Nachkriegskind - Peter Graf - E-Book

Nachkriegskind E-Book

Peter Graf

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Beschreibung

Der Erzählband von Peter Graf enthält eine Sammlung von Geschichten aus der Nachkriegszeit, aus jenen Fünfzigerjahren, die man mit Wirtschaftswunder und Mief verbindet. Eine Zeit, in der nach Jahren der Angst endlich aufgeatmet werden konnte und es scheinbar nur aufwärtsging. Der Autor erinnert sich an das Staunen über die Welt, an grosse Pläne und kleine Schritte, an lustige Erlebnisse und kindliche Dramen. Er erzählt von neuen, fetteren Suppen, die euphorisch eingebrockt wurden und – wie immer – später ausgelöffelt werden müssen.

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Peter Graf

NACHKRIEGSKIND

Geschichten aus der Nachkriegszeit

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Manuela Seiler-Widmer

Korrektorat: Daniel Lüthi

Gestaltung: Célestine Schneider

Satz: Rahel Beck

eISBN 978-3-7245-2717-6

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2710-7

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Für Ruth und Bruno

Für Monica

Für Martina, Till, Milo und Milena

INHALT

ERINNERUNGEN

TEIL 1 – VORGESCHICHTEN

DER TELLER

WO DIE MOLEKÜLE RASEN

DAS NACHTHEMD

DER ERSTE WEG 1

DER ERSTE WEG 2

GEBURT, ALS HÄTTE ICH WORTE FÜR SIE GEHABT

EIN TAG IN MEINEM LEBEN

TEIL 2 – IM LANDESINNEREN

AUS DEM EINEN SCHOSS AUF DEN ANDEREN

DAS NEUNZEHNTE JAHRHUNDERT

D GSCHICHT VO DE BAHNHÖF

DÜFTE UND GERÜCHE IN HÄUSERN

NACHKRIEGSKIND

LANGE HATTE DER KRIEG GEDAUERT

LEUTE, ICH BIN EIN NACHKRIEGSKIND

DER KLEINE

VATERS HOSENKLAMMERN

HINTER DER HECKE

HERR HERZOG

GESCHWINDIGKEITEN

BUCHSTABEN

ROTI RÖSLI IM GARTE

SCHULWEGE

TSCHINGGEN

DIE TRUTHAHNFEDER

TEIL 3 – BEIM TOR ZUR WELT

UMZUG

DAS KRAFTWERK

DER TRAUM VON DER STRASSE

MEINE STRASSE

DIE GUTE STUBE

GEOGRAFIE

BRACHLAND

PÄULI UND SCHANG

KANINCHENBRATEN

DER FLUSS

KIND, KÖRPER, FÜNFZIGERJAHRE

KIND, ZEIT, ALTER MENSCH

DIE ZEIT UND DIE UHREN

GROSSE UHREN, KLEINE UHREN

E SUPPE GIT BODE

HOLZBÖDEN

DER LEBERTRAN

KONSUM

OMAR

DIE KIRCHE

DER ZAUBER

DAS TELEFON

DIE GELBEN BÜCHER

DANK

AUTOR

ERINNERUNGEN

Wenn ich versuche, mich an meine Kindheit zu erinnern, frage ich mich: Was war? Ich versetze mich in eine Zeit zurück, ich denke an einen Ort oder an eine Person und die Erinnerungen kristallisieren sich darum herum. Bruchstücke führen zu erahnbaren Zusammenhängen. Eine innere Kraft neigt dazu, die Bruchstücke zu ganzen Geschichten zusammenzufügen. Denn die menschliche Seele gefällt sich am besten, wenn sie sich in einem erfassbaren, sinnstiftenden Ganzen sieht. Ist die Geschichte beieinander, sage ich: So ist es gewesen!

Wenn ich mich aber mit dieser ersten Antwort nicht zufriedengebe, stellen sich präzisere Fragen ein. Hat es sich so zugetragen, wie ich es erinnere? Oder habe ich im Lauf der Zeit beschönigt, dramatisiert, unrichtig interpretiert und eingeordnet, falsch in Beziehung gesetzt?

Diese Fragen sind nicht weit. Man kommt sich doch über die Jahrzehnte auf die Schliche, wenigstens auf ein paar davon. Und da kann man wohl annehmen, dass es noch andere gibt.

Statt «So war es» müsste ich also sagen: In diesem Moment, da ich die Geschichte schreibe, soll es so gewesen sein. Aber schon im Schreiben schwebt das Wissen mit, dass es nicht nur so gewesen ist. Und doch habe ich einen Teil der Wahrheit aufgeschrieben. Ihre Existenz in Schrift gibt ihr Gewicht.

Alles, was war, alles, was ich darüber schreibe, ist eingebettet in den damaligen Alltag. Das Alltägliche führt weniger zu Geschichten, ist deshalb aber nicht weniger bedeutsam und wahr.

TEIL 1

VORGESCHICHTEN

DER TELLER

Einmal ist mir beim Abtrocknen ein Suppenteller aus den Händen gerutscht. Er fiel auf den harten Küchenboden und zerbrach in viele kleine und grössere Teile. Abwaschen und Abtrocknen des Geschirrs war Sache der Kinder. Wir alle drei waren mal dran. Eine wusch, einer trocknete, einer versorgte.

Ich sagte «Oje!» und dann: «Spielts e Rolle in hundert Johr!» Alle Unbill vergeht, sollte das heissen. Ein häufig geäusserter Satz in jener Zeit, immer wenn etwas schiefging. In hundert Jahren denkt man nicht mehr daran. Selbsttröstung und Entschuldigung.

Hundert Jahre! Das waren in der kindlichen Vorstellung keine Jahre. Es war gleichbedeutend mit der Ewigkeit.

Beim Betrachten der Fünfzigerjahre schaue ich in einen klitzekleinen Abschnitt der Menschheitsgeschichte und in einen unfassbar winzigen Moment gesamten Werdens der Welt. Aber für mich waren es die prägenden Jahre. Und aus der Geschichte wissen wir, dass gesellschaftliche Strömungen durchaus hundertjährige Folgen haben können.

WO DIE MOLEKÜLE RASEN

Dass es mich gibt, ist kaum zu begreifen. Millionen von Jahre hat es mich nicht gegeben und Millionen von Jahre wird es mich nicht mehr geben. Spuren werden zurückbleiben und nach Jahren und Jahrzehnten verwehen.

Millionen von Jahre sind jene Moleküle, die mich formen, aus denen ich zusammengesetzt bin, für meine Begriffe sinnlos in irgendwelchen verstreuten, unfassbaren Sphären herumgestrolcht. Zu einem genauen Zeitpunkt haben sie sich zusammengefunden, zusammengetan, eine Folge von gigantischen Flashmobs quasi, und haben begonnen, mich zu bilden – mich, der so einzigartig ist wie jede und jeder andere von uns. Da wohnte diesen Molekülen plötzlich ein Sinn inne, jedenfalls aus meiner Perspektive, der ich mich als ihr vorläufiges Resultat fühle.

Ich habe keine Ahnung, wohin meine Moleküle verschwinden, wohin sie sich verteilen, verwandeln und neu gruppieren, wenn es mich einmal nicht mehr gibt. Ich weiss nur: auflösen können sie sich nicht. Ich weiss nicht, ob sie etwas mitnehmen von dieser Erfahrung dieser kurzen Teambildung und Zusammenarbeit, die für eine Millisekunde der Schöpfung zur Existenz dieses Individuums «Ich» führte.

Denkt man in diesen Jahrmillionen, so ist es eine Ungeheuerlichkeit der Natur, dass es uns gibt und dass wir darüber nachdenken können, dass es uns gibt.

Gewöhnlich erblicken wir eine Ungeheuerlichkeit, eine Gemeinheit der Natur darin, dass wir uns mit der Tatsache der Endlichkeit unseres Lebens befassen müssen. Ein Skandal! Wir konstruieren mannigfaltige Fortsetzungen des Lebens in einem Jenseits, einem Paradies, in einem aufgehobenen, erhobenen, glücklichen Zustand oder doch wenigstens in Erinnerungen der Nachkommenden.

Manche denken sich auch ein Vorher, etwas Vorausgegangenes innerhalb der menschlichen Geschichte. Der Mensch erschien bekanntlich erst eine Sekunde vor zwölf und die Uhr läuft weiter. Millionen Jahre zuvor hatten die Atome in einer Ursuppe gekocht und noch nichts von den grandiosen Verkuppelungen und Ausformungen erahnen lassen, die aus dem Geköch hervorgehen sollten.

Es ist kränkend, sehen zu müssen, dass all unser Denken, Streben und Hoffen, unser ganzes Sein nichts ist als ein Aufblitzen in einer Sekunde der Schöpfung. Die Kränkung ist unannehmbar. Deshalb ist es verzeihlich, Vorstellungen zu entwickeln von einem Nachher. Wir können ihrer nicht sicher sein, aber sie sind hilfreich.

Nach diesem Exkurs in die Jahrmillionen können wir uns wieder jener Millisekunde zuwenden, in der unser Leben stattfindet. Die Gestaltung dieser Millisekunde ist Aufgabe genug. Was die Moleküle tun, wenn wir «gestalten», wissen wir nicht. Auch wenn wir manchmal meinen, sie in uns drin rasen und vibrieren zu fühlen. Wir kennen nur das Resultat ihrer vernetzenden Aktivität: dass uns warm wird, dass wir wissen, dass uns warm wird und dass wir sagen können, dass uns warm wird. Und das ist doch ein Wunder, wenn man es mit der Ursuppe vergleicht.

DAS NACHTHEMD

Vor dem Anfang von allem stand oder besser gesagt lag, fein gefaltet, ein Nachthemd. Ohne dieses Nachthemd hätte es mich möglicherweise niemals gegeben.

Es war in den frühen Vierzigerjahren, in Kriegszeiten also, damals, als die Nachbarn nördlich des Rheins bereits losmarschiert waren. Eroberungen noch und noch, im Osten, im Westen, im Norden. Man fürchtete um die Schweiz. Werden sie kommen? Wann werden sie kommen? Die Männer hielten Grenzwacht. Das gab ein wenig Zuversicht, durch Angst gedämpft, durch Hoffnung verstärkt. Die ganze Welt sollte ja überschwemmt werden mit den arischen Genen. Die Propaganda röhrte «Mädchen, spreizt die Beine, wir brauchen Kleine».

Die junge Frau mit Namen Meta entstammte einer ordentlichen Familie. Der Vater war früh verstorben, aber die Mutter regierte mit fester Hand und stellte klar, was anständig und was verwerflich war. Und sie wachte darüber, dass ihre sechs Kinder anständig wurden und blieben. «Einen guten Ruf kann man nur einmal verlieren», pflegte sie zu sagen. Es gelang ihr nicht bei allen Kindern gleich gut. Aber die junge Frau, Meta, war eine ordentliche Frau. «Die weiss, was sich gehört», sagte man von ihr. Sie war auch lebenslustig. Sie schätzte es ungemein, umworben zu werden. Und Männer, die sie umwarben, gab es einige. Denn sie war eine attraktive Erscheinung, schlank und mit welligem Haar und obendrein «es schaffigs Wyb». Sie nahm die Werbungen scheinbar gelassen hin, vorsichtig und manchmal gar mit strenger Miene. Bekam sie Komplimente zu hören, wiegelte sie ab oder wies den Charmeur zurecht, wenn der zu dick auftrug. Bescheidenheit gehörte zu jener Kategorie, die da hiess «Was sich gehört».

Zu jener Zeit lebte eine anständige junge Frau nicht allein in einer Wohnung. Sie hatte ihr eigenes Zimmer in der Wohnung der Mutter. Die älteren Geschwister waren schon verheiratet und dahin und dorthin gezogen. Wenn die Mutter zum einen oder anderen ihrer Kinder zu Besuch fuhr, hütete Meta die Wohnung und den Kanarienvogel. Und hatte sturmfrei. Ein Wort, das man allerdings nur hinter vorgehaltener Hand und kichernd verwendete. Die jungen Männer waren angehalten, sich als Gentlemen aufzuführen. Und das hiess: gesittet.

Wenn man keine Stürme befürchten muss, kann man das Fenster offen halten, sich hinauslehnen und empfangen, was die freundliche Frühlingsluft herbeiweht.

Der junge Mann, der Meta neuerdings umwarb, war ihr durchaus sympathisch. Er war ein Studierter, ein junger Lehrer an der Bezirksschule, stattlich, mit breitem Schädel, hoher Stirn und etwas vorgezogener Unterlippe, die männliche Entschlossenheit zum Ausdruck bringen sollte. Er wurde an diesem Abend nicht zufälligerweise herbeigeweht. Sie hatten sich schon einige Male getroffen. Aber da waren immer andere zugegen gewesen und sie wollten sich einmal ungestört aussprechen. Er schlüpfte geschwind durch die Haustür und stieg leise in den ersten Stock des Hauses, vorbei an der Wohnungstür zur Parterrewohnung. Es war ein anständiges Haus und Herrenbesuche waren nicht vorgesehen. Sepp – so hiess der junge Mann – klopfte sachte an die Tür und Meta liess ihn rasch ein. Er trug in der linken Hand eine beträchtliche Ledermappe, gewiss mit Büchern und Blättern angefüllt, und in der rechten einen Blumenstrauss, den er auf seinem Gang entlang der Gartenzäune gepflückt hatte.

Meta hatte ein frisches Brot gebacken und eine Platte mit Aufschnitt, Schinken und Ei vorbereitet. Das war viel. Es war Krieg. Man hatte nicht viel. So viel wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht auch der Metzger Metas munteren Augen gefolgt wäre und diese und jene Scheibe Fleischkäse oder Lyoner Wurst dazugegeben hätte. Ausserdem saure Gurken und Sülze. Sülze mochte sie zwar nicht, aber das Wort hörte sich so süss an. Eine Tomate lag bereit zum Aufschneiden, nicht zu früh, damit sie nicht austrocknete. Vom Keller hatte sie eine Flasche Vivi Kola raufgeholt, weil sie wusste, dass Sepp es mochte. Und sie stellte sich vor, wie sie ihm einschenken und er den Schaum oben wegschlürfen und der ihm im Schnauz hängen bleiben würde. Und zum Nachtisch, als Überraschung, würde sie ihm einen Eiercognac servieren, den ihre Mutter an einem Ort, den sie für geheim hielt, aufbewahrte. Derartige kleine Übertretungen durften durchaus sein innerhalb dieser sonst verbindlichen Kategorie «Was sich gehört».

Alles war vorbereitet für diesen vielleicht entscheidenden Abend.

Beide waren in den mittleren Zwanzigern. In diesem Alter war die Hoffnung, Blumensträusse zu empfangen, gross. Denn in einem Blumenstrauss, selbst wenn er zusammengeklaut war, zeigte sich Anerkennung und Werbung. Gleichzeitig war er ein zurückhaltend und zart geäusserter Annäherungswunsch, der solcherart dem strengen Kanon genügen konnte. Ebenso gross war auf der anderen Seite das Vergnügen, Blumensträusse zu übergeben. Wurde er angenommen, so war die Annäherung geglückt. Dann duftete aus den Blüten Hoffnung empor.

So näherte er sich also, als hätte er hier in der Gegend nichts weiter zu tun, Metas Haus. Sie blickte aus dem Fenster, sah ihn kommen, zog sich rasch ins Zimmer zurück, blickte in den Spiegel, zupfte eine Locke zurecht, prüfte, ob sie nicht allzu sehr als Erwartende in die Welt blicke …

Und dann klopfte es.

«Grüezi Sepp.»

«Grüezi Meta.»

«Chumm ine.»

«Lueg, i ha dr öppis mitbrocht.»

«Oh, danke, isch dä schön!»

Zu jener Zeit, in der diese Geschichte spielt, sagte der Mann nicht «Ich habe ihn für dich zusammengeklaut».

«Sitz nume aane. I han is öppis Znacht gmacht.»

Der Sepp setzte sich, stellte seine Ledermappe neben den Stuhl und umfasste Meta mit einem Blick, den er wohl selbst als verliebt bezeichnet hätte, der Meta allerdings für einen kurzen Moment irritierte. Hätte sie die Irritation wahrgenommen und hätte sie ihr Wort geben können, hätte sie wohl gesagt: Da war ein Glimmen in seinen Augen wie in denen eines Tigers, wenn er seiner Beute sicher ist. Aber der flüchtige Eindruck drang nicht bis in ihr Bewusstsein.

«Nimm nur», sagte sie und schnitt für ihn und für sich ein Stück vom selbst gebackenen Brot ab. «Männer müend ässe!»

Ich weiss nicht, was sie sich an jenem Abend erzählt haben, während sie Aufschnitt mit Brot assen, die Gurken und Tomaten. Wahrscheinlich war ein bisschen Gesülze dabei. Zuerst erzählte der Sepp vielleicht von seinen Schülern, die er in Schach halten musste und konnte. Und Meta erzählte von ihrer Arbeit als Sekretärin, von ihrem Chef, der viel befahl und nichts verstand.

Vorgeplänkel eben. Werbung in eigener Sache.

Eigentlich wollten sie doch über sich sprechen – und von sich.

Bisher war es nicht einmal zu irgendeiner Anzüglichkeit gekommen im Zusammenhang mit Wurst und Gurke, Schinken und Ei.

Als das letzte Stück Wurst verzehrt war und das Vivi Kola zur Neige ging, öffnete Sepp seine Ledermappe. Über die Tischkante hinweg blickte Meta hinein. Aber da konnte sie keine Bücher sehen und keine Hefte mit Schüleraufsätzen. Da war nichts anderes als ein Nachthemd, noch dazu ein buntes, ein derart buntes, wie sie es sich kaum hätte vorstellen können als anständige Frau.

Wie ein Blitz fuhr es in sie ein.

Ein Nachthemd! Wieso ein Nachthemd?

Denkt er denn …?

Jaaaaa …!

Was denkt er denn von mir!

Der will wohl nur das eine!

Nicht mit mir!

So ein Schlufi! So ein Schlawiner!

Es fielen ihr noch manche anderen Wörter mit «Schl-» am Anfang ein.

Nichts von Eiercognac! Das fehlte noch!

Die Stimmung kühlte ab. War nicht mehr zu retten. Plötzlich war von der Zeit die Rede, vom späten Abend. Und dass sie nun wohl den Schlaf suchen müsse, denn morgen … und so weiter.

Irgendwann schloss Sepp seine Ledermappe, blickte Meta nochmals unsicher an, verzog ein wenig unwillig den Mund, die Unterlippe von rechts nach links und zurück, erhob sich, verabschiedete sich höflich und trollte sich enttäuscht.

Dass er das Haus zu dieser Stunde verliess, mag Metas Ruf gerettet haben. Sie blieb zurück in einem Gefühl von Stolz und Bedauern.

So ein Schuft, dachte sie.

Aber ganz sicher war sie sich nicht.

Hätte sie das Nachthemd aus der Mappe gezogen und neckisch gesagt: «Das brauchst du nicht» … hätte es mich dann auch gegeben? Vielleicht nicht.

Jedenfalls bin ich meiner Mutter unendlich dankbar, dass sie in jenem Augenblick das war, was sie für tugendhaft hielt. Ohne dies – so viel ist gewiss – könnte ich diese Geschichte heute nicht erzählen.

Wochen darauf traf sie sich mit Sepps Bruder, dem Max. Der glich dem Sepp sehr, war aber weniger forsch, führte kein Nachthemd im Gepäck, aber wurde mein Vater.

DER ERSTE WEG 1

Da war ich also auf den Weg geschickt, geworfen, geschleudert, mit elementarer Wucht, zusammen mit Tausenden von anderen und fand mich nun in diesem fremden Milieu. Kaum hatte ich mich vom Taumel der Geschwindigkeit erholt, fühlte ich mich von irgendetwas angezogen, unwiderstehlich. Es führte mich und drängte mich in eine Richtung mit sanfter Gewalt. Es war aber nichts Feindliches an dieser Gewalt. Es war, als würde sie mein eigenes Suchen leiten. Da war ein Wille in mir, der sich mit ihr verbündete und in dieselbe Richtung strebte. Nichts hätte mich von ihr abbringen können. Da gab es ein Ziel. Dieses Ziel wollte mich und ich wollte es erreichen. Es gab kein anderes, es konnte kein anderes geben. Ich wusste nicht, was mich dort erwarten würde. Dass es das Ziel meines Lebens war, dessen war ich mir sicher. Mein Weg war mit Farben und Düften gesäumt. Sie wurden voller und süsser und ich wusste, es war, weil ich mich dem ersehnten Ort näherte. Ich spürte, wie ein altes, unbestimmtes Sehnen sich in Hoffnung verwandelte und allmählich zu Gewissheit wurde.

Plötzlich sah ich vor mir eine Wand und ich stürzte auf sie zu. Sie war rot und duftend. Und ich wusste, ich war nahe am Ziel. Euphorie ergriff mich. Ich prallte auf. Da war aber kein Schmerz. Die Wand gab nach, nahm mich auf mit federnder Bewegung, bremste mich ab und hielt mich fest. Ich weiss nicht, bemächtigte ich mich ihrer oder unterwarf ich mich ihrer Kraft? War ich Eroberer oder Gefangener? Wo ich aufgeprallt war, wurde die Wand ganz weich, wurde zur Haut und schliesslich zu einem Kanal, der mich einliess in die Welt dahinter. Ich hatte nicht viel Zeit, diese Welt zu betrachten. Denn nun geschah etwas Unbeschreibliches. Eine Art Metamorphose. Ich löste mich auf und wurde gleichzeitig doppelt. Und ich wusste, es war das Ende meines ersten Lebens. Mein weiteres Leben würde anders sein. Wie, das war jenseits meines Vorstellungsvermögens.

DER ERSTE WEG 2

Ich wusste, man hatte schon viele auf die Reise geschickt. Die meisten blieben verschollen. Das konnte auch mir passieren. Seis drum! – vielleicht lag ja in diesem sang- und klanglosen Verschwinden meiner Vorgängerinnen ein tieferer Sinn.

Ich kann nicht sagen, weshalb ich für mich selbst an eine andere Bestimmung glaubte. Nichts sprach dafür. Offenbar keimt die Hoffnung zuerst. Als ich losgelöst auf diese Wanderschaft ging, durch dunkle Gassen, die ins Unbekannte führten, da dachte ich nicht an ein Ende, sondern an den Beginn von etwas Grossem. Das ist wohl häufig so, wenn man sich losgelöst fühlt, auch ausgeschickt, wenn man sich auf Wanderschaft begibt. Da ist es naheliegend zu denken, dass damit ein Zweck und ein Ziel verbunden ist.

Ich liess mich treiben. Es trieb mich durch die engen Gassen in einen nicht minder engen, aber irgendwie bewegten Raum. Da war ein Pulsieren, ein belebendes Beben, das mich froh stimmte. Ich pulsierte mit. Es war mir, als würde ich leuchten. Ich lag da, in diesem lebendigen Raum, ohne die Möglichkeit, mich selbst zu bewegen. Und doch fühlte ich mich so aktiv und bestimmend wie nie zuvor. Etwas Rätselhaftes geschah mit mir. Ich fühlte etwas auf mich zukommen und ich spürte meine magnetische Kraft, wie sie dieses Etwas zu mir hinlockte und leitete. Dann dieser Aufprall, heftig, aber freundlich. Ich öffnete das Tor. Oder war es dieses Etwas, das öffnete, dieses Etwas, dieses Wesen, das so dringend, so fordernd und ohne Scheu angeklopft hatte? Jedenfalls: Ich setzte alle meine Kräfte ein, um es einzulassen, dieses eine und kein anderes.

Für das, was dann folgte, fehlt mir die Erinnerung. Totale Auflösung.

Danach gab es mich nicht mehr so, wie ich mich kannte; aber ich fühlte mich in einem neuen Körper, in etwas Gemeinsamen, das mir noch fremd war.

Erst Jahre später begriffen wir, ich und der willkommene Eindringling, dass wir «Ich» geworden waren. Wir hatten allerdings keine Ahnung davon, dass dieses «Ich» ein zusammengesetztes war. Für diese Erkenntnis brauchten wir Jahrzehnte.

GEBURT, ALS HÄTTE ICH WORTE FÜR SIE GEHABT

Was danach geschah, ist unerhört!

Natürlich weiss ich mittlerweile, dass es mit den Grenzen des Wachstums zu tun hat. Genauso wie es keine zwei Planeten Erde gibt für uns alle, gab es für uns zwei vereinigte Wesen, mich, keine zwei Uteri. Zunächst wurde es ungemütlich, eng. Dann nahm der Druck zu. Da schwanden mir die Sinne, heisst, ich konnte nichts anderes mehr wahrnehmen als nur diesen Druck. Eben wollte ich sagen «Gott sei Dank gab er nach», aber mit dem Namen Gott verband ich damals noch gar nichts. Mir wurde wieder wohler. Ein erstes gefährliches Abenteuer war überstanden. Ich war wohlbehalten, aber beeindruckt von der Wucht des Angriffs. Ich fiel eben wieder in mein ungestörtes Sein zurück, als der Druck wieder zunahm. Er war nicht grösser als beim ersten Mal, aber die Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um eine einmalige Unregelmässigkeit gehandelt hatte, beunruhigte mich. Und es wiederholte sich. Erneut gab der Druck nach und von Neuem baute er sich auf. Allmählich begriff ich, dass sich etwas ereignete, das neu war, zu Neuem führte und völlig unberechenbar war. Natürlich versuchte ich meinen Raum zu behaupten, ich wälzte mich und dehnte mich. Aber alle meine Bemühungen wurden durch die nächste Druckphase zunichtegemacht.

Rückblickend muss ich sagen, ich spürte, dass sich ein Widerstand gegen mein Verweilen am vertrauten Ort aufbaute. Die Gastfreundschaft kühlte ab. Ich konnte noch so laut jubilieren über unsere vereinigte Wachstumskraft. Offenbar hatten wir zusammen eine kritische Grösse erreicht und mussten – ich weiss nicht, was: erdrückt oder ausgespuckt werden.

Nein! Da gab es keinen zusätzlichen Raum.

Keine weiteren Zimmer frei.

Und wenn wir noch so sehr forderten.

Nein!

Es wurde uns eingedrückt in unsere Haut: Es gibt Grenzen! Es gibt Grenzen!

Aber wir konnten nicht anders als fordern. Wir konnten nur tun, was wir gewohnt waren: zu fordern. Wie sollten wir das Wort Verzicht kennen!

Wir hatten die Rechnung im wahrsten Sinne des Wortes ohne die Wirtin gemacht.

Plötzlich knarrte es in den Wänden. Das schreckliche Gefühl von Enge wurde unerträglich. Das Unbehagen steigerte sich zur Angst, zur Panik. Kaum nahm ich die Bewegung wahr, die mich erstmals in eine Richtung trieb. Richtung, eine schwache Erinnerung tauchte auf mit diesem Wort, rosa gefärbt und angenehm, Geschwindigkeit und Hoffnung. Eine Richtung! Aber jetzt war alles anders, völlig anders. Der Druck wurde noch grösser und löschte für eine Zeit, deren Dauer ich nicht schätzen konnte, alle Empfindungen aus. Würde ich, würden wir vernichtet?

Fühle ich dahin zurück, ist da eine grosse Lücke, eine Art Nichtsein zwischen verschiedenen Formen der Existenz.

Plötzlich war der Druck weg – einfach weg, nicht bloss abnehmend oder milder, sondern weg.

Und ich fühlte, wie sich etwas in mir dehnte, dehnte und dehnte, als wolle es die vorige Beengung tausendfach überbieten und eine neue Grenze erreichen. Ich wusste damals nicht, dass das, was mir dabei entfuhr, ein Schrei war.

Ich weiss nicht, ob man mir wie üblich eins auf den Hintern klopfte, um mich zum Schreien zu bringen. Aber ich habe den Eindruck, dass mein erster Schrei erwünscht war.

Deshalb schreie ich – hiermit – weiter. Ich habe dem Wort «schreien» bloss ein kleines b eingefügt.

EIN TAG IN MEINEM LEBEN

Da war ein Tag in meinem Leben

Da gabs ein ungeheures Beben

Dann gab es – mich

Und wie ich noch am Werden war

Da braucht’ ich – dich.

TEIL 2

IM LANDESINNEREN

AUS DEM EINEN SCHOSS AUF DEN ANDEREN

Wer denkt, seine Geschichte würde mit der Geburt beginnen, irrt. Es gibt viele frühere Geschichten. Sie fügen sich zusammen wie Bäche, die von den Bergen herabsprudeln, sich in einem Flüsschen sammeln und schliesslich zu einem Fluss vereinigen.

Wir sind aber gewohnt, unsere eigene Historie mit der Geburt beginnen zu lassen.

Ich war gewiss kein geplantes Kind. Ich war ein Nachzügler in schwieriger Zeit. Zwei Jahre zuvor war der Krieg zu Ende gegangen. Man traute dem Frieden nicht. Der Krieg hockte in den Knochen, obgleich er nicht ins eigene Land gekommen war. Die Frauen und Mütter hatten sich mit der Rationierung der Lebensmittel herumplagen müssen. Die Männer und Väter waren im Aktivdienst gewesen oder hatten sich um den Erwerb eines mageren Einkommens bemüht.

Nach den Erlebnissen von zwei Geburten, bei denen die Mutter während der ganzen Wehenzeit nichts zu essen bekommen hatte, war ihr nun, bevor sie ins Spital fuhr, ein anständiges Morgenessen das Wichtigste. Nüchtern, wie es verlangt wurde, wollte sie im Spital nicht ankommen.

Der Onkel fuhr sie mit dem Firmenlastwagen Marke DeSoto von Mellingen ins Spital nach Baden. Sie mögen wohl um zehn Uhr morgens dort eingetroffen sein. Abends um acht hätte ich dann das Licht der Welt erblickt, so sagte man mir. Aber ich muss wohl die Augen ganz schnell wieder geschlossen haben, um nicht zu viel von ihr abzubekommen.

Eine Geburt war damals nicht nur die grosse Sache, die sie nun einmal ist, sondern auch eine medizinisch umfassend umsorgte Angelegenheit. Geboren wurde nur im Spital. Denn Gebären war eine «Frauenkrankheit». Nach der Geburt blieben die Mütter mit den Neugeborenen fünf bis zehn Tage im Spital. Die Mutter galt als erholungsbedürftig. Die Kinderkrankenschwestern kümmerten sich um die Kinder in speziellen Neugeborenensälen, die Hebammen brachten die Säuglinge zu den festgelegten Stillzeiten zur Mutter. Es war eben doch etwas hängen geblieben von der strengen Zucht der Kriegszeit.

In diesen Spitaltagen las meine Mutter einen neunhundertseitigen Roman, «Vom Winde verweht». Mit dem Stillen wollte es nicht so recht klappen, da hatte auch das Morgenessen nichts genutzt. So wurde ich von Beginn weg zum Flaschenkind.

Unsere Familie wohnte damals bei Onkel und Tante in zwei kleinen Zimmern im Obergeschoss eines hölzernen Häuschens. Die versprochene Wohnung war noch nicht bezugsbereit.

Der Onkel holte die Mutter nach den obligatorischen Spitaltagen ab. Das Häuschen wurde zu meiner ersten, kaum bewusst wahrgenommenen Heimat.

Später habe ich erfahren, dass alles, was einmal war, eingeschrieben bleibt und irgendwann wieder auftauchen kann. Es braucht bloss einen kleinen Pfad, der zum Vergessenen hinführt. Der Wind vermag nichts, was war, vollends zu verwehen.

Nach dem Schoss, der mich ziemlich mühelos herausgewürgt hatte – ich sage nachträglich lieber: dem ich entschlüpft war –, landete ich für Jahre auf dem Schoss der Grossmutter.

Das hatte mit der wirtschaftlichen Situation unserer Familie zu tun. Der Verdienst des Vaters reichte nicht aus, die Mutter musste mitverdienen und die AHV, die der Pöstler der Grossmutter jeden Monat brachte, musste ebenfalls eingerechnet werden, um die sechs hungrigen Mäuler zufriedenzustellen.

Die Grossmutter war zu Hause. Zum Zeitpunkt meiner Geburt sechsundsechzig Jahre alt. Sie war rundlich, weich und trug stets einen schwarzen Rock und drüber eine graue, gemusterte Schürze. Ihre grauen Haare waren im Nacken zu einem Pfürzi zusammengekringelt. Auch ihr Kopf war rundlich, das Rundköpfige in der Familie stammt aus ihrer Linie. Ihre Augen blickten streng. Sie hatte sechs Kinder aufgezogen, war nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes eine zweite Ehe eingegangen, die bis zur zweiten Witwenschaft gedauert hatte.

Damals hatte die Grossmutter für mich keine eigene Geschichte, nicht einmal einen Namen (sie hiess Flora). Sie war einfach da und hiess Grossmami. Eine zweite Aufenthaltsmutter, ein Zufluchtsort für mich, den Kleinsten, der versuchte, sich in den Familienverband einzuleben, den Anschluss zu finden zur viereinhalb Jahre älteren Schwester und zum dreieinhalb Jahre älteren Bruder. Ich stiess an, stolperte und stürzte, kam mir manchmal lächerlich klein vor und ab und zu gross, unbesiegbar, stolz und glücklich.

In meiner Erinnerung sitzt Grossmami in ihrem Sessel beim Fenster. Sie blickt über die Geranien hinweg auf die Strasse. Oder sie blättert am Tisch in ihren illustrierten Wochenblättern.

Tatsächlich führte sie den grössten Teil des Haushalts, schickte den grossen Bruder und die grosse Schwester in den Kindergarten und nahm sie wieder in Empfang und sorgte für mich kleinen Knirps.

Sie war eine resolute Dame; wenn sie befahl, gab es keine Widerrede, das geboten ihre steilen Falten und ihre schmalen Lippen. Das Bild des dauernd verkniffenen Munds passt in eine spätere Zeit, in die Zeit der ätzenden Worte gegen den Vater, den sie nicht mochte, und gegen die Schwester, mit der sie das Zimmer teilen musste.

Mir gegenüber blieb sie meist sanft. Aber ich hatte Respekt vor dieser anderen Seite der Grossmutter. Ich hütete mich, diese herauszufordern, lernte auch, wohlwollende Stimmung zu erzeugen und das zu tun, was ich meinte, in ihren Augen tun zu dürfen. Ich kannte die böse Grossmutter im Hintergrund. Für mich blieb sie die gute Mutter.

Zweimal pro Jahr reiste sie mit mir für zwei Wochen per Bus und Zug nach Mellingen, zu ihrer älteren Tochter; dorthin, wo ich meine ersten Monate verbracht hatte. Die Reise war als Entlastung der Familie gedacht: das kleinste Kind und die Grossmutterkonflikte weg. Ich ahnte nichts von alledem, für mich war es grossartig.