ein junger Geselle den einen oder anderenSchilling dazu verdienen.

Die Matrosen waren nach Monaten härtester Arbeit und Entbehrungen, nach ständigen

Demütigungen und zum Teil auch brutalen Misshandlungen für einige Tage Herr über sich selbst. Und ihre Heuer, die im Vergleich zu den erlittenen Strapazen unsäglich gering war, verschaffte ihnen die Möglichkeit, zumindest für ein paar Stunden einen Teil der oft qualvollen Zeit auf See vergessen zu machen. Das Geld reichte in der Regel nur für zwei, drei Tage, aber die wurden praktisch ohne Unterbrechung in Wirtshäusern und bei Huren verbracht. Die einfachen Männer ließen sich für das Gefühl, auch einmal Herr zu sein, das Geld aus der Tasche ziehen.

Fritz hatte für einfache Botendienste schon mehrfach von der Verschwendungssucht der Seeleute profitiert und auch der eine oder andere Wirt ließ es sich ein Bier kosten, wenn man ihm Kundschaft zuführte.

„Trödel bloß nicht rum“, knurrte der Meister, „und nun sieh zu, dass du loskommst.“

Die Werkstatt lag nicht weit entfernt vom Nordertor in einem der zahlreichen Hinterhöfe und befand sich damit noch innerhalb der Altstadt Flensburgs. Die über hundert Jahre alten Fachwerkhäuser standen so dicht beieinander, dass die Gassen zwischen ihnen selbst für die kleinsten Fuhrwerke zu eng waren. Da die schmalen, zweistöckigen Häuser mit ihren spitzen Dächern fast in das steil ansteigende Gelände hineingebaut worden waren und das Grundwasser aus den Hängen nicht nur bei Regen kaum abfließen konnte, war es hier ständig feucht, und selbst im Hochsommer erreichten die Sonnenstrahlen nicht die kleinen Hinterhöfe, geschweige denn die Gassen. Der Geruch nach Moder gehörte so selbstverständlich hierher, wie der Geruch von Salz zum Meer gehörte. In den letzten Jahren waren viele Flensburger vor der Armut und Enge der Altstadt geflohen und vor die Stadtmauern in die Neustadt gezogen, die unmittelbar hinter dem Nordertor begann.

Für Fritz war es unvorstellbar, aus der Altstadt wegzuziehen, von der es nur einen Katzensprung zum Hafen war. Ihm war seine Stadt so vertraut, dass er sich manchmal eingestand, Flensburg regelrecht zu lieben. Wenn er mit Freunden darüber sprach, guckten sie ihn entweder skeptisch an, als hätte er ein wenig den Verstand verloren, oder sie machten sich über ihn lustig. Für sie war eine Stadt nicht mehr als der Platz, wo man seine Arbeit verrichten musste, wo die Familie war oder wo selten genug Vergnügungen auf einen warteten. Deshalb wurde darüber auch nicht gesprochen, und wenn, dann wurde über die elenden Verhältnisse geflucht und dass man hier nicht verrecken wollte. Für Fritz war Flensburg mehr. Er genoss es, durch die engen, düsteren Gänge hinauszutreten in das offene Licht des Hafens und der Innenförde. Er mochte es, wenn der modrige Gestank der Altstadt überging in einen Geruch aus Salzwasser, vertrocknenden Algen, Teer und Fisch, je näher man an die Hafenmeile kam. Auf ihn wirkte der oft scheppernde und durchdringende Lärm aus den vielen Werkstätten um ihn herum anregend. Und wenn er an den seltenen windstillen Tagen zum Hafen kam und eine der vielen Silbermöwen sah, die auf den unzähligen Dalben saßen und ihren anklagenden Schrei ausstießen, dann überkam ihn häufig eine innere Ruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, die ihm aber gut tat.

„Ich muss hier weg. Ich halte es hier in diesem Dreck aus Unfreiheit und Gestank nicht mehr aus.“ Mit diesen Worten hatte sich vor drei Jahren sein vier Jahre älterer Bruder verabschiedet. Fritz hatte das nicht verstehen können, verstand es heute noch nicht. Er war entsetzt gewesen, er war fassungslos gewesen. Er hatte den Bruder immer wieder gebeten, nicht wegzugehen, ihn nicht zu verlassen. Er konnte verstehen, dass Christian in einer üblen Verfassung war. Tage zuvor war Christian von einem der Sängerfeste zurückgekehrt. Er war kaum mehr in der Lage gewesen, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, sein Gesicht war blutüberströmt gewesen, sein linkes Auge komplett zugeschwollen. Vater hatte ihn immer wieder gewarnt: „Du bist ein Idiot, wenn du dahingehst. Das gibt irgendwann noch einmal richtig Ärger.“ Vater hatte ihm gedroht und für ihn völlig ungewöhnlich sogar gebeten, von dem Besuch abzusehen, aber mit seinen 20 Jahren ließ sich Christian nicht mehr viel von

seinem Vater vorschreiben. Fritz wusste nicht viel über die Sängerfeste. Christian hatte seine

Fragen stets mit den Worten zurückgewiesen, das hätte noch Zeit und er solle darüber nicht so viel reden. Einmal hatte Fritz nachts im Kerzenlicht, als er und sein Bruder im Bett lagen, eine Tätowierung auf der Innenseite seines Oberarmes gesehen, einen zweistämmigen Baum. Als er Christian darauf angesprochen hatte, war er angeraunzt worden: „Du hast nichts gesehen, halt die Klappe.“ Seine Stimme war so eindringlich gewesen, dass Fritz mit niemanden je darüber gesprochen hatte. Zwei Tage später war der Bruder weg, der, der ihn immer in Schutz genommen hatte, ihm zugehört hatte und ihm alles beigebracht hatte, was ihm wirklich von Nutzen war. Es hieß, er sei auf ein Schiff gegangen. Während die Eltern sogar erleichtert schienen, war für Fritz eine Welt untergegangen. Aber obwohl in der Vergangenheit alles, was der große Bruder gemacht hatte, für Fritz der einzig richtige Weg war, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, seine Heimatstadt zu verlassen.

Fritz hatte keineswegs die Absicht, sich zu beeilen, so wie der Meister es verlangt hatte. Als er an der Hafenmeile am Ballastkai ankam, verlangsamte er seinen Gang, und schaute aufmerksam von Steg zu Steg über das Hafenbecken. Er tat das nicht, um das Schiff ausfindig zu machen. Die Brigg war mit ihren gut 30 Metern Länge und stolzen acht Metern Breite eines der größten Schiffe im Hafen und auch wegen der zwei hohen Masten nicht zu übersehen. Er hielt Ausschau nach seinen Freunden, von denen einige auf den unzähligen Arbeitsschiffen arbeiteten, auf offenen Fischerbooten, auf Lastkähnen oder den unterschiedlichsten kleinen Frachtseglern, die sich selten weit auf die Ostsee wagten. Er hatte sich schon oft gefragt, wie es den Bootsführern immer wieder gelang, durch dieses Gewirr an Booten und Brückenanlagen hindurchzumanövrieren.

Fritz hatte mal aufgeschnappt, dass Flensburg nach Kopenhagen den zweitgrößten Hafen in Nordeuropa besaß, und das hatte ihn stolz gemacht.

Bei der Vielzahl an Schiffen kam es immer wieder zu kleinen Havarien und es wurde auf dem Wasser ständig laut gebrüllt, wenn sich die Boote zu nahe kamen.

Die Innenförde war eng, keine tausend Fuß breit, und zum Mühlenbach hin, der in das Hafenbecken mündete, noch viel schmaler. Von allen Seiten des Ufers aus ragten zudem eine Vielzahl von kleinen Stegen wie Stachel ins Wasser, wobei die meisten nur aus einigen schon sichtbar morschen Eichenpfählen bestanden, zwischen die man irgendwelche Bretter aus zusammengestürzten Häusern oder abgewrackten Booten gelegt hatte. An solchen Stegen, die selbst bei den wagemutigsten Jugendlichen kein Vertrauen genossen, lagen an beiden Seiten oft vier, fünf Kähne aus schmutzig-grauen, flüchtig übergeteerten Planken, die einen nicht minder trostlosen Eindruck machten. Zwischen diesen hölzernen Bootsstellen lagen Abschnitte matschigen Lehms, manchmal von Schilf oder kleinen Büschen bewachsen, auf die man kleine, rotte Kähne oder Ruderboote gezogen hatte, um sie vorm Sinken zu schützen. In den Booten, die vermutlich nie wieder ins Wasser gelassen werden konnten, lag der ganze Müll, den der Hafenbetrieb verursachte, rostiges Eisen, zersplitterte Bretter oder grünspakiges, zerrissenes Segeltuch. Auf der Seite der Förde, wo Fritz stand, sahen die Brücken solider aus. Sie waren größer und stabiler gebaut, denn da legten die Schiffe aus Westindien an oder die Schiffe aus Schweden und Russland, und da wurde das Geld verdient. Und es wurde hier viel Geld verdient, was die rückseitigen Kontorhäuser, Speicher und Kaufmannshäuser zum Ausdruck brachten. Die waren nicht aus Holz zusammengezimmert, sondern mehrgeschossig aus gelbem und rotem Backstein mit steilen Giebeln gebaut. Wenn sie auch sehr schmal waren, so konnte man so manche Schiffsladung in ihnen verstauen. Durch die vielen Maueröffnungen, über denen Kragbalken zum Hochziehen der Waren angebracht waren, ließen sich vor allem die Tausende von Säcken mit Zuckerrohr einlagern, der zu Rum veredelt nicht wenige Kaufleute reich gemacht hatte.

Fritz hob den Kopf und warf noch einmal einen Blick über das gesamte Hafenbecken. Das

Wirrwarr aus den vielen Dutzend Schiffen, vor Anker oder an Brücken, mit ihren Masten,

ihren Stengen und Spieren, den Rahen, Gaffel- und Briggbäumen war so unüberschaubar, dass eine Zuordnung von Rigg und Schiff kaum möglich war. Früher als kleiner Junge hatte Fritz hier am Hafen immer mal die Augen so weit zugekniffen, dass die Kulisse verschwamm. Dann hatte er sich vorstellen können, am Rande einer der Buchenwälder zu stehen, die Flensburg umgaben. Die Masten entsprachen in seiner Vorstellung den schlanken Buchenstämmen, die im Winter ohne ihr Laub ebenso grau und schlank in den Himmel ragten und die einem bei Gefahr Schutz boten.

„Schade“, flüsterte er in sich hinein, als er keinen seiner Freunde entdecken konnte, „hätte heute gut gepasst.“

„Was stehst du hier so dumm rum“, hörte er eine Stimme keuchen und konnte gerade noch

einem Mann ausweichen, der weit nach vorne gebeugt einen schweren, einachsigen Karren

mit Säcken hinter sich her zog. Fritz ging einen Schritt zur Seite und schob sich durch das Menschengewirr in Richtung seines eigentlichen Zieles, der Überseebrücke mit der Brigg. Hier war noch jede Menge Betrieb und er musste ein ums andere Mal Leuten ausweichen, die ihm entgegenkamen. Je näher er an die Ladepier herankam, desto weniger Menschen störten ihn auf seinem Weg. Zwar standen überall Karren und kleine Fuhrwerke, Kisten und Fässer herum, die darauf hindeuteten, dass hier Schiffe be- und entladen worden waren. Er hatte aber erwartet, dass das Gedränge eher mehr werden würde. Im Gegenteil, es wurde ruhiger um ihn herum, was ungewöhnlich war. Normalerweise versammelten sich nach Ankunft der größeren Schiffe eine Vielzahl an verschiedensten Menschen in der Nähe der Kaianlagen: Huren, die sich vermeintlich im Hintergrund hielten und es doch schafften, die ausgehungerten Seeleute auf sich aufmerksam zu machen. Die zahlreichen Schauerleute, die man auch ohne ihre Lasten an ihrer typischen, nach vorn gekrümmten Körperhaltung und ihrem verwachsenem Körperbau erkennen konnte, die vielen Handwerker, die nach Aufträgen lungerten, und natürlich junge Männer wie Fritz, die auf einen Zuverdienst hofften. Zu ihnen gesellten sich die Matrosen, die in der Erkenntnis, dass ihre Freiheit von kurzer Dauer war, voller Übermut und ohne Rücksicht auf die vielen Leute, ihre Stimmung herausbrüllten. Ja, jeder schien mit seiner Lautstärke auf seine Wichtigkeit hinzuweisen.

Heute war es anders und Fritz spürte förmlich die bedrückte Stimmung.

Das konnte nicht an den Polizisten liegen, die sich demonstrativ an die Mauer eines der Kontorhäuser gelehnt hatten- scheinbar gelassen, doch für jedermann sichtbar und jederzeit bereit einzuschreiten. Schon vor zwei Jahren, lange bevor der dänische König Christian VIII im Januar diesen Jahres gestorben war, hatte die ohnehin schon angespannte Stimmung unter den Deutschen in Flensburg und Südschleswig zu Ausschreitungen geführt. Die Deutschen fühlten sich benachteiligt und ausgegrenzt in einem Land, das ihrer Überzeugung nach ein Teil Deutschlands war, das aber von Dänemark regiert wurde. Die Einführung des Dänischen als Amtssprache war als Provokation empfunden worden und als ein weiterer Schritt betrachtet, Südschleswig dem dänischen Reich vollständig einzuverleiben. Aber das Herzogtum Schleswig gehörte wie das Herzogtum Holstein zum Deutschen Bund. Auch wenn der dänische König Herzog von Schleswig und Holstein war, so verlangten viele Schleswiger nicht nur nach einer eigenen Verfassung, sondern auch nach einer Loslösung von Dänemark. Fritz konnte sich noch gut an die Diskussionen zu Hause erinnern, welche Auswirkungen es für die Deutschen hätte, wenn die Dänen mit ihren Vorstellungen zum Ziel kämen. Schon damals hatte sein Bruder Christian voller Wut und Empörung geschrien: „Wenn das kommt, habe ich meine Heimat verloren.“

Die Forderung der Dänischgesinnten, den Landesteil Schleswig bis zum Fluss Eider dem Dänischen Königreich einzuverleiben, war als Affront verstanden worden, und so war es vor allem in Rendsburg, an der Eider gelegen, zu Aufständen gekommen, die in den ganzen Landesteil abstrahlten. König Christian VIII hatte zumindest noch versprochen, eine Gesamtverfassung sowohl für Dänemark als auch für die Herzogtümer Schleswig und

Holstein einzuführen und damit die Hoffnung genährt, dass die Interessen der Deutschen auch Berücksichtigung fanden. Aber der König war tot, und sein Sohn Friedrich VII hatte schnell seine Absichten offen gelegt, indem er Minister in sein Kabinett aufgenommen hatte, die eindeutig eiderdänisch waren und den Deutschen nicht wohlgesonnen waren.

Obwohl Fritz bekannt war, weswegen in den letzten Jahren die Polizeipräsenz so zugenommen hatte, konnte er sich die Anspannung nicht erklären. In Flensburg an der Grenze zwischen Nord- und Südschleswig hatte es bislang kaum Ausschreitungen gegeben. Die vereinzelten Flugschriften mit den Symbolen der Bewegung - die Doppeleiche und die blau, weiß, rote Trikolore - die hin und wieder an Bäumen oder Wänden auftauchten, waren immer schnell wieder beseitigt worden. Bei den berüchtigten Sänger- oder Turnerfesten, die als Zellen der Aufruhr galten, waren immer Vertreter der staatlichen Organisationen anwesend. So sorgten sie für Zurückhaltung. Fritz Bruder hatte am eigenen Leib erleben müssen, was mit den Leuten geschah, die sich mit ihrer Forderung nach einer eigenen Verfassung hervortaten.

Heimliche Zusammenkünfte waren bei der Enge der Stadt und bei dem großen Anteil dänischgesinnter Bürger kaum möglich. Bei so viel Wachsamkeit war es bisher gelungen, die Aufstände von Flensburg fernzuhalten.

Die Deutschen hatten sich ebenso an diesen Zustand gewöhnt oder darauf eingestellt und versuchten sich nicht von der Polizei beeindrucken zu lassen oder sich in ihrem Handeln einschränken zu lassen.

So hatte auch Fritz gelernt, die Polizisten, so weit es ging, zu ignorieren, und den staatlichen Organisationen aus dem Weg zu gehen. Von den Polizisten, die vom Kompagnietor her eher gelangweilt zu ihm herüberschauten, ging keine Gefahr aus. Aber etwas stimmte hier am Hafen nicht. Das spürte Fritz. So viele Leute ließen sich doch kein Geschäft entgehen.

Die Brigg war in einem erbärmlichen Zustand. Wenn die Schiffe von ihren Atlantikfahrten zurückkamen, die häufig von schweren Stürmen begleitet waren, dann sah man immer auch dem Material die Strapazen an. Aus den kalfaterten Planken quoll an vielen Stellen das Hanf hervor, das zum Abdichten der Bretter diente, Farbe war abgeblättert und auch mal eine Spiere gebrochen. Das war nicht ungewöhnlich. Aber jeder Schiffsführer sorgte dafür, dass das Schiff zumindest einen aufgeräumten Eindruck machte: die Tampen aufgeschossen und über die Belegnägel gelegt, das Deck sauber geschrubbt, die Segel sorgsam aufgegeit. Denn der Zustand des Schiffes gab auch immer Aufschluss darüber, wie mit der Fracht umgegangen worden war. Und ein guter Eindruck des Schiffes schlug sich immer im Verkaufspreis der Waren nieder. Bei dieser Brigg hatte ein solcher Schiffsführer gefehlt oder aber eine Besatzung, die den Befehlen ihres Kapitäns Folge leisten konnte oder wollte. Und beides ließ nichts Gutes erwarten.

An der mit Kopfsteinen gepflasterten Kaianlage standen mit mürrischem Gesicht zwei Zöllner herum, die wie bei jedem Schiff den Auftrag hatten, die Ladung zu inspizieren. Aber hier, wo doch zumindest Schauerleute sein mussten, herrschte eine angespannte Ruhe. Fritz war es sofort klar, dass er keinen Auftrag ergattern würde. Aber was hier vorging, das wollte er sich nicht entgehen lassen. Er hielt sich etwas im Hintergrund, denn zu offenkundige Neugierde konnte schnell zu einer schmerzhaften Ohrfeige führen, aber er dachte nicht daran, dem Auftrag des Meisters Folge zu leisten und gleich zurückzulaufen. Gerade als er sich entschlossen hatte, sich doch auf den Rückweg zu machen, erweckte ein Poltern im Rumpf seine Aufmerksamkeit und einen Moment später sah er, wie eine Kiste von einem Matrosen aus dem Laderaum des Schiffes geschoben wurde. Nicht nur die Form der Kiste, sondern vor allem der widerlich süßliche Geruch, der sich auf dem Vorplatz ausbreitete und sich wie Pelz in Fritz Nase festsetzte, ließ keine Zweifel über deren Inhalt zu. „Armer Teufel“, murmelte Fritz in sich hinein. Er musste unwillkürlich an seinen Bruder denken, von dem er so lange nichts mehr gehört hatte. Aber immerhin hatte der Kerl, der in der Kiste vor sich hinstank, das Glück gehabt, in der Nähe des Hafens gestorben zu sein. So konnte er in geweihter Erde begraben werden und musste seinen Weg in den Himmel nicht so antreten wie viele Seeleute vor ihm: eingenäht in ein Tuch und dem Meer übergeben.

Den vier Matrosen, die mittlerweile an Deck standen und einen weiteren Sarg aus dem Bauch der Brigg gezogen hatten, konnte man verständlicherweise keine Freude ansehen, endlich in Flensburg angekommen zu sein. Als sie wortlos die Kisten über die Reling wuchteten und auf einen bereitstehenden Karren hievten, wendeten sich die Zöllner nur angewidert ab und machten mit einer feindseligen Gestik deutlich, dass die Männer schleunigst verschwinden sollten. Für Fritz nun ebenfalls ein Zeichen, sich auf den Rückweg zu machen.

3

Jesper Olsen ließ sich wie an jedem Abend eines erfolgreichen Tages behäbig in seinem Ledersessel nieder, vor sich ein Glas voller Portwein, nicht billiger Branntwein oder Rumverschnitt, sondern ein Portwein, für dessen Preis ein Handwerker einen Monat schuften musste. Für ihn der allabendliche Beweis, dass er es geschafft hatte. Er hätte sich mittlerweile viel Luxus leisten können, ein Wohlstand, der ihn vielleicht sogar in die Kreise wohlhabender Kaufleute hätte bringen können. Aber er verzichtete auf ein ansehnliches Haus, auf Dienstboten; selbst den Besitz von Pferd und Kutsche untersagte er sich. Hin und wieder leistete er sich eine Hure, für die er als Amtsarzt sicher nichts hätte bezahlen müssen. Aber er belohnte sie immer großzügig, womit er sich deren Schweigen erkaufte, mit niemandem über seine Vorlieben zu sprechen. Und er war froh darüber, dass sicherlich keines der Mädchen auch nur darüber nachdachte, sich ihm ein zweites Mal anzudienen, trotz des stolzen Betrages, den er bezahlte.

Er war vorsichtig, und Wohlstand musste erklärt sein. Seine Silbertaler und Reichsbanknoten wusste er sicher unter den Dielenbrettern auf dem Schlafboden verwahrt und waren ihm Beweis genug, dass er es zu etwas gebracht hatte. Dieser Tag war erfolgreich gewesen, unerwartet erfolgreich. Die Visitation der Brigg, die vor Holnis vor Anker gelegen und dort auf die Erlaubnis auf Einreise gewartet hatte, hatte ihm einen Geldbeutel eingebracht, der ungewöhnlich schwer war. Er und nur er hatte die Macht darüber zu entscheiden, ob ein Schiff den Hafen anlaufen durfte oder ob das Schiff für Tage oder sogar Wochen unter Quarantäne gestellt wurde und die Schiffseigener dadurch viel Geld verlieren konnten. Und esstandin seiner Macht dafür zu sorgen, dass die Matrosen noch lange in ihrem hölzernen Gefängnis schmoren mussten, den ersehnten Hafen in unmittelbarer Reichweite. Und diesevon der langen Reise ausgezerrten Männer konnten in einer solchen Situation für jeden Kapitän zur Gefahr werden. Diese Möglichkeiten sorgten dafür, dass er einen ständigen Zufluss an Reichstalern hatte. Am heutigen Tag hatte es ihm gereicht, nur einen flüchtigen Blick in den Laderaum zu werfen und auf Fragen zu verzichten, um seiner Altersabsicherung ein gutes Stück näher zu kommen. So genoss er das abendliche Ritual, sich immer wieder in Erinnerung zu bringen, wie er dahin gekommen war, wo er jetzt war.

Sein Leben hatte keineswegs vielversprechend begonnen. Das Leben auf einem kleinen Geesthof nicht weit entfernt von Tondern war von Armut geprägt. Aber nicht den Hunger, dem er und seine vier kleineren Geschwister so oftausgesetzt waren, hatte er als Leid empfunden. Hunger gehörte zum Leben genauso wie der Sturm im Herbst, und alle hatten doch Hunger. Auch die harte Arbeit, die seinen kleinen Körper oft voller Schmerzen gefüllt hatte, war ein so selbstverständlicher Teil seines Lebens gewesen, dass er als Kind nie darüber nachgedacht hatte. Im Gegenteil: Es gab Pflichten, die ihn weniger erschöpften, und Jesper konnte sich noch an ein Gefühl der Freude erinnern, wenn er den Stall ausmisten durfte und nicht auf dem Feld Steine sammeln musste, die ihm die Arme auszureißen schienen. Was ihn aber auch jetzt noch, so viele Jahre später, erschauern ließ, war der Gedanke, nein, das Bild der Peitschen, das sich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Dass Schläge zum Alltag gehörten, darüber gab es keine Zweifel. Aber sein Vater war von so brutaler Gewalt gewesen, dass Angst wie eine bleierne Decke über dem ganzen Hof gelegen hatte, und auch mit seinen mittlerweile 58 Jahren spürte Jesper immer mal wieder diese Last, die ihn auch heute noch manchmal zu erdrücken schien. Jede Minute, in der der Vater nicht in der Nähe gewesen war, war ihm vorgekommen wie ein Moment, in dem er mühsam durch seine Kehle Luft einatmen konnte. Wenn der Vater in der Nähe war, erfüllte ihn sofort das Gefühl, erstickt zu werden. Der Vater hatte nicht nur eine Peitsche, ein daumendicker Stock mit Rindslederstreifen am Ende. Überall auf dem Hof hingen die Peitschen, jederzeit sichtbar als unmissverständliche Warnung an den Wänden. Und es brauchte keinen Vorwand, dass der Vater sich eine griff und zuschlug, zuschlug, zuschlug. Nicht einmal oder zweimal. Er schlug sich jedes Mal in einen Rausch, der durch Schreie - zum Weinen war man gar nicht mehr in der Lage gewesen - eher bestärkt wurde. Nur wenn genug Blut den Rücken oder Po heruntergeflossen war, wandte sich der Vater ab, nicht ohne vorher noch schlimmste Drohungen ausgestoßen zu haben. Jesper erinnerte sich an seine verzweifelten Gedanken, warum die Mutter ihm und auch seinen Geschwistern nie zu Hilfe gekommen war, sondern eher davongewichen war, unsichtbar blieb. Als er etwas älter geworden war, war er fast jede Nacht davon wach geworden, dass aus der Nebenkammer, dort wo seine Eltern schliefen, wimmernde, unterdrückte Schreie von seiner Mutter zu hören waren, und ein Grunzen und Keuchen seinesVaters, wie das der Schweine, wenn sie sich um das Futter rauften. An den drauffolgenden Morgen war es ihm dann so vorgekommen, als obdie Mutternoch gebeugter ihren Kindern begegnete und noch weniger Worte für ihre Kinder zu haben schien. Undgeborstene Lippen und geschwollene Augen ließen erahnen, dass es der Mutter nicht besser erging als ihren Kindern. Mit 14 Jahren wusste Jesper längst, was in der Nebenkammer nachts geschah, und er spürte bei dem Gedanken, was sein Vater unmittelbar hinter der Wand trieb, ein Gefühl, eine tiefe Erregung, die er genoss. Der Gedanke, wie sein Vater seine Mutter aufspießte, wie er sie mit seinem Bajonett aufschlitzte, immer wieder in sie hineinstach, ließ ihn eine Lust verspüren, für die er sich anfangs schämte, die er dann aber Nacht für Nacht herbeisehnte.

Jesper griff nach seinem Glas Portwein und genehmigte sich einen großen Schluck. Jesper hasste seinen Vater, der schon so viele Jahre tot war, verrottet und begraben im Dreck. Aber

das, was der Vater mit der Mutter gemacht hatte, bereitete ihm eine ebensolche Lust, wenn er bei den Huren war, und die Gedanken dabei verschafften ihm tiefe Befriedigung.

Der Vater hatte ihn einmal im Stall dabei erwischt, wie erimmer wieder den Versuch unternommenhatte, einen angespitzten Ast in das Hinterteil einer Sau zu stechen und vor Lust dabei gestöhnt hatte. Wie diese gebrüllt hatte und zu fliehen versuchte. Die Prügel, die er dafür bezogen hatte, würde er seinen Lebtag nicht vergessen. Nicht dass er halbtot dafür geschlagen worden war und seine Wunden ihn wochenlang schmerzten, war für ihn so grausam gewesen, sondern dass der Vater ihn doch hätte verstehen müssen. Gerade er musste das doch verstehen. So richtig begriff das Jesper auch heute noch nicht.

Doch bald sollte sich sein Lebengrundlegend ändern. Dänemark hatte an der Seite von Russlandim Krieg gegen die Schweden schwere Verluste an Material und Menschen erlitten. Und wie nach jeder Schlacht zogen Werber der Armee von Dorf zu Dorf, um für eine Handvoll Taler junge Männer zu rekrutieren. Sein Vater sah die Chance, nicht nur ein hungriges Maul loszuwerden, sondern auch noch Geld dabei zu verdienen. Für Jesper war der Gedanke wegzumüssen entsetzlich. Das Leben auf dem Hof war die Hölle, aber das war immerhin das Leben, das er kannte.

Jegliche Form von Widerspruch kannte er jedoch nicht, und selbst wenn: Er wäre nur dem Hunger der Peitsche ausgesetzt gewesen und geändert hätte es nichts. Seine Mutter hatte ihm noch ein Stück Brot zugesteckt, der einzige Ausdruck von Liebe, an den er sich erinnern konnte. In der Kaserne in Tondern schien das grausame Leben so weiterzugehen. Nein, schlimmer noch. Er wurde einem Korporalzugeordnet, der es an Grausamkeit mit seinem Vater aufnehmen konnte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurden die Rekrutengepiesackt und misshandelt. Neben dem alltäglichen Drill musste Jesper seinem Korporal wie ein Sklave dienen, seine Unterkunft aufräumen, Nahrung organisieren, die Kleidung pflegen und Dienstbotengänge erledigen. Die Aufgaben waren so zahlreich, dass er immer wieder mal zum Kasernenhofdrill zu spät kam, was zu strengsten Bestrafungen in Form von Schlägen führte. Wenn er aber den Aufträgen des Korporals nicht umgehend nachkam, erwartete ihn auch dort schwerste Prügel. So hatte er nur die Wahl, entweder von der einen Seite oder von der anderen Seite seine Bestrafungen entgegenzunehmen. Aber das war nicht das Schlimmste. So ein Leben kannte er ja auch vom Hof, aber dort hatte er wenigstens nachts seine Ruhe gehabt. Schon in der ersten Nacht auf dem Kasernengelände hatte der Korporal ihn in sein Zelt befohlen. Er sollte sich die Hose ausziehen, um eine Uniformhose zu erhalten. Das hatte Jesper schon misstrauisch gemacht, denn alle Rekruten liefen auch noch nach Wochen mit ihrer alten Kleidung herum. Plötzlich und völlig unerwartet wurde er von hinten gepackt, mit aller Gewalt nach vorne gedrückt, und dann spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Gesäß, ein Schmerz, der sich nicht auf den Po beschränkte, sondern der sich in seinem gesamten Leib wie ein Feuer ausbreitete. Er wollte schreien, aber eine stinkende Hand legte sich auf seinen Mund, dass er zu ersticken glaubte. Sein Körper wollte sich wegdrehen, dem Schmerz entrinnen, aber die Arme des Korporals waren wie aus Eisen. Jespers erster Gedanke war, warum der Korporal ihn mit seinem Messer abstach, was er wohl falsch gemacht hatte. Als er die grunzenden Laute, das Keuchen hinter ihm wahrnahm, Geräusche, dieihm von seinem Vater bekannt waren, wurde ihm klar, was mit ihm gemacht wurde. Jesper hatte nicht oft die Gelegenheit gehabt, in die Kirche zu gehen, aber er wusste, dass er nun in der Hölle landen würde oder sich schon dort befand.

So ging es nun Woche um Woche, in denen sein gesamter Körper eine offene Wunde zu sein schien, ein Feuer in ihm, das ihn von innen und außen verbrannte. Schon der Geruch des Korporals, der ihn an den von frisch geschlachteten Schweinen erinnerte, bereitete ihm Grauen. Das Aufwachen morgens war für ihn der Beginn einer unendlichen Qual, das Naherücken des Abends und der bevorstehenden Nacht empfand er, als ob der Tod persönlich Schritt für Schritt, unaufhaltsam, auf ihn zukroch und es keinen Weg gab, ihm zu entkommen. Während die anderen Jungen gelegentlich auch mal Freude in ihren Gesichtern zeigten, wenn sie miteinander sprachen oder sogar manchmal mit Waffen aus Holz Krieg spielten, blieb er davon ausgeschlossen, in seinem Schmerz und mit seiner Scham allein. Mit wem hätte er reden sollen? Wer hätte mit ihm reden wollen, er, der nur ein Stück wundes Fleisch war. Verachtenswerter Dreck.

Eines Tages bot sich ihm eine Chance und ein letztes Stück Lebenswillen erwachte in ihm.

Der Korporal hatte ihn zum Quartiermeister geschickt, der sein Kontor in der Nähe des Kasernenhoftores hatte. Jesper bemerkte, dass beide Wachen nicht am Tor standen und er einen Moment von niemandem gesehen werden konnte. Ohne zu überlegen schlich er aus dem Kasernengelände heraus, weg aus der Hölle. Er wusste, dass hinter der Kasernenhofmauer ein Wald lag, zu dem er nun stürmte, um dort Schutz zu suchen. Erst als er dort angekommen war, stellte er sich die Frage, wohin er sollte. Nach Hause, zum Hof ? Erstens erinnerte er sich nicht mehr an die Wegrichtung, und selbst wenn: Ihm war klar, wie er dort empfangen werden würde. Also lief er in irgendeine Richtung, die ihn von der Kaserne wegführte. Er rannte und rannte, als ob seine Beine ohne jeglichen Befehl das Kommando übernommen hatten und sein Kopf nur einen Gedanken kannte: weg! Erst als seine Lungen sich verweigerten, hielt er ein und stellte mit Erstaunen fest, dass er an Armen, Beinen und im Gesicht tiefe Schürfwunden hatte, die er sich bei der Flucht durchs Gehölz zugezogen haben musste, ohne es zu bemerken. Gleichzeitig mit dem 6 Uhr Läuten der Kirchenglocken der Tonderner Kirche spürte er, ohne etwas zu sehen oder zu hören, dass sich jemand näherte. Der Wald schluckte die Geräusche und ließ keine weite Sicht zu, aber ein kaum vernehmbares Vibrieren des Bodens warnte ihn, dass sich Tiere näherten, Pferde in schnellem Galopp. Und jeder Reiter, der im Wald sein Pferd galoppieren ließ, musste es eilig haben. In Bruchteilen von Sekunden war ihm bewusst, dass die Eile ihm galt, dass sie hinter ihm her waren. Das blanke Entsetzen packte ihn. Dass er desertiert war, wurde ihm erst jetzt klar. Er wollte doch nur weg vom Korporal. Er hatte doch nicht vorgehabt zu desertieren, machte sich aber nichts vor, was ihn erwartete, wenn sie ihn einfingen. Er hatte immer wieder mal aufgeschnappt, dass Männer ihren Dienst und die Entbehrungen leid waren, aber bei all den Gesprächen schwang stets unüberhörbar die Furcht mit, was passieren würde, wenn man sich unerlaubterweise der Armee entzog. Die Folgen wurden nie in Worte gefasst, als ob man sie sonst damit heraufbeschwören würde, aber die Bestrafungen mussten unerträglich sein, wenn selbst hartgesottene Soldaten nicht einmal über diese zu sprechen wagten.

Er sah sie nicht, er hatte sie nicht gehört.Erst als ein Reiter mit gezogenem Säbel schon wie ein Bergvor ihm stand, wurde ihm schlagartig klar, was ihm bevorstand. Es schien ihm, als würden sich seine Knochen und sein Rückgrat in Luft aufgelöst haben, dass er ganz leicht wurde, schwebte, als seine Beine unter ihm nachgaben, und sein Kopf ihn von seiner Angst befreite, indem er das Bewusstsein verlor.

Er wurde davon wach, dass er eine plötzliche Eiseskälte auf dem Oberkörper und im Gesicht wahrnahm. Als er die Augen aufschlug, erblickte er über sich den Korporal, der einen weiteren Eimer mit Wasser über ihn ausschüttete.

„Damit du auch bei deiner Feier schön wach bist“, hörte er den Korporal mit fast sanfter Stimme. Die Augen des Korporals leuchteten beinahe freundlich, ähnlich wie die des Vaters, bevor der zur Peitsche gegriffen hatte. Er konnte diese Augen nicht anschauen, wollte sich aufrichten und stellte erst in diesem Moment fest, dass er auf einer hölzernen Bank lag und mit Lederriemen festgeschnallt war. Um ihn herum standen im Kreis alle anderen Rekruten. Keiner sprach, kein hämisches Grinsen. Ihr stilles Mitgefühl erfüllte ihn mit Grauen. Die Angst schlich sich nicht heran mit Herzklopfen oder feuchten Händen, nicht mit zittrigen Beinen oder furchterregenden Bildern im Kopf. Die Angst überrollte ihn, schlug in ihn ein, als ob Bänder aus Eisen um seine Brust gelegt wurden, die sich mit jedem Atemzug zusammenzogen und ihm die Luft abschnitten. Eine Angst, die ihn zum Keuchen und sein Herz zum Rasen brachte, sodass sich sein Brustkorb hob und senkte wie bei einem Kaninchen, bevor es geschlachtet wurde. Er hob seinen Kopf, so weit er konnte, und sah wie der Korporal zu seinen nackten Füßen ging, mit einer beinlangen Stahlfeder in der Hand. Der unbändige Versuch zu fliehen, ließ seinen Körper aufbäumen.

Der Schmerz nach dem ersten Schlag war so ungeheuerlich, dass sein ganzer ausgezerrter Körper und sein Hirn explodierten. Seine Augenkonnte nicht mehr aufnehmen, dass sich die Stahlrute durch seine Hornhaut an den Fußsohlen wie durch Papier durchgeschnitten hatte und sich tief in sein Fleisch hineingefressen hatte. Er nahm seinen schrill heulenden Schrei nicht mehr wahr, der nicht mehr menschlich klang und der die Rekruten totenbleich werden ließ. Er schmeckte nicht mehr das Blut, das seinen Mund füllte, als er sich die eigene Zunge fast durchbissen hatte. Es war kein Schmerz, es war eine Feuersbrunst, die sich von außen in ihn hineinfraß und von innen wieder hinaus. Ihn verbrannte. Wenn es einen Gott gab, so sorgte der dafür, dass er die weiteren Schläge nicht mehr spürte. Er versank in einer tiefen Dämmerung, deren Mitleid ihn vor tödlichem Schmerz und abgrundtiefer Angst bewahrte.

Jesper genehmigte sich ein zweites Glas, wobei seine Hand beim Einschenken merklich zitterte und ihm bewusst wurde, dass sich bei seinen Erinnerungen die Zehen seines verunstalteten, völlig vernarbten Fußes unwillkürlich verkrampft hatten. Aber nun konnte er mit bitterer Genugtuung daran denken, dass eben diese Folter, die ihn fast das Leben gekostet hatte, der Auftakt zu einem neuen Leben gewesen war. Ein Leben, das ihm die Chancen geboten hatte, dass er sich nun dort befand, wo er jetzt war. Unddiesen Gedanken genoss er. Deswegen tauchte er so gern in seinen Erinnerungen ab.

Man hatte ihn nach der Tortur in ein Lazarettzelt geschleppt, womit der Korporal seine Menschlichkeit unter Beweis stellen wollte. Irgendwann hatte sein junger Körper dafür gesorgt, dass die Blutungen seines zerfetzten Fußes zum Stillstand kamen, und ein mitleidiger Feldarzt hatte seinen Teil dazu beigetragen, indem er Lappen um das zerrissene Fleisch gewickelt hatte und die regelmäßig wechseln ließ. Von all diesem Tun kriegte Jesper nichts mit. Jespers gemarterte Seele hatte seinen Körper verlassen, der in einem ständigen Nebel mit Schmerz und Fieber kämpfte.

Nis Nilsen hatte als Arzt,