Noch war es Nacht - Antonella Lattanzi - E-Book

Noch war es Nacht E-Book

Antonella Lattanzi

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Beschreibung

Ein düsteres, aufgeheiztes Rom. Eine Leidenschaft, die außer Kontrolle gerät. Es ist der dritte Geburtstag von Mara, der Tochter von Carla und Vito. Vito war der einzige Mann in Carlas Leben. Sie haben jung geheiratet, sind von Bari nach Rom gezogen, haben drei Kinder bekommen. Sie haben sich geliebt, aber Vitos Liebe war obsessiv, gewalttätig. Ein Lächeln, ein zu kurzes Kleid haben gereicht, damit Vito den Verstand verlor und sie schlug. Erst als die älteren beiden Kinder groß genug waren, um das Haus zu verlassen, hat Carla es geschafft, sich zu trennen und mit der jüngsten Tochter Mara in eine kleine Wohnung umzuziehen. Aber Vito hörte nicht auf, sie zu verfolgen, ihr zu drohen. An diesem dritten Geburtstag von Mara entscheidet Carla dennoch, dem Drängen ihrer Tochter nachzugeben und Vito zu der Feier einzuladen. Es kommen auch die beiden großen Kinder, Nicola und Rosa. Nach langer Zeit ist die Familie wieder vereint. Das Fest verläuft unerwartet glatt. Aber nach jenem Abend ist Vito spurlos verschwunden.

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Antonella Lattanzi

Noch war es Nacht

Roman

Aus dem Italienischen von Margit Knapp

Über dieses Buch

Ein aufgeheiztes, düsteres Rom. Eine Lektüre mit unwiderstehlichem Sog.

 

Es ist der dritte Geburtstag von Mara, der Tochter von Carla und Vito. Vito war der einzige Mann in Carlas Leben. Sie haben jung geheiratet, sind von Bari nach Rom gezogen, haben drei Kinder bekommen. Sie haben sich geliebt, aber Vitos Liebe war obsessiv, gewalttätig. Ein Lächeln, ein zu kurzes Kleid haben gereicht, damit Vito den Verstand verlor und sie schlug. Erst als die älteren beiden Kinder groß genug waren, um das Haus zu verlassen, hat Carla es geschafft, sich zu trennen und mit der jüngsten Tochter Mara in eine kleine Wohnung umzuziehen. Aber Vito hörte nicht auf, sie zu verfolgen, ihr zu drohen.

An diesem dritten Geburtstag von Mara entscheidet Carla dennoch, dem Drängen ihrer Tochter nachzugeben und Vito zu der Feier einzuladen. Es kommen auch die beiden großen Kinder, Nicola und Rosa. Nach langer Zeit ist die Familie wieder vereint. Das Fest verläuft unerwartet glatt. Aber nach jenem Abend ist Vito spurlos verschwunden.

Vita

Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Bisher hat sie zwei Romane veröffentlicht, die aber noch nicht auf Deutsch erschienen sind, sowie einen Erzählungsband. Außerdem arbeitet sie als Drehbuchautorin für das Kino. Sowohl für ihre Drehbücher als auch für ihre Romane ist sie mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Die Filmrechte von «Noch war es Nacht» sind an Lucky Red verkauft, die daraus eine TV-Serie produzieren werden (das Drehbuch schreibt Lattanzi selbst). Seit 2010 unterrichtet sie an der von Alessandro Baricco und Carlo Feltrinelli gegründeten berühmtesten Schule Italiens für creative writing, der Scuola Holden. Antonella Lattanzi lebt in Rom.

Für Leonardo

In der klaren Durchsichtigkeit des Nachmittags hatte der See nur einen einzigen Farbton, er lag fest von seinen Ufern umschlossen da, ohne seine Arme nach den Feldern und den Bäumen auszustrecken. Kein Glanz ging von ihm aus, seine Farben fanden keinen Widerschein in der Umgebung.

An dieser Stelle befand ich mich bereits auf gleicher Höhe mit dem Garten vor meinem Haus, die Steigung war zu Ende. Ich hatte nur noch eine ebene Strecke von zwanzig Metern bis zu meiner Haustür vor mir. An dieser Stelle habe ich begriffen, dass mir niemand mehr helfen kann.

 

Paolo Volponi, Ich, der Unterzeichnete

1

Danach

Sie griff zum Handy.

«Hallo Manuel», sagte sie. «Manuel, ich bin’s. Ich habe Angst.»

«Warum?», fragte Manuel mit Mitleid in der Stimme. Bevor er sie kennenlernte, hatte er sicher nie so geklungen.

«Ich habe Angst», wiederholte sie, ans Handy gepresst. «Da ist jemand.»

«Ganz ruhig. Sag mir, wo du bist.»

«Im Treppenhaus.»

Schweigen.

«Was soll ich tun? Bitte, sag mir, was ich tun soll.»

«Und Mara?», Manuel seufzte. «Wo ist Mara?»

«Hier bei mir», flüsterte sie atemlos. «Manuel?»

«Ja.»

«Ich habe solche Angst.»

«Verschwindet von dort, sofort! Nehmt euch ein Taxi, wir treffen uns in der Bar bei der Engelsburg. Du weißt, welche ich meine», sagte Manuel.

 

Sie kamen gleichzeitig an. Carla stieg aus dem Taxi, ihre Beine waren schwer, sie schwitzte. Mara schlief auf ihrem Arm. Mit einer Hand hielt sie ihre Tasche fest. Er parkte den Motorroller.

Inzwischen war es Nacht geworden, die Autos sausten den Tiber entlang. Man sah die mächtige, beleuchtete Engelsburg, und doch war es dunkel. Es war August und viel zu heiß. Man konnte kaum atmen, es roch nach Niederlage.

«Wer kann das gewesen sein?» Carla ließ ihm nicht einmal Zeit, den Helm abzunehmen, sondern warf sich ihm entgegen. Ihre Tasche fiel zu Boden. Sie öffnete seine Arme und zwang ihn, sie festzuhalten, sie und Mara. Dann löste sie sich von ihm, hielt ihn aber noch am Handgelenk, sodass es Manuel nicht gelang, seinen Helm zu öffnen.

«Warte», sagte er.

«Was soll ich tun, Manuel?», fragte sie wieder. Dann ließ sie ihn los.

Endlich konnte Manuel den Helm absetzen, er schloss ihn in der Motorradtasche weg. Durch die Hitze klebten seine Haare an der Stirn, an den Schläfen, im Nacken. Er wischte sich den Schweiß ab, hob ihre Tasche auf, hängte sie sich um, dann nahm er das Kind. Er sah merkwürdig aus: ein Mann in dunklem Hemd und blauer Hose mit einem schlafenden Kind im Arm, das den Kopf auf seine Schulter legte, und einer Frauenhandtasche, die ihm um die Beine schlenkerte. Seinen freien Arm legte er um Carlas Schulter und geleitete sie zur Bar, die die ganze Nacht lang geöffnet hatte. Er lockerte sich den Hemdkragen, es war zum Ersticken heiß. Er hielt ihr die Tür auf und ließ sie eintreten.

«Komm, Schatz, wir sprechen drinnen, komm rein», sagte er und sah sich um.

Sie setzten sich an einen Tisch. Er legte die Handtasche auf die metallene Oberfläche, in der sich die Neonlichter der Bar brachen, und bettete Mara vorsichtig auf eine Bank neben sie, machte es ihr so gemütlich wie möglich. Dann nahm er Carlas Hände und sah ihr in die Augen.

«Ich befürchte», sagte er laut, «dass Vito damit zu tun hat. Nein, ich befürchte es nicht nur. Ich bin sicher.»

 

Er hatte immer mit allem zu tun gehabt, seit Carla zehn Jahre alt war. Und jetzt war sie achtunddreißig. Sie blieben an dem Bartisch mit Blick auf den Tiber sitzen, es war August 2012, ein durchschnittlicher Sommer, sagte der Wetterbericht im Fernsehen (nein, ganz und gar nicht durchschnittlich, meinte Carla, solch eine Hitze hatte sie noch nie erlebt, es war zum Verrücktwerden). Während sie sprachen, warfen sie gelegentlich verstohlene Blicke aus dem Fenster. Ein seltsamer Sandstaub lag auf ganz Rom in jener Nacht, wie der, den der Schirokko mit sich führt. Die Autos, die den Lungotevere entlangbrausten, wirbelten den Staub auf, sodass er sich im Licht der Straßenlampen deutlich vor dem Schwarz der Nacht abhob. Die Busse erzeugten riesige Sandwirbel und fuhren dann mittendurch, die Autos verschwanden darin und tauchten wieder auf. Die größte Ladung Staub bekamen die Motorroller ab, sie waren ganz braun vom Sand.

Es war zu heiß, und es war Nacht. Gelegentlich kam ein Auto vorbei, ein Bus, ein Motorroller, ein Fußgänger. Aber zum Glück war direkt vor der Fensterscheibe, vor der Bar und in ihrer unmittelbaren Umgebung keiner zu sehen, der da draußen lauerte, jedenfalls im Moment nicht.

 

«Und nicht nur Vito hat damit zu tun, Carla, auch wenn ich es ungern sage», meinte Manuel gerade, als sein Handy in der Hosentasche klingelte. Sein Herzschlag setzte aus, er nahm das Telefon. Carla wurde aschgrau im Gesicht.

Er sah aufs Display. «Keine Sorge, es ist nichts.» Er warf einen flüchtigen Blick auf den Barkeeper, über dessen gesamte Wange sich eine Brandnarbe zog, dann steckte er das Handy wieder ein. «Nicht nur Vito hat damit zu tun», fuhr er fort, «sondern seine ganze Familie, und nicht nur die: auch die Freunde seines Vaters.»

Carla hob ergeben die Hände, dann umklammerte sie die Tasse mit dem Kamillentee, den er trotz der Hitze für sie bestellt hatte. Lange, helle Rauchfahnen stiegen aus der Tasse.

«Aber sein Vater, der General», sagte sie, «verlässt seit fünf Jahren das Bett nicht mehr! Manuel, ich bitte dich, jetzt fängst du auch damit an. Wie kann das sein?»

«Was sagst du, Mama, was meinst du, das Bett nicht mehr?», faselte Mara im Schlaf.

Carla warf einen Blick auf den Barkeeper, doch als er sich zu ihr drehte, sah sie schnell zu Boden.

«Das sind furchtbare, missgünstige Leute», sagte Manuel, «die sprechen nur die Sprache der Gewalt. Das hast du mir doch selbst erzählt. Die schert es nicht, ob der Vater noch auf den Beinen ist oder schon unter der Erde liegt. Sie bleiben Freunde, bis sie zu Feinden werden.»

Carla folgte seinen Worten, aber sie machte ein Gesicht, als hörte sie all das zum ersten Mal. «Es kann trotzdem nicht sein», sagte sie. «Seit Wochen benimmt sich Vito gut, das haben wir doch jetzt schon öfter festgestellt, oder? Er hat aufgehört, es ist vorbei. Nein, Manuel, irgendetwas anderes stimmt da nicht.»

Manuel fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, seine Augen guckten klein daraus hervor, und seine Tränensäcke waren geschwollen. Er schüttelte den Kopf. «Aber Schatz, du hast es mir selbst erzählt. Vito, seine Familie, sein Heer von Freunden. Mit denen ist es nie vorbei.»

Und wie oft hatte Vito ihr gesagt: Ich schwöre dir, ich bringe dich um, Carla. Ich steche dich ab wie ein Schwein, und ich bringe auch unsere Kinder um.

2

Davor

Am 6. August 2012 wurde Carlas jüngste Tochter Mara drei Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatte Carla sich von Vito scheiden lassen und war mit Mara in eine Mietwohnung in der Via Prenestina gezogen, so weit wie möglich entfernt von der Wohnung, in der sie bis dahin alle zusammen gelebt hatten. Es war ein altes Viertel, in dem früher die Eisenbahner wohnten und das nun sich selbst überlassen blieb, mit seinen flachen Häusern, den Innenhöfen und den Vorder- und Hintereingängen, die jeweils auf verschiedene Straßen führten.

Die beiden älteren Kinder, Nicola, einundzwanzig, und Rosa, neunzehn, hatten damals zwei Zimmer in einer Studenten-WG gemietet, wenige Blöcke vom Haus der Mutter entfernt. Nicola arbeitete als Hilfskoch in einem Lokal an der Piazza Navona und Rosa als Kellnerin im gleichen Lokal. Zu viert hätten sie in der kleinen Zweizimmerwohnung in der Via Prenestina nicht genug Platz gehabt, außerdem wollte Nicola, dass seine Freundin bald bei ihm einzog, und Rosa genoss ihre neue Unabhängigkeit. Mara, Nicola, Rosa: Sie waren alle Kinder von Vito Semeraro.

An jenem 6. August war es viel zu heiß, die Sonne brannte ungnädig. Es war früh am Morgen, als Rosa und Nicola in die Straßenbahn Nummer 5 stiegen. Sie waren mit der ersten Schicht dran, neben ihren Jobs als Hilfskoch und Kellnerin putzten sie gelegentlich auch in dem Lokal, in dem sie arbeiteten. Beim Einsteigen bemerkte Nicola aus dem Augenwinkel die Silhouette eines Audis in der Via Prenestina, dort, wo die Steigung begann. Carlas Haus befand sich direkt an dieser Kreuzung. Es schien das Auto des Vaters zu sein.

Nicola drehte sich zu seiner Schwester um. «Ist es er?», fragte er, aber sie hatte ihre Kopfhörer auf. «He, Rosa, ist es er?» Er schüttelte sie.

Sie nahm lächelnd die Kopfhörer ab. Rosa hatte immer dieses Lächeln im Gesicht, eine Art grober clownesker Pinselstrich, man wusste nie, ob es echt war. Sie blickte in die Richtung, in die Nicola deutete, und kniff die Augen zusammen. Wenn sie Angst bekam, wurde sie schlagartig hässlich.

Dann stieg jedoch ein kleiner Mann aus dem Auto, fast ein Zwerg, er kratzte sich am Oberschenkel, wobei er sich auf unnatürliche Weise bückte, und entfernte sich humpelnd in Richtung Pigneto. Das Auto, in dem eine gut gekleidete Frau saß – jetzt konnten sie es endlich besser erkennen –, fuhr davon, verschwand aus ihrem Blickfeld. Rosa lehnte sich an die Haltegriffe der Straßenbahn und atmete erleichtert auf.

«Er hat uns doch vor ein paar Tagen gesagt, dass er wegfahren will. Wie soll er es dann gewesen sein? Er ist in Massafra, weißt du nicht mehr? Nico, du denkst auch immer nur das Schlimmste.»

«Aber er wollte heute zurückkommen», erwiderte Nicola. «Er hätte es sein können.» Er drehte ihr den Rücken zu. Die Straßenbahn fuhr ruckelnd los. Es stank nach Schweiß. Von einem Moment auf den anderen entglitten den Menschen die Gesichtszüge. Sie schmolzen auf ihren roten Sitzen dahin.

Vor ein paar Tagen waren sie beide beim Vater zum Mittagessen gewesen. Während sie aßen, hatte Vito Rosa gefragt: «Gibst du mir ein Brötchen, bitte?» Sie hatte es ihm gegeben und sich daran erinnert, wie einmal die ganze Familie beim Frühstück gesessen hatte. Ihr Vater hatte sich die Aufschrift auf der Brötchentüte genauer angesehen und dann zu ihrer Mutter gesagt: «Warum hast du den Bäcker gewechselt? He, Idiotin, sag, welches Schwein hat dir das verkauft, damit du es mit ihm treibst, he?»

Vito hatte die Geduld verloren, er hatte Carla hochgehoben, als wäre sie vom Teufel besessen und er der Exorzist, und sie gegen die Wand geschleudert. Dann hatte er sich den Kindern zugewandt und sie mit einem liebevollen, mitleidigen Blick angesehen.

Und so war es immer: Ihr Vater hatte nie unrecht. Es wirkte immer so, als wäre alles, was er tat, zum Guten der Kinder. Seine Kinder hatte Vito nie angerührt, nicht einmal mit dem kleinen Finger, obwohl er Carla schlug, seit Rosa und Nicola sich erinnern konnten. Alles, was Vito tat, schien nur aus Liebe zu geschehen.

 

Es war früher Nachmittag, als sie ihn anrief. Er saß im Auto, auf dem Rückweg von Massafra, wo seine Familie herkam. Nach der Scheidung hatte sie ihn nie wieder angerufen. Er sah den Namen seiner Exfrau auf dem Display aufleuchten und bekam zittrige Hände. Es passierte oft, dass ihm Carla erschien, umhüllt von einem hellen Licht oder einer dunklen Aureole.

«Vorhin habe ich dich angerufen, um Mara alles Gute zu wünschen. Warum hast du aufgelegt?», sagte er und presste die Zähne aufeinander, dass sie knirschten.

«Hast du heute Abend Zeit?», fragte sie mit einer harten Stimme, die nicht die ihre zu sein schien. «Deine Tochter möchte, dass du zu ihrer Feier kommst.»

Vito brach fast die Stimme, er sagte nur: «Ja.»

«Wir treffen uns in der Wohnung meines Bruders, in meiner gab es eine Überschwemmung, der Heizkessel ist kaputt.» Ein hasserfülltes Zischen.

«Brauchst du Hilfe? Wenn du möchtest, komme ich vorbei und sehe nach, ob ich ihn reparieren kann», sagte Vito.

«Vielleicht nach dem Abendessen, danke.» Carlas Stimme wurde weicher, gegen ihren Willen. «Ciao, Vito.»

«Bis dann.»

Und Vito trat aufs Gas.

 

Carla schloss die Haustür hinter sich, wobei sich der Armreifen, den ihr Manuel geschenkt hatte, um ein Haar am Türpfosten verhakt hätte. Sie nahm ihre Tochter auf den Arm und hob die Einkaufstüten mit den Geburtstagssachen und dem Abendessen für Mara hoch. Mutter und Tochter schlüpften in den Aufzug. Dort setzte Carla die Tüten und das Mädchen ab, Mara stellte sich auf die Zehenspitzen, um erneut auf den Arm der Mutter zu kommen. Carla drückte die Fünf.

Am Morgen hatte sie Mara mit einem Päckchen geweckt, ein Puzzle aus Schaumstoff mit sehr großen Teilen – eins von denen, die man am Boden zusammensetzt. Alles Gute zum Geburtstag, amore. Mara war noch nicht ganz wach gewesen, das Gesicht vom Schlaf gezeichnet, die Augen halb geschlossen, in ihrem rosa Pyjama, die Wärme des Schlafs und den Kindergeruch an sich. Carla hatte ihre Kinder immer beneidet, als sie klein waren. Jemand umsorgt dich, sagt dir, was du tun sollst, organisiert dir den Tag, kümmert sich um dich. Und dann dieses Aufflammen verhaltener Freude, keine Angst vor der Zukunft, Hemmungslosigkeit. An den Nachmittagen ohne Hausaufgaben oder an manchen Sonntagen im Park erinnerte sie der Geruch ihrer Tochter daran, dass es möglich war, fröhlich zu sein, unbelastet. Genieße diese Zeit, hätte sie ihr sagen wollen. Aber man weiß ja, es ist unmöglich, den Kindern zu erklären, welches Glück sie haben, Kind zu sein.

Ich schwöre dir, ich bringe dich um, Carla. Ich steche dich ab wie ein Schwein, und ich bringe auch unsere Kinder um – wie oft hatte Carla das ihren Exmann sagen hören. Ich schwöre dir, ich bringe dich um, wenn ich mitbekomme, wie du dem Mann am Ticketschalter zulächelst. Ich schwöre dir, ich bringe dich um, wenn du zum Ausgehen ein Kleid anziehst, oder einen Rock. Ich schwöre dir, ich bringe dich um, wenn du eine Freundin hast – mit der Zeit war es schlimmer geworden –, wenn du deinen Bruder triffst, wenn du mit deinen Eltern sprichst.

Kurz vor ihrer Scheidung – es war Sommer, Rosa war gerade in Massafra, um dort zwei Monate bei der Familie des Vaters zu verbringen, und Nicola war mit seiner Freundin im Campingurlaub, danach sollte auch er nach Massafra fahren – schloss Vito Carla nachts im Schlafzimmer ein. Und am Morgen, bevor er zur Arbeit ging, sperrte er sie in einem anderen Teil der Wohnung ein. Sie durfte nur ins Bad und in die Küche, denn Mara war ja gerade erst geboren und könnte etwas brauchen.

«Aber wenn es einen Notfall mit dem Kind gibt?», flehte sie, «wenn es ihr nicht gutgeht? Was soll ich dann machen? Ich bitte dich, Vito.»

«Ich komme alle zwei Stunden zurück, keine Sorge. Du brauchst niemanden außer mir.»

Er nahm ihr das Telefon weg. Carla schrie noch ein wenig herum, dann beruhigte sie sich, als wäre sie das Kind von sechs Monaten, das sie im Arm hielt. Sie war so müde. Zwischen einer Milchmahlzeit und der nächsten schlief sie bei dem Mädchen, wachte nur auf, wenn sie hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Dann erhob sie sich blitzartig.

In dem Moment suchte sie Vitos Nähe, glücklich, ihn zu sehen. Glücklich, dass wieder jemand da war, der sie beschützte. Dass noch ein Zweiter an ihre Tochter dachte. Denn wenn ihr Mann nicht gerade von diesem Teufel besessen war, wurde er für sie wieder zu dem Jungen, in den sie sich als Mädchen verliebt hatte. Er ließ ihr Herz immer noch höherschlagen.

«Ich steche dich ab wie ein Schwein, und ich bringe auch unsere Kinder um.»

Aber die Kinder hatte er zum Glück nie angerührt. Und Vito war ein zwei Meter hoher Mannskerl, mit solchen Armen und Beinen! Eines Tages kam er nach Hause und fand Carla nackt in der Badewanne vor, während Mara in ihrem Zimmer weinte. Da überkam es ihn. Irgendwo musste ein anderer Mann sein! Er packte Carla und ließ sie aus dem Fenster baumeln, nackt, mit dem Kopf nach unten. Die Nachbarin aus dem unteren Stock rief die Polizei. Aber Vito hatte keine Angst vor der Polizei. Seit Jahrzehnten kamen die Ordnungshüter regelmäßig zu ihm nach Hause. Doch es hatte nie ausgereicht, um etwas gegen ihn zu unternehmen.

«Du musst dich um deine Kinder kümmern», sagte er, als er sie wieder auf dem Boden absetzte. Er gab ihr einen Kuss, dann bedeckte er sie mit einem Laken. «Ich habe dir Blumen mitgebracht», fügte er noch hinzu. «Entschuldige, wir sehen uns in zwei Stunden.»

Und er ging zur Arbeit zurück.

 

Mutter und Tochter kamen im fünften Stock an. Die Tochter klammerte sich immer noch an die Beine der Mutter.

«Steig aus, los.»

Aber Mara wollte nicht laufen, sie versuchte jetzt, an Carla hochzuklettern, hinderte sie so am Hinausgehen und begann zu quäken. In einem der unteren Stockwerke hämmerte jemand dreimal gegen die Aufzugstür: «Aufzug!»

Carla fluchte. Sie nahm Mara auf den Arm, dann die Tüten und verließ schwer beladen den Lift.

«Aufzug!» Von unten war wieder die Stimme zu hören. Carla suchte mit fahrigen Bewegungen den Schlüssel in ihrer Tasche, dann öffnete sie die Tür.

Die Wohnung ihres Bruders Franco war genauso klein wie ihre, nur zwei Stockwerke höher gelegen. Doch seine war eine typische Singlewohnung und wirkte viel größer und schöner. Sie war auch heller, vermutlich, weil sie weiter oben lag. Jedes Mal, wenn Carla hier reinkam – und sie kam oft, um die Blumen zu gießen, zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war, oder um ein bisschen sauber zu machen –, überwältigte sie die Sonnenflut.

Franco war nie da. Im Moment war er in Vietnam, er arbeitete als Kameramann für eine römische Dokumentarfilmerin, die vorher zehn Jahre lang in einem mexikanischen Dorf gelebt hatte. Er folgte ihr und ihren Projekten rund um die Welt.

Eigentlich hatte auch Carla nicht nur Hausfrau und Schneiderin werden wollen. Als Kind konnte sie gut zeichnen und wollte später Malerin werden. Ihre Eltern, die vor ein paar Jahren gestorben waren, waren beide Journalisten gewesen. Wie hatten sie ihr nur erlauben können, ihn zu heiraten? Wie konnte es sein, dass sie sie den Armen dieses Monsters nicht entrissen hatten?

Als Carla klein war, gab es keine Monster, und es hätte nie welche geben sollen – als sie sehr klein war, muss man dazu sagen, vor dem berühmten Silvesterfest, bei dem Vito und sie sich kennenlernten. Sie war zehn, er fünfzehn. Freunde von Freunden hatten ihre und seine Familie in ihre Villa nach Terracina eingeladen. Zu jener Zeit bewegten sich Vitos Eltern eigentlich nie aus Massafra fort. Wer weiß, warum sie ausgerechnet dieses eine Mal die Reise auf sich genommen hatten? Und ausgerechnet dieses eine Mal waren auch die Romanos da, Carlas Familie. Aber keine anderen Jugendlichen, nur Carla und Vito. Sieh einer an.

Was es wohl war? Schicksal, Bestimmung, dachte Carla, während sie die Tüten mit Snacks auf dem Tisch verteilte und öffnete. Mara wollte nicht aufhören zu quengeln.

«Was hast du denn, Mara?»

Sieh einer an. Wenn wir in die Zukunft hätten sehen können, in den Sternen lesen oder aus der Hand, mit Tarotkarten oder Pendel, Tische rücken, mit den Toten kommunizieren, Christus befragen oder wen auch immer: Was hätten wir gemacht?

Sie zog das Schaumstoffpuzzle aus der Tasche. Es gefiel Mara richtig gut, mit den vielen Zahlen und Buchstaben darauf. Mit einem Schlag beruhigte sie sich, setzte sich ganz still auf den Boden und begann zu spielen.

Schnell stieg die Hitze von den Herdplatten hoch. Draußen hingegen hatte es ein wenig abgekühlt. Carla öffnete alle Fenster. Ein Windstoß fegte durch die Wohnung und fuhr in Maras hellblonde Haare. Das Mädchen hob den Kopf und sperrte ihre blauen Augen auf. Sie waren klar wie Eis, wie die ihrer Mutter. Mara wirkte glücklich, sie versuchte gerade, den Wind mit der Zunge einzufangen, so wie es die Hunde tun, und winselte dabei auch wie ein Hund.

Carla schaute nach, ob der Sugo für die Nudeln all’amatriciana nicht zu stark kochte. Sie drehte die Flamme zurück. Aus dem Ofen kam der Geruch von Huhn mit Kartoffeln und Kräutern. Sie beugte sich hinab, öffnete die Ofenklappe und sah nach dem Essen. Draußen nahm das Licht ab. Carla schloss den Ofen wieder und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Während sie darauf wartete, dass das Essen gar war, ging sie zu ihrer Tochter, dem Mädchen mit den erstaunten, weit aufgerissenen Augen aus Eis. Sie setzte sich neben sie und spielte mit ihr.

«Ich habe dich so gern, Mara. Weißt du das?»

«Ich dich auch, Mama», sagte das Mädchen, ohne den Kopf von der gelben Nummer drei zu heben, die ihr auf rosa Hintergrund entgegenlachte.

«So, so gern, Mara. Und du? Hast du mich auch gern?»

«Ja», sagte Mara und spielte weiter.

«Wie gern hast du mich?»

«Nimm», sagte Mara und hielt ihr ein braunes D hin. Carla nahm es und legte die Hand auf den Mund. Sie schaute auf das Puzzle und überlegte, wohin das Stück gehörte.

 

Am Ende musste Vito das Scheidungsurteil akzeptieren, es war rechtmäßig. Doch er hatte sich mit Nachdruck und einer scheinbar entwaffnenden Aufrichtigkeit verteidigt.

«Er ist auf alles eifersüchtig, auch auf meine Gedanken», hatte Carla ausgesagt.

«Das ist nicht wahr, Euer Ehren», hatte Vito lächelnd geantwortet. «Ich glaube nicht, dass sich Eifersucht messen lässt. Gefühle haben viele Grauwerte. Mich pauschal als eifersüchtig zu bezeichnen ist allein schon eine Lüge.»

«Also waren Sie nicht übermäßig eifersüchtig?», hatte der Richter gefragt.

«Nein. Ich war immer ein sehr guter Ehemann. Meine Frau übertreibt. Die Frauen übertreiben immer. Dazu sind wir Männer da, um sie zur Vernunft zu bringen.»

Von dem Moment an hatte Vito erwartet, dass die Justiz ihn einfach vergessen würde. Denn Scheidung hin oder her, er hatte nie aufgehört, sich bei Carla blicken zu lassen. Es gab Tage, in denen es schien, als hätte er sich beruhigt. Als hätte der Hass, aus dem er bestand, ihn eingesaugt und wäre schließlich ganz verschwunden. In diesen Zeiten begann Carla aufzutauen, ein bisschen weniger misstrauisch das Haus zu verlassen, mit weniger klopfendem Herzen ans Telefon zu gehen, sogar richtige Spaziergänge zu machen. Manchmal auch mit Manuel oder mit Manuel und Mara. Wenn Vito aber die Wut überkam, war diese übermächtig wie ein starkes Beben.

Nach den Tagen des Schweigens kam er immer zurück. Meine Frau gehört mir, bis dass der Tod uns scheidet. Für Vito existierte das Wort Scheidung nicht. Lass ein wenig Zeit vergehen, hatte ihm seine Schwester Mimma in Massafra gesagt, und du wirst sehen, dass du sie wieder zurückkriegst. Dann, im April, war Manuel Bocci aufgetaucht.

Vito hatte seine Freunde aus Massafra mit Nachforschungen beauftragt, und die verstanden ihr Geschäft. Demnach waren Carla und Manuel sich öfter zufällig begegnet. Er war Psychologe und hatte seine Praxis in der Nähe ihrer Wohnung. Er war kein bekannter, aber ein angesehener Psychologe, sozial engagiert, und arbeitete zudem auch in einer Beratungsstelle etwas außerhalb der Stadt.

Carla verbrachte viel Zeit zu Hause. Morgens brachte sie Mara in den Kindergarten und ging dann zur Arbeit. Sie jobbte Teilzeit als Schneiderin in einem chinesischen Laden auf der Piazza Vittorio. Unter all den orientalischen Frauen fiel sie den Stammkunden als einzige Italienerin auf, die sich hinter den Rauchwolken der Bügeleisen versteckte oder über eine Nähmaschine gebeugt mit der Naht eines Saums beschäftigt war. Gegen halb zwei Uhr nachmittags nahm sie die Tram nach Pigneto, sie musste sich beeilen, um die Tochter rechtzeitig von dem Kindergarten an der Piazza dei Condottieri abzuholen. Wenn alles glattging, brauchte sie eine Dreiviertelstunde. Die Angst, zu spät zu kommen, verließ sie nie.

Carla besaß ein altes Auto, einen ziemlich heruntergekommenen Nissan Micra. Ihre Freundin Anna hatte ihn ihr geschenkt, damals, als Carla noch ein paar Freundinnen hatte. Bevor ich ihn verschrotten lasse, nimm du ihn, du kannst ihn gebrauchen, mit den kleinen Kindern, hatte ihr Anna gesagt. Als Vito davon erfuhr, rastete er aus.

«Wo willst du schon mit einem Auto hin?», hatte er gezischt.

Und nur als Akt der Rebellion hatte sie, kurz nachdem sie die Wohnung ihres Mannes – ihres Exmannes – verlassen hatte, das Auto zu sich in die Via Prenestina geholt. Es war längst nicht mehr versichert, und sie hatte auch kein Geld für Versicherung, Benzin, Inspektionen. Seit Ewigkeiten hatte niemand den Wagen benutzt. Nicola hatte nur den Führerschein für den Motorroller, Rosa nicht einmal den. Und Carla selbst war nie gefahren. Sie hatte zwar, kurz bevor sie dreißig wurde, irgendwie die Fahrprüfung bestanden, nach unzähligen Kämpfen mit ihrem Mann. In einer sehr schönen Phase hatte Vito ihr dann sogar geholfen, sich auf die Prüfung vorzubereiten, und mit ihr geübt. Doch danach, als sie den Führerschein hatte, hatte sie nie Gebrauch davon gemacht. Der Micra rottete unten vor dem Haus vor sich hin. Wie alle guten Vorhaben von Carla und Vito.

Carla holte die Tochter vom Kindergarten ab, ging mit ihr einkaufen, dann wieder nach Hause zurück. Wenn sie und Mara alleine waren, nahm Carla auch Heimarbeiten an. Die Frauen aus Pigneto kamen zu ihr, um sich die Kleider enger, die Röcke weiter machen oder auch Vorhänge nähen zu lassen. Mara war ein stilles Kind, sie störte nicht, spielte stundenlang alleine. Einmal hatte eine schicke Signora, die in einer der Villen von Pigneto mit Garten wohnte, sie gefragt:

«Willst du mal zu mir nach Hause kommen und mit meiner Tochter spielen? Sie ist genauso alt wie du, ihr werdet bestimmt viel Spaß haben.»

Mara hatte sie freudestrahlend angesehen. Carla hatte nicht einmal aufgeschaut. Sie hatte den Faden für die Heftnaht an dem Halloween-Kostüm der Signora eingefädelt und gesagt: «Nein.»

Wenn Nicola und Rosa gerade nicht arbeiteten und auch sonst nichts vorhatten, aßen sie bei der Mutter. Die vier waren sich sehr nah. Nicola war überzeugt, dass seiner Mutter nichts geschah, solange er da war. Nach dem Essen gingen Rosa und er für gewöhnlich wieder. Ihr seid jung, sagte Carla, ihr arbeitet viel, geht aus und habt Spaß! (Aber eigentlich bin auch ich jung, ich bin nicht einmal vierzig, ich könnte auch ausgehen und Spaß haben.)

Gegen neun brachte Carla das Kind dann ins Bett. Und wenn Mara schlief, fühlte sie sich endlich lebendig, wenn auch mit Schuldgefühlen. Wie gern hätte sie noch eine Freundin gehabt – Anna, wie sehr vermisste sie Anna! Mit ihr Wein trinken, über Männer reden, über alles. Aber nichts da. Manchmal sah sie sich einen der Filme an, die ihr Nicola mitbrachte. Oft aber schlief sie mit dem Kind ein, wie schon damals, als Nicola und Rosa klein waren. Sie kuschelte sich an Mara und machte sich winzig, als könne das Kind sie beschützen. Hin und wieder ging ihr die Frage durch den Kopf: Wer beschützt mich jetzt? Und dann fehlte ihr Vito – der gute Vito. Fast hätte sie ihn angerufen, aber sofort dachte sie: Nein.

Nur selten konnte sie rausgehen, um ein wenig frische Luft zu schnappen: wenn Nicola und Rosa mal für eine Stunde Mara nahmen, nicht länger.

Manuel hatte Carla kennengelernt, nachdem sie ihn schon viele Male gesehen hatte, morgens, wenn sie Mara in den Kindergarten brachte, beim Einkaufen, oder nachmittags, wenn sie für den einen oder anderen Auftrag nochmals zum Markt in der Fußgängerzone ging. Eines Abends hielt sie es nicht mehr aus. Sie würde durchdrehen, wenn sie noch eine weitere Nacht alleine in dieser Wohnung blieb. Ganz leise schlich sie sich davon, nachdem Mara eingeschlafen war. Wenn jemand das erfahren hätte – Vito, Nicola, Rosa –, was hätten sie ihr nicht alles an den Kopf geworfen! Es hätte Riesenärger gegeben.

Schließlich war sie ein Glas Wein trinken gegangen, in ein Lokal in der Nähe, und war sich noch einsamer vorgekommen als zu Hause. Sie sah sich mit den Augen ihres Mannes, ihres Exmannes: Hure, Dirne. An jenem Abend, als sie Manuel kennenlernte, war sie ein wenig beschwipst.

Bald hatten sie begonnen, sich auf der Straße zu grüßen, ein paar Worte zu wechseln. Sie wusste gar nicht mehr genau, wie es gekommen war, jedenfalls saß Manuel eines Tages auf dem Sofa in ihrer Zweizimmerwohnung. Sie schauten gemeinsam Filme. Sie küssten sich. Sie hatten Sex.

«Ich habe dich nicht verdient», sagte Carla zu ihm.

Sie sah ihn an. Er wirkte so beruhigend, nichts schien ihn erschüttern zu können. Carla wusste nicht, wie wunderschön sie war. Wie klein, sanft und wehrlos sie wirkte.

«Ich kann nur dir vertrauen», sagte sie zu ihm.

Manuel war vierzig Jahre alt. Er war ein attraktiver Mann. In seiner Gegenwart wurden die Frauen alle ein wenig seltsam. Carla hatte furchtbare Angst davor, dass er sie verließ. Und ausgerechnet an dem Abend vor jenem 6. August hatte sie ihn auf der Piazza Venezia mit einer Frau gesehen. Es war purer Zufall. Sie kam sonst nie an der Piazza Venezia vorbei. Die beiden gingen nicht Arm in Arm und auch nicht händchenhaltend. Weder lächelten sie sich vertraut an, noch berührten sie einander. Aber diese Eifersucht war wie ein Knochen, der plötzlich aus dem Knie, dem Ellbogen oder der Hüfte hervorkommt, um in einen Körperteil einzudringen, wo er nicht hingehört – ins Auge, den Hals, den Magen. Es war die typische Eifersucht von Vito, die Carla so gut kannte. Sie bemächtigte sich auch ihrer. Und sie dachte, mit diesem Knochen, der ihr im Hals steckte, waren letztlich ihr Mann und sie – ihr Exmann und sie – gewissermaßen gleich geworden. Etwas Angeborenes verband sie. Wenn es nicht Liebe war, war es Wut.

 

Die Klingel ertönte, als das Essen noch nicht fertig war. Carla stach gerade mit einer Gabel in das Brathuhn. Die Brühe für Maras Essen köchelte auf dem Herd, die Zucchine alla poverella brieten in der Pfanne, ein typisches Gericht aus Apulien. Als Vitos Stimme aus der Gegensprechanlage kam, fuhr Carla zusammen.

«Ich habe erst um sieben mit dir gerechnet.» Sie öffnete ihm die Tür.

«Ich konnte es nicht erwarten, dich zu sehen.» Er stellte eine Flasche Spumante und eine große Tüte ab und nahm sie bei den Händen. «Euch zu sehen.»

Kann solch eine Liebe jemals enden?, fragte sich Carla. Auch wenn sie so furchtbar ist, so traurig. Sie bat Vito, Platz zu nehmen.

Er trug ein leichtes, hellgraues Hemd in der dunkelgrauen Hose, dazu glänzende braune Schuhe. Die Krawatte war gelöst, in seinem tiefschwarzen, mit Gel zurückgekämmten Haar steckte eine Sonnenbrille, obwohl es Abend war. Seine Haut war ganz hell, trotzdem ließ sich sein starker Bartwuchs immer erahnen. Auch wenn er, so wie jetzt, frisch rasiert war. Wie immer kam er ihr riesengroß vor.

Carla kehrte zu ihren Zucchine zurück. Er tat so, als hätte er das Essen nicht gesehen, um nicht alles zu verderben. Für einen kurzen Moment erinnerte er sich an den Tag, als sie ihn ihre Zucchine zum ersten Mal probieren ließ, aber die Erinnerung blieb verschwommen. Er blickte zu Mara, die vor ihrem großen Puzzle saß und ihn ein wenig verschüchtert ansah.

«Siehst du, Mara? Papa ist gekommen!» Carla führte das Mädchen zum Vater.

Er beugte sich zu Mara hinab, sein Herz klopfte. Das Mädchen sah ihn an.

«Mara, sag hallo zu Papa! Freust du dich, dass ich zu deinem Fest gekommen bin? Gib mir einen Kuss!»

Das Mädchen lachte ihn an, gab ihm einen Kuss. Ihr Vater umarmte sie.

«Freust du dich, dass ich da bin?»

Mara sah zu ihrer Mutter. «Ja», sagte sie und umarmte ihn.

«Zeig dem Papa das Puzzle», sagte Carla.

Vito setzte sich neben das Mädchen auf den Boden.

Jetzt wandte Carla ihnen den Rücken zu. Sie hantierte mit den Pfannen, fügte ein wenig Wasser zum Sugo all’amatriciana und schaltete den Ofen aus. Mit einer großen Geflügelschere machte sie sich daran, das Huhn in Stücke zu schneiden. Ihr Exmann sah ihr zu.

«Ein abwechslungsreiches Abendessen», sagte sie.

«Ich sehe es. Ein wenig aus Apulien, ein wenig aus Rom», sagte er.

Er stand neben ihr, mit Mara auf dem Arm. Sie war jetzt aufgetaut und gab ihm Küsschen.

«Papa», flüsterte sie. «Papa, Papa, Papa.»

«Soll ich dir helfen, Carla?»

«Spiel mit deiner Tochter.»

«Wie viele Gäste kommen denn?»

Vito sah auf die noch verschlossenen Packungen Chips, Oliven und Nüsse, auf den heißen Herd voller Töpfe und auf eine hellblonde Haarlocke seiner Frau, seiner Exfrau, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Er nahm die Flasche Spumante, die er am Eingang hatte stehen lassen, und stellte sie kalt. Die Tüte mit dem Geschenk für Mara legte er auf ein hohes Regalbrett in der Küche, so wie sie es immer für Nicola und Rosa gemacht hatten, als die beiden klein waren und sie noch alle zusammen gewohnt hatten.

«Es sind nur wir.»

 

Von außen sah man die erhellte Wohnung von Onkel Franco und für eine Weile zwei Silhouetten, die sich Tischdecke, Teller, Besteck, Servietten und Töpfe reichten. Sie unterhielten sich, sie schenkten sich ein. Dann kam eine dritte, kleinere Silhouette hinzu. Hie und da bückte sich die größere der Silhouetten zu ihr hinunter und nahm sie auf den Arm. Oder sie verschwand auf dem Boden. Man konnte erkennen, dass sie spielten. Der Halbmond hatte einen Schleier in der Mitte.

 

Nicola und Rosa kamen zusammen. Sie stürmten herein und fanden die Wohnung ruhig und warm vor. Wieder fuhr der Luftzug in Maras Haare. Es war ein so heißer Tag gewesen.

«Das ist der heißeste Sommer, seit ich mich erinnern kann. Stimmt’s, Mama?», sagte Rosa.

«Der heißeste überhaupt.» Carla gab ihr einen Kuss.

Die Wohnung von Onkel Franco hatte immer schon die perfekte Temperatur gehabt, das perfekte Licht, im Sommer wie im Winter. In Carlas Wohnung hingegen zerfloss man entweder, oder man erfror. Die beiden jungen Menschen erfüllten die Wohnung, in die sie hereingeplatzt waren, mit ihren Stimmen. Sie fanden Carla, Vito und die kleine Mara derart ruhig vor, dass es ihnen fast Angst machte. Mara war nicht einmal ein Jahr vor der Scheidung geboren worden. Nicola und Rosa hingegen wussten alles. Sie hatten alles gesehen.

Sie schenkten Mara ein Fahrrad mit Stützrädern.

Nicola hob seine kleine Schwester hoch. «Los, steig auf.»

Rosa legte ihre Händchen auf die Lenkstange und schob sie an.

«Ruiniert mir bloß nicht Onkel Francos Fußboden», sagte die Mutter.

«Benehmt euch», sagte die Mutter, oder der Vater.

 

«Warum hast du Papa zu Maras Geburtstag eingeladen?», fragte Nicola Carla leise, als sie für einen Moment allein waren.

Sie lehnten sich rauchend aus dem Fenster. Die Hitze lag wie eine schwere Hand auf ihnen und drückte ihre Köpfe hinunter. Vito hatte aufgehört, zu rauchen und zu trinken. Jetzt wollte er, dass es ihm alle nachmachten, sofort. Aber nun bestimmte sie.

«Und warum sind wir nicht bei dir, sondern in Onkel Francos Wohnung, Mama? Ach, Mama!», fügte er hinzu, da sie weiter rauchte und nicht antwortete.

Nicola und Rosa kannten die Regeln auswendig, die man einhalten musste, damit der Vater nicht die Geduld verlor. Manchmal war es nur ein Wort zu viel oder eine Bewegung. Die beiden größeren Kinder hatten sie wie Hellseher zu deuten gelernt. An jenem Abend aber hatte Carla wirklich ein fröhliches Gesicht.

«Es ist angenehmer hier, oder? Man kann atmen», sagte Carla mit Blick in die Ferne.

«Es ist praktischer», sagte er.

Sie lächelte ihm zu und strich ihm zärtlich über die Wange. Dann warf sie die Zigarette weg.

«Außerdem, weißt du, Mara lag so viel daran. Sie ist aufgewacht und hat nach ihrem Vater gefragt. Sie sieht ihn so selten … Es geht uns doch gut heute, oder?»

Sie lächelte ihn noch immer an. Und Nicola stellte keine Fragen mehr, weil an diesem Abend alles natürlich wirkte. Und er dachte, obwohl die Quelle der Angst in jenem Moment in dieser Wohnung war, schien seine Mutter alle Ängste auf einen anderen Ort, auf ihre eigene Wohnung, zu begrenzen.

 

Im April war Vito zur Furie geworden. Manuel war überzeugt, dass er im nächsten Moment, außer sich an der Exfrau auszutoben, auch ihn angreifen würde. Vito war überall. Wie schaffte er es nur, immer genau zu wissen, wo Carla war und was sie tun würde, noch bevor sie selbst es wusste? Wenn er sie allein auf der Straße überraschte, schrie er sie erst an, dann beschimpfte er sie, oft schlug er sie auch oder attackierte sie. Manuel fühlte sich bereit, ihm die Stirn zu bieten. Er war für sie da.

Und dann gab es die Momente der Gewissensbisse: Vito suchte Carla auf, weil er wusste, dass sie wenig Geld hatte. Er selbst hatte in der Bank Karriere gemacht, war von den Kollegen geschätzt. Und seit einiger Zeit spekulierte er auch an der Börse. Ich habe genug Geld. Der Scheck, den ich dir ausstelle, reicht nicht, flehte er sie an. Es sind auch meine Kinder. Lass mich ihnen helfen. Nein.

Gegen Ende Mai war Vitos Gewalt außer Kontrolle geraten. Die Hinweise an die Polizei hatten nie zu etwas geführt und würden auch in dieser Hasswelle zu nichts führen. Vito war nicht mehr er selbst. Er war so brutal und so wütend, wie Carla ihn nie erlebt hatte. Es gab keine Folgerichtigkeit mehr in seiner Wut. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Carla auch Angst um die Kinder. Ich steche dich ab wie ein Schwein, und ich bringe auch unsere Kinder um.

Mitte Juni hatte sich dann etwas verändert. Erst war Vito für ein paar Wochen verschwunden. Danach hatte er sich auf Einschüchterungsgesten beschränkt, die eine oder andere Beschimpfung durch die Gegensprechanlage am Haus, eine Nachstellung und auf Telefonanrufe mitten in der Nacht, bei denen er entweder dem Weinen nahe war oder vor Wut platzte.

Eines Abends hatte er sogar Carla und Manuel getroffen, als sie gerade vom Supermarkt zurückkamen. Die beiden unterhielten sich, er trug die schweren Tüten, sie lachte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare – die Hure, die Nutte. Sie erstarrte, als sie Vito in seinen Mantel gezwängt vor ihrem Haus stehen sah. Er hatte den Kragen hochgeschlagen, obwohl es Juni war. Die pechschwarzen Haare waren vom Gel plattgedrückt, und doch hatte der Wind sie ein wenig zerzaust.

Er hatte sie nur angesehen, mit einem abwesenden Blick. Seine Augen waren so leer, dass man hindurchsehen konnte, hinter ihn blicken, über ihn hinaus: die Autos, die unter der Brücke hindurchfuhren, die Lichter von der Eisdiele gegenüber, ein Stück Umgehungsstraße.

«Er ist es.» Carla hatte Manuel einen Stoß versetzt.

«Gehen wir weg.» Manuel war grau vor Wut. Er hatte sich umgedreht, um Vito anzusehen, war dann wie angewurzelt stehengeblieben und hatte Vito fixiert.

«Manuel!», hatte sie gekreischt. Sie war dem Weinen nahe. Wie oft hatte er sie weinen sehen.

«Bitte, Manuel. Lass uns gehen!» Sie hatte ihn weggezogen, und er hatte sich ihr zugewandt.

«Komm schon, Manuel. Der bringt uns um.»

«Niemand bringt dich um», hatte er gesagt.

Er hatte Carla vorgelassen und war dann hinter ihr hergegangen. Mit einem Fuß ging er auf dem Gehsteig, mit dem anderen auf dem unwegsamen Straßenasphalt. Zitternd hob er den Blick und sah auf die Horde von Autos, die über die Brücke fuhren. Die Scheinwerfer spiegelten sich in den hohen Straßenlaternen. Darüber der schwarze Himmel, der zu einem schmutzigen Grau tendierte. Kein Stern war zu sehen. Er senkte den Blick wieder, setzte einen Fuß vor den anderen und starrte auf Carlas Hauseingang in der Ferne.

Die ganze Nacht lang war er bei ihr geblieben. Er saß neben ihr, ohne einen Wimpernschlag zu tun, wie jemand, der den Feind erwartet.

«Solange ich da bin, wird dir niemand mehr weh tun, Carla.»

Aber sie war durchgedreht. Sie hatte sich hinter dem Fenster verbarrikadiert, wie im Krieg, und hinausgespäht. Das Licht blieb ausgeschaltet, damit man besser nach draußen sah. Als es zu dämmern begann, hatte Carla Manuel entsetzt angesehen. Und was, wenn Vitos Freunde, die auch die Freunde seines Vaters waren, gekommen waren, um ihm zu helfen? Und eine richtige Attacke vorbereiteten?

Aber es war keiner gekommen. Und seitdem war nichts Erwähnenswertes mehr geschehen.

 

Sie machten sogar ein bisschen Musik an. Wie lange hatte Carla keine Musik mehr gehört. Sie aßen, tranken, prosteten sich mit dem Spumante zu, den Vito mitgebracht hatte.

«Ist der gut», sagte Carla.

Sie plauderten, lachten auch. Rund um den Single-Tisch von Onkel Franco war es für alle etwas eng.

«Gut, die Pommes!»

Mara steckte sich einen Löffel Zucchine in den Mund.

«Und jetzt ab ins Bett», sagte Carla nach dem Geburtstagsständchen, der Torte, den Kerzen. Und dem Geschenk des Vaters. Es war eine sehr moderne Puppe. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, um zu verstehen, wie sie funktionierte. Mara ging mit ihr im Arm schlafen.

«Ich muss los», sagte Nicola. «Ich treffe mich noch mit Livia. Und du, was machst du, Rosa?»

«Nimmst du mich mit?», fragte seine Schwester.

Vito stand auch auf und zog sich die Jacke an. Alle waren überrascht. Ein Familienabend ohne Schreie und Schläge.

Nicola und Rosa warteten an der Tür auf den Vater. Sie hatten ihre Helme schon in der Hand und blickten auf Vito und Carla, die für einen Moment zögerten, weil sie nicht wussten, wie sie sich verabschieden sollten. Küsschen auf die Wange? Handschlag? Ciao?

Ein Schauer lief durch die ganze Familie. Man wusste nie, aus welchen Gründen Carla unter Vitos Hände geraten konnte. Der Vater stand mit dem Rücken zu ihnen, sodass die Kinder nicht sehen konnten, welche Muskeln er gerade bewegte. Inzwischen erkannten sie die Wut des Vaters auch an unwillkürlichen Körperbewegungen. Im Raum nebenan murmelte Mara etwas im Schlaf. Man vernahm ein langes Gähnen. Dann drehte sich der Vater zu den Kindern. Er lächelte. Nichts an ihm verriet Hass oder auch nur Verdruss.

«Papa?» Rosa gähnte. Durch die offene Tür kam ein wenig kühle Luft herein. «Cia-o!»

Nicola ging bereits die Treppe hinunter.

Vito machte ein paar Schritte auf die Tochter zu, dann blieb er stehen und ging kurz zurück. Der Alarmzustand war vorüber. Man konnte meilenweit erkennen, dass alles gutgegangen war.

«Ich warte unten auf dich, Papa. Wir kommen zu spät», sagte Rosa. «Nico muss zu seiner Freundin. Wenn er wegen uns zu spät kommt, dann …»

«Ja, wartet unten auf mich. Ich komme in einer Minute nach. Und dann verabschieden wir uns richtig. Wir sehen uns ja nie.»

Nicola hatte mehrere Stufen auf einmal genommen. Er wartete schon auf Rosa, die auf ihren hohen Absätzen langsam hinabstieg.

«Wohin gehst du, sag? Auf Männerjagd?», fragte er.

Nicola lachte, Rosa lächelte.

«Kümmere dich um deinen eigenen Kram», sagte sie.

«He, Rosé, ich hatte es heute Abend viel schlimmer erwartet.» Nicola hob den Kopf zu Onkel Francos Wohnung. Dann warf er einen Blick auf sein Handy. «Was meinst du, wollen wir los? Komm! Wir schicken Papa eine Nachricht. Ich bin echt spät dran, Livia wird schon auf mich warten.»