Das war der gute Teil des Tages - Theresa Bäuerlein - E-Book

Das war der gute Teil des Tages E-Book

Theresa Bäuerlein

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Beschreibung

FÜRS KINO VERFILMT UNTER DEM TITEL ›HANNAS REISE‹: »Ganz und gar wundervoll.« Freundin »Überraschend und vielschichtig.« Brigitte Lena ist geflohen aus Deutschland: aus einer Beziehung, die irgendwann nur noch Beziehung war, aus einem Leben in den Schubladen der Gleichgültigkeit. Sie arbeitet für einige Monate als Betreuerin in einem Heim für Autisten – in Tel Aviv. Dort lernt sie den Pfleger Tom kennen, einen Ex-Soldaten, der die Angst nicht mehr los wird. Genau wie Lena ist er auf der Suche nach einem anderen Leben. Und durch ihn erfährt sie plötzlich aus nächster Nähe, dass die Flucht nach vorne eine Überlebensfrage sein kann. Als er vorschlägt, eine Scheinehe einzugehen, damit er einen deutschen Pass bekommt, steht Lena zum ersten Mal in ihrem Leben vor einer Entscheidung, der sie nicht entkommen will.

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Seitenzahl: 325

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Theresa Bäuerlein

Das war der gute Teil des Tages

Roman

Roman

Fischer e-books

Danke, Tom. Dafür, dass du mich gesehen hast. Und tausendmal danke, Peter und Daniel. Für Tritte, Ideen und Lob in den richtigen Momenten.

1

Die Autisten haben schlechte Laune und schwitzen, die Pfleger auch.

Als ich heute Morgen zur Arbeit gekommen bin, saß der Neue am Tisch, trank schwarzen Pulverkaffee und passte nicht ins Bild. Jetzt ist sein Blick nach oben gerichtet, eindeutig zweifelnd. Ich zucke mit den Schultern, sage »Anders geht es nicht«, setze einen Fuß auf die Klinke, greife in den Türrahmen, stoße mich ab und rutsche durch den Spalt zwischen dem Rahmen und der Tür, die immer abgeschlossen ist. Mit einem Krachen komme ich auf dem Boden auf und bin sicher, dass in der Werkstatt unter mir, wo die Autisten gerade wieder Hustenbonbons abzählen, ein Bild von der Wand gefallen ist. Ich rappele mich auf und trete zur Seite, gerade rechtzeitig. Der Neue rutscht durch den Spalt hinter mir und landet wie eine Katze. »Geht doch«, sage ich ermunternd. Er lächelt schief.

 

Das Dach ist eine beigefarbene Fläche mit einer brusthohen Mauer. Viel Müll überall, verrostete Drahtrollen, grün gestrichene Bretter, kaputte Stühle. Die Stadt breitet sich kilometerweit um uns aus, das alte Zeug hier oben wirft Schatten, ohne die das Dach in der Sonne ein offener Grill wäre. Der Neue dreht sich einmal um sich selbst, nickt anerkennend. Ein fremdes Gesicht, mit leicht gekrümmter Nase, schmalen Lippen, hohen Wangenknochen. Mein erster Gedanke war: Jesus. Ich kann mich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern.

Wir gehen zur Mauer und lehnen uns dagegen. Meine Handflächen fangen an zu jucken, wie immer, wenn ich aus großer Höhe herunterschaue. Ich kämpfe gegen den Wunsch, in die Tiefe zu springen – nur weil ich wissen möchte, wie der Sprung sich anfühlt. Vorsichtshalber halte ich mich an der Mauer fest, bis meine Fingerknöchel weiß werden.

 

Heute Morgen bin ich zum 62. Mal, seit ich aus Deutschland weggefahren bin, in einer halbwegs aufgeräumten Wohnung im Zentrum von Tel Aviv aufgestanden, habe eine Tasse Pulverkaffee getrunken, einen Hausschuh nach einer Kakerlake geworfen, sie knapp verfehlt, und dann den Bus zur Arbeit genommen. Der Bus ist nicht explodiert. Das war der gute Teil des Tages. Den Rest regierte Olga, die mir alle fünf Minuten auf Deutsch Befehle zubellte und mich dabei ansah wie etwas, das sie von ihrer Schuhsohle heruntergekratzt hatte. Ich denke, es gibt einen dunklen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass meine Chefin deutsch spricht und dass sie mich von Anfang an nicht leiden konnte. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich das sein soll: jemandes Feind, oder so etwas Ähnliches. Aber Olga findet Gründe, mich zu hassen. Ich würde gerne fragen, aber nicht mal eben zwischendurch, und ich fürchte, dass es noch ein paar Jahrzehnte dauern könnte, bis wir mal abends zusammen einen trinken gehen werden.

 

Mein Herz klopft durch den Bauch hindurch gegen den kalten Stein der Mauer. Mein Gesicht liegt im Schatten, das des Neuen in der Sonne, das Licht fällt durch seine heufarbenen Locken, sodass es aussieht, als hätte er eine Erleuchtung. In Sachen Mitarbeit macht er an seinem ersten Tag nicht mehr her als eine hübsche Zimmerpflanze, aber ich bin froh, dass er da ist, er scheint anders zu sein. Bis jetzt war ich immer allein auf dem Dach, wenn ich ein bisschen Abstand zu Olga und dem verqualmten, kirmeshaften Chaos der Stadt haben wollte. Die meisten meiner Kollegen machen den Job, als wären sie Teil einer Sekte und nicht Teil eines schlecht bezahlten Pflegeteams. Sie scheinen Autismus mit einer heiligen Krankheit zu verwechseln, sie reden über die Heimbewohner, als wäre jeder einzelne ein Cousin des Messias und nur deshalb ein bisschen seltsam. Vielleicht weiß ich zu wenig über Autisten, ganz zu schweigen vom Messias, aber in meinen Augen benimmt sich Amir, mit dem ich täglich zu tun habe, wie ein normaler junger Mann mit extrem schlechten Manieren und Hormonstau. Der unangenehme Unterschied besteht darin, dass ich Amir nicht anschreien kann, wenn er mit einer Erektion, an der man problemlos Badetücher aufhängen könnte, auf mich zuwankt.

 

»Hast du Zigaretten?«, frage ich den Neuen. Er greift hinter sein rechtes Ohr und wirft mir eine Zigarette zu, deren Filter einen schmalen, goldgefärbten Rand hat. Darüber steht »Noblesse«. Der Tabak ist grob wie Krautsalat, nach einem Zug dreht sich alles und ich lege mich auf den Boden, bevor sich mein halbverdautes Frühstück in Richtung Stadt drängen kann.

»Du siehst blass aus«, stellt er fest. Er schaut zu mir herunter und atmet einen Schwall Rauch aus. Ich nicke, zu schlaff, um zu antworten, ich sehe immer blass aus, mein Magen ringt schläfrig mit billigem Zigarettenrauch, meine Haare liegen ausgebreitet auf dem Boden, und mein Rücken wird auf den heißen Steinen gebacken. Ich treibe durch die Pause wie auf einem Boot in einer karibischen Meeresbucht, von mir aus kann die Zigarettenpause Stunden dauern.

Es gibt einen Berg von Dingen, die ich gerne über den Neuen wissen würde, abgesehen von seinem Namen. Er sieht nicht sonderlich interessant aus, zu glatt, mit seinen hellen Haarspitzen, den abgewetzten Jeans und T-Shirts und der Piloten-Sonnenbrille, wie ein kalifornischer Beachboy, der in der Wüste dem Teufel seine Seele im Tausch gegen ein paar Skateboardtricks verkaufen möchte. Der Stil geht mir auf die Nerven. Aber er hat etwas an sich, schwer zu sagen, so etwas Verlorenes, trotz dieser blendenden Selbstsicherheit. Als wüsste er ganz genau, wer er ist, müsste aber erst noch herausfinden, auf welchem Planeten man ihn ausgesetzt hat.

 

»Tom?«, sage ich.

»Ja?«

»Nichts, ich hatte nur deinen Namen vergessen.«

»Ach.« Er klingt verwirrt.

»Ist nicht persönlich gemeint.«

»Schon gut.«

 

Seltsamer Name, für einen Israeli. Hebräisch ist schön, es dröhnt und kracht, als würde jemand mit offenem Mund Knäckebrot essen und gleichzeitig aus der Bibel vorlesen. Ich wollte es lernen, aber es ist überhaupt nicht nötig. Ich habe mir immer etwas auf mein Englisch eingebildet, aber die meisten Israelis sprechen es besser als ich, mit einem Kaugummi-Gangster-Akzent, den sie wahrscheinlich im Kino lernen, da die Filme nicht hebräisch synchronisiert werden.

 

»Du erinnerst mich an eine Schauspielerin«, sagt er.

»Welche?«

»Mena Suvari.«

»Kenne ich nicht.«

»Die Blonde aus American Beauty. Das Teenagermädchen, in das sich der Hauptdarsteller verliebt.«

»Habe ich nicht gesehen.«

»Was? Du kennst American Beauty nicht?«

»Nein. Pulp Fiction übrigens auch nicht.« Ich erzähle gerne, dass ich Pulp Fiction nicht gesehen habe. Die meisten Menschen reagieren, als wüsste ich nicht, dass Sauerstoff das Zeug zum Atmen ist.

»Du vergisst meinen Namen, du kennst Pulp Fiction nicht – entschuldige, das klingt, als wäre mit dir irgendetwas nicht ganz in Ordnung.«

»Weil ich deinen Namen vergesse? Bist du so wichtig?«

Er grinst. »Nein. Ist schon okay. Eigentlich sollte es ein Kompliment sein. Ich mag Mena Suvari.«

»Netter Versuch.« Er lächelt. Ich finde ihn dreist. Es ist sein erster Tag, aber er drückt sich mit der Selbstverständlichkeit eines verdienten Veteranen vor allem, was anstrengend ist. Das Verrückte ist, dass er damit durchkommt. Vielleicht liegt es an diesem unglaublichen, jungenhaften Selbstbewusstsein, das er abstrahlt. Er verändert Räume wie eine gefärbte Glühbirne, drei Quadratmeter um ihn herum wird alles tomfarben. Selbst Olga kann er damit blenden.

»Ich habe noch eine Frage«, sagt er.

»Noch mehr Filme?« Die Hitze bringt mich zum Gähnen.

»Nicht ganz. Was machst du hier?«

»Hm? Das Gleiche wie du, arbeiten.« Er kann ruhig ein bisschen zappeln, nachdem er den ganzen Vormittag den Cowboy in der Hängematte gespielt hat.

Er schüttelt ungeduldig den Kopf. »Ja klar, aber wieso machst du das in Israel?«

Ich spanne meine Bauchmuskeln an und richte mich auf. »Die ehrliche Antwort?«

Er zuckt mit den Schultern. »Am liebsten schon, aber eine richtig gute Lüge wäre auch interessant.«

»Vor einem halben Jahr habe ich angefangen, die Bibel zu lesen. Und da habe ich zum ersten Mal verstanden, dass meine Seele in das Gelobte Land zurückkehren will.«

Er nickt, unbeeindruckt. »Das war gelogen.«

Ich grinse. »Ja.« Er schaut mich an und wartet auf mehr, aber ich stecke mir wieder die Zigarette zwischen die Lippen.

Tom runzelt die Stirn. »Kann ich dich danach fragen oder willst du nicht darüber reden?«

»Nein, nein, das ist schon okay.«

»Du kommst aus Deutschland, oder?« Ich nicke, und meine gute Laune verdünnt sich ein bisschen, nervös betrachte ich sein Gesicht. Hoffentlich reagiert er nicht wie Olga.

In seiner Miene spielt sich nichts ab, das ich deuten kann. »Bist du Jüdin?«, will er wissen.

»Nein«, sage ich. Nervös schnippe ich den Zigarettenstummel weg. Er fliegt knapp an Toms Hand vorbei.

»Sonstwie religiös?« Ich schüttele den Kopf und entspanne mich. Das hat mich bisher jeder gefragt.

Er lächelt. »Sehr gut, religiöse Menschen sind mir unheimlich. Aber dann verstehe ich nicht, was das Ganze soll.«

»Zufall. Ich wollte weg von zu Hause, und auf die Schnelle habe ich nur in Israel einen Job gefunden, für den ich kein Brunnenbau-Diplom oder so etwas gebraucht hätte.« Nachdenklich betrachtet Tom erst mich, dann seine Hände. Er hat ziemlich breite Finger, mit großen, flachen Nägeln. Wie die meisten Leute ziehen mich eher schlanke Hände an, aber das ist eigentlich nur ein dummes Vorurteil. Ich schüttele den Kopf. Was gehen mich seine Hände an.

»Was?«, fragt er.

»Wie, was?«

»Du hast den Kopf geschüttelt.«

»Nichts, ich habe an was anderes gedacht.«

»An was denn?«

»Du bist ganz schön neugierig.«

»Sag’s mir einfach, dann bin ich es nicht mehr.«

»Später vielleicht.«

»Also hat es mit mir zu tun.«

»Nein!«

»Aha«, macht er, legt den Kopf schief und grinst mich so an, dass ich ihm am liebsten eins überziehen würde.

Eine Taube flattert vorbei, leider landet sie nicht auf Toms dreistem Schädel, dessen Locken ein perfektes Vogelnest abgeben würden, sondern auf der Mauer. Tom sagt:

»Ich fürchte, das war keine gute Entscheidung.«

»Stimmt«, sage ich abwesend und meine den Vogel.

»Niemand, der sein Hirn zum Denken benutzt, kommt nach Israel.«

»Besten Dank«, sage ich.

»Es gibt keinen akzeptablen Grund, freiwillig herzukommen – außer, du hast keine Wahl, jemand stülpt dir einen Sack über den Kopf und wirft dich über Tel Aviv ab.« Er lacht. »Hey, das wäre doch eine nette Idee für Terroristen, falls ihnen die Selbstmordattentate mal langweilig werden.«

Ich gähne und beschließe, mich nicht weiter aufzuregen. Er denkt, dass ich in meinem Leben noch keine Zeitung gelesen habe.

»Tom, ich weiß, dass die Gegend gefährlicher ist als München, aber ich kann auch vor meiner Haustür von einem Auto überfahren werden.« Ich glaube, ich klinge ungeduldig.

»Ach, das kann dir hier außerdem auch noch passieren«, erwidert Tom leichthin.

»Wenn du es so schlimm findest, was machst du bitte noch hier?«

Er zögert kein bisschen. »Ich mache, dass ich hier wegkomme. Und das Gleiche würde ich dir raten. Wenn schon weggehen, dann richtig. Man muss ein Land nehmen, in dem man leben kann. Australien oder Indien, das macht Sinn.«

»Entschuldigung, aber Indien ist auch nicht gerade Disneyland.« Ich hätte ihn für schlauer gehalten. »Und Australien? Wieso denn bitte Australien, was soll daran besser sein?«

»Habe ich doch schon gesagt: das Leben.«

Das Gespräch ist frustrierend. »Ach so, das Leben, klar. Ich könnte bestimmt einen super Job in einem Ferienclub finden, wo ich meinen Animateur-Kollegen Pfirsichlikör aus dem Bauchnabel saufen darf, um Touristen heiß zu machen.«

»Klar, warum nicht.«

»Vielleicht habe ich das nicht klar genug ausgedrückt, aber ich will hier keine Ferien machen, was du auch daran gemerkt haben könntest, dass wir gemeinsam in diesem Irrenhaus arbeiten.«

»Hab ich gemerkt«, bestätigt er mit einem Nicken. »Also, du meinst, es ist moralisch besser, Autisten zu betreuen als Touristen.«

»Hä? Natürlich ist es das. Komm schon, ich habe recht damit, das weißt du.«

Er legt den Kopf noch ein bisschen schiefer als vorhin. Graue Augen mit einem Kranz zarter Lachfalten, Brauen wie schwarze Pinselstriche. Er betrachtet mich durch seine Stirnlocken. Jemand muss ihm mal erzählt haben, dass das sexy ist.

»Vielleicht«, sagt er. »Vielleicht hast du aber auch einen besseren Grund.«

»Hast du einen Tipp, was das sein könnte?«

»Nein«, er zuckt mit den Schultern, »ist nur so ein Gedanke.« Sein Grinsen ist so breit wie Australien.

Ich glaube ihm nicht, aber ich kann selbst nicht sagen, warum. Das ist kein Kennenlerngeplänkel unter Kollegen, er stellt die Fragen, als hätte er einen Job zu vergeben. Gerade will ich ihn fragen, warum, als aus dem Haus unter uns wütende Laute dringen, als hätte jemand eine Katze in der Tür eingeklemmt. Der Tonlage nach ist es Amir, der in einem Theaterstück jederzeit die Rolle des wütenden jungen Mannes besetzen könnte. Außerdem ist er Autist, was Verhandeln mit ihm nicht gerade einfach macht, etwa, wenn man ihm ausreden möchte, beim Mittagessen seinen Schwanz auszupacken.

Jemand sollte ins Haus gehen und nach Amir sehen, aber ich würde lieber eine Packung »Noblesse«-Zigaretten essen, als mich jetzt zu bewegen. »An deiner Stelle wäre ich vor Hitze längst gestorben«, bemerke ich in Toms Richtung und hoffe, er kapiert, dass ich nicht über das Wetter rede.

»Richtig.« Er krempelt sein T-Shirt bis zum Hals hoch und schenkt der Sonne seine ganze Breitseite. Durch jede Ritze des Hauses dringt Amirs ohrenbetäubende Wut.

»Na komm«, sagt Tom träge, »der mag dich doch. Den wickelst du locker um den Finger.«

Fauler Sack, denke ich, sage aber nichts, sondern gebe nach, weil ich manchmal so verdammt gutmütig sein kann; also stehe ich auf und setze mir die McDonald’s-Baseballkappe auf, mit der ich aussehe wie ein Idiot. Im Haus muss ich sie trotzdem tragen, denn wenn Amir richtig wütend ist, verkrallt er sich in den Haaren von jedem, der in seine Nähe kommt. Ich bin gerade dabei, ins Haus zu gehen, als Tom einen Kommentar abgibt, der mir fast den Boden unter den Füßen wegzieht: »Der Junge benimmt sich wie ein Holocaust-Überlebender«, murmelt er, mehr zu sich selbst, und lacht in sich hinein. »Komm schon«, ruft er, als er mein Gesicht sieht, »ihr Deutschen versteht einfach keinen Spaß.« Das Schreien im Haus hört auf.

2

Autisten. Das war ein Schock. »Helfen in Israel e. V.« hatte neblig »Sozialarbeit« auf seine Website geschrieben und die Antragsformulare online gestellt. Ich wollte weg, und auf die Schnelle war mir egal, wo ich landen würde. Schlecht bezahlte Jobs kriegt man immer. Helfen klang gut. Ich dachte, ich würde vielleicht in einem Kindergarten landen. Als auf dem Freiwilligentreffen ein dicklicher Doktor aus Israel über Autisten zu sprechen begann, begann ich mich langsam rückwärts zum Ausgang zu bewegen. Dann überlegte ich es mir anders. Wie die meisten Leute habe ich irgendwann Rainman mit Dustin Hoffman gesehen und daraus gelernt, dass Autisten eine Art Supernerds sind, Leute, die sozial nicht klarkommen, aber im Bruchteil einer Sekunde achtstellige Primzahlen addieren und unhörbare Töne wahrnehmen können. Das brachte mich zum Umkehren.

 

Die meisten Autisten, denen ich hier begegnet bin, können keinen einzigen zusammenhängenden Satz sagen. Sie gehen wie Schlafwandler durchs Haus, summen seltsame Melodien und starren ins Leere. Vielleicht lösen diese Frauen und Männer hinter ihren stummen Fassaden tatsächlich komplizierte Rechenprobleme. Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Was mich umwirft, ist, dass mir die Autisten trotz allem nicht besonders krank vorkommen. Sie wirken wie Menschen, die in sich selbst verschwunden sind, weil ihnen das Leben draußen einfach zu viel geworden ist. Ein normaler Mensch, glaube ich, nimmt das Dasein als Flüstern wahr, einem Autisten brüllt es ins Gesicht. Wenn dem Normalen eine Socke fehlt, denkt er: Meine Socke ist weg. Ein Autist denkt: MEINESOCKEISTWEG, und rastet aus. Etwas mehr fühlen als normal, das kann einen schon verrückt machen.

So weit meine Theorie. Vielleicht meine ich das auch nur, weil ich mich damit identifizieren kann. Manchmal denke ich: wenn Überleben eine Frage der Anpassungsfähigkeit ist, liege ich gefühlsmäßig eine Evolutionsstufe zurück. In meinen pessimistischeren Momenten stelle ich mir vor, dass es in ein paar Jahrtausenden nur noch Nazis und Inline-Skater gibt, die gemeinsam in der Werbung arbeiten, sich zum Mittagessen eine Palette Leberkäs-Sushi ausdrucken und nicht mal mehr Schmerz darüber empfinden.

Ich weiß nicht, ob es für das, was mit mir los ist, eine Vokabel gibt. Ich sage dazu: meine Filter funktionieren nicht richtig. Meine Freunde sagen, Lena, du nimmst alles Mögliche zu persönlich. Eine tote Katze auf der Straße, einen Alkoholiker, der mit blutunterlaufenen Augen vor dem Schnapsregal steht, ein Mädchen, das sich im Fernsehen die Brüste vergrößern lässt. Ich denke: Das wäre ich, wenn es ein bisschen anders zugegangen wäre. Darum mag ich die Autisten. Ich habe das Gefühl, deren Filter sind noch schlechter.

 

Das Haus, in dem ich arbeite, ist eine Bühne, auf der wir alle, Autisten und Pfleger, jeden Tag ein Stück namens »Alltag« aufführen. Wir tun so, als hätte die Welt feste Regeln. Jede Socke hat ihren Platz. Es sieht aus wie ein Altenheim, dessen Bewohner sich auf rätselhafte Weise das Aussehen von Zwanzigjährigen bewahrt haben. Es gibt schlammfarbene Cordsofas, einen Fernsehbildschirm, über den abwechselnd Nachrichten und Teletubbies flimmern, einen Esstisch mit orange geblümter Plastikdecke und ein Dutzend dunkelblau gestrichener Türen, die zu den Zimmern der Autisten führen.

Als ich hereinkomme, stehen in der Mitte des Raumes, in einem Cordsofa-Hufeisen, Olga und Amir. Sie redet auf Hebräisch auf ihn ein, ich verstehe kein Wort – für mich klingt sie wie eine fauchende Katze. Amir hört zu oder auch nicht, sein Blick ist in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Er ist so etwas wie ein autistischer Punk, er liebt laute, krachende Musik, masturbiert ununterbrochen, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen Arbeit und ist nikotinsüchtig. Wir geben ihm keine Zigaretten, deswegen isst er notgedrungen jeden Stummel, den er in die Finger kriegt. Olga hält das für einen guten Kompromiss. Amir trägt schwarze Koteletten und ist drei Köpfe größer als Olga, die etwa so hoch ist wie ein Stuhl. Olga, eine Frau völlig undefinierbaren Alters, ist wie eine Mutter für alle. Eine milde Mutter für die Autisten, eine strenge Stiefmutter für mich und meine Kollegen. Sie hat mitleiderregende gelbe, lichte Wolle auf dem Kopf, aber das täuscht, ihre Blicke können Kastenbrote schneiden. Einen davon wirft sie quer durch den Raum – zu mir. Sie denkt, dass die Kleine nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und zu grinsen.

»Wo gewesen?«, fährt Olga mich an.

Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass die Chefin mit mir Deutsch redet, mit russischem Akzent und zerbrochener Grammatik zwar, aber fließend. Ich schicke ein Lächeln über den Abgrund zwischen uns beiden. »Kann ich etwas tun?« Olga nickt heftig, mit zusammengezogenen Augenbrauen, und geht weg. Ein blauer Teletubby watschelt über den Fernseher, winkt und ruft »Schalom!«, dann höre ich die Toilettenspülung rauschen. Ich schüttele den Kopf, gehe in die Küche, klappe einen der Schränke auf und nehme zwölf Teller für das Mittagessen heraus, orangefarbene Plastikschalen, abends sind sie grün, die einen für Fleischgerichte, die anderen für alles, was Milch enthält. Einige Eltern legen wert auf koscheres Essen. Außerdem bestehen sie darauf, ihren erwachsenen weltfernen Kindern flache Stoffscheiben, das Zeichen der Religiösen, auf die Köpfe zu schnallen. Ich habe noch keinen Autisten beten sehen.

Ich decke den Esstisch im Wohnzimmer und nehme mir vor, Olgas Stimme nur noch als Teil des allgemeinen Klangteppichs wahrzunehmen, wie die Stimmen, die aus dem ewig laufenden Fernseher quellen. Hintergrundbrei, weißes Rauschen. Fünf Minuten später kommt Tom mit sonnenglänzendem Gesicht herein, nickt mir beiläufig zu, setzt sich an den Computer und fordert ihn zu einer Partie Black Jack heraus.

 

In dem Moment, als ich nach der Schicht aus der Tür trete, sterbe ich fast vor Hitze. Ich hege einen kindischen Trotz dagegen, Gedanken ans Wetter zu verschwenden. In meinem ganzen Leben habe ich noch keiner Vorhersage zugehört. Als Resultat ziehe ich mir bei jedem Wetter die falschen Klamotten an. Wenn es kalt ist, gehe ich im T-Shirt aus dem Haus, wenn die Sonne den Leuten die Shirts von den Rücken herunterschmilzt, trage ich selbstverständlich lange Jeans.

Auf dem Weg zum Ausgang komme ich durch den Innenhof, wo Tom auf einer Zementbank sitzt und raucht, als hätte er im Leben nichts anderes vor. Ich lächle ihm zu.

»Bye«, sage ich im Vorbeigehen.

»Mmbye.«

Ich dachte, wir könnten das Gespräch auf dem Dach fortsetzen, aber scheinbar ist er gerade zu cool, seinen Mund zu bewegen. Dieses »Mmbye«, es liegt mir auf dem Weg zum Tor im Magen wie schlechte Milch. Leute kennenlernen ist etwas, das mir schwerfällt. Ich habe es lieber, wenn sie mich kennenlernen. Ich gehe am Swimmingpool vorbei, dessen Wasser mir nur bis zur Hüfte geht, und auf das Tor zu, ein stahlfarbenes, breit gemustertes Gitter, der Schlüssel hängt um meinen Hals, er klemmt, wie immer, dann dreht er sich endlich, das Tor schwingt auf.

Einen Moment lang bleibe ich noch stehen, damit Tom mich zurückrufen kann. Aber es kommt nichts. Na schön, ich schiebe das Tor mit dem Fuß zu und fädele mich in den Menschenschwarm ein, der sich die Straße hoch- und runterschiebt.

 

Am Anfang hat Tel Aviv mich umgehauen. Die Stadt war genau so, wie ich mir das gewünscht hatte, laut und glühend heiß und vor allem: anders als zu Hause. Aber nicht zu sehr. Keine Menschen, die Schlangenkörbe auf den Köpfen tragen. Vor meinem ersten Spaziergang habe ich keinen Blick in meinen Reiseführer geworfen, ich wollte mich verlaufen. Es kam mir vor, als würde ich alle paar Meter eine stimmungsmäßige Wettergrenze überschreiten: hier Regen und ein paar Meter weiter Sonne, dann Nebel. An der einen Straßenecke tanzte ein Haufen orthodoxer Juden, ein paar Meter weiter wippten ein paar junge Israelis die Straße herunter, dann geriet ich in ein märchenhaftes Viertel mit halb verfallenen Häusern, die von Blumen zusammengehalten wurden, und überquerte eine pseudoamerikanische Fressmeile, die Eingänge bewacht von schwarz uniformierten Sicherheitsleuten, die jedem, der sich einen Burger kaufen wollte, gelangweilt die Taschen ausleerten. Ich bog um eine Ecke, erreichte den Markt und ging schnell vorbei, weil ich gehört hatte, dass sich am Markteingang hin und wieder jemand in die Luft sprengt, und zum Glück war ein paar Meter weiter der Strand, wo ein paar Trommler am Feuer saßen, alte und junge Hippies, die mir einen Plastikbecher mit Arrak-Limonade schenkten, Wasserpfeife rauchten und betrunken Friedenslieder grölten. An dem Punkt bekam ich langsam Kopfschmerzen und versteckte mich in einer kleinen, leeren Kirche, die mir tröstlich bekannt vorkam. Drinnen war es kühl. Auf dem Altar lagen weiße Plastikblüten. In der Luft hing leise Orgelmusik, die von einem unsichtbaren Band kam. Ich drückte mich zwischen die Reihen mit Holzbänken und merkte, dass es mir trotz der Kopfschmerzen so gut wie schon lange nicht mehr ging.

Es heißt, dass man vor seinen Problemen nicht weglaufen kann. Blödsinn. Das sagt man nur, wenn man zu faul ist, seinen Hintern zu bewegen. Mein tot geglaubter Lebenshunger ist mit lautem Brüllen aufgewacht, sobald ich mit einem vollgestopften Rucksack auf dem Rücken meine Haustür in Deutschland hinter mir zugeworfen hatte. Ich hatte das Packen auf die letzte Minute verschoben, hatte meine Kleider viel zu spät aus der Waschmaschine gezogen und auf die Heizung gelegt. Als ich gerade meine Zahnbürste einpackte, fiel mir der beißende Geruch auf. Zwei Stunden später fuhr ich mit dem Bus im Morgennebel über das Rollfeld des Münchner Flughafens, mit verkohlten Klamotten am Leib, aber zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich.

Vor ein paar Tagen habe ich gemerkt, wie sich wieder so etwas wie Alltag in mein neues Leben eingeschlichen hat. Die Stadt ist nicht mehr ganz so fremd, und die Tage haben einen Rhythmus bekommen: Arbeit, Essen, Zigaretten und Gerede. Auf dem Rückweg über die Strandpromenade macht es mir ein bisschen Sorgen, dass mir alles fast schon wieder zu bekannt vorkommt. Mir ist danach, sofort weiterzufahren, bevor ich mich an das Hiersein gewöhnen kann. Aber ich habe eine ungemütliche Ahnung, dass genau dieses Gefühl mich dazu bringen könnte, mein ganzes Leben lang wegzulaufen, bis ich mit schlechten Zähnen, Batik-T-Shirt und dem Staub der ganzen Welt in den Haaren an irgendeinem Strand enden würde – immer noch rastlos, eigentlich, aber zu müde, um weiter nach einem Ort zu suchen, der sich für den Rest meines Lebens richtig anfühlen würde.

 

Bis zur Altstadt, die am Horizont ins Bild ragt, ist rechts alles Meer. Als ich an einem Café vorbeikomme, tritt eine Kellnerin mit einem Tablett heraus und fängt an, die Tische abzuräumen. Ich bleibe stehen, um zuzusehen. Die Schürze der Kellnerin ist lang, schwarz und eng, damit könnte sie auch in die Oper gehen. Ich stelle mir vor, dass es nett sein könnte, in diesem Café zu arbeiten, immer mit dem Blick aufs Meer. Die Arbeit dürfte kaum der Rede wert sein, das ist ein Touristencafé, und es kommen nicht viele Touristen in dieser Saison oder überhaupt nach Israel.

Als ich neulich in der Altstadt war, hatte ich alles für mich allein. Die sorgsam restaurierten alten Häuser, die Cafés mit Blick aufs Meer, die Infotafeln und die sandfarbenen Gassen: leer gefegt, bis auf ein paar versprengte Einheimische. Ich setzte mich auf eine Mauer, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und fand es ein bisschen absurd, so etwas wie eine Nutznießerin des Nahostkonflikts zu sein.

 

Ich beneide die Kellnerin darum, dass sie sich gleich wieder in den Eingang zur Küche lehnen, wahrscheinlich eine Zigarette rauchen und mit den Köchen scherzen wird, die doppelt geknöpfte, weiße Jacken tragen und ab und zu einen Teller mit gegrillter Aubergine und Sesamsauce herausreichen.

Die Kellnerin schaut zu mir herüber. Sie sieht eine junge Frau mit mädchenhaftem Gesicht, ausgewaschenem schwarzem T-Shirt, fadenscheiniger Jeans und Kopfhörern in den Ohren. Die junge Frau hat offenbar nichts Wichtigeres zu tun, als auf einer Strandpromenade in die Luft zu gucken. Die Kellnerin hätte auch gerne mal wieder frei.

 

Ich laufe über den Rothschild Boulevard, benannt nach einer ultrareichen Familie, deren Vermögen vor 200 Jahren unter anderem mit dem Verkauf hessischer Soldaten an die englische Krone zu wachsen begann. Das habe ich im Internet nachgelesen, immerhin geht es hier um meine Lieblingsstraße. Es ist ein graubrauner Zementstreifen, der für Fußgänger reserviert ist, mit Bäumen dekoriert. Einige der Bäume bestehen aus braunen, ineinander verdrehten Knoten, mit Ästen wie Armstümpfe. Die höheren, schlanken Bäume tragen längliche Blätter in Grau. An diesem Freitagnachmittag wandern Hunderte Spaziergänger den Boulevard herunter wie Statisten in einem Dokumentarfilm über modernes, urbanes Leben, lässig und gut gekleidet, Pappbecher voll Milchschaum und Espresso in den Händen.

Vor einer der Kaffeebuden, weiß gestrichen mit einer schmalen Theke, sitzen Menschen auf Barhockern, ihre trendigen goldfarbenen Hunde hocken darunter. Von den Halsbändern der Hunde hängen Leinen, die allesamt mit rätselhaften schwarzen Plastikstreifen dekoriert sind. Das scheint ein Trend unter Hundebesitzern zu sein.

In der Bude stehen schwitzende Männer mit Schürzen um einen winzigen Tisch herum und tackern mit Zahnstochern Toastbrotscheiben, Eiersalat und Tomaten zu Sandwiches zusammen. Plastikbehälter an der Wand rühren bonbonfarbene Milchshakeflüssigkeit, aus den Lautsprechern an der Decke dringt Jazz in Clublautstärke. Ich kaufe mir einen Milchkaffee und ein Avocadosandwich und setze mich damit auf einen der Barhocker, mitten auf dem Fußgängerstreifen. Die Menschenmenge teilt sich vor diesem Hocker und fließt rechts und links an mir vorbei, ich fühle mich wie ein Ausstellungsstück.

Das Gute an großen Städten ist, dass man immer Gesellschaft beim Alleinsein haben kann. Die Menschen, die an mir vorbeigehen, könnten auch Münchner sein, aber ich kenne niemanden, ich spreche noch nicht mal ihre Sprache. Abgesehen von den zwei, drei Wörtern, die ich wegen der Autisten gelernt habe: »Komm mit!«, »Duschen!« und »Gute Nacht!«, aber damit macht man sich keine Freunde, damit könnte ich höchstens einen wortkargen One-Night-Stand bestreiten. Ohne Sprache sitze ich in der Mitte des Ganzen wie in einer Blase. Zu Hause habe ich mich oft fremd gefühlt, hier bin ich es tatsächlich. Das ist das Beruhigende, wenn man weit weg ist.

 

Ich lasse meine Blicke wandern, faden Milchschaum auf der Zunge, bis mir eine winzige alte Frau auffällt. Sie stützt sich mit der Hand auf einem der Stühle ab und schaut suchend. Dann fängt sie meinen Blick auf, lächelt erleichtert und winkt mich heran. Die Alte hält mich für die Kellnerin. Sie sieht aus wie jemand, der gar nicht weiß, dass es Cafés mit Selbstbedienung gibt. Noch vor zehn Minuten habe ich eine Kellnerin beneidet. Ich gehe zu der Alten hin, nehme die Bestellung für einen Espresso auf und bekomme ein völlig übertriebenes Trinkgeld, als ich ihr den winzigen Pappbecher bringe. Es gibt keinen Grund zu bleiben, mein Sandwich ist längst aufgegessen, aber ich kehre zu meinem Barhocker zurück. Ich kann die Augen nicht von der Alten lassen. Sie zieht mit Schildkrötenbewegungen ein silbernes Zigarettenetui und ein Plastikfeuerzeug aus ihrer riesigen Ledertasche, die zu Zeiten des Schwarzweißfernsehens wahrscheinlich modern war. Es kostet sie sichtlich Mühe, eine Flamme hervorzubringen, und als die Frau sich Zucker in den Kaffee schütten will, bin ich kurz davor, ihr in den Arm zu fallen, weil die verdammte Zuckerdose riesig und viel zu schwer ist. Wegsehen kann ich nicht, die Alte wirkt so völlig deplatziert inmitten der hippen Spaziermeile. Wie sie den Autos hinterhersieht, mit krummem Rücken im silbergrauen Kostüm, die Asche an ihrer Zigarette wird immer länger, und wie sie mit spitzen Lippen meinen Kaffee aus der zitternden Tasse trinkt. Das, denke ich, ist echte Einsamkeit, und etwas wie Eiswasser rollt mir den Rücken herunter.

 

Und dann sehe ich Tom. Ich erkenne das fast schmerzhaft knallige Orange des T-Shirts, das er heute bei der Arbeit getragen hat. Er stürmt an mir vorbei, den Blick nach vorn gerichtet, auf die Lücken in der Menschenmasse vor ihm. Ich schaue ihm nach, und dann mache ich, ohne groß nachzudenken, etwas, das mein Leben schon wieder ändern wird, ich springe einfach von meinem Hocker herunter und laufe Tom hinterher. Ein paar Meter vor mir fädelt er seinen langen Körper im schnellen Tempo durch die Menge, verschwindet kurz, dann sehe ich sein T-Shirt wieder aufblitzen. Die Straße öffnet sich zu einer Kreuzung, links zieht sich eine Klamottenmeile, rechts ist ein kleiner Markt, in der Mitte stauen sich Autos und Menschen. Es ist ein Rummelplatz, durch den ein Verrückter eine zweispurige Straße gebaut hat. Massenweise Läden, aus deren Türen und Fenstern buntes Zeug herausquillt, Menschen und Waren, ein einziges Knäuel aus Bewegung und Krach, der Benzinduft der Autos mischt sich mit dem schweren Öldunst der Falafel-Buden. Tom drängt weiter vorne nach rechts, ich mache hier hinten das Gleiche und stoße mit einem Mann im schwarzen Anzug zusammen, dessen Schläfenlocken unter seinem Hut schwingen wie glänzende Lakritzschnüre. Er lacht und sagt etwas in Knäckebrotsprache, ich schiebe mich ungeduldig an ihm vorbei, auf der anderen Straßenseite leuchtet es orange.

Dann habe ich ihn verloren. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, suche das T-Shirt in der Menge: keine Chance. Ich stehe am Eingang zum Markt, die Menschen drängeln sich so dicht zusammen, dass sie sich gegenseitig die Haare von den Köpfen grasen könnten. »Tom!«, rufe ich ziemlich sinnlos in die Richtung, in der ich ihn zuletzt gesehen habe. Zehn Männer drehen sich auf einmal um.

 

Mir fällt wieder ein, was ich über Attentate in dieser Gegend gelesen habe. Natürlich – der Markt, die Enge, die Menschen, die Massen. Ich zwinge mich, darauf zu warten, dass mein Herz langsamer schlägt, aber dann hält neben mir mit mächtigem Schnaufen ein Bus, ich zucke zusammen. Noch so eine potenzielle Todesschleuder. Wie viele Busse sind in den vergangenen Jahren in Israel explodiert? Irgendwo habe ich die Zahl gelesen. Ich habe keine Ahnung, mit welcher Wahrscheinlichkeit genau jetzt ein Terrorist vorbeikommen könnte, aber ich habe keine Lust, es auf die harte Tour herauszufinden.

Ich will weg, aber die Menschen tragen mich einfach mitten zwischen die Marktstände, wenn ich ein paar Meter in eine Richtung gehe, werde ich als Nächstes umso heftiger in eine andere gezogen. Ich versuche, stehen zu bleiben, und verkeile mich zwischen zwei Ständen, auf denen sich Trainingshosen und Granatäpfel stapeln.

Der Freitag ist in Israel, was in christlichen Ländern der Samstag ist. Freitagnachmittags auf den Markt zu gehen ist in Tel Aviv also eine ganz schlechte Idee. Der Markt ist ein Ort, den niemand verlassen kann, der ihn freitags betreten hat. Irgendwann geben alle auf, bleiben da und eröffnen irgendwelche Gemüsestände.

Ich würde gerne eine Zigarette rauchen und kämpfe kurz gegen den absurden Gedanken, dass alles explodieren wird, wenn ich sie anzünde. Es ist eine Sache, zu wissen, dass Israel gefährlich ist, und eine andere, an einer Kreuzung zu stehen, an der sich tatsächlich Menschen in die Luft gesprengt haben. Fünfzig Meter vor mir stehen rotschwarze Metallstühle, deren Beine in den Boden eingemauert sind. Ich frage mich, ob die Stühle einer Explosion standhalten oder ob sie jedes Mal neu eingemauert werden.

Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wartet eine Frau, die eine rosa Plastiktüte in der rechten Hand trägt, in der Brot und ein paar Plastikschälchen liegen. Ich erkenne schwarze Oliven, Tomaten und eine Art Frischkäse. Damit kann sie sich heute Abend ein nettes Sandwich machen. Die Frau muss Sandwiches wirklich gerne mögen, sonst würde sie nicht das Risiko eingehen, in dieser Gegend einzukaufen.

Dann muss ich endlich über mich selbst lachen, über die Idee, Tom hinterherzulaufen, um anschließend halb in Panik zu geraten, weil ich in einer Menschenmasse stecken bleibe. Sicher gibt es Untersuchungen darüber, dass es rein statistisch gesehen gefährlicher ist, eine Drehtür in Stockholm zu benutzen, als auf einem Marktplatz in Tel Aviv herumzustehen. Ich setze mich auf eine Holzkiste und zünde mir die Zigarette an. Der Schweiß auf meinem Rücken trocknet allmählich.

Nebenan jongliert ein Junge mit starr gegelten Haaren einen Stapel Brote. Der Duft weht herüber, und mein Magen beginnt eine krampfende Gymnastik. Ich schaue auf die Hände des Jungen, die flink die Ware ordnen, Fladen mit Sesam auf der Kruste fliegen nach rechts, die mit Kräutern nach links, und ich denke, dass der Kerl einen phantastischen Job hat. Den ganzen Tag nur Brot sortieren und Geld abzählen, zehn Stunden lang, danach ist einfach Ruhe. Ich weiß schon, dass das Schwachsinn ist, wahrscheinlich schafft der Typ die Arbeit auf diesem Höllenmarkt nur, weil er in Gedanken gar nicht da ist, sondern woanders, in den Ferien oder in den Armen von jemandem, der ihn liebt, aber ich bilde mir ein, er hätte es besser, so wie ich mir meistens einbilde, dass die Entscheidungen, die andere treffen, immer irgendwie klüger und konsequenter sind. Selbst wenn ich an einem kläffenden Straßenköter vorbeikomme, frage ich mich, ob Bellen nicht auch für mich ein prima Lebensinhalt wäre.

Langsam wird es kühler, die Farben des Marktes verblassen.

Jemand redet mit dem Jungen von der Brottheke. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Ich wende meinen Kopf und rufe überrascht »Hallo!«. Tom steht mit einem Stapel flacher Fladenbrote im Arm da, als gehörte er genau dort hin.

»So sieht man sich wieder«, stellt er fest.

»Sieht so aus.« Ich bin verlegen, obwohl er nicht wissen kann, dass ich seinetwegen hier bin.

»Wartest du auf jemanden?«

»Eigentlich nicht.« Ich zucke achtlos mit den Schultern, als würde ich es mir jeden Freitagnachmittag für ein Stündchen auf einer Holzkiste in der Einkaufs-Rushhour bequem machen.

Er raschelt mit seinen Tüten. »Weißt du, wie man hier rauskommt?«, frage ich.

»Ich weiß, wie man zu mir kommt«, antwortet er.

»Dann gehen wir doch zu dir.« So selbstverständlich, wie ich das gesagt habe, gehe ich einen Moment später neben ihm her. Es macht nichts, dass ich nicht verstehe, wieso.

3

Draußen fließt die Stadt vorbei. Ich sitze neben einer Frau, die ein großes, geblümtes Kopftuch trägt, Tom hängt mit den Armen in den Schlaufen, die von der Decke baumeln. Während unser Bus an einer roten Ampel hält, trägt ein alter Mann konzentriert einen riesigen Teller Suppe über die Straße. Ein paar Meter weiter vorne presst eine junge Frau an einem Saftstand mit einer silberglänzenden Maschine Granatäpfel aus, der dunkelrote Saft fließt in einen geschwungenen Plastikkrug. Jungs mit schwarzweißen Strickmützen rauchen im Eingang eines mehrstöckigen Wohnhauses, aus dessen Fenstern wilde, pinkfarbene Blüten hängen.

»Ich verstehe ja wirklich nicht, warum diese Stadt nicht voll ist mit Touristen«, sage ich.

»Was?«, ruft Tom. Der Busmotor dröhnt wie hundert kaputte Rasenmäher. Ich lege den Kopf zurück und wiederhole den Satz. »Ja, komisch, nicht?«, ruft Tom, »wo es hier doch jeden Moment so einen super Krieg geben könnte. Ich meine, wo kriegt man bei dir zu Hause schon einen ordentlichen Krieg zu sehen?« Er ist wirklich gut darin, mich sprachlos zu machen. Ich merke, dass der Reißverschluss seiner Hose offen steht. Er trägt eine blauweiß gestreifte Unterhose, die Farben der Flagge Israels.

 

Durch die geschlossenen Wohnungsfenster dringt gedämpft das Heulen einer Krankenwagen-Sirene. Die schimmernde Anzeige des DVD-Players zeigt, dass es halb elf ist.

»Was möchtest du essen?«, fragt Tom. Er hockt vor dem Kühlschrank.

»Gar nichts, danke«, antworte ich nervös.

»Ich dachte, du hättest Hunger?«

»Bin noch satt von heute Mittag«, lüge ich, einigermaßen verwirrt darüber, auf einem Sofa zu sitzen, das in einem klinisch sauberen Wohnzimmer steht. Statt des Single-Dunstes aus ungewaschenen Kleidern und Essensresten, auf den ich vorbereitet war, schlug mir beim Reinkommen kühle Sauberkeit entgegen, vermischt mit einem Hauch von Bahnhofs-Wartesaal. Bei einem wie Tom habe ich eigentlich etwas in Richtung gemütlicher Höhle erwartet, mit Lavalampe, Teppichen an den Wänden und vielleicht einem Aschenbecher in Alien-Form. Stattdessen bringt er alle meine Schubladen durcheinander, das Zimmer wirkt wie die gut sortierte Bude eines pensionierten Buchhalters mit ernstem Nikotinproblem. Die geruchliche Erinnerung an unzählige Zigaretten, die man nie richtig wegputzen kann. Tom raucht mehr, als ich jemals möchte. Auch jetzt dreht er eine kalte Zigarette zwischen den Fingern.

Neben einer schmalen Küchenzeile ist noch eine Tür, die wahrscheinlich ins Schlafzimmer führt, aber sie ist geschlossen. Ansonsten gibt es einen großen Fernseher und das Sofa, mit abgewetztem Lederbezug, auf dem ich sitze. Davor steht ein niedriger Tisch mit schwarz eingefasster Glasplatte. Ich strecke die Beine aus und berühre mit den Zehen den Sockel des Fernsehers. An der Wand rechts neben mir steht ein Regal mit Büchern und geschnitzten Steinfiguren. Neben einem dicken Buddha aus blassgrüner Jade lehnt ein hölzerner Bilderrahmen, in dem ein Foto von Tom an irgendeinem Strand steckt. Es ist ein ziemlich gutes Bild, offenbar wusste Tom nicht, dass er fotografiert wurde. Die Augen leicht zusammengekniffen und mit zerzausten Locken, schaut er auf dem Bild in die Ferne wie einer, der mit einem Lächeln zu ergründen versucht, wo das Blau des Himmels aufhört und das Blau des Meeres anfängt.

»Hübsches Bild«, sage ich.

»Gefällt es dir? So sah ich mit zwanzig aus.«

»Hast dich gut gehalten.«

Toms T-Shirt ist aus der Hose gerutscht und legt ein Stück glatten Rücken und den Ansatz seines Hinterns frei. Er hat tatsächlich Grübchen dort.