Das Vermächtnis von Synaton III - Carlotta Oertel - E-Book

Das Vermächtnis von Synaton III E-Book

Carlotta Oertel

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Beschreibung

Emilia und Ewin machen sich mit dem flammenden Schwert zurück auf den Weg zu der Armee von Oragon, um den Krieg ein für alle mal zu beenden. Doch der Weg, den die beiden beschreiten müssen ist finster und gefährlich. Und dann erfahren sie, dass sich die letzte der Sinaja nicht wie geglaubt tot oder in Gefangenschaft befindet, sondern auf freiem Fuß. So macht sich die Kalinor auf um das Wesen zu finden, welches vielleicht die letzte Chance ist, einen aussichtslos erscheinenden Krieg zu gewinnen. Aber kein Kampf geht spurlos an den teilnehmenden vorbei und Emilia muss nicht nur um ihr eigenes Leben fürchten, sondern das aller, die ihr lieb sind.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carlotta Oertel

Das Vermächtnis

von

Synaton III

Carlotta Oertel

Texte: © Copyright by Carlotta Oertel

Umschlaggestaltung: © Copyright by Carlotta Oertel

Verlag:Astrid OertelGroendelle 842555 Velbert

Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

Prolog7

Der Anfang vom Ende16

Eine verlassene Stadt60

Eine Entdeckung71

Die Melodie des Feuers87

Liebe im Herzen bringt die Freiheit des Geistes130

Ein Teppich aus Sternen167

Wieder allein192

Zu dritt229

Draufurt250

Blaues Feuer, blanker Stahl265

Talkin und Ryaxa282

Einer muss gehen293

Freunde und Familie314

Tanz der Flammen340

Schlimmer als Tod?362

Was Freunde bewirken können375

Unter der Rotbuche378

Was es heißt, ein Mensch zu sein391

Wieder vereint407

Freundschaft und Liebe419

Käuzchen bringen Unglück431

Musik der Klingen439

Die letzte Etappe462

Kampf um Leben und Tod475

In dunkle Tiefen494

Der Gesang der Toten510

Ein lang ersehntes Wiedersehen527

Epilog

Prolog

Das Dunkel der Nacht drückte auf Eldurs Gemüt. Er war noch nie ein Freund der Dunkelheit gewesen. Als Kind war er nachts immer zu seinen Eltern ins Bett gekrochen, weil er sich vor der Schwärze gefürchtet hatte. Diese Zeiten waren nun vorbei. Er brauchte den tarnenden Mantel der Nacht, um sich zu verbergen. Hier waren nun überall Feinde. Kein Ort schien mehr sicher zu sein. Außer vielleicht, wenn Anyas Geschichten wahr waren.

Der junge Mann hatte seine Schwester lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nicht, seit sie beide geheiratet hatten. Er selbst wanderte weit durch die Lande, von einem einzigen Wunsch besessen. Er glaubte fest daran, dass es irgendwo in dieser weiten Welt noch einen Sinaja gab. Es konnte einfach nicht möglich sein, dass eine ganze Art einfach so von der Erdoberfläche verschwand. Anya hatte immer von der anderen Welt gesprochen, die hinter den Toren lag. Sie hatte diese Welt sogar einmal besucht und viel darüber gelernt. Eldur verspürte jedoch kein Verlangen, die drei Länder zu verlassen. Wer konnte schon wissen, ob nicht über dem Meer auch in dieser Welt noch andere Länder nur darauf warteten, erkundet zu werden. Aber erst einmal mussten sie die Feinde aufhalten. Das würde schwierig werden, denn sie waren stark. Sehr stark.

Eldur hatte erst sieben Torkinlarnt adrinromal im Kampf gegenübergestanden. Keines der Male hatte er in guter Erinnerung. Zwar war er ein Kalinor und somit sehr kampfbegabt, jedoch hieß das nicht, dass er gerne kämpfte. Mit den Fingern fuhr er über seinen Schwertgriff. Die Kühle des Metalls gab ihm Mut. So oder so, der Krieg würde bald vorbei sein, ob gewonnen oder verloren. Um ehrlich zu sein, Eldur glaubte nicht mehr an einen Triumph. Deswegen war seine Schwester so viel beliebter. Wer konnte es der Armee schon verübeln? Wer wollte schon einen grimmigen Anführer, der keine Hoffnung mehr hatte? Zwar wurde ihm als Kalinor und Prinz von Alenach viel Respekt gezeigt, jedoch war allen klar, wer von den Geschwistern der Thronerbe war. Wer Königin war, gewissermaßen.

Anya

Sie war die Richtige dafür. Sie hatte auch den Richtigen geheiratet. Johann konnte ihr dabei helfen. Eldurs Frau Marie war glücklich, dass er nicht König werden würde. Ihrer beider Eltern waren gestorben, und es hatte in letzter Zeit keine Möglichkeit gegeben, eine Krönung durchzuführen. Der junge Mann fragte sich manchmal, ob eine Krönung, feierlich und alles, überhaupt das Richtige sein würde. Wäre es nicht besser, wenn es überhaupt keine Könige mehr gäbe? Oder, wenn doch, was sprach dagegen, wenn der König aus dem Volk stammte? War es nicht unfair, dass seit Jahrhunderten immer dieselbe Familie geherrscht hatte? Doch dieses Denken wurde von allen als absonderlich angesehen. Niemand fragte sich hier jemals, ob das mit den Königen und Königinnen richtig war. Das war fast das Einzige, was Eldur aus Anyas Geschichten aus der anderen Welt behalten hatte. Dort gab es kaum noch Könige. Und fast überall wurde die Sprache ihrer Welt gesprochen. Die Sprache, die jedes Kind neben seiner eigenen lernte. Erion. Diese Sprache sprach man anscheinend in einem ähnlichen Sinne in der gesamten anderen Welt, die sehr viel größer war als die drei Länder. Konnten sie sich an dieser fremden Welt ein Vorbild nehmen? Sollten sie es? Wäre es möglich, im Falle einer Niederlage Menschen dorthin zu evakuieren?

Nicht, dass eine Fluchtmöglichkeit für ihn interessant gewesen wäre. Er würde die Länder nie verlassen. Er würde bis zuletzt für Alenach kämpfen. Alenach war sein Land, sein zu Hause, seine Verantwortung. Eldur hoffte auf einen Sieg, glauben aber tat er nicht daran. Sein Herz sagte ihm außerdem, dass, ob gewonnen oder verloren, er das Ende des Krieges nicht mehr erleben würde. Dabei wollte er doch noch so gerne sein Kind kennenlernen. Marie war schon einige Zeit schwanger. Die Geburt würde bald vor der Tür stehen. Er hoffte, dass Marie bis dahin noch leben würde und auch danach, um ihrer beider Kind aufzuziehen, wenn auch vielleicht ohne ihren Mann. Sie sollte ihrem Sohn oder ihrer Tochter, Eldur hoffte sehr, dass es ein Mädchen werden würde, der Mutter ähnelnd, erzählen, in was für einer Welt ihr Vater gelebt hatte und dass er alles getan hatte, um sie sicher zu machen, um seinem Kind ein glückliches Leben zu gewähren.

Ein Geräusch zerriss die Nacht. Eldur war sofort in Alarmbereitschaft. Er zückte sein Schwert und sah hinaus in die Dunkelheit.

„Sar konar a misalo Sinaja Kalinor ada utelnar. Ak farinata ulomo”, flüsterte der Prinz in seiner Muttersprache. Die Worte kamen ihm leicht über die Lippen. Ich bin ein Freund der Sinaja und Kalinor. Friede soll zwischen uns sein.

Ein weiteres Rascheln und von fern ein Ruf, ähnlich dem Ruf eines Käuzchens, und doch anders. Eldur unterdrückte jede Art von Angst. Er war weitab von allen Menschen. Hier konnten keine Feinde lauern, jedoch auch keine Freunde, oder vielleicht doch? Die Feinde waren überall. Hatte er nicht die verhasste Nacht zum Reisen ausgesucht, um den Feinden zu entkommen?

Zu hoffen war nur, dass sich hier die Sinaja befanden. Oder wenigstens einer aus diesem Volk. „Bespat, salar kar“, bat der junge Mann. (Bitte zeige dich). Plötzlich wurden seine Augen von einem hellen Licht geblendet. Es war kein Feuer, oder jedenfalls kein richtiges. Das Licht zwang ihn, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, stand dort ein Wesen. Seine schwarzen Schuppen reflektierten das schwache Mondlicht.

Es hatte die Größe eines kleinen Ponys, allerdings eine gänzlich andere Gestalt, die eher einem übergroßen Otter mit Schuppen ähnelte, welche wie geschliffener Obsidian glänzten. Die Augen waren rot, doch dieses Rot war anders als das der Augen der Torkinlarnt adrinromal. Es war glänzender, schöner, nicht so angsteinflößend. Ein Knurren kam tief aus der Kehle des Tiers.

„Ich komme in Frieden“, wiederholte Eldur in seiner Muttersprache. Er wusste, dass Sinaja nicht sprechen konnten, sie waren aber intelligent und verstanden, was Menschen sprachen.

Langsam näherte sich die Sinaja. Es musste ein Weibchen sein, denn Männchen hatten in ihrer Zornesgestalt orangefarbene Augen. „Mein Name ist Eldur. Ich bin ein Erbe Vrenas. Ich, genau wie sie, bin ein Freund der Sinaja. Ich bin weit gereist, um einen eurer Art zu finden. Ich wollte nicht glauben, dass eine so wundervolle Art verschwunden ist“, fuhr der Mann fort. Er kam sich seltsam dabei vor, ein Gespräch zu führen, in dem er keine Antwort bekommen konnte. „Bitte, wir brauchen die Stärke der Sinaja, um den Krieg zu gewinnen“, flehte er. „Kannst du uns nicht unterstützen?“.

Die Sinaja stand nun direkt bei ihm, die Schnauze nur Zentimeter von seinen Beinen entfernt. Sie blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Flammen hüllten sie ein, weniger grell als das erste Mal. Es erlosch zuerst am Kopf und weiter bis hin zum Schwanz. Es schien die schwarzen Schuppen aufzusaugen. Zurück ließ es einen dicken, flauschigen graubraunen Pelz, gemeinsam mit grünen Augen.

„Heißt das, dass du uns helfen wirst?“, fragte Eldur. Das Wesen legte den Kopf schief und stieß ein Fauchen auf. Es stupste seine Schwertklinge mit der Nase an, bevor es wieder in der Dunkelheit verschwand. Verdattert blieb der Kalinor zurück. Seine Hand um das Schwert geklammert, welches auf einmal seltsam warm schien. Hatte er sich alles nur eingebildet? Oder wollten die Sinaja ihm nicht helfen? Hatte diese Berührung seiner Waffe etwas gebracht, oder war sie nur ein Abschiedsgruß gewesen?

Was auch immer es zu bedeuten hatte, eine Sache ließ sich nicht bezweifeln: Auch wenn sie vielleicht nicht kämpfen wollten, es gab noch freie Sinaja auf dieser Welt. Oder wenigstens eine.

Der Anfang vom Ende

„Kannst du mir einmal den Ast dort anreichen?“, bat Emilia Ewin. „Ich brauche mehr Holz, wenn dieses Feuer noch weiter brennen soll“.

„Klar doch“.

Der schwarzhaarige Junge gab ihr einen knorrigen Ast, dicker als Emilias Oberarm. „Danke“.

Andere Gespräche führten die beiden kaum. Nicht, seit sie nur noch zu zweit waren. Nicht, seit Rufus gestorben war. Doch heute schien Ewin etwas sagen zu wollen. Emilia kannte ihn inzwischen ziemlich gut und merkte es an der Art, wie er sich auf die Lippe biss. Sie sah ihn auffordernd an.

„Meinst du, Lilien geht es gut?“, fragte er. Er liebte die hübsche Prinzessin schon seit langem. Emilia vermisste ebenfalls ihre goldhaarige Freundin. Ebenso Viktoria, die Prinzessin von Synaton, Thomas, ihren Kammerdiener, Loan, Liliens Leibwächter und am allermeisten ihre beiden kleinen Geschwister, Mio und Rebekka. Die beiden waren sieben und neun Jahre alt und nicht mit ihr auf die Suche nach dem flammenden Schwert gekommen. Darüber war die Vierzehnjährige auch sehr dankbar, jedoch mochte sie es nicht, von den beiden getrennt zu sein. Vor allem, da Mio schwer krank war. Sie selbst hatte ihn aus den Klauen der Feinde gerettet. Auf der Flucht hatte dann ein Speer Mio in den Bauch getroffen. Nun wurde der kleinen Junge in der Krankenstation der Burg in ta stall de Manor Oragon gepflegt. Ob es ihm schon wieder besser ging?

„Lilien geht es gut“, sagte die Prinzessin fest. „Wenn wir die Hoffnung daran verlieren, dass die, die wir lieben wohlauf sind, was bleibt uns noch?“.

„Du hast recht“, stimmte ihr Weggefährte zu. „Ich hoffe nur, dass wir die anderen bald wiedersehen werden. Loan und Lilien, Viktoria und den Rest. Außerdem hoffe ich, dass es Awin gut geht. Ich verstehe ihn einfach nicht, Emilia. Er verlässt mich, um seiner wahnsinnigen Geliebten zu folgen, die uns verraten hat? Von der er noch nicht einmal gesprochen hat, bevor wir zusammen aufbrachen? Klar, mir ist aufgefallen, dass er viel über sie wusste, aber ich dachte, er fände sie einfach toll, nicht, dass es etwas Ernstes sein könnte. Aber wahrscheinlich sollte ich dankbar sein. Wäre er bei uns gewesen, dann…“.

Seine Stimme verlor sich.

„Ich weiß“, hauchte Emilia. „Er wäre nun tot und tief begraben. Ich denke die gesamte Zeit etwas Ähnliches. Ich wünschte, dass ich bei Mio und Rebekka sein könnte. Jedoch würde das heißen, dass die Kleinen hier bei uns wären. Keine große Schwester kann ihren Geschwistern so etwas antun. Wären sie mit uns gekommen, wären sie nun ziemlich sicher tot. Das hätte mich in den Wahnsinn getrieben. Der Gedanke, dass die beiden sicher sind, hat mir immer Mut gemacht“.

Ewin stieß einen langen Seufzer aus. „Was werden wir nun tun? Gehen wir wieder nach ta stall de Manor Oragon?“.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube eher nicht. Was können wir dort schon ausrichten? Wir müssen in den Krieg ziehen, unsere Truppen unterstützen. Jedenfalls ich muss das tun. Dir ist erlaubt, deinen eigenen Weg zu gehen“. Stille. Überlegte ihr Freund, ob er sie auf der Stelle verlassen sollte, um nach seinem Bruder zu suchen?

„Emilia“. Ewin klang wütend. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich nach all dem, was wir zusammen durchgemacht und erlebt haben, alleine lasse. Du brauchst Jemanden an deiner Seite! Ich bin das Einzige, was dir noch bleibt!“.

Eine Weile schwiegen die beiden wieder, das taten sie viel zu oft.

„Es tut mir leid“, meinte die Kalinor, als sie es nicht mehr länger aushielt. Heute hatten sie zum ersten Mal nach vielen Tagen mehr als einige wenige Worte gewechselt und es hatte Emilia klar gemacht, wie sehr sie sich nach einer Unterhaltung gesehnt hatte.

„Natürlich habe ich Vertrauen in dich! Es ist nur so, dass ich nicht möchte, dass noch jemand für mich stirbt. Nicht nach Rufus“. Ihre Stimme brach. Der Schmerz wallte mit voller Stärke in ihrer Brust auf, nahm ihr den Atem. Rufus. Das immer fröhliche Mädchen mit der dunklen Haut, den schwarzen, nie ordentlichen Locken, den Sommersprossen, den freundlichen grünen Augen. Ihre Freundin, gestorben auf einer Reise, zu der die Kalinor sie mitgenommen hatte.

„Lass uns weiterreiten“, schlug Emilia vor. Es war zwar stockfinster, aber sie würde so oder so nicht schlafen können. Sie musste etwas tun. Reiten würde das Richtige sein. Sie musste etwas tun, was sie von dem riesigen Loch in ihrer Brust ablenken würde. Reiten, in Bewegung zu sein, gab die Illusion, etwas zu tun zu haben, einen Plan zu haben.

„Wo willst du entlang?“, fragte Ewin. In den Tagen, nachdem sie das flammende Schwert gefunden hatte, waren die zwei etwas planlos durch die Gegend gezogen. Jedoch mussten sie bald entscheiden, wo ihr Ziel lag. Emilia zog ihren Kompass aus der Tasche.

„Wir reiten nach Südwesten. Genau auf die Gefahr zu. Ich will so viele von ihnen erwischen, wie nur möglich. Wir kommen auf dem Weg außerdem an vielen belagerten Städten und Dörfern vorbei. Wir sollten den Leuten Mut machen, im Kampf gegen sie“.

Ewin fragte nicht, wer sie waren. Er wusste es nur zu genau.

Die beiden sattelten ihre Pferde und zäumten sie auf. Die Prinzessin nahm Orims Strick, Ewin noch den des zweiten Packpferds, einer Tiger-Schecken Stute. Der Junge nannte sie Javila, was in Orian Regenwolke bedeutete. Sie war ein treues Packpferd. So ritten die zwei Teenager zusammen in die Nacht hinein, immer Richtung Südwesten. Sie verfielen einmal mehr in das ewige Schweigen, während die Sonne aufging, und höher und höher stieg, bis ihre Strahlen kaum noch Schatten ließen.

Die August-Hitze brannte nur so auf die zwei einsamen Reisenden herab. Die Zeit verging. Aus August wurde September. Emilia begann sich zu fragen, ob diese Reise je enden würde, oder ob sie und Ewin für den Rest ihres Lebens durch Alenach reiten würden.

„Emilia, siehst du das da am Horizont?“, fragte der Junge aus Oragon.

„Meinst du die große Rauchwolke?“

„Ja. Aber da ist noch etwas. Ich glaube, ich erkenne die Dächer eines oder mehrerer Häuser“, erklärte Ewin. „Vielleicht ist es ein Dorf“.

„Könnte gut sein. Und, dem Rauch nach zu urteilen, ist dieses Dorf in Schwierigkeiten. Lass uns nachsehen“. Ihr Weggefährte sah sie zweifelnd an.

„Solltest du nicht eher verborgen bleiben? Ich meine, du bist eine Kalinor und besitzt das flammende Schwert. Wenn das herauskommt, wirst du die erste auf der Abschussliste der Feinde sein“.

„Verstehst du denn nicht, Ewin? Das ist genau das, was ich möchte. Ich will, dass Feinde zu mir kommen. Ich will dieses Land von diesen abartigen Schattengestalten befreien“. Da merkte sie plötzlich, was sie sagte, und ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Habe ich mich so sehr verändert? Bin ich verrückt geworden? Wollte sie nun einfach nur Rache? Das konnte nicht sein. Nein, eigentlich sehnte sie sich nach Frieden, ihren Freunden und Geschwistern. Und am meisten nach den tröstenden Armen eines Elternteils, die sie vor Unglück beschützten, ihr sagten, war sie tun sollte. Doch all dies war nicht möglich.

„Lass und gehen und etwas zum Sieg beitragen. „Ich will so schnell wie möglich wieder Frieden haben“.

*

Viktoria stand neben einem Grabstein. Er war alt und mit Flechten bewachsen, jedoch waren immer noch die Spuren einer menschlichen Hand darauf zu sehen, die ihn geformt, poliert und beschriftet hatten. Es war der zweite, den sie in der letzten Zeit sah. Ungern dachte das Mädchen an den Besuch in ihrem Geburtsdorf zurück. Der Schmerz ihrer Verluste war dort so deutlich gewesen, hatte sich in sie gefressen und die Prinzessin fast zerstört. Sie hatte versucht, nicht auf die verkohlten, kaum noch sichtbaren Ruinen des einstigen Dorfes zu achten, in dem sie aufgewachsen war.

Danach waren es zwei weitere Reisewochen gewesen. Nun, an einem bewölkten Vormittag stand die Gruppe an einem Ort, der, wenn sie richtig gelegen hatten, das Ziel war. Die Prinzessin hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. Mit zitternden Händen nahm sie die Brosche von ihrem Hemd und bettete diese sanft in die Farne vor dem Grabstein. Danach nahm sie das Bündel zur Hand, welches in den letzten beiden Wochen der Reise an Swikos Sattel gehangen hatte. Daraus zog das Mädchen eine wunderschöne kupferfarbene Krone. Sie war aus Roségold gefertigt und mit grünen Steinen besetzt. Ein Wunder an handwerklichem Geschick musste sie geformt haben, denn sie war klein und hatte keine Zacken, strahlte aber trotzdem eine Schönheit und Anmut aus, die sie größer wirken ließ.

Die Krone fand ihren Platz neben der Brosche.

Alles blieb still und ruhig, nichts veränderte sich. Viktoria musste sich überwinden, um ruhig zu bleiben. Sie flüsterte in Faronth die Strophe des Gedichts, die für Synaton bestimmt war:

„Ich öffne mich erst wenn die Zeit ist da

Wo meine Gaben werden rar

Wenn die Dunkelheit sich senkt

Ihr Hilferufe zu mir lenkt

Wenn Krieg überzieht mein Heimatland

Reiche ich euch meine helfende Hand

Kommt zu dem Ort wo ich begraben

Und bringt mir meine ältesten Gaben

Denn ich bin der Geist von dem man hört

Dass er selbst die Toten schon verstört“.

Es geschah wieder nichts. „Verdammt“, zischte Viktoria. „Öffne dich doch! Hilferufe wurden ausgesprochen, dein Heimatland ist von Krieg überzogen. Dunkel liegt über dieser gesamten Welt. Ich, Prinzessin von Synaton stehe hier an deinem Grab, dort liegen deine ältesten Gaben und du bist Kalakon, dessen Geist in der Geschichte angeblich schon die Toten verstörte. Öffne dich nun und gib mir den Bogen!“.

Beschimpfen schien auch nichts zu bringen. Viktorias Augen suchten die Umgebung ab, versuchten etwas zu finden, was ihr vielleicht helfen konnte. Was war das, was aus dem Farngebüsch hervorlugte? Mit schnellen Schritten war das Mädchen da, schlug die grünen Pflanzen einfach beiseite.

Dort, mitten im Boden, war eine Steinplatte eingelassen. Darin befanden sich zwei Schlüssellöcher-artige Öffnungen, die genau die Form der Krone und der Brosche hatten. Wie hatte sie etwas Derartiges nur übersehen können?

Aufregung und Hoffnung kamen in Viktoria hoch. Vielleicht war das ja des Rätsels Lösung. Wieder zitternd platzierte die Prinzessin die Gaben von Kalakon in die Öffnungen, drehte beide herum, bis es zweimal klickte. Sie wagte es kaum zu atmen. Ein Knacken ertönte. Die Gegenstände fielen durch die Löcher und in die Tiefe. Es kam kein Geräusch eines Aufpralls. Das Mädchen drückte leicht gegen die Luke und siehe da, sie schwang quietschend nach innen. Darunter befand sich eine Leiter, die ein Stückchen nach unten ging. An ihrem Ende konnte Viktoria eine kleine Höhle erkennen. Mit klopfendem Herzen stieg sie hinab. Ihre Wachen folgten ihr zögernd.

Die Leiter war aus dicken starken Ästen gefertigt. Offensichtlich waren schon viele vor dem Mädchen hier gewesen, denn die Sprossen waren glatt von der vielen Nutzung. Dennoch wies das Holz keine Spur von Instabilität oder Vermoderung auf, wie auch, hier war es völlig trocken.

Die Höhle unten war niedrig, Viktoria stieß sich beinahe den Kopf. Sie war auch nicht besonders groß und kreisrund. In der Mitte stand ein Podest, worauf sich ein Ständer befand. Und auf dem Ständer lag ein wunderschöner, silbern glänzender Bogen. Die Sehne war kupferfarben, Smaragde verzierten die Waffe. Daneben stand ein Köcher bereit, gefüllt mit dreißig metallenen Pfeilen.

Als der Bogen die Hand der Prinzessin berührte, stiegen Flammen um ihn herum auf, weiß und blau. Offenbar erkannte er sie als seine neue Herrin. Eine gewaltige Last schien von ihren Schultern zu fallen, eine Kraft, die versucht hatte, sie zu den Feinden zu ziehen. Das Vermächtnis war von ihren Schultern genommen. Es tut mir so leid, Selvin, dass ich das Erbe für mich beanspruche. Das alles tut mir leid. Das alles.

*

Freiheit. Das Wort klang selbst in seinen Gedanken seltsam. Wie konnte es sein, dass er frei war? Nach all den Qualen nicht der Tod, sondern frische Luft und grünes Gras, saubere Kleidung und Nahrung? Hatten die Götter Mitleid mit ihm gehabt?

Wie auch immer es zu diesem Moment gekommen war, nun war er hier, in einem Lager der Streitkräfte Oragons. Gebettet lag der Junge auf einer Pritsche, die sich wiederum in einem Zelt befand. Jedenfalls in der Nacht. Wenn gutes Wetter war, bat Selvin seine Heiler oft, seine Schlafgelegenheit nach draußen zu tragen, damit er die frische Luft und die Sonne genießen konnte. Langsam gewöhnte sich der Prinz an das helle Licht. Sein Körper wurde immer stärker, gesünder. Er fühlte sich mit jedem Tag besser. Von Zeit zu Zeit stand er sogar auf und lief ein Stück, um seine Beine daran zu hindern, schwach zu werden.

Die Wunden heilten, jedenfalls die körperlichen, die Schmerzen schwanden. Was nicht schwand, war seine Wissbegierde. Selvin wollte alles wissen, was geschehen war, nachdem seine Gefangenschaft begonnen hatte. Doch leider wussten seine Pfleger und die Leute im Lager, mit denen er sprach, nicht besonders viel. Wenigstens konnten sie ihm sagen, dass seit seiner Gefangennahme fünf Jahre vergangen waren. Die einzigen anderen wichtigen Informationen, die er ihnen entnehmen konnte, waren, dass ein neuer Krieg heraufzog, die Kalinor wieder aufgetaucht waren, es zwei Erbinnen aus Oragon gab, und, am wichtigsten, dass seine Schwester lebte.

Die Leute, denen er begegnete, sprachen voller Ehrfurcht von den Erben der Reiche und erwähnten dabei oft Viktoria. Viktoria Eronala nannte man sie. Eronala war ein Titel, der so viel bedeutete wie Friedensbringerin. Es wurde auch als Anrede für Könige benutzt, Könige von Synaton. Manchmal auch Thronerben aus Synaton. Dies galt als höflich. Selvin war froh, dass diese Last nicht auf ihn gefallen war. Ob diese Leute hier ahnten, dass die Prinzessin und Thronerbin von Synaton sein Zwilling war? Wenn diese Menschen sie schon einmal gesehen hatten, dann mussten sie es zumindest vermuten. Bis auf die verschiedene Haarlänge und die Tatsache, dass er ein Junge und sie ein Mädchen war, hatten die zwei sich immer bis aufs Haar geähnelt.

Dann kamen ihm Zweifel. Immerhin wusste der Junge ja nicht, wie sich seine Schwester in den vergangenen Jahren verändert hatte. Und er selbst. Selvin hatte seit Jahren keinen Spiegel mehr zu Gesicht bekommen.

Der Junge setzte sich auf und stellte seine nackten Füße ins weiche Gras. Es war eine Wohltat. Seine Haut war von Narben übersät, selbst an seinen Füßen, aber wenn er sie ansah, staunte er trotzdem. So sauber, glatt und weich war seine Haut seit seiner Gefangennahme nicht mehr gewesen. Ein ganz neues Gefühl des Wohlbefindens.

Auf einmal hörte er ein Rascheln in der Nähe und fuhr blitzartig herum. Der Prinz konnte sich nicht wirklich daran gewöhnen, dass hier niemand war, der ihm Böses wollte. Wenn jemand plötzlich von hinten kam, erwartete der Junge einen Peitschenschlag, eine Ohrfeige, im geringsten.

Aber hinter ihm stand eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren und einer Menge Sommersprossen. Sie lächelte ihn freundlich an und schien nicht irritiert von seiner plötzlichen, abwehrenden Bewegung, wie es viele hier waren, wenn er etwas Derartiges tat.

„Hallo Selvin“, sagte die Frau. „Ich bin Generalin Romilda. Ich bin hier, um mit dir zu sprechen, jetzt, wo es dir besser geht“.

Er starrte sie nur an. Etwas an dieser Frau kam ihm komisch vor. Warum lächelte sie ihn an? Warum sah sie so freundlich aus? Sie kannte ihn doch gar nicht!

„Wer schickt euch?“, fragte der Prinz. Oh nein, hatte er da jetzt unfreundlich geklungen? Er hatte sich nur seit Jahren nicht mehr normal mit einem Menschen unterhalten und wusste deswegen nicht, wie er mit anderen Personen reden sollte.

„Niemand schickt mich“, antwortete Romilda. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte weiter. Diese Geste, diese simple Bewegung der Hände, nur um die Haare aus dem Weg zu haben rührte etwas tief in Selvin. Es war etwas so Alltägliches, Normales, Friedliches.

„Ich habe gehört, dass du aus dem Lager der Feinde befreit wurdest und seither viele Fragen hattest, was meiner Meinung nach nur zu verständlich ist. So beschloss ich, dass es Zeit wird, dich in einigen Bereichen aufzuklären“.

„In welchen zum Beispiel?“. Hoffentlich klang er halbwegs normal. Da wechselte die Generalin auf einmal die Sprache.

„Lauf doch ein Stückchen mit mir“, forderte sie Selvin in Faronth auf. Sofort erhob er sich und lief neben ihr her. Auf seinen verwirrten Blick hin meinte Romilda: „Ich dachte, es wäre schöner für dich, in deiner Muttersprache zu kommunizieren und eine Abwechslung. Außerdem kommen meine Eltern ebenfalls aus Synaton und haben mit mir immer diese Sprache gesprochen“.

„Ich spreche auch die andere Sprache gut, ich bin mit zwei Sprachen aufgewachsen“, erklärte der Junge. „Und woher wisst ihr, woher ich komme?“. Seine Gesprächspartnerin lachte klingelnd. „Mein lieber Junge, ich habe viel Zeit mit der Prinzessin von Synaton verbracht. Du ähnelst ihr auf Haar. Die Verwandtschaft ist da nicht zu leugnen. Außerdem merke ich es an der Art, wie du redest. Zwar hast du keinen starken Akzent, die meisten würden ihn nicht bemerken, aber ich kenne mich mit so etwas aus. Du klingst wie jemand, der aus Synaton stammt. Außerdem habe ich mich lange danach gesehnt, mit jemandem auf Faronth zu reden. Hier im Lager gibt es nur Soldaten aus Oragon und Alenach“.

„Oh“, machte Selvin, weil ihm nichts einfiel, was er sagen konnte.

„Nun zu den Ereignissen, die nicht weit zurückliegen“, begann die Frau. „Weißt du, wie es kam, dass wir die Stadt, in der du gefangen warst, fanden und die Schwachstellen der Feinde kannten?“. Er schüttelte den Kopf.

„Dachte ich es mir. Jedoch nehme ich stark an, dass dir der Name Lavinia bekannt ist“. Damit konnte die Generalin den Prinzen überraschen. Was sollte denn Lavinia mit alledem zu tun haben? Er hatte gedacht, sie müsste tot sein, nach dem zu urteilen, was Marrgullo ihr angetan hatte. Er hatte gemischte Gefühle, wenn er an das Mädchen dachte. Einerseits widerte ihn der Teil an ihr, der offensichtlich Torkinlarnt adrinromal war, an. Aber andererseits hatte sie ihm nichts Schlimmes getan, ihn offensichtlich gemocht, etwas, was er nicht gewöhnt war.

„Du fragst dich jetzt sicher, was das Mädchen mit alledem zu tun hat“, sagte Romilda lächelnd. „Die Antwort ist einfach. Sie schien dich wirklich gerne zu mögen. Sie hat sich aus dem Lager der Feinde davongestohlen und uns alles mitgeteilt, was wir wissen mussten. Danach ritt sie davon, um sich den Gegnern wieder unterzumischen. Wir griffen an. Durch alles, was Lavinia uns erzählt hatte, konnten wir die Feinde erschlagen und dich befreien. Die anderen Gefangenen, die dort hätten sein sollen, waren bereits tot. Wie du mitbekommen hast, lagern wir hier schon seit einer Weile. Tatsächlich, weil wir nach eben dem Lager suchten, dessen Standort deine Freundin uns verriet. Nachdem wir uns darum gekümmert hatten, konnten wir wegen dir nicht weiterreiten. Mir war klar, dass ich mit dir sprechen sollte, da du der wichtigste Gefangene der Feinde gewesen zu sein schienst. Kannst du mir ein wenig über deine Geschichte erzählen, damit ich dich mehr verstehen kann? Danach wäre ich auch besser in Lage, deine Fragen korrekt zu beantworten“. Zögernd nickte Selvin. Dies hier war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, alles zu erfahren, was er wissen wollte, nein, was er wissen musste. Jedoch behagte es ihm nicht, seine Vergangenheit und Erlebnisse mit jemandem zu teilen. Besonders nicht mit jemandem, den er nicht kannte, so nett dieser Jemand auch wirkte. Außerdem würde es so noch schmerzhafter, sich an die schlimmen Dinge zu erinnern. Langsam begann er zu erzählen:

„Meine Schwester und ich wurden in einem kleinen Dorf in den Bergen am Rande Synatons geboren und großgezogen. Unsere Eltern waren Pferdezüchter. Sie waren die nettesten, tollsten und liebevollsten Eltern, die man sich nur wünschen kann. Wir halfen ihnen immer, die Pferde zu versorgen, Viktoria und ich. Dann, nicht lange nach unserem neunten Geburtstag kam unser tot geglaubter Großvater zu uns. Sein Name war Selvin, nach ihm bin ich benannt. Er bat meine Mutter und meinen Vater, ihn zum Grab seiner Frau zu führen. Mein Zwilling und ich sollten eigentlich im Haus warten, doch wir schlichen uns hinterher, es sollte ein Scherz sein. Viktoria fand ein gutes Versteck hinter einem Baum, wo sie alles mitbekommen konnte, ich hatte weniger Glück und musste mich damit begnügen, ein Stückchen entfernt zu bleiben, ohne zu sehen oder zu hören. Ich bemerkte nur meine Eltern, die meinen Großvater am Grab alleinließen. Da meine Schwester aber noch blieb, um zu sehen, was Selvin machte, blieb ich auch. Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um, in Erwartung meinen Vater zu sehen, der mich vielleicht rügen würde, weil ich meinem Opa hinterherspionierte, doch sie waren schon über mir. Mehrere große Krieger ganz in schwarz gekleidet. Sie packten mich, wickelten meinen Körper in eine Decke und warfen mich auf ein Pferd. Ich hörte nur noch Schreie und Hilferufe.

Man brachte mich zu Leuten, die mich folterten, Dinge von mir verlangten, die ich nicht verstand. Als meine Quäler begriffen, dass ich ihnen nicht helfen konnte, kam ich in ein Lager, wo ich arbeiten musste. Ich weiß nicht, wie lange ich dortblieb. Nach einer Zeit wurde ich in die unterirdischen Mienen verfrachtet, wo ich arbeitete. Ich dachte, ich müsste dort leben, bis zum Ende meiner Existenz, dachte, dass ich nie die Sonne wiedersehen würde. Aber dann nahm man mich mit nach oben, um mich einem der Torkinlarnt adrinromal vorzustellen. Er folterte mich lange, jedenfalls kam es mir lange vor. Er erzählte mir auch von meinem Erbe und meiner Vergangenheit, wie sie versuchten, alle Erben zu fangen und warum sie sie brauchten. Als ihr mich rettetet, war ich überzeugt, unter dem Schmerz der Folter sterben zu müssen. Und das ist auch alles, was in meinem Leben bisher geschehen ist.“

Romilda schwieg eine Weile, nur ihre Fußtritte waren zu hören.

„Du hast eine sehr traurige Lebensgeschichte“, meinte sie dann. Was zum Teufel antwortete man auf so etwas? ‚Ja, ich weiß, aber jetzt wird bestimmt alles gut?‘ Nein, das würde bescheuert klingen. ‚Es ist, wie es ist?‘ Noch schlimmer, so würde es sich anhören, als bettle er um Mitleid. Schließlich zuckte der Junge nur die Achseln. Die Generalin lächelte mal wieder - wie konnte ein Mensch nur so viel Freundlichkeit ausstrahlen? - und sprach:

„Du hast mir deine Geschichte erzählt, was möchtest du nun wissen?“

„Was ist mit meiner Schwester passiert, wie hat sie herausgefunden, wer sie ist? Geht es ihr inzwischen gut, ist sie Königin und wo ist sie gerade?“

„Ich muss leider zugeben, dass ich über deiner Schwester Vergangenheit nicht viel weiß“, erklärte Romilda und verzog das Gesicht. „Aber nein, sie ist keine Königin. Es gibt keine Könige mehr, seit die Länder beinahe gefallen wären. Nicht, bis nicht alle Feinde besiegt sind. Viktoria Eronala ist den Umständen entsprechend wohlauf. Gerade ist sie auf einer wichtigen Mission. Diese ist allerdings so geheim, dass nur die wenigsten Leute überhaupt wissen, dass es eine Mission gibt, geschweige denn, worum es dabei geht. Ich weiß nichts darüber. Ich wurde von der Heerführerin zu dieser Kompanie beordert, zusammen mit einer kleinen Schar, um General Namin und General Kalims Truppen Verstärkung zu bringen. Deswegen habe ich auch nicht die neusten Neuigkeiten“.

Selvin schwieg eine Weile, versuchte, seine aufgewühlten Gedanken zu ordnen. Schließlich sagte er: „Ich danke euch sehr für eure Fürsorge und die Befreiung. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich euch bin. Und doch muss ich euch verlassen. Ich muss meine Schwester finden“.

Die Frau sah ihm tief in die Augen, schien ihn einzuschätzen. Sie kam jedoch nicht dazu zu antworten, denn in genau diesem Moment kam ein Bote zu ihnen gerannt, der völlig außer Atmen war.

„Generalin“, keuchte er. „Ein Gast ist eingetroffen. Ihr werdet gebraucht“.

„Danke Alem“. Romilda zeigte keine Gefühle. „Komm, Selvin, ich glaube ich weiß, was für ein Gast dies sein könnte. Wenn ich richtig liege, solltest du sie kennenlernen“. Sie zog den verwirrten Jungen hinter sich her, bis zu einer Stelle, um die sich das gesamte Lager zu sammeln schien. In der Mitte standen zwei Männer, ihnen gegenüber eine Gestalt im Kapuzenumhang.

Der linke der Männer war kaum älter als der Prinz, hatte braunes Haar und eine Menge Muskeln, die allerdings in den Schatten gestellt wurden, von seinem Gefährten. Der Mann, der, wie Selvin annahm, General Kalim war, - er sah einfach aus wie ein General -, war so muskulös, dass er einem Menschen wahrscheinlich mit einer Bewegung das Genick brechen konnte. Mit seinem roten Bart und den kurzen roten Haaren, den buschigen Augenbraun und der breiten Nase sah er ziemlich furchteinflößend aus.

Mit schnellen Schritten waren Romilda und Selvin neben den beiden Generälen. Die Frau reihte sich neben Kalim und Namin ein und gab dem Prinzen einen Wink, sich neben ihr zu postieren. Die Gestalt vor ihr nahm ihre Kapuze ab. Augenblicklich und im perfekten Gleichklang sanken alle drei Generäle auf ein Knie. Verwundert sah Selvin die enthüllte Person an. Es war ein Mädchen, höchstens achtzehn, vielleicht auch jünger. Sie hatte glattes seidiges schwarzes Haar, das ihr über den Rücken floss. Ihre Augen waren stechend, kalt, abweisend und stahlgrau. Sie wurden von dunklen Wimpern betont, die schmalen Augenbraun waren in diesem Moment leicht gehoben, als das Mädchen Selvin musterte. Sie hätte sehr hübsch sein können, wäre da nicht diese abweisende Art, diese Ausstrahlung von Abneigung gegen jeden anderen.

Beide Hände am Ende ihrer stark wirkenden Arme lagen auf dem Knauf eines Schwertes. Unter dem Umhang war roter Stoff zu sehen.

„Willkommen Torkila, Herrin“, murmelten die drei Personen neben dem Jungen.

„Erhebt euch“. Beim Klang von Torkilas Stimme zuckte Selvin ein wenig zusammen. Wie konnte eine Stimme nur so kalt klingen, so abweisend, so bitter? Was musste ein Mensch in seinem früheren Leben erlebt haben, um eine solchen Stimme und einen solchen Ausdruck in den Augen zu haben? Er selbst sah gewiss anders aus.

„Was verschafft uns die Ehre eurer Anwesenheit?“, traute sich General Kalim zu fragen.

„Ich habe eine Botschaft für euch, Oragon, die Armee und, um genau zu sein, die gesamte Welt“. Ihre Hände schlossen sich noch fester um ihren Schwertgriff und zogen die Waffe heraus. Sie schimmerte im Licht der Sonne. Die schmale Klinge glänzte und funkelte, als wäre sie aus den Sternen selbst geschmiedet worden. Knauf und Griff waren golden und mit Rubinen besetzt, die das Licht zurückwarfen, es brachen und widerspiegelten, ein Netz aus regenbogenfarbenen Lichtstrahlen webten, welches die Hände der Trägerin des Schwertes umschloss.

„Das Schwert der Macht und mit ihm der Schlüssel zum Palast von Doru Tea ward gefunden, um Oragon in seinen größten Nöten zu helfen, die Trauerfarben von Oragon sind abgelegt. Ich, Torkila, Thronerbin von Oragon habe den Ort aufgesucht, an dem einst die Sinaja ihre Junge aufzogen, den sie mehr als jeden anderen beschützten. Dort fand ich Vrenas Waffe, die sie meinem Land schenkte, und fortan soll es wieder in die Erbfolge Oragons eingehen. Und ich, Schatten aus dem Hause Larons, des ersten der Könige von Oragon erhebe Anspruch auf den Thron, der rechtmäßig mir gehört. Denn seit Jahren gab es keine Könige mehr, damit ist jetzt Schluss. Die alten Farben von Oragon sollen erneut erblühen, damit mein Land zeigen kann, dass die Feinde nicht in der Lage sind, uns zu besiegen. Ich erhebe Anspruch auf die königliche Herrschaft über mein Land“.

*

Im Näherkommen wurde immer deutlicher, in welchen Schwierigkeiten das Dorf wirklich war. Der Palisadenzaun, der anscheinend einmal ein Schutz gewesen war, war beinahe vollständig niedergebrannt. Nur hier und da waren einige verkohlte Reste zu entdecken, und auch nach diesen musste man gezielt suchen. Die Erde war im Umkreis von zehn Metern um die Brandstelle herum mit einer Zentimeter dicken Ascheschicht bedeckt, im inneren der Siedlung brannten noch Feuer.

„Warum haben sich die Feinde die Mühe gemacht, das Dorf so anzugreifen, es ist nicht besonders groß“, rätselte Ewin und lenkte seine Stute neben Larjina. Er überragte Emilia inzwischen um einen ganzen Kopf. Er war ja auch etwas älter als sie, was aber nicht besonders auffiel.

„Ich habe keine Ahnung“, gab Emilia zurück. „Gehen wir nachsehen“.

„Ähm, Emilia, dort drinnen könnten ganze Kompanien lagern. Willst du einfach so hineinreiten?“

„Klar doch, die Überraschung wird schon auf unserer Seite sein“, meinte die Prinzessin und legte eine Hand auf den Knauf ihrer Waffe. Ewin tat dasselbe. Sie beide hatten auch Speere, die seitlich an den Pferden befestigt waren, jeder einen Bogen mit Pfeilen und ein paar Messer und Dolche.

Sie ließen Orim und Javila außerhalb des Dorfes in einem kleinen Baumbestand, wo sie vor feindlichen Blicken ganz gut verborgen waren, und näherten sich vorsichtig dem Dorf. Alles war still, nichts regte sich. Eine unsichtbare Spannung schien die Luft zu erfüllen. Emilia wurde unruhig, ob das ganze wirklich eine gute Idee war? Aber sie hatte sich entschlossen, den Feinden schlimmstmöglich zu schaden.

„Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht“, wisperte die Prinzessin von Alenach. Sie passierten einige Häuser. Das unangenehme Gefühl verstärkte sich mit jedem Schritt, mit dem sie und die Pferde sich dem Dorfkern näheren. Die Tiere wurden nervös. Die Reisegefährten merkten es an der Art, wie die Rösser sich anspannten und ihre Ohren hin und her zuckten. Trotzdem führte Emilia weiter. Nun waren sie nur noch wenige Häuser vom Dorfzentrum entfernt. Ein seltsamer Geruch stieg ihnen in die Nase, beißend, süßlich, scharf, stechend. Gleichzeitig verlockend und abstoßend.

Die Pferde drehten vollends durch. Larjina und Ator stießen seltsam keuchende Laute aus, das Weiße in ihren Augen war zu sehen, sie tänzelten, versuchten, sich umzudrehen und zu fliehen, vor was auch immer hier war. Larjina stieg sogar, während Ator buckelte. Emilia hielt ihre Stute am kurzen Zügel, Ewin tat dasselbe mit seinem Rappen. Was muss hier im Gange sein, damit selbst diese unerschrockenen Pferde sich so benehmen, fragte sich Emilia. Ihr Herz schlug schneller, sie spürte es in ihrer Brust klopfen. Ihr Atem passte sich automatisch an.

„Emilia“. Ewins Stimme war gepresst. Auch er atmete schnell und flach, es klang laut in der sonstigen Stille und wurde nur von den durchdrehenden Pferden übertönt.

„Emilia, lass uns verschwinden“. Angst schwang in der Stimme ihres Freundes mit. Ein Prickeln überlief das Mädchen, als fühle sie den Blick feindlicher Augen. Hecktisch sah sie sich um, niemand war in Sicht, was aber nichts heißen mochte.

„Lass uns verschwinden, solange wir noch können“, drängte der Junge. Seine Nervosität und Angst waren fast greifbar. Das half natürlich nicht, die Tiere zu beruhigen, vor allem nicht, da Emilia wusste, dass sie eine ähnliche Ausstrahlung haben musste.

„Ich glaube nicht, dass wir noch verschwinden können“, sagte Emilia.

„Nein, ihr werdet wohl hierbleiben müssen, lebend oder noch besser tot“, erklang eine hallende Stimme hinter ihnen.

Sie fuhren in ihren Sätteln herum. Wie aus dem Nichts aufgetaucht stand hinter ihnen ein Torkinlarnt adrinromal. Es war nicht der, dem Emilia schon mehr als einmal begegnet war und der es besonders auf Lilien abgesehen hatte. Dieser war etwas kleiner und irgendwie hatte die Kalinor das Gefühl, dass es sich hier um ein weibliches Wesen handelte. Das änderte aber nichts daran, dass das Schattenwesen derartigen Hass ausstrahlte, dass Emilia den Wunsch hatte, sich in einem Erdloch zu verkriechen und erst in hundert Jahren wieder herauszukommen.

Seit wann bist du so ein Feigling, schimpfte sie sich selbst aus. Du schaffst das schon. Auf den Dächern um sie her erschienen weitere Feinde, ob Mensch oder nicht, war nicht zu erkennen. Sie saßen in der Falle. Ein Pfeil flog von einem der Dächer und prallte an Larjinas Rüstung ab, der nächste wurde von Emilias Brustpanzer abgewehrt und Ewin schützte sein eigener Harnisch.

Scheiße, scheiße, scheiße, wir werden gleich sterben, dachte die Kalinor.

„Folge mir“, zischte sie ihrem Begleiter zu. Aus dem Stand galoppierte sie ihre Stute an, wendete ihr widerwilliges Ross und preschte vor zum Marktplatz im Dorfzentrum. Dort angekommen ließ das Mädchen sich aus dem Sattel gleiten. Ewin tat es ihr nach.

„Lass Ator laufen, in diesem Zustand bringt sie uns nichts“, schrie Emilia, um sich trotz des Lärms der näherkommenden Feinde Gehör zu verschaffen. Sie gab Larjina frei und Brauner und Rappe preschten davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her, was in gewisser Weise auch der Fall war, denn die Torkinlarnt adrinromal waren das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte.

Die Gegner kümmerten sich nicht um die fliehenden Pferde, sie kamen nun näher, kesselten die Teenager ein. Auf den Dächern und in den Straßen standen sie, die Diener der Quwago. Sie alle schienen menschlich zu sein, abgesehen von den drei Schattengestalten, die nun in ihr Blickfeld traten. Einer, oder besser gesagt eine von ihnen war die, die sie eben schon getroffen hatten. Die anderen waren Emilia unbekannt.

Sie sahen identisch aus, jedenfalls für sie. Beide waren gleichgroß und ein wenig größer als die Frau, oder wie auch immer der Name für weibliche Wesen dieser Art war.

„Es war nicht klug von euch, hierher zu kommen“, zischte der Torkinlarnt adrinromal ganz rechts. Seine schwarze Zunge schoss aus seinem ebenso schwarzen, lippenlosen Mund und schien die Luft zu kosten, wie eine Schlange. Alle drei Quwago zogen ihre Schwerter. Es waren drei gleich aussehende Klingen, bestehend aus schwarzem Metall, welches das Licht nicht zurückwarf. Flammengravuren zogen sich an den Waffen entlang, schienen aus dem Metall springen zu wollen. Emilia gab Ewin ein Zeichen.

Hell blitzte Vrenas Schwert auf, als es ins Licht der Sonne getaucht wurde, die Juwelen daran funkelten und brachen die Sonnenstrahlen. Dann kamen die Flammen. Bei ihrem Schwert waren es keine Gravuren, es war echtes Feuer, blau und weiß, das Feuer der Sinaja.

Einen Moment stand Schock in den Augen der Feinde und die Prinzessin von Alenach wusste, dass sie keine Ahnung gehabt hatten, dass sie diese mächtigste aller Waffen führte. Mit einem Kampfschrei sprang das Mädchen vor. Gerade noch rechtzeitig konnte der Torkinlarnt adrinromal seine Klinge hochreißen, um die ihre zu blocken. Es gab nicht das gewöhnliche Geräusch, dass man vielleicht erwarten würde, wenn Metall auf Metall traf. Nein, wenn Methiain und das Schwarzeisen der Feinde sich trafen, ertönte etwas ganz anderes. Aus dem flammenden Schwert kam ein Klingen wie von Glocken, aus dem anderen ein Ton wie, als hätte jemand die Basssaite eines Kontrabasses angeschlagen. Zusammen mischten sich die beiden Töne zu einer schaurigen und zugleich wundervollen Musik, die in den Himmel emporstieg und die Luft mit ihren Klängen erfüllte.

Vrenas Schwert in Emilias Händen schien wie von selbst zu handeln, ihr den Weg zu zeigen. Diese Waffe war die mächtigste, die je gefertigt wurde, sie würde ihre Trägerin nicht im Stich lassen. Das Schwert in ihren Händen, das Schwert in denen des Gegners, die Musik, die sie beide einhüllte. Der erste Kampf dauerte keine drei Minuten. Emilia war so in den Kampf versunken, dass sie kaum merkte, wie ihre Waffe sich in die Brust ihres Gegners bohrte. Sie erwachte erst wieder aus ihrer Trance, als die Musik verstummte. Die Stille wurde so drückend, dass sie in den Ohren zu pulsieren schien.

Alle ihre anderen Feinde schienen in Schockstarre verfallen zu sein. Niemand rührte sich, nicht einmal die verbliebenen Quwago. Aller Blicke ruhten auf dem Schwert der Kalinor, auf Emilias Schwert, dem flammenden Schwert. Das Feuer züngelte noch immer um das Methiain.

Alenachs Prinzessin trat zurück zu ihrem Freund. Nun kam langsam wieder Leben in ihre Gegner. Sie rückten vor, drängten sie an den Rand des Platzes. Der eigenartige Geruch wurde immer stärker. Er schien aus einem der Brunnen zu kommen, die den Rand des Platzes säumten. Warum hatte ein einziger Platz so viele Brunnen? Ein grüngrauschwarzer Rauch, nur schwer erkennbar, stieg daraus hervor.

Die Wände des Brunnes waren rissig und mit Asche bedeckt. Was auch immer faul war an diesem Ort, es kam aus diesem Brunnen, so viel war klar. Und ausgerechnet auf den drängten die Diener der Torkinlarnt adrinromal sie zu. Die Schattenwesen selbst taten nichts. Sie standen nur am Rand und diskutierten in ihrer widerwärtigen Sprache, bei der sie alle Vokale wegelassen zu haben schienen. Da erhob einer der zwei, der männliche, die Stimme, die von der heraufziehenden leichten Brise über den Platz geweht wurde.

„Xrln floin! Ekrtn Quwago rptiltn spakwo tulnns“.

Diese Worte hatten keinen Einfluss auf die Truppen. Emilias Hände um den Schwertgriff zitterten, der kalte Schweiß rann ihr über das Gesicht. Etwas an diesem Ruf war unheilverkündend gewesen. Sie und ihr Reisegefährte standen nun mit dem Rücken gegen die rissige Brunnenwand gedrückt.

Mädchen und Junge versuchten die Feinde mit ihren Waffen auf Abstand zu halten, doch es waren zu viele. Schlag um Schlag prallte von ihren Rüstungen ab. Plötzlich schien eine Idee ihre Angreifer gepackt zu haben. Sie wichen ein Stück zurück und nahmen Anlauf. Panik drohte, die Kalinor zu überwältigen.

Wir müssen hier weg, wir müssen hier weg, schrie ihr Hirn sie an. Aber wie um Himmelswillen sollte sie hier wegkommen? Sie waren ringsum von Feinden umzingelt.