Das Versprechen der Dunkelheit - Antonella Lattanzi - E-Book

Das Versprechen der Dunkelheit E-Book

Antonella Lattanzi

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für Francesca scheint ein Traum wahr zu werden: Sie und ihr Mann können in eine Wohnanlage am Rande Roms ziehen, wo fast nur junge Familien wohnen. Hier wird sie in Ruhe ihre Kinderbücher zeichnen können, hier werden ihre beiden Kinder Spielgefährten finden.

Doch ihr Mann arbeitet viel und ist kaum zu Hause, und so sehr die neuen Nachbarn sie auch willkommen heißen, so unheimlich empfindet Francesca bald die geschlossene Gesellschaft. Allein zu Fabrizio, einem stillen Cellisten, fasst sie Vertrauen und fühlt sich mehr und mehr zu ihm hingezogen.

Als eines Morgens ein Kind spurlos verschwindet, bricht die Vorstadtidylle zusammen, der Verdacht nistet sich in der Anlage ein, richtet sich gegen Fabrizio, und Francesca gerät in einen Sog namenloser Angst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 627

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Für Francesca scheint ein Traum wahr zu werden: Sie und ihr Mann können in eine Wohnanlage am Rande Roms ziehen, wo fast nur junge Familien wohnen. Hier wird sie in Ruhe ihre Kinderbücher zeichnen können, hier werden ihre beiden Kinder Spielgefährten finden.

Doch ihr Mann arbeitet viel und ist kaum zu Hause, und so sehr die neuen Nachbarn sie auch willkommen heißen, so unheimlich empfindet Francesca bald die geschlossene Gesellschaft. Allein zu Fabrizio, einem stillen Cellisten, fasst sie Vertrauen und fühlt sich mehr und mehr zu ihm hingezogen.

Als eines Morgens ein Kind spurlos verschwindet, bricht die Vorstadtidylle zusammen, der Verdacht nistet sich in der Anlage ein, richtet sich gegen Fabrizio, und Francesca gerät in einen Sog namenloser Angst.

DIEAUTORIN

Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Sie arbeitet als Drehbuchautorin für das Kino und ist für ihr Werk mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Seit 2010 unterrichtet Lattanzi an der von Alessandro Baricco und Carlo Feltrinelli gegründeten berühmtesten Schule Italiens für creative writing, der Scuola Holden. Antonella Lattanzi lebt in Rom.

ANTONELLA LATTANZI

DAS VERSPRECHEN DER DUNKELHEIT

Roman

Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel

QUESTOGIORNOCHEINCOMBE

bei HarperCollins Italia, Mailand

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Literaturagentur MalaTesta, Mailand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Antonella Lattanzi

Copyright © 2023 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des Italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring Grafikdesign GbR, unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/Pupa Neumann

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28660-6V001

www.blessing-verlag.de

Das Hotel Overlook

und diejenigen, die damit

zu tun haben, existieren

ausschließlich

in der Fantasie

des Autors.

Stephen King, Vorbemerkung zu Shining im amerikanischen Original

O wüsste jemand doch

Das Ende dieses Tagwerks, eh es kommt!

Allein es ist genug: Der Tag wird enden,

Dann wissen wir sein Ende.

William Shakespeare, Julius Cäsar

PROLOG

Unter dem unerbittlichen Ansturm der Wirklichkeit bleibt niemand unversehrt.

Wir stemmen uns gegen den Wind und setzen unseren Weg fort. Manche von uns können irgendwann nicht mehr und gehen wie vom Blitz getroffen zu Boden. Andere machen weiter. Stocksteif und mit eingezogenem Kopf ziehen sie im Unwetter die Mäntel enger um sich und geben nicht auf. Wieder andere müssen noch lernen: die Sonne zu sehen, auch wenn sie nicht scheint, oder die Wolken zu beobachten, um im richtigen Moment einen Ortswechsel vorzunehmen, jederzeit bereit, den ersten Lichtstrahl einzufangen. Sich aufzuwärmen.

Niemand ist mehr im Recht oder im Unrecht als die anderen. Niemand hat eine Schlacht gewonnen oder verloren. Wir alle haben einfach nur versucht zu leben, so gut es eben geht. Wir alle, die wir in diese Welt hineingeworfen wurden, sind heldenhaft.

Als meine Mutter mit meiner Schwester und mir in das Viertel zog, in dem wir aufwachsen sollten, war der Vorfall bereits geschehen. Nur wenige Monate zuvor. Damals, als wir dort ankamen, war noch vieles unklar. Das Wichtigste.

Alle dort nannten es nur den Vorfall.

Es war in unserer Wohnanlage passiert. In unserem Gebäude.

Ich war damals acht Monate alt und noch zu klein, um etwas zu verstehen. Auch meine Schwester war noch zu klein – sie war vier. Doch dass dort etwas nicht stimmte, merkten wir schon sehr bald.

Alle Eltern unserer Wohnanlage, auch meine Mutter, ließen uns Kinder nie allein in den Hof. Stets mussten wir in Sicht- und Hörweite bleiben. Nicht in der irgendeines uns bekannten Erwachsenen – eines Nachbarn aus demselben Stockwerk zum Beispiel oder eines langjährigen Bekannten unserer Eltern, eines Verwandten. Auch nicht in der eines Großvaters oder einer Großmutter. Ich bekam mit, dass es Frauen gab, die ihre Kinder nicht dem eigenen Ehemann anvertrauten beziehungsweise Männer, die ihre Kinder nie mit der Ehefrau allein ließen. Das sah ich, und das sah auch meine Schwester. Wir haben das damals beide mitbekommen. Es war unmöglich, es nicht zu sehen. Doch meine Schwester und ich haben uns nie gefragt, warum es so war. Wir waren dort praktisch geboren worden.

Die Schule war ganz nah, doch keines der Kinder unseres Viertels ist jemals allein oder mit Freunden dorthin gegangen, wie es ab einem gewissen Alter üblich ist. Irgendetwas stimmte dort nicht, das merkten wir. Aber unser Vater hatte die Familie kurz vor dem Umzug verlassen, und meiner Mutter ging es nicht gut, ihr ging es generell nicht gut. Meine Schwester und ich hatten zu viel anderes im Kopf, um uns mit dem Vorfall auseinanderzusetzen.

Als ich siebzehn war, sah ich meinen Vater nach langer Zeit wieder. Er verplapperte sich und verriet, was passiert war. Vielleicht dachte er, unsere Mutter hätte uns davon erzählt. Es war etwas Entsetzliches – etwas ganz Schlimmes, aber mit Sicherheit kein Vorfall.

Es gab Gründe dafür, jemand hatte es getan, und zwar ganz bewusst. Etwas so Entsetzliches, dass ich verstand, warum es diesen Ort für immer brandmarkte. Manche glauben, dass Orte von Geistern heimgesucht werden. Sie sind dann verflucht, heißt es. Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll. Aber ich bin mir sicher, dass manche Orte Schmerz in sich tragen. Allerdings auch Liebe.

»Wann habt ihr es erfahren?«, fragte ich meinen Vater, als ich vor einer Pizza saß, auf die mir der Appetit vergangen war.

»Kurz bevor wir den Mietvertrag unterschrieben haben«, erwiderte er. »Ein Nachbar hat uns angesprochen und gesagt, der Vorfall sei noch nicht aufgeklärt. Es wäre zu gefährlich, mit zwei kleinen Mädchen dorthin zu ziehen. ›Ich rate Ihnen aufrichtig: Suchen Sie sich eine andere Wohnung‹, hat er gesagt. ›Noch haben Sie ja Zeit.‹«

»Und ihr?«, fragte ich.

»Wir hatten aber keine Zeit mehr«, meinte mein Vater so leise, dass seine Stimme im Lärm der Pizzeria fast unterging. »Deiner Mutter ging es nicht gut. Sie wollte diese Wohnung unbedingt und war fest davon überzeugt, sie wäre die Rettung.« Er betonte das letzte Wort. Und du, Papa?, hätte ich ihn am liebsten gefragt. Er trank einen Schluck Bier und starrte in sein Glas. »Ich hab es nicht geschafft, ihr das auszureden.« Deshalb hast du uns verlassen? Uns allein an diesem Ort mit ihr zurückgelassen? Ich wusste nicht einmal mehr, dass er uns damals verlassen hatte. Es kam mir so vor, als wäre das alles längst vorher passiert, direkt nach meiner Geburt. Vielleicht hatte meine Mutter mir so etwas erzählt. Hast du uns verlassen, weil wir in Gefahr waren, Papa? So was tut ein Vater nicht. Ein Vater beschützt seine Kinder.

Aber es gibt Dinge, die kann man nicht fragen, sonst geht man daran zugrunde. Stumm haben wir die Rechnung verlangt, ich glaube, wir haben auch noch die kalte und gummiartige Pizza gegessen. Bis auf den letzten Bissen.

Meiner Mutter habe ich beim Heimkommen nichts davon erzählt. Ich wollte sie nicht verletzen. Und mich nicht an ihren Worten verletzen. Ich wollte die Wahrheit nicht wissen. Ich wollte nur meine Ruhe.

Meine Schwester wohnte damals schon nicht mehr bei uns. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihr zu erzählen, was ich von meinem Vater erfahren hatte. »Es ist in unserer Wohnung passiert!«, schrie ich ins Telefon. »Das hätten wir sein können!« Meine Schwester und ich, die als Kinder immer füreinander da gewesen waren, redeten bereits seit einiger Zeit nicht mehr miteinander. Schmerz verbündet. Schmerz trennt. Es war der Schmerz, der mich zum Telefon hatte greifen lassen, um sie anzurufen. Vor allem aber kam mir das Wort Vorfall wirklich wie eine Riesenunverschämtheit vor. Auch uns beiden gegenüber. Meine Schwester meinte, dass man manchen Dingen, die einfach zu schrecklich sind, etwas harmlosere Bezeichnungen gibt, damit sie nicht so wehtun. Wiederhole man die nur oft genug, könnten sie die Vergangenheit verändern. »In gewisser Weise zumindest.«

Die entsetzliche Wahrheit über den Ort, an dem wir gelebt hatten, weckte all die Erinnerungen an unsere Kindheit. Die schönen natürlich, denn die gab es durchaus auch. Vielleicht war es sogar umso schmerzhafter, dass es sie gab. Unsere Mutter hatte uns eine so schwierige Kindheit beschert, dass meine Schwester und ich uns noch heute schwer damit tun, die Vergangenheit hinter uns zu lassen. Doch auf ihre Art hat sie uns fraglos bis zur Selbstaufgabe geliebt. An diese Liebe wollten wir nicht erinnert werden. Wenn einem jemand ausschließlich wehtut, hasst man ihn. Wenn einem jemand ausschließlich guttut, liebt man ihn. Aber wenn einem jemand gut und weh zugleich tut, bleibt einem nicht einmal mehr die unzerstörbare Kraft des Hasses.

Die entsetzliche Wahrheit weckte also sämtliche Erinnerungen an unsere Kindheit. Die schönen, aber eben auch die weniger schönen. Und davon gab es jede Menge. Vielleicht haben wir deshalb, weil wir sie, also unsere Kindheit, nicht ansprechen wollten, nach diesem Telefonat keinerlei Kontakt mehr gehabt. Im Stillen begann auch ich, es den Vorfall zu nennen.

Und dann, man glaubt es kaum, habe ich ihn irgendwann vergessen.

Viele Jahre später – ich hatte den Ort, an dem ich geboren bin, schon seit einer ganzen Weile verlassen – stieß ich in der Zeitung auf eine Meldung: In einer Wohnanlage der Stadt, in die ich gezogen war, war etwas Entsetzliches passiert. Etwas Entsetzliches, gewiss – aber warum hatte ich das Gefühl, es hätte etwas mit mir zu tun? Ich konnte mich gar nicht mehr von dieser Geschichte losreißen, suchte überall nach weiteren Informationen. Warum?

Da fiel es mir wieder ein. Auch in meiner Wohnanlage hatte es, als ich noch ein Kind war, einen Vorfall gegeben, den gleichen Vorfall. Wie hatte ich das bloß vergessen können? Und warum fiel es mir jetzt wieder ein? Ich wollte mich nicht daran erinnern, ich wollte mich nicht an meine Kindheit erinnern, ich wollte mich an gar nichts erinnern.

Die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Sie stöbert einen auf, egal, wo man ist. Ich möchte nicht von der Vergangenheit aufgestöbert werden. Da zog ich einen Schlussstrich. Ich las nichts mehr darüber, recherchierte nicht weiter. Jahrelang. Bis ich eines Tages meine Mutter anrief und mir warum auch immer die Frage herausrutschte: »Wie ging es dir, Mama, als wir noch klein waren?«

Wie geht es dir heute, Mama? Aber so etwas kann man nicht fragen. »Was hast du gesagt?«, fragte sie.

»Nichts, Mama«, wich ich aus.

Doch inzwischen konnte ich mich dem Sog der Vergangenheit nicht länger entziehen. Ich suchte den Ort auf, an dem dieser Vorfall, der meinem so ähnelte, passiert war. Die Wohnanlage, in der er sich zugetragen hatte, gab es als solche nicht mehr. Nur ein verrostetes Gittertor war noch übrig, mit dem ein oder anderen scharlachroten Fleck, der an einigen Stellen hervorblitzte. Stellte man sich direkt davor, sah man, wie die heruntergekommenen Gebäude, die einmal strahlend blau gewesen sein mussten, nun baufällig und verblichen der Witterung trotzten, die Balkongeländer von Rost zerfressen und an mehreren Stellen gebrochen, das Glas von Fenstern und Türen Guillotinen-scharf zersplittert, die Laternen kaputt, die Vegetation tot. Am Boden lagen Putzbrocken, an einigen Stellen waren die Mauern eingestürzt, und Eisenträger ragten aus dem Beton. Man konnte in diese Wohnungen hineinschauen, und es wirkte, als hätte sie jemand überstürzt verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wegen eines Erdbebens, eines Krieges. Oder eines Fluchs.

Es gab auch einen kleinen Spielplatz, beziehungsweise es hatte ihn gegeben: eine Schaukel und eine Rutsche, angenagt vom Zahn der Zeit und vom Regen. Und weit hinten einen zitronengelben, verfallenen Schuppen. Man hatte das Gefühl, das von staubigen Windhosen erstickte Stimmengewirr der Kinder noch zu hören, die in diesem Hof gespielt hatten, Stimmen, die denen meiner Schwester und meiner eigenen so ähnlich waren. Dort setzte ich mich auf den Boden, in diesen leichten Wind, und machte lautstark all der Wut Luft, die ich auf meine Mutter hatte: weil sie mit uns an einen Ort gezogen war, an dem wir in Gefahr waren. Weil sie nicht die Mutter war, die wir uns gewünscht hätten. Weil sie es nicht geschafft hatte, sich selbst zu retten. Weil sie uns nicht gerettet hatte. Und weil meine Schwester und ich, auch als wir schon größer waren und ihr hätten helfen können, sie nicht gerettet haben.

Dann stieg ich wieder in mein Auto und fuhr davon.

Doch inzwischen hatte ich eine Entscheidung gefällt. Ich musste dieser Geschichte auf den Grund gehen. Sie erzählen. Ich musste es einfach tun. Auch um sie von dem Wort zu befreien, das die Dinge zwar oberflächlich weniger schrecklich machen mag, wie meine Schwester meinte, dafür aber bewirkt, dass sie verschwinden, aus dem Gedächtnis getilgt werden, ohne dass die Unschuldigen gerächt würden. Ich musste irgendwie dafür sorgen, dass niemand mehr das, was mir passiert oder dort passiert war, so nennen konnte: den Vorfall. Kann man aus Rache ein Buch schreiben?

Und du?, sagte ich mir. Hältst du dich etwa für unschuldig? Von wegen, ganz im Gegenteil. Ich schreibe dieses Buch auch als Vorwurf an mich selbst. Um Kritik an meinem heutigen Ich und an meiner Vergangenheit zu üben. Und sei es nur, um zu vergeben. Kann man ein Buch schreiben, um Anklage zu erheben, aber auch um sich und den Menschen, die man geliebt hat, zu sagen: »Ich vergebe dir«?

Die Vergangenheit vergeht nie ganz, sie stöbert einen immer wieder auf. Und vielleicht hat das trotz allem auch sein Gutes.

Als ich diesen Roman schrieb, beschloss ich, sämtliche Orts- und Personennamen zu ändern. Doch ein Detail an der Geschichte, die sich dort zugetragen hat, hat nie aufgehört, mich zu verfolgen: ein winzig kleines rotes Armband.

Wer unglücklich ist, zermürbt dich.

Ja, das stimmt.

Doch egal, unter welchen Umständen sie einem geschenkt wurde, und seien diese auch noch so zweifelhaft: Die Liebe bleibt.

Ein winzig kleines rotes Armband.

A. L.

Das Versprechen der Dunkelheit

Die Wirklichkeit ist der geschickteste aller Feinde.

Sie konzentriert ihre Attacken auf den Punkt

unseres Herzens, an dem wir sie nicht erwarten,

wo wir keine Verteidigung vorbereitet haben.

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

»Bastian! Warum tust du dann nicht, was du willst, Bastian?«

– »Weil ich es nicht kann. Ich soll mit meinen beiden Beinen auf der Erde stehen!« – »Sag meinen Namen. Bitte, sag

meinen Namen! Bastian! Bitte! Hilf uns!«

Aus dem Film Die unendliche Geschichte

TEIL I

1

Als Erste stieg Francesca aus. Sie schützte die Augen vor der Sonne und betrachtete das scharlachrote Gittertor. Gegen die Sonne waren dessen Umrisse nur schwer zu erkennen, aber es war da – wie jemand, nach dem man sich schon lange gesehnt hat und der einen mit offenen Armen empfängt. Francesca lächelte.

Sie beugte sich in den schwarzen Scénic, um ihre Tochter Emma aus dem Kindersitz zu nehmen. Kaum hatte sie Emma auf dem Arm, packte die knapp Einjährige, aschblond gelockt wie der Vater und die große Schwester, ihre Hand. Nichts gefiel ihr besser, als mit Francescas Fingern zu spielen. Es war das erste Wort, das sie gelernt hatte: Finger, sie schien kein anderes Wort zu kennen.

Sie machte es sich auf dem Arm ihrer Mutter bequem. Die zeigte auf das Gittertor. »Siehst du, mein Schatz, wie schön es ist, ganz knallrot?«, sagte Francesca. Emma zappelte aufgeregt, es war, als tanze sie. Francesca lachte und küsste sie zärtlich hinters Ohr. Emma war unwiderstehlich. Francesca drückte sie an sich und machte einen Schritt auf das Tor zu.

Sie konnte den Blick einfach nicht abwenden.

Hinter ihr kam jetzt Massimo, ihr Mann, aus dem Wagen, ging zur hinteren Autotür und öffnete sie. Ihre andere Tochter, Angela, stieg aus. Erst mit dem einen Fuß, dann mit dem anderen, in den bequemen Turnschuhen mit den Sternen, die sie nie auszog. Massimo beugte sich ein wenig vor und nahm ihre Hände, um ihr zu helfen. Pass auf deinen Kopf auf.

Francesca lächelte. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, was hinter ihr geschah: Die Szene spielte sich jedes Mal gleich ab, wo immer sie auch waren.

Angelas hohe Stimme kam wie von weit weg, vermengt mit der Männerstimme, die sie besser kannte als jede andere: Massimo. Dann waren ihr Mann und ihre große Tochter bei ihr. Angela reichte ihr bis zur Mitte des Oberschenkels. Wie schnell sie gewachsen war! Sie durften nicht vergessen, all die schönen Tage zu genießen, die vor ihnen lagen. Massimo legte den Arm um die Schultern seiner Frau und zog sie an sich. Alle vier betrachteten das Tor.

Und nun konnte Francesca es richtig erkennen: Es präsentierte sich in einem leuchtenden Rot, wie gerade frisch gestrichen, unverwüstlich, imposant, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Uneinnehmbar. Sie sah jetzt jedes Detail. Francesca lächelte immer noch, vielleicht hatte sie noch nie im Leben so strahlend gelächelt.

Alles, was sie liebte, war hier, umschloss sie wie ein perfekter Kreis. Ihr Mann, ihre Töchter, ihr neues Zuhause hinter dem roten Gittertor. Und in diesem Zuhause würde sie endlich die Möglichkeit haben, ihren Traum zu verwirklichen: an ihrem Buch zu arbeiten.

Er, ihr Mann und der Vater ihrer Töchter, sagte: »Bist du bereit, Francesca?«, und strich ihr zärtlich über den Rücken. Das war sie, sie hatte sich noch nie so gut gefühlt. Hier erwartete sie ein Neuanfang. »Gehen wir?«, sagte Massimo zu seiner Familie und strahlte.

Es war Ende Februar, Francesca atmete tief ein, die Luft kam ihr bereits frühlingshaft vor. »Gehen wir«, erwiderte sie. Der Arm, der Emma hielt, tat ein wenig weh, aber es war ein eher dumpfer Schmerz im Hintergrund wie ein Tinnitus. Ein fast angenehmer Schmerz: der lebendige Beweis für die sich an sie schmiegende Tochter. Denn sie war Mutter – wie sehr sie sich danach gesehnt hatte! Sie war Mutter, und Mütter halten auf dem Arm.

Angela an Francescas anderer Hand schwenkte gelangweilt den Arm, und reflexartig schwang der Arm ihrer Mutter mit.

Dann riss sich die Kleine los. Schnell wie der Wind rannte sie die letzten Meter. Und mit jedem Schritt legte sie etwas von der Ernsthaftigkeit ab, die sie seit der Geburt der kleinen Schwester erfasst hatte, und verwandelte sich wieder in ein kleines Mädchen. Das war mit bloßem Auge zu sehen. Mit dem ganzen Körper warf sie sich gegen das Gittertor, sodass sie davon abprallte, allerdings ohne sich wehzutun. »Erster!«, rief sie lachend. Sie drehte sich zu ihren Eltern um, bereit, das verdiente Lob entgegenzunehmen. Die nickten begeistert, und zum ersten Mal seit Monaten hörten Angelas große runde Kulleraugen auf, Vater und Mutter von der höheren Warte einer Fünfjährigen aus streng zu mustern. Sie leuchteten vor Freude.

»Loot.« Ungläubig schaute Francesca Emma an. Sie hatte doch tatsächlich Rot gesagt! Ihr erstes Wort seit Finger. »Fantastisch, mein Schatz! Rot, genau!« Erneut küsste sie sie.

Massimo war jetzt bei Angela am Gittertor, die Koffer in der Hand. Er drehte sich zu Francesca um. Sie hatte ihn noch nie so zufrieden gesehen.

Hier werden wir glücklich sein.

2

Francesca fuhr mit der freien Hand über das rote Gittertor und drückte es auf. Sie spürte die Wärme der Sonne darin und dann einen stechenden Schmerz in der Hand, als hätte sie etwas gebissen.

Sie löste die Hand vom Metall und musterte sie.

Blut, aber in einem dunkleren Rot als das Gittertor, lief ihr bis zum Handgelenk.

Verblüfft betrachtete sie es einen Moment und saugte es dann weg.

Immer noch mit Emma auf dem Arm inspizierte sie das Tor. Da war nichts. Es musste irgendein Insekt gewesen sein. Und die Wunde hatte bereits aufgehört zu bluten.

»Suchen Sie wen?«, wurde sie von einer Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Sie dachte nicht länger an ihre Hand.

Die Stimme gehörte zu einer kleinen, extrem dürren Frau um die fünfundsechzig mit zusammengebundenen Haaren. Sie hatte aufgehört zu fegen und starrte Francesca mit dem Besen in der Hand an. Sie rührte sich nicht von der Stelle, als wollte sie ihnen den Weg versperren.

»Wir sind die Ferrarios.« Francesca streckte ihr die freie Hand entgegen, doch dann fiel ihr die Wunde wieder ein, und sie zog sie zurück. »Die neuen Bewohner.«

Die Frau betrachtete ihre Hand und schien die Information eine ganze Weile abzuwägen. Hilfe suchend drehte sich Francesca nach ihrem Mann um, der jedoch ein wenig zurückgefallen war. Angela hingegen hatte sie eingeholt und schmiegte sich an die Beine ihrer Mutter.

»Lass sie durch, Agata.« Ein kleiner Mann in hellblauem Hemd, grauer Hose und mit dichtem weißem Haar, das er mit Wasser oder Gel zurückgekämmt hatte, tauchte hinter der dürren Frau auf. Bei diesen Worten löste sich Angela von ihrer Mutter und rannte vorneweg. Massimo murmelte dem Hausmeisterehepaar eine Begrüßung zu und eilte ihr hinterher. Francesca sah sie ausgelassen im Hof der Wohnanlage verschwinden.

Der kleine Mann musterte Francesca ernst, während die Frau weiterfegte, wobei sie Vater und Tochter im Auge behielt. Francesca wartete, sie wusste selbst nicht worauf. Dann lächelte der Mann sie liebenswürdig an. »Sie sind die Ferrarios«, sagte er. »Aufgang B, fünfter Stock, Wohnung Nummer 8. Sie sind früh dran, wir haben erst am Nachmittag mit Ihnen gerechnet. Ich bin Vito, der Hausmeister. Wir haben uns aber schon kennengelernt, erinnern Sie sich?« Er gab ihr die Hand. Francesca ergriff sie mit der Linken. Die Hand des Mannes war warm, weich und überraschend glatt. »Meine Frau, Agata.« Vito zeigte auf die Frau mit dem Besen. Agata nickte, was wohl »Willkommen« heißen sollte. Vito trat näher. »Was für ein hübsches Mädchen.« Er wuschelte Emma durchs Haar. Die riss die Augen auf und stieß einen schrillen Schrei aus. Das machte sie immer so, weshalb die Eltern sie im Scherz Psycho nannten. Vitos Lächeln erstarb nicht. »Die hat wohl ihren eigenen Kopf.« Behutsam zog er seine Hand zurück. »Sie hat Hunger …« Francesca sah ihre Tochter verlegen an. »Massimo?«

Zerzaust und fröhlich kam Massimo zurück, den Kopf voller Jasminblüten, die Angela darauf verteilt hatte. Die Große kauerte noch zwischen den Pflanzen. Francesca lächelte.

Auf einmal wirkte Angela wieder wie das Mädchen, das sie vor Emmas Geburt gewesen war. Von klein auf hatte sie über alles wie verrückt gelacht, sich Apfelbrei ins Gesicht, auf die Hände und Kleider geschmiert, bei allem, was sie sah, mit den breiverklebten Lidern geklappert und über alles gestaunt, als hätte sie etwas wahnsinnig Aufregendes entdeckt. Aus Angelas Perspektive war die Welt voller Wunder. Als dann Emma gekommen war, hatte sie diesen bohrenden Blick bekommen. Am Abend vor der Geburt hatte sie ein blaues Meer gemalt, ein rotes Haus, eine gelbe Sonne und Fra’ Martino gesungen oder Lieder der Band Afterhours – ihr gefiel vor allem die Ballata per la mia piccola iena, die sie mit ihrem Vater mitkrähte – und ihre Mutter angebettelt, Aristocats anschauen zu dürfen, »noch mal, Mama, noch mal«. Als sie am nächsten Morgen mit ihren vier Jahren kerzengerade neben dem Papa in der Klinik gesessen hatte, hatte sie Mutter, Vater und die neugeborene Schwester nur ausdruckslos angestarrt. Seitdem war sie für Francesca und Massimo der Oberfeldwebel.

Aristocats hatte sie danach nie wieder sehen wollen. »Das ist ein uralter Zeichentrickfilm, Mama«, erklärte sie verächtlich, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Doch jetzt war sie wie ausgewechselt.

Massimo und der Hausmeister unterhielten sich, doch Francesca hörte nicht zu. Emma auf ihrem Arm hatte sich beruhigt, und sie sah sich unterdessen die Wohnanlage an.

Es waren sechs blaue, äußerst gepflegte Gebäude, die sich auf zwei Seiten eines Hofs in Dreiergruppen gegenüberstanden. Jedes von ihnen verfügte über fünf Stockwerke sowie eine Dachterrasse. Einige Wohnungen hatten Balkone, deren Geländer in demselben Rot gestrichen waren wie das Tor. Die Balkone waren voller Blumen und Blumentöpfe – Kamelien, Veilchen, Mandarinenbäumchen, Jasmin, Mimosen, sogar eine kleine Bananenstaude, so als wetteiferten die Bewohner miteinander. Massimo hatte Biologie studiert, und inzwischen kannte auch sie fast alle Pflanzennamen. Überall duftete es nach Blüten und Grün. Die Fensterläden und Fenster der Wohnungen waren ausnahmslos weit aufgerissen.

Bei genauerem Hinschauen fiel Francesca auf, dass es nirgendwo Vorhänge gab. Man konnte in diese Wohnungen hineinschauen, die schon von Weitem pieksauber wirkten, perfekt, mit Menschen, die sich darin bewegten wie in den virtuellen Modellen eines tüchtigen Architekten.

Francesca wandte sich von den Gebäuden ab. Erst da bemerkte sie, dass es im Hof von Kindern nur so wimmelte. Und erst da nahm sie das muntere Kreischen wahr, das Gelächter, das Getrappel von Schritten und Wettrennen. Auf Anhieb hatte sie ein gutes Gefühl. Hinten, vor den letzten beiden Gebäuden, wurden eine rot-gelbe Plastikrutsche und eine rote Schaukel von den Kleinsten in Beschlag genommen. Und noch weiter hinten, ganz am Ende der Anlage, stand ein nagelneuer zitronengelber Schuppen. All diese Farben kündeten von Frühling und glänzten in der fast schon sommerlichen Sonne.

»He, hilfst du mir?« Massimo schüttelte Francesca leicht und holte sie ins Hier und Jetzt zurück, sodass sie am liebsten alles andere ausgeblendet und ihn umarmt hätte.

Doch das ging nicht, weil ihr Massimo, selbst schwer bepackt, bereits einen Rollkoffer zuschob. Auf einem Arm Emma und an der anderen Hand den Rollkoffer, ging Francesca auf den Aufgang B zu. Massimo verschwand im Hauseingang. »Mama?« Angela rief nach ihr, und Francesca drehte sich um. Ein kleiner Stein traf sie an der Stirn.

Sie sah tatsächlich Sterne. Emma zappelte. »Was zum Teu…«

»Entschuldigung, Signora!« Ein etwa sechzehnjähriger Junge kam auf sie zu, dünn, extrem gut aussehend, mit einer dicken Mähne, die ihm im Laufen bis auf die Schultern fiel. »Alles in Ordnung? Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie vielmals.« Der junge Mann hatte sie erreicht. Er war ein wenig verschwitzt, das Gesicht leicht zerknirscht, aber doch unschuldig, der Körper gelenkig und energiegeladen. Hinter ihm tauchten zwei etwa fünfjährige kleinlaute Mädchen auf, in Erwartung einer ordentlichen Standpauke. Der junge Mann zeigte auf sie und sagte atemlos: »Wir haben Himmel und Hölle gespielt, und Teresa hat den Stein zu weit geworfen. Bitte verzeihen Sie. Alles in Ordnung, oder? Teresa, entschuldige dich bei der Frau.« Widerwillig trat Teresa vor, knallrot, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den verstrubbelten Kopf gesenkt. Francesca massierte sich die Stirn. »Entschuldigung«, würgte Teresa hervor. Ihr schwarzes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, die blauen Augen hatten goldene Einsprengsel. »Gib der Frau die Hand«, sagte der junge Mann. Das Mädchen gab ihr eine knubbelige Kleinkindhand. Ums Handgelenk trug es ein winziges knallrotes Armband, kaum mehr als ein zusammengeknoteter Faden.

Angela, die sich hinter ihrer Mutter versteckte, schaute das Mädchen feindselig an. Francesca wandte sich an den jungen Mann und zeigte auf Emma. »Ihr hättet meine Tochter treffen können.«

»Bitte sagen Sie es keinem«, meinte der und kreuzte verlegen die Beine. »Die Eltern bezahlen mich dafür, dass ich sie im Auge behalte und …« Jetzt hatte er den gleichen Gesichtsausdruck wie Teresa, was ihn nur noch schöner machte, zu einem jungen Mann von einer solch offensichtlichen, ihm aber selbst gar nicht bewussten, vielversprechenden Schönheit, dass sie dachte: Das wird toll, wenn meine Töchter erst mal so alt sind wie er. Das Mädchen hinter Teresa langweilte sich. Es warf die Arme hoch und fing an, im Kreis zu laufen, wobei es so tat, als würde es fliegen. Es trug das gleiche rote Armband.

»Du-hu?«, sagte Teresa auf einmal quietschvergnügt zu Angela. »Kommst du mit zur Rutsche? Ich rutsch gern, das heitert mich auf.« Heitert mich auf? Francesca musterte sie. Auch Angela entschlüpften manchmal solche Sätze. Sie musste schmunzeln.

»Darf sie?«, fragte der junge Mann.

»Wenn sie Lust dazu hat«, sagte Francesca. – »Nein«, erklärte Angela mit funkelndem Blick und versteckte sich noch weiter hinter ihrer Mutter. Teresa und ihre Freundin gingen ungerührt davon und begannen, Fangen zu spielen. Kreischend blieben sie vor einer Katze stehen, ein weiß-graues Katzenbaby, der Kopf klein und rund, die Augen halb geschlossen und mit so etwas wie einem seligen Lächeln bei den Liebkosungen der Mädchen. Ein Stück weiter standen zwei Schälchen, eine mit Katzenfutter und eine mit Wasser. Erst beim Anblick der Katze taute Angela auf. Dennoch kam sie nicht hinter ihrer Mutter hervor.

»Das ist Birillo, das Kätzchen der Wohnanlage. Alle lieben es. Und es gehört allen.« Der junge Mann stützte die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich zu Angela hinunter. »Es ist immer hier, wenn du mit ihm spielen willst. Jetzt ist es auch dein Kätzchen.«

Der junge Mann wartete, doch Angela ignorierte ihn. »Da kann man nichts machen, ich kann sie ja nicht zwingen, mir zu vergeben.« Er lächelte entschuldigend. »Ich bin übrigens Carlo. Verzeihung noch mal. Und herzlich willkommen.« Dann eilte er hinter den Mädchen her.

3

Die Wohnung im fünften Stock lag vor ihnen, genau wie sie sich das vorgestellt hatte. Zusammen mit Massimo hatte Francesca sie nur wenige Male besichtigt, und auch allein nicht sehr oft. Mit den Kindern und ihrer Arbeit war es nicht leicht gewesen, die Fahrt von Mailand nach Rom zu organisieren. Also war entweder sie gefahren, während er mit den Töchtern daheimblieb, oder umgekehrt. Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse in den Kauf dieser Wohnung gesteckt, all ihre Anstrengungen. Bei diesem Gedanken wurde sie ganz aufgeregt: Alles ist möglich. Für Francesca war es ein Sprung ins Ungewisse, ihren heiß geliebten Job bei der Zeitschrift aufzugeben, ihre beste Freundin und Kollegin Eva, die Leute, die sie seit jeher kannte, ihren Vater, die Orte ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihres Erwachsenwerdens – mit einem Wort: Mailand, das all das beinhaltete – und Massimo nach Rom zu folgen, wo sie niemanden kannten. Die Eltern ihres Mannes, Ur-Mailänder, waren vor ungefähr zehn Jahren aufs Land nach Fiesole gezogen. Das war zwar nicht allzu weit weg von Rom, doch die beiden verließen ihr Refugium im Grünen so gut wie nie. Kaum lebten sie dort, gaben sie Auto-, Zug- und Flugreisen auf. »Die längste Strecke, die ich noch zurücklege, ist die von unserem Haus zum Zeitungskiosk«, hatte Massimos Vater verkündet. Und seine Worte in diesen zehn Jahren kein einziges Mal Lügen gestraft.

Francesca hatte als Grafikerin lange für mehr Verantwortung gekämpft und es mit der Zeit in eine leitende Position geschafft, die ihr großen Einsatz abverlangte. Als Massimo und sie beschlossen, Kinder in die Welt zu setzen, und erst Angela und dann Emma kam, gelang es ihnen, sich gegenseitig zu unterstützen, die Verpflichtungen des jeweils anderen zu respektieren. Alles schien sich bestens eingespielt zu haben, Emma war gerade ein halbes Jahr alt geworden, und Francesca hatte wieder angefangen zu arbeiten, als die Nachricht kam.

»Schläfst du?«, hatte Massimo in jener Nacht gefragt. »He, schläfst du?«

»Ja, ich hab schon geschlafen.« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Was ist denn los?«

Massimo wagte es kaum, mit der Wahrheit herauszurücken. In Rom war eine Assistenzprofessur ausgeschrieben worden, und er hatte hervorragende Chancen, sie zu bekommen.

Sie überlegte kurz. »Wir reden morgen drüber, einverstanden?« Doch schon wenige Minuten später schmiegte sie sich an ihn, umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist ja superaufregend. Ich hab schon eine Idee.« Worum es sich dabei handelte, verriet sie ihm nicht. Als er sie die nächsten Tage danach fragte, gab sie sich geheimnisvoll und lächelte nur.

Einen Monat später erfuhren sie, dass Massimo die Ausschreibung gewonnen hatte. »Bist du sicher, dass du umziehen willst?«, fragte er. Sie schlang ihm die Arme um den Hals.

Gleich am nächsten Tag rief sie ihre Freundin, die Redakteurin, an. »Jetzt ist der Moment gekommen«, sagte sie. »Jetzt ist der Moment gekommen, es zu wagen und dieses Buch zu machen, um das du mich schon so lange bittest.«

Ihre Freundin, die Redakteurin, am anderen Ende der Leitung jubelte. »Fraaaa!« – sie redete immer so – »Was für eine Naaaachricht! Fantaaastisch! Wann gibst du ab?«

Den Text hatte Francesca bereits. Es war ein Kinderbuch, das ihr schon lange vorschwebte. Der Titel war Mein Freund, Herr Dunkelheit, nur noch die Illustrationen fehlten. Zeichnen war Francescas Leidenschaft, das Allerschönste auf der Welt für sie, doch bisher hatte sie nur für sich gezeichnet. Sich immer gesagt, dass sie eines Tages alles stehen und liegen lassen würde, um ihren Traum zu verwirklichen. Und jetzt war dieser Moment gekommen. »Wann muss ich denn abgeben?«

Gleich nachdem sie dem Chefredakteur ihren Entschluss mitgeteilt hatte, kündigte sie ihre Stelle als Art Director bei der Zeitschrift. Man bat sie, noch zwei Monate zu bleiben, die vergingen wie im Flug. An ihrem letzten Tag in der Redaktion flossen reichlich Tränen.

»Bist du wirklich sicher?«, fragte Eva auf dem gemeinsamen Nachhauseweg, als sie an den Navigli vorbeikamen. Sie blieb stehen und sah ihre Freundin an. »Du spinnst doch. Die Zeitschrift ist doch dein Traumjob.«

Doch Francesca zweifelte keine Sekunde. Dies war Massimos Riesenchance, das Ergebnis jahrelanger Schufterei. Eine Chance, die er sich mit seiner Leidenschaft und seinem Talent verdient hatte.

Ihr Mann würde am Fachbereich Umweltbiologie lehren und an einem renommierten internationalen Forschungsprojekt mitwirken. Die Belohnung für ein Leben voller Entbehrungen. Sie selbst konnte von jeder Stadt, von überall aus arbeiten. Eine strahlende Zukunft lag vor ihr – nicht nur beruflich, sondern auch sonst. Und das in einer neuen Stadt, die sie liebte, voller Menschen und Sonne: Rom.

Und nun stand sie in der neuen Wohnung und bebte vor Freude. Sie war groß, lichtdurchflutet und brandneu. Francesca hatte den Eindruck, von ihr mit den Worten empfangen zu werden: »Ihr lieben vier, hier bin ich, für euch.« Angela schlüpfte ins Wohnzimmer und warf sich auf das weiße Sofa. Auf dem Sessel standen Kartons.

Das ganze Wohnzimmer war voll Gepäck. Zwischen einem petrolfarbenen Rollkoffer mit gelben Rädern und einem ausladenden Beautycase mit kupferfarbenen Scharnieren schauten Signor Peppe, Angelas Teddy, und Diavolo, der Teddy von Emma, hervor – das gleiche Modell, nur in kleiner. Es war der Oberfeldwebel gewesen, der ihn so getauft hatte, Diavolo, als Psycho ihren in zwei Teile gerissen hatte. Die Füllung war herausgequollen und hatte Signor Peppes Eingeweide ausgespuckt.

»Du Teufel«, hatte Angela gesagt und den Teddy ernst angeschaut. Jetzt verlief eine grobe Naht quer über Signor Peppe wie nach einer Operation am offenen Herzen. Die Sonne schien frech und wunderschön durchs Fenster, direkt in die Wohnung. Alles war perfekt.

Zufrieden setzte sich Francesca neben ihre Tochter und checkte ihr Handy. Vier ungelesene Nachrichten. Nur zwei davon waren wichtig. Die von Eva: »Du fehlst mir jetzt schon, liebste Freundin, aber ich bin mir sicher, alles ist bestens. Du hast eine wunderbare Familie, das habt ihr zwei fantastisch hingekriegt, gute Fahrt, meine Liebe, ich komm euch ganz bald besuchen!!!« (Eva lebte allein, mit einem Sohn, der jetzt in die Grundschule an der Porta Romana ging, nur wenige Schritte von ihrer alten Mailänder Wohnung entfernt.) Und die SMS von ihrem Vater: »Viel Glück, Kleines.« Er hatte nie aufgehört, sie so zu nennen, und jetzt nannte er auch ihre Töchter so. Kleines, Kleines Nummer 2 und Kleines Nummer 3. Nur dass sich ihre gesamte Beziehung darin erschöpfte. Besser so.

»Fra?« Massimo kam strahlend aus dem Schlafzimmer. »Komm mal gucken.« Auch ihr Zimmer war genau so, wie sie es sich gewünscht hatten: groß, hell, ganz in Weiß. Sie sahen sich an. Hier würden sie ihre Bilder wunderbar aufhängen können. In einer Ecke stand schon Emmas Laufstall, in den Francesca sie mitsamt ihrem Diavolo hineinsetzte, um die Hände frei zu haben. Endlich konnte sie Massimo umarmen. »Hast du auch das Gefühl, dass uns die Wohnung willkommen heißt?«, fragte er, ruderte dann jedoch zurück. »Egal.« Weißt du was?, hätte sie ihm gern gesagt. Genau das hab ich auch gedacht. »Sie ist perfekt«, erwiderte sie stattdessen. Sie küsste ihn, und er küsste sie, sie küssten sich, und er strich ihr mit einer Hand sanft übers Knie, dann über den Schenkel und schließlich über die nackte Haut unter dem karierten Rock. Er ließ sie immer weiter nach oben wandern, berührte sie nur ganz sanft, und ihr wurde gerade auf eine wunderbare – köstliche – Art schwindlig, als aus dem Nebenzimmer eine Stimme ertönte. »Die Sonne ist schon ganz oben am Himmel, Zeit fürs Mittagessen«, befahl der Oberfeldwebel.

»Du bist schuld, du hast ihr das beigebracht.« Francesca lachte. »Zu Befehl, Frau Oberfeldwebel!« Auch Massimo lachte und ging zu Angela. Francesca streckte sich auf dem Ehebett aus. Wie groß es war, wie bequem – sofort stellte sie sich Massimo und sich nackt darin vor, Massimos Hände, Massimo, der sie küsste, und Massimo, der sie berührte. Wohlig seufzend ließ sie lächelnd die Augen halb zufallen.

Sie nahm die Brille ab. Ohne sie sah sie so gut wie nichts. Sie hatte es mit Kontaktlinsen versucht, aber das hatte einfach nicht funktioniert. Im Übrigen mochte sie ihre Brille. Massimo ebenfalls. Er meinte, sie mache sie noch erotischer. Sie schlug die Augen wieder auf und glaubte, einen kleinen dunklen Fleck an der Zimmerdecke zu erkennen. Schimmel vielleicht? Aber nein, das war kein Fleck: Es bewegte sich, es atmete.

Sie stützte sich auf und sah genauer hin. Tatsächlich wand sich da etwas an der Decke wie ein Wurm, bloß größer, schleimiger.

Prall, als hätte es sich den Bauch vollgeschlagen – womit? – und stünde kurz davor zu platzen. Sie setzte die Brille wieder auf. »Massimo?«, wollte sie schon rufen, als sie beim nochmaligen Hinschauen keine Bewegung mehr entdecken konnte. Sie wartete. Nichts. Jetzt kam es ihr wieder vor wie ein x-beliebiger Fleck. Das muss ich beobachten, machte sie sich eine Gedankennotiz – an einem dieser Orte, zu denen niemand Zugang hat, nicht einmal man selbst – und hatte es auch schon wieder vergessen. Sie hörte vertraute Geräusche aus dem Wohnzimmer und schloss wieder die Augen.

»Du spinnst doch, bei der Zeitschrift zu kündigen. Das ist dein Traumjob«, hörte sie noch einmal Evas Worte und lächelte. Ich spinne nicht, ich werde endlich frei sein.

4

Es klingelte. Massimo kam ins Schlafzimmer gestürzt. »Wer ist denn das, wer kann das sein, hier herrscht das reinste Chaos.« Tatsächlich quoll die Wohnung schier über von Koffern und Kartons, die das Umzugsunternehmen wahllos irgendwo abgestellt hatte.

»Wir sind gerade erst angekommen. Da ist so ein Chaos ganz normal.« Francesca reckte sich, erhob sich vom Bett und war bereit.

Eine sehr gut gekleidete Dame um die siebzig – Seidenbluse und schwarze Hose, antike Goldohrringe, die schlicht, aber elegant über ihren Schultern baumelten, blonde, modische Kurzhaarfrisur – hatte einen Strauß weißer Narzissen in der Hand, den sie etwas von sich weghielt, während sie kerzengerade bei ihnen auf der Schwelle stand. »Ich hätte auch einen Kuchen backen können«, sagte sie mit einem leichten französischen Akzent, als läge dieser seit Jahren unter einer anderen Sprache begraben, »aber ich wollte euch nicht vergiften.« Sie lächelte. Ein anziehendes, nur angedeutetes Lächeln. »Willkommen im Giardino di Roma.« Sie musterte sie mit eisblauen Augen. Das war nun schon die Dritte, die sie … seit wann willkommen hieß? Seit wenigen Stunden. Die Vierte, wenn man die Wohnung mitzählte.

Francesca und Massimo wussten nicht, wo sie sie Platz nehmen lassen sollten, das Wohnzimmer glich einem Schlachtfeld, auf dem Emma ausgerechnet gerade in diesem Moment aufwachte. Leider pflegte Psycho nicht so aufzuwachen wie andere Kinder, sondern wurde dabei fuchsteufelswild.

Massimo holte die Kleine, während Francesca nach einem freien Stuhl suchte, damit die Dame sich setzen konnte. Diese zuckte nicht mit der Wimper – weder wegen des Durcheinanders noch wegen Emmas Geschrei. Sie schuf auf dem weißen Holztisch etwas Platz und legte den Blumenstrauß mit der Nonchalance einer Diva auf die glänzende Oberfläche. »Ich bin Colette, meine Liebe.« Sie reichte ihr die Hand, an dem weißen Handgelenk klimperten schmale Armbänder, Kreise aus dunklem Gold.

Kurz darauf hatte die alte Dame, die wie eine Schauspielerin wirkte – was, wenn sie eine Art Oma für die Kleinen wird?, dachte Francesca, eine superelegante Oma, es wäre toll, wenn sie auch mal so würden –, in den Umzugskartons irgendwie Wasserkocher und Tassen ausfindig gemacht, gleich beim ersten Versuch, wobei sie mehr oder weniger durch das Chaos tanzte, darüber hinwegschwebte, sodass die drei Erwachsenen jetzt an grünem Tee nippten. (»Ich dachte mir schon, dass ihr keinen im Haus habt«, hatte sie gesagt und drei Teebeutel aus ihrer Handtasche hervorgezaubert.) Colette wohnte, wie sich herausstellte, im dritten Stock desselben Gebäudes. Jetzt erzählte sie von den Nachbarn. Francesca hörte wie hypnotisiert zu. Massimo versuchte, ein Gähnen zu verbergen. »Und dann ist da noch Signora Russo, die wird euch damit vollquatschen, wie besonders ihre Tochter Bea ist. Der Mann ist nie in Rom, er ist Schauspieler« – sie flüsterte den Namen, und tatsächlich war es ein sehr bekannter Schauspieler – »bei dem, was der verdient, könnten die sich auch eine Wohnung im Zentrum leisten, aber er wohnt gerne hier. Wir kennen uns alle.« Massimo wollte unter einem Vorwand aufstehen, doch die Frau legte ihre Hand auf seine und sprach weiter. »Signora Russo ist eine reizende Frau. Das sind hier wirklich alle. Wir sind ausnahmslos miteinander befreundet oder verwandt. Wir haben eine Wohnbaugruppe gegründet, Jahre gewartet, bis alles konkret wurde, und dann …«, ihre Miene verdüsterte sich, die eisblauen Augen durchbohrten Francesca, »… und dann hat es mein Mann nicht mehr geschafft, mit umzuziehen.«

Inzwischen langweilte sich Emma auf Massimos Arm. Der Vater versuchte, sie zu beschäftigen. Angela war schon in ihrem neuen Zimmer verschwunden. Francesca öffnete den Mund, um etwas sagen, doch Signora Colette kam ihr zuvor und ergriff erneut das Wort. »Dann haben wir da noch Michela Nobile und ihren Mann Luca, ein junges Paar, und wir freuen uns sehr, dass sie ein Kind erwarten – noch ein Kleines, das hier geboren werden wird.« Sie lächelte und schaute über Francesca hinweg in die Ferne. »In deren Gebäude wohnen auch die Senigallias. Ihr Sohn wird Sie nur so mit Fragen bombardieren. Trotzdem, ein fantastisches Kind. Die sind völlig verrückt nach … wie heißt das noch gleich, Fitness? Und dann sind da noch die Aleccis, Marika und Giulio. Reizende Leute.« Das Adjektiv musste ihr wirklich sehr gefallen: reizend. »Sie haben ein Geschäft in Rom, sind mehr oder weniger nie zu Hause. Die Tochter ist immer bei den Großeltern. Die wohnen hier im zweiten Stock. Ein Paar im fortgeschrittenen Alter. Wie ich.« Wieder dieses nur angedeutete, verführerische Lächeln. »Die Enkelin ist ein hochintelligentes Kind, einfach großartig. Aber, liebe Francesca, du hast Teresa ja schon kennengelernt.« Signora Colette fixierte sie, ihre Augen schienen noch schmäler zu werden, in ihnen verbarg sich ein vieldeutiges Lächeln. Woher wusste sie das mit Teresa?

Erneut setzte Francesca zum Sprechen an, doch die Signora ließ sie nicht zu Wort kommen. »Carlo hast du ebenfalls getroffen, wenn ich mich nicht täusche. Ein Goldstück.« Psycho begann zu quengeln, und Massimo sprang auf. »Entschuldigung, ich muss ihr die Windeln wechseln«, sagte er, dem Kind dankbar dafür. Signora Colette redete unbeirrt weiter. »Carlos Mutter ist Gymnasiallehrerin, sie unterrichtet Englisch. Sie wohnt mit ihrem Sohn im zweiten Stock, auf derselben Etage wie Teresas Großeltern. Sie und ihr Mann waren bereits geschieden, bevor sie hierhergezogen ist. Irgendwann haben hier alle ihre Sprösslinge diesem jungen Mann anvertraut, er verdient sich ein Taschengeld und kann hervorragend mit Kindern umgehen, wobei ich noch hinzufügen möchte, dass …« Auf einmal erklang Musik.

Sie schien aus dem Inneren der Wohnung zu kommen, ja aus dem Zimmer, in dem sie gerade saßen. Cellomusik. Francesca lauschte. Auch Signora Colette verstummte. Francesca meinte den Bogen förmlich über die Saiten tanzen zu sehen. In den Klängen dieser Musik konnte sie eine weite Wiese sehen, einen prachtvollen Sonnentag, einen atemlosen Wettlauf. Sie hätte nicht sagen können, warum, war sich aber sicher, dass diese Musik direkt zu ihr sprach. Ihr sagte, dass sie am richtigen Ort sei. Dass das hier ihr Ort sei. Der tiefe und weiche Klang erfüllte die ganze Wohnung. Francesca hielt den Atem an.

Signora Colette seufzte: »Darf ich vorstellen? Unser Nachbar aus dem Erdgeschoss, Fabrizio Mancini.« Sie rückte so nahe an Francesca heran, dass dieser die Ohrringe direkt vor den Augen baumelten und Francesca den feinen Duft der alten Dame wahrnahm. »Freundlich, das schon. Aber von ihm hört man kaum mehr als Guten Tag, Guten Abend, danke und bitte. Wenn man ihm etwas entlocken will, muss man ihm die Worte aus der Nase ziehen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ein Musiker?«, fragte Francesca, während sich die Klänge im gesamten Raum ausbreiteten, unbeschwert durch die Wände drangen und mit ihnen weitere Bilder: das Ende eines zauberhaften Tages am Meer, ihre Jugend, ein Sprung in warmes Wasser voller Fische. »Ja«, sagte die Frau herablassend. »Sicher, un beau garçon oder besser gesagt un canon, wie man heute sagt, mehr aber auch nicht«, beschied sie. Sie machte eine Geste, die Francesca nicht recht deuten konnte. »Er gibt einigen Kindern aus der Wohnanlage Musikunterricht.« Sie verstummte für einen Augenblick. »Und dann ist da noch Vito.« Wieder dieses zuckersüße, rätselhafte Lächeln. »Den dürftest du schon gesehen haben, meine Liebe, unser Hausmeister ist ein Geschenk des Himmels.« Ihre Augen strahlten. »Er ist ein guter Freund der Familie. Ich kenne ihn mehr oder weniger schon, seit ich denken kann. Dasselbe gilt inzwischen auch für die anderen Bewohner: Es ist, als wäre er einer von ihnen. Er geht ganz in seiner Arbeit auf.« Francesca wollte gerade sagen: »Ja, genau, er wirkt äußerst …«, doch Colette drehte den Kopf, öffnete ihren schönen, mit einem Hauch dezenten Lippenstift versehenen Mund und meinte: »Und, was kannst du mir so erzählen?« Francesca wollte antworten, doch Colette sah plötzlich auf die Uhr. »Es ist schon sehr spät!« Sie sprang auf, federnd und anmutig wie eine Zwanzigjährige. »Entschuldige mich, meine Liebe, ich muss wirklich los.« Und im Nu war sie verschwunden.

Massimo tauchte erst wieder auf, als er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Vorsichtig schaute er ins Zimmer. »Weg?«, formten seine Lippen.

»Weg.« Francesca lachte. »Oder besser gesagt, verflüchtigt wie eine Fee.«

Emma krabbelte überglücklich zwischen ihren Beinen herum. »Fee?« Mit einer demonstrativen Geste wischte sich Massimo den Schweiß von der Stirn. »Von wegen Fee, eine Hexe ist das! Die findet ja kein Ende.« Er sah sich um. »Oje, hoffentlich wurden wir nicht mit dem schlimmsten Fluch überhaupt belegt: mit einer aufdringlichen, geschwätzigen Nachbarin.« Erschöpft, aber belustigt ließ er sich aufs Sofa fallen. »Besser gesagt mit einem ganzen Heer von aufdringlichen Nachbarn. Wir sind immer zusammen, wir kennen uns schon ein Leben lang …«, ahmte er Colettes Stimme nach. »Ich will mit niemandem reden. Schon das Konzept Nachbarschaft ist mir verhasst, und das weißt du ganz genau.«

»Jetzt komm schon!« Francesca grinste. »Ich finde sie sympathisch. Und faszinierend, oder? Eine sehr schöne Frau.«

»Kann sein.« Emma kletterte auf Massimos Schoß, er zog lächelnd die Beine an und ließ sie darauf reiten. Das Kind lachte. »Ich habe mich zu Tode gelangweilt.« Er tat so, als würde er mit einer Schlinge erdrosselt. »Was, wenn alle so sind? Der reinste Horror …«, tönte er mit unheimlicher Stimme.

»Du verstehst das nicht.« Bestens gelaunt riss Francesca das Fenster auf und schaute in den Hof hinunter.

»Komm mal her«, sagte Massimo. »Bitte, lass uns noch ein wenig über diese fantastischen Miteigentümer reden.«

Francesca setzte sich zu ihrem Mann und ihrer Tochter. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich, während Emma vergnügt auf ihren Eltern herumkletterte. Angela kam auch dazu, sie strahlte übers ganze Gesicht und begann zu berichten, was sie alles gesehen, gehört und sich ausgedacht hatte.

Seit ihrer Geburt war der kleine Psycho Emma eine schlechte Schläferin. Doch in dieser Nacht, in ihrer ersten Nacht in der neuen Wohnung, nickte sie schon früh ein und schlief durch wie ein Stein. In ihrer dreisten Vollkommenheit lag die Einjährige in ihrem Bettchen auf dem Bauch, alle viere von sich gestreckt, der halb offene Mund eine rot glänzende Rosenknospe, das Haar weich und lockig. Auch Angela schloss nach der allabendlichen Gutenachtgeschichte, die ihr der Vater erzählte, brav die Augen.

»Hier ist es wirklich schön, Papi«, sagte sie bereits im Halbschlaf.

Francesca und Massimo unterhielten sich noch angeregt bis tief in die Nacht wie zwei Halbwüchsige. Irgendwann drohte ihr Gelächter Psycho und den Oberfeldwebel zu wecken. Etwas später, während die Mädchen schliefen und die Wohnung in den Duft dieses vorzeitigen Frühlings gehüllt war, liebten sie sich. In ihrem neuen Bett, in sauberer Bettwäsche liebten sie sich und liebten sich noch einmal, Arm in Arm schliefen sie ein.

Mit lockigem Haar wie das von Angela und Emma, nur dass seines dick und voll war, schlief Massimo neben ihr. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, und das Laken hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Francesca spürte den Körper ihres Mannes nah an ihrem. Sie spürte, dass sie von der Wohnung umhüllt war, einer Wohnung, die zu der ihren werden würde, in einem Viertel, das zu ihrem Viertel, und in einer Stadt, die zu ihrer Stadt werden würde. Sie hatte keine Angst vor der Zukunft. Auf einmal war sie nicht mehr müde. Hungrig wachte sie auf. Draußen war es noch Nacht.

Bald darauf kam auch Massimo in die Küche, die Haare auf einer Seite vom Kissen ziemlich komisch platt gelegen. »Hunger?« Sie lächelte ihn an und reichte ihm eine Packung Kekse. Er gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. »Wie ein Wolf.« Sie aßen, plauderten und schmiedeten Zukunftspläne, bis er gähnte und sagte: »Ich geh dann mal wieder ins Bett. Noch ein Stündchen.« Es war eine lange, herrliche Nacht.

Kaum war Francesca allein, trat sie ans Wohnzimmerfenster und schaute in den menschenleeren Hof. Die gesamte Wohnanlage wirkte unbewohnt. Die Laternen flackerten, einige waren bereits ausgegangen, im absoluten Vertrauen darauf, dass der Tag anbrechen würde. Das gleiche absolute Vertrauen, das Francesca auch in die Familie hatte, die sie gemeinsam mit Massimo gegründet hatte – aus dem Nichts, wie Träume –, und in das Glück, das ihr jetzt zuteilgeworden war. Es war eine stabile Sache, so konkret wie ein Ziegelstein, wie eine Wohnanlage. Die Bäume wiegten sich im Wind. Im Dunkeln inhalierte Francesca die kühle Luft und rauchte.

Und als auch sie wieder ins Bett ging und sich in Massimos Arme schmiegte, war hier drinnen eine Atmung, regelmäßig und genauso klar zu erkennen wie das Weiß, genauso wahrhaftig wie die Nacht. Und das war die Atmung der Wohnung.

5

Francesca streckte die Hand in Massimos Betthälfte aus. Doch da war niemand. Sie setzte die Brille auf und schaute auf die Uhr. 6 Uhr 30. »Massimo?« Das Echo ihrer Stimme dehnte sich aus und hallte von den Wänden wider. »Massimo Massimo Massimo«, schien die Wohnung zu sagen. »Massimo?«, kam es zurück.

Stattdessen antwortete ihr ein Schrei, kein fuchsteufelswilder, aber dennoch ein Vorbote der Katastrophe. »Finger!«, tönte es aus dem Kinderzimmer. Damit Angela nicht auch noch aufwachte, stand Francesca rasch auf. Das Schlafzimmer war leer. Als sie den Flur betrat, wirkte er überraschend kahl auf sie. »He, Wohnung«, sagte sie, »was ist denn heute Morgen mit dir los?«

Es war aber doch jemand da. Emma hatte sich am Gitter ihres Bettchens auf die Knie hochgezogen und grinste sie unbekümmert an. Sie schlief erst seit Kurzem nicht mehr im elterlichen Zimmer, und Francesca wachte noch immer mitten in der Nacht irritiert auf, in der festen Überzeugung, sie wäre noch bei ihr. Sie fehlte ihr. Emma, die zwar sehr an ihrer Mutter hing, schien jedoch gut damit zurechtzukommen, mit der großen Schwester in einem Zimmer zu schlafen. »Finger.« Sie streckte die Arme nach ihrer Mutter aus. Francesca blieb kurz in der Tür stehen, betrachtete ihre Töchter und lächelte.

Es war ungewohnt, sich nicht abzuhetzen, um Frühstück zu machen, die Kinder für Krippe und Kindergarten fertig zu machen, sich gegen die kurzen, aber herzzerreißenden Abschiedszeremonien ihrer beiden Töchter zu wappnen und in die Redaktion zu eilen, wo sie sofort von Telefonaten, Mails und Verpflichtungen bestürmt wurde. Was sollte sie jetzt bloß machen?

Das, worauf sie sich seit Monaten unbändig gefreut hatte und was sie von nun an jeden Tag machen würde. Sich um Emma kümmern, die bis zum Herbst wie besprochen bei ihr zu Hause bleiben würde, sich um Angela kümmern, die nach ein bisschen Eingewöhnungszeit in der neuen Wohnung den neuen Kindergarten besuchen würde, und dann an dem Kinderbuch arbeiten. Einer Sache, die nur ihr gehörte.

Sie würde einkaufen gehen, kochen, mit den Kindern essen. Während Emma schlief, mit Angela spielte oder bei ihr war, während sie arbeitete, würde sie Zeit haben, all das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte. Unglaublich: ein anderes Wort für Paradies! Der Tag würde vergehen wie im Flug, und Massimos Arbeit an der Universität war wichtig – ein Karrieresprung, der ihn für eine ordentliche Professur qualifizieren würde. Doch er hatte ihr versichert, dass ihn die neue Stelle zumindest am Anfang noch nicht übermäßig beanspruchen würde. »Um drei werde ich immer zu Hause sein«, hatte er versprochen.

Sie nahm Emma auf den Arm. »Guten Tag, mein Schatz!« Sie drückte sie an sich – wie gut sie duftete! Freude erfüllte sie. Gedanken fahren Achterbahn, schicken einen direkt in den siebten Himmel, um einen dann ganz nach Lust und Laune wieder in tiefste Dunkelheit zu stürzen – eine Achterbahn, die ihren ganz eigenen Willen hat, der schwankt, sich durchsetzt, ein Eigenleben führt. Doch Francesca kannte keine Dunkelheit. Entweder du kennst sie schon immer, oder du lernst sie niemals kennen.

Die Verwirrung hatte nur einen Moment gedauert, und sie vergaß ihn sofort wieder. Sie lachte laut auf. »Finger«, wiederholte Emma und umklammerte den Finger der Mutter, »Woh-nung« (hatte sie tatsächlich Wohnung gesagt? Francescas Herz schlug höher). Sie lächelte, ein so strahlendes Lächeln, dass es sich in der gesamten Wohnung ausdehnte. Und die Wohnung lächelte zurück.

»Hast du Hunger?«, flüsterte Francesca. »Was meinst du … lass mich überlegen … vielleicht hast du ja Lust auf … Milch und Kekse?« Emma stieß einen Freudenschrei aus. Sie konnte noch nicht gut sprechen, aber es war erstaunlich, wie viel sie in den letzten Wochen gelernt hatte zu verstehen. Fast schon zu viel für ein Kind ihres Alters, fand Francesca manchmal. Wie war das bei Angela gewesen? Wann hatte sie angefangen, alles oder fast alles zu verstehen? »Mama!«, kam eine andere Stimme aus einem anderen Bett. Lächelnd verdrehte Francesca die Augen: noch jemand. »Die Sonne scheint! Kommt, wir gehen raus!«, sagte die andere Stimme, und Angela hüpfte auf dem Bett herum, als wäre dieses glühend heiß. Im Kinderzimmer, das auf Angelas Wunsch hin gelb gestrichen worden war (mit Ausnahme der blauen Zimmerdecke, »an die wir natürlich Sterne kleben, die nachts leuchten, mein Schatz«), waren die Rollos heruntergelassen. Das einzige Licht stammte von der Peppa-Wutz-Lampe, ohne die Angela kein Auge zutat. In Wahrheit war es draußen noch dunkel. Warum sagte Angela dann »Die Sonne scheint«?

»Magst du nicht noch ein bisschen schlafen, Kleines?«, fragte Francesca hoffnungsfroh. Kleines, dachte sie. Ich habe sie nie Kleines genannt, für uns ist sie der Oberfeldwebel. Woher kam auf einmal dieses Kleines? Ihr eigener Vater hatte sie früher jeden Tag so geweckt und ihr ein Lied vorgesungen. Wo war ihre Mutter in diesen wunderschönen Morgenstunden gewesen? Francesca wusste, dass sie dagewesen war. Ihre Mutter war eine perfekte Mutter gewesen, eine glückliche Mutter: immer präsent, liebevoll, zu jedem Problem hatte sie eine Geschichte gewusst, um es zu lösen – und das Problem löste sich danach tatsächlich. Francesca wusste das und zwar nicht, weil man es ihr erzählt hätte. Es gehörte zu ihrem Erfahrungsschatz, zu den Erinnerungen, die sie zu der starken Persönlichkeit gemacht hatten, die sie heute war. Doch von dieser Frau, deren Haare genauso schwarz gewesen waren wie ihre und die so gern gelacht hatte, von dieser Liebe zwischen ihren Eltern und von der Liebe ihrer Mutter zu ihr war ihr kein einziges Bild im Gedächtnis geblieben. Von ihrem Vater dagegen: alles. Wo war ihre Mutter gewesen, als ihr Vater damals gesungen hatte? Hatte sie hinter ihm gestanden, mit ausgebreiteten Armen, bereit für ein weiteres Abenteuer in der wunderbaren Welt, die nur auf dich wartet, mein Kleines? Doch das waren nichts als Worte. Wenn sie sich zwang, genauer hinzuschauen, erkannte sie hinter ihrem Vater nur einen Schatten.

Mit Emma auf dem Arm setzte sie sich zu Angela ans Bett. »Möchtest du deiner Mama einen Gutenmorgenkuss geben?« Der Oberfeldwebel hörte auf zu hopsen, sah sie an und befahl wie jeden Morgen: »Erst die Brille.« Wie immer nahm Angela ihr die Brille ab und berührte überglücklich ihr Gesicht. Francesca konnte ohne Brille zwar nichts richtig erkennen, aber dieses Ritual ihrer Tochter erfüllte sie mit Zärtlichkeit. Angela küsste sie kurz ab. Francesca wollte wieder nach der Brille greifen, doch ihre Tochter sagte wie immer: »Nein, so. So bist du schön.« Woraufhin sie wie jeden Tag erwiderte: »Schätzchen, ohne Brille sieht deine Mama aber dein hübsches Gesichtchen gar nicht mehr.« Sie setzte sie wieder auf. »Mama, die Sonne!«, wiederholte Angela fröhlich. »Ich will zur Aristocat!« Sie brach in ein Gelächter aus, das gar nicht mehr enden wollte.

Und Francesca hatte den Eindruck, dass der Ernst, der den Oberfeldwebel seit der Geburt ihrer Schwester erfasst hatte, einfach verschwunden war, gewissermaßen über Nacht. »Aristocat«, hatte ihr große Tochter gesagt. Seit Emmas Geburt hatte Angela schon schlechte Laune bekommen, wenn sie nur von diesem Zeichentrickfilm hörte. Jetzt kräuselten sich ihre Lippen überraschenderweise zu einem Lächeln.

Francesca nahm ihre Töchter zum Frühstück mit in die Küche, wo sie einen Zettel von Massimo vorfand. »Schatz, entschuldige, dass ich weg bin, ohne mich zu verabschieden, aber du hast so schön geschlafen. Ich wollte am ersten Tag schon früh da sein, um mich einzugewöhnen und einen guten Eindruck zu machen. Ich liebe euch.« Die Espressokanne stand schon gefüllt bereit, ebenso wie alles, was sie drei zum Frühstück brauchten, und Massimo hatte sogar Zeit gefunden, ein wenig Ordnung zu schaffen. Küche und Wohnzimmer wirkten nicht mehr so kahl wie der Rest der Wohnung. Hier wird jemand glücklich sein.

»Aber gleich gehn wir raus, Mama!«, wiederholte Angela. »Draußen scheint die Sonne!«

»Nein, Schätzchen, es ist noch dunkel.« Sie ging ans Fenster, um es ihr zu zeigen.

»Die Sonne wird scheinen«, sagte die Wohnung, »besser gesagt, sie tut es schon. Ganz bald wird sie für euch drei hier ankommen, aus einem anderen Teil der Welt, wo bereits helllichter Tag ist, nein, nicht aus einem anderen Teil der Welt, sondern ganz aus der Nähe. Jeden Moment wird sie da sein, eigentlich ist sie schon da, du musst sie dir bloß vorstellen, noch bevor sie aufgeht.« Francesca ließ das Küchenrollo hochschnellen, öffnete das Fenster, und ein rotes rundes, perfektes Leuchten erhellte in der Ferne den Himmel. Ohne zu zögern ging die Sonne auf.

6

Auf dem Rückweg vom Einkaufen machten sie eine kleine Erkundungstour. Francesca lächelte. Einige Zeit zuvor hatte sie versucht, Massimo anzurufen, nachdem Emma in der Babytrage, deren kleiner, warmer Körper an ihrer Brust vibrierte, zum ersten Mal »Ba-hal« gesagt hatte. Begeistert hatte sie ihre Tochter aufgefordert, das Wort noch einmal zu wiederholen, und Massimo ein Handyvideo davon geschickt. »Hast du das gesehen, Papa? Sie hat Ball gesagt!« Doch Massimo hatte weder zurückgerufen noch das Video auf WhatsApp angeschaut. »Bestimmt hat er zu tun«, sagte Francesca zu den Kindern oder sich selbst, und zu wissen, dass ihr Mann ganz in etwas aufging, das ihm wichtig war, rührte sie.

Sie durchquerten den Giardino di Roma, ihr Viertel. Der neue Stadtteil an der Via di Malafede (»Heißt malafede nicht was Schlimmes, Mama?«, hatte Angela erschrocken gefragt, während Francesca ihr im Gehen die Geschichte des Giardino di Roma erzählte. »Woher weißt du denn, was malafede bedeutet?« Angela war ganz ernst geworden. »Ich weiß es eben.«) war Anfang der 2000er zwischen Rom und Ostia entstanden. Er lag nicht besonders zentrumsnah, aber wenn nicht viel Verkehr herrschte, würde Massimo mit dem Auto in vierzig Minuten in der Arbeit sein und danach in vierzig Minuten wieder zu Hause. Francesca hingegen konnte das Auto nicht benutzen. Nach ihrem letzten Arbeitstag hatten Eva und sie in einer Bar an den Navigli gefeiert. Als Francesca sich nach ein paar Drinks ans Steuer gesetzt hatte, um heimzufahren, hatte sie bei einer Polizeikontrolle zu viel Alkohol im Blut gehabt, und man hatte ihr den Führerschein weggenommen.