Quer denken, besser denken - Theresa Bäuerlein - E-Book

Quer denken, besser denken E-Book

Theresa Bäuerlein

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Beschreibung

Bewegten sich geniale Denker wie Albert Einstein, Sokrates oder Leonardo da Vinci in geistigen Höhen, die für die meisten von uns unerreichbar sind? Nein. Sie dachten nur anders als normale Menschen. Und von ihren Strategien, Probleme zu lösen, kann man sich für den Alltag einiges abschauen.

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Theresa Bäuerlein | Shai Tubali

Quer denken, besser denken

Was wir von den klügsten Köpfen der Geschichte lernen können

Hoffmann und Campe

Inhalt

Einleitung

Albert Einstein – Denken ohne Worte oder Wie der blinde Käfer sehen lernte

Das Licht und seine zwei Gesichter

Ein tanzendes Universum

Einsteins simpelste Gleichung

Denken ohne zu denken

Lösungen aus einer anderen Welt

Friedrich Nietzsche – Denken, das nicht bequem sein will oder Durch die stürmische See der Zweifel

Wahrheit oder Glück?

Die Hoffnung glücklich sterben lassen

Die Behaglichkeits-Zwickmühle

Wie Nietzsche sein Bedürfnis nach Frieden überwinden konnte

Barbara McClintock – Organisches Denken oder Das Maiskorn, das anders war als die anderen

Meine Freunde, die Chromosomen

Der Mais spricht

Warum wir gern schnelle Urteile fällen

Pflanzen sind nicht aus Plastik

Sigmund Freud – Der Ausgräber oder Das Geheimnis des verbrannten Puddings

Ein Ausgräber verschütteter Städte

Entlarvendes Denken

Seltsame Träume gibt es nicht

Unsere irrationale Rationalität

Der Geist ist stärker als die Psyche

Leonardo da Vinci – Denken aus jeder Perspektive oder Das Leben als unvollendetes Kunstwerk

Nahtlose Übergänge

Multiperspektivisches Denken

Verwirrende Vielschichtigkeit

Neue Brille gefällig?

Leonardo, der Grenzenverwischer

Sokrates – Der philosophische Liebhaber oder Keine Angst vor dem Nichts

Eine Hebamme der Wahrheit

Selbsterkenntnis als Seelenpflege

Falsche und echte Stabilität

Der Philosoph als griechischer Lover

Hannah Arendt – Aktives Denken oder Eichmann als Metapher

»Ich war nicht mehr der Meinung, dass man jetzt einfach zusehen kann«

Der Mann, der mit dem Denken aufgehört hatte

Denken wir oder tagträumen wir bloß?

Liebe zur Welt

Charles Darwin – Dynamisches Denken oder Eine Kraft wie hunderttausend Keile

Blick hinter den Schleier

Das Rezept der Natur

Alles bleibt anders

Was Menschen und Bananen gemeinsam haben

Jiddu Krishnamurti – Negatives Denken oder Ein Eimer voller Löcher

Ein Denken ohne Vergangenheit

Die Kunst des unberührten Blicks

Ein altersloses Denken

Giordano Bruno – Denken im Kontext oder Warum in jedem Haar ein Universum steckt

Der rebellische Gedächtnis-Star

Ein Universum ohne Mitte und ohne Grenzen

Der egozentrische Kosmos

Wie man einen kosmischen Wal reitet

Epilog

Ein Außenseiter – und Beobachter

Kein Festhalten am Bekannten – und intellektuelle Experimentierfreude

Schnelles und transverbales Denken

Ein unpersönliches, verallgemeinerndes und vereinheitlichendes Denken

Grenzenlose Begeisterung

Eine intime Beziehung zur Natur und zum Universum

»Genial« Denken im Alltag

Nachweise

Endnoten

Über Theresa Bäuerlein & Shai Tubali

Einleitung

Jeder kennt die Legenden, die man sich über die Erkenntnismomente großer Denker erzählt: Archimedes, wie er aus der Badewanne springt, »Heureka!« ruft und nackt nach Hause rennt, so begeistert vom eigenen Geistesblitz, dass er seine Kleider vergisst. Der fallende Apfel, der Isaac Newton zu seinem Gravitationsgesetz inspiriert hat (und der ihm in den alberneren Versionen der Geschichte dafür erst auf den Kopf plumpst). Albert Einstein, der von seiner Wohnung in Berlin aus sieht, wie ein Mann vom Dach des Nachbarhauses fällt. Wir wissen nicht, ob diese Szenen wirklich genau so passiert sind, aber wir erzählen sie immer wieder: Denn wir versuchen, Momente einzufangen, in denen der menschliche Geist auf einmal unerklärliche, schwindelnde Höhen erreicht. Sie haben sich uns als Symbole eingeprägt – für Genialität, für etwas Unerklärliches.

Manchmal geht dabei eine sehr wichtige Frage verloren: Was ist vor diesen Momenten passiert? Sicher müssen doch in den Köpfen der Entdecker vorher intensive Denkprozesse abgelaufen sein – Abläufe, derer sie sich selbst vielleicht gar nicht immer bewusst waren. Etwas hat langsam in der Tiefe Form angenommen, wortlos vielleicht, flüchtig. Was war am Denken dieser Menschen so einmalig, dass ausgerechnet sie auf fundamentale Erkenntnisse stoßen konnten?

Wir normal begabten Menschen versuchen oft gar nicht erst zu begreifen, wie Genies gedacht und woher sie ihre Inspirationen bekommen haben. Wir sehen sie an wie seltene Naturereignisse, die man bestaunen, aber nie verstehen kann. Genau diese Unerreichbarkeit macht große Denker schließlich aus. Oder?

Ja – und Nein. Große Denker hatten immer Zeitgenossen, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigt und sich dabei auch alles andere als dumm angestellt haben. Zu Einsteins Zeiten etwa waren einige Physiker und Mathematiker sehr nah dran, die Prinzipien seiner allgemeinen Relativitätstheorie zu entdecken. Sie schauten sich dieselben Formeln an, sammelten ähnliche Daten, hatten manchmal sogar die gleichen Ansätze – und dennoch haben sie es nicht geschafft, den letzten Sprung zu machen, der zur entscheidenden Entdeckung geführt hätte. Einstein wiederum sagte, er besäße überhaupt keine übermenschlichen Geisteskräfte. Er habe die Relativitätstheorie einfach deshalb erfunden, weil er über Alltagsphänomene staunte, die normalerweise nur Kinder fesselten. Genau das ist der entscheidende Punkt: Viel spricht dafür, dass die größten Denker einfach anders gedacht haben als die meisten Menschen. Die gleichen Informationen durchliefen in ihren Köpfen andere Prozesse. Diese aber kann der normale Mensch sehr wohl verstehen – und sie sich vielleicht sogar aneignen.

Wir wollten also herausfinden, mit welchen Strategien die großen Philosophen, Wissenschaftler und Denker es geschafft haben, Theorien aufzustellen. Wie sie Erkenntnisse gewinnen und Gesetzmäßigkeiten aufdecken konnten, die unsere Welt entscheidend geprägt und verändert haben. Das ist natürlich eine ziemlich komplexe Aufgabe. Das schiere Ausmaß der Entdeckung eines Genies ist oft so blendend, dass es schwierig ist, sich auf den besonderen geistigen Faktor zu konzentrieren, der sie ermöglicht hat. Wir mussten uns selbst bei unseren Überlegungen immer wieder gegenseitig daran erinnern, dass wir nach den Eigenschaften eines Entdeckergeistes suchten und eben nicht die Entdeckungen selbst betrachten wollten. Man kann sich leicht in Sigmund Freuds Erläuterungen über sein Modell des Unterbewusstseins verlieren oder so sehr über die sokratischen Dialoge staunen, dass man sein eigentliches Ziel vergisst. Uns ist das bei der Vorbereitung dieses Buchs oft passiert. Wir haben uns aber schließlich darauf konzentriert, die Denkarten zu beleuchten und nicht ihr Produkt. Natürlich, jedes Werk reflektiert das Denken seines Schöpfers, aber es ist immer noch das Endresultat eines besonderen Denkprozesses – und eben dem möchten wir uns widmen.

Wir wollen dabei nicht nur großartige Denkmuster beschreiben, sondern die Lücke zwischen dem Denken des Genies und dem Denken des Lesers kleiner werden lassen. Mit anderen Worten: Wir wollen zeigen, wie man sich die Struktur eines solchen Denkens zumindest teilweise selbst aneignen kann. Dieser Aspekt war sehr wichtig für uns. Sonst wäre das Lesen dieses Buches, als würde man einen wunderschönen Menschen betrachten, dessen Aussehen man bewundert oder beneidet, aber gleichzeitig weiß, dass man dem nie auch nur annähernd nahe kommen kann. Wahrscheinlich wird keiner von uns in näherer Zukunft eine weltbewegende Entdeckung wie Charles Darwin machen, aber sicher kann uns ein Abgleich mit seiner Denkstruktur Hinweise darauf liefern, welche Fehler wir selbst beim Denken machen – und wie wir es besser machen können.

Dabei sind wir davon abgekommen, uns nur die bekanntesten Figuren auf der Liste historischer Genies anzusehen. Dem Renaissance-Philosophen und Astronomen Giordano Bruno wird in der Geschichte nie der gleiche Stellenwert eingeräumt werden wie Galileo Galilei. Für uns aber war gerade die Tatsache spannend, dass er auch ohne intensivste astronomische Forschungen das Universum als unendlichen und zentrumslosen Raum begreifen konnte. Neben bekannten Kandidaten wie Einstein und Sokrates haben wir uns also gestattet, ab und zu von den bekannten Wegen abzuweichen und ein paar weniger offensichtliche Figuren zu betrachten. Wir haben nicht einfach allgemein nach ›Genies‹ gesucht, die als solche hinlänglich bekannt sind, sondern nach originellen und innovativen Denkern, die auf mehr als nur ihrem eigenen Fachgebiet Kreativität und Scharfsinn bewiesen haben. Wir haben nach Menschen mit üppigen, komplexen, ja sogar poetischen Gedankenwelten gesucht, die gleichzeitig ausgesprochen tief- und scharfsinnig denken konnten. Dieser Typ Denker scheint oft einen besonderen Weitblick zu haben und denkt größer als andere. Dank dieser großen Perspektive hat er in der Geschichte häufig völlig neu die Art und Weise definiert, in der sich die Menschheit selbst wahrnahm – und wie sie die Welt sah.

Herausgekommen ist dabei letztlich eine Liste, die natürlich auch von unserer persönlichen Neugier geprägt ist – was sich nicht ganz vermeiden lässt, wenn man aus Hunderten großer Denker eine Auswahl treffen will. Wir haben uns aber nie jemanden ausgesucht, auf den wir nicht wirklich von Kopf bis Fuß gespannt waren. Deshalb werden Sie in unserer Liste auch Figuren finden, die vielleicht außerhalb ihres spezifischen Fachgebiets weniger bekannt sind. Jiddu Krishnamurti zum Beispiel ist im Bereich spiritueller Philosophie sehr bekannt, in der allgemeinen Öffentlichkeit hat man von ihm jedoch fast nie gehört. Barbara McClintock wiederum ist viel weniger berühmt als, sagen wir, Marie Curie. Trotzdem haben die Denkweisen dieser Menschen uns so sehr eingenommen, dass sie für uns ein wichtiger Teil dieses Buchs sind.

Ist das fair, wenn man bedenkt, dass dafür bekannte Größen wie Isaac Newton oder Immanuel Kant weichen mussten? Natürlich nicht. Man muss es hinnehmen, eine wirklich repräsentative oder sogar vollständige Liste kann es nicht geben.

Auf unserer Liste stehen am Ende ein Naturforscher, eine Genetikerin, ein Physiker, ein Psychologe sowie ein Künstler und Erfinder. Die übrigen fünf sind Philosophen verschiedener Art: Ein materialistischer und ein spiritueller Philosoph, ein Wissenschaftsphilosoph, ein klassischer Philosoph und eine politische Philosophin. Interessanterweise und völlig ohne Absicht von unserer Seite aus stammen vier von ihnen – Sigmund Freud, Albert Einstein, Friedrich Nietzsche und Hannah Arendt – aus deutschsprachigen Ländern. Und aus Gründen, auf die wir noch eingehen werden, haben sieben unserer Denker entweder im 19. oder im 20. Jahrhundert gelebt. Nur drei – Sokrates, Giordano Bruno und Leonardo da Vinci – lebten in früheren Zeiten.

Manchmal war es der Wunsch danach, eine größere Breite an Persönlichkeitstypen und Fachgebieten abzubilden, der uns letztlich dazu gebracht hat, einen großen Kopf nicht mit auf die Liste zu nehmen. So sahen wir Isaac Newton etwa in zu großer geistiger Nähe zu seinem ›Nachfolger‹ Einstein. Aber in mehr als einem Fall waren wir gezwungen, einen faszinierenden Kandidaten aufzugeben, weil wir einfach nicht ausreichend Materialien finden konnten, anhand derer wir ihre Gedankengänge hätten untersuchen können. Deshalb ist die Liste unserer Protagonisten nicht chronologisch, und sie ist auch nicht ganz fair den großen Denkern der Geschichte gegenüber. Aus offensichtlichen Gründen sind die inneren Welten der Denker des 19. und 20. Jahrhunderts viel besser dokumentiert und überliefert als bei früheren Figuren. Auf dieses Material waren wir aber angewiesen, wenn wir ihre Denkprozesse untersuchen wollten.

Besonders groß war dieses Problem bei den Frauen. Hier wurden wir mit einem der traurigsten Teile der menschlichen Geschichte konfrontiert: mit der Tatsache, dass man Frauen über die längste Zeit überhaupt nicht zum Denken ermutigt hat. Dass sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mutige Frauen gegen diesen Status quo gewehrt haben, wie Hypatia oder Anne Conway, Émilie du Châtelet oder Mary Somerville, dass sie sich trotzdem am geistigen Leben patriarchalischer Gesellschaften beteiligt haben, ist bewundernswert. Sogar noch im 20. Jahrhundert, besonders in seiner ersten Hälfte, mussten Frauen hier mit großen Widerständen kämpfen. Man hat ihnen kaum erlaubt, wichtige Positionen einzunehmen, oft wurden ihre Entdeckungen von Männern in ihrer Umgebung gestohlen. Biographen und Historiker bemühen sich heute, diesen Frauen den historischen Status zu verschaffen, der ihnen wirklich gebührt. Angesichts dieser Tatsachen haben wir uns für dieses Buch auf zwei Protagonistinnen des 20. Jahrhunderts beschränken müssen, deren Leben und Werke wirklich gut dokumentiert sind.

 

Wie genau haben wir versucht, uns in die Köpfe der großen Denker zu begeben? Das Material allein, das wir studiert haben, konnte uns die Antwort nicht geben, egal, wie umfassend es war. Die Denkstruktur versteckt sich meistens eher zwischen den Zeilen, man findet Andeutungen und Echos im biographischen Material. Im Laufe der Zeit haben wir verschiedene Möglichkeiten entwickelt, um der Denkart auf die Spur zu kommen:

1. Wir haben die Denkweise der Person mit dem Denken von Zeitgenossen verglichen, die auch brillant waren, aber nicht die gleichen Entdeckungen gemacht haben. Was war der Faktor, welcher der einen Person ermöglicht hat, woran die andere gescheitert ist? Einfach gesagt: Warum Einstein und nicht Planck? Warum Bruno und nicht ein ›echter‹ Astronom seiner Zeit?

2. Wie hat die Person selbst ihren Erkenntnisprozess beschrieben? Ihre brodelnde innere Dynamik verraten die Denker häufig in Briefen an Freunde und Kollegen sowie in Tagebüchern. Diese Freunde und Kollegen haben dazu ebenfalls teilweise ihre Beobachtungen geäußert.

3. Wir haben nach der gemeinsamen Grundlage gesucht, welche die verschiedenen Entdeckungen und Leistungen einer Person miteinander verbindet. Manchmal scheint die Werke nicht viel miteinander zu verbinden, Leonardo da Vincis Abendmahl etwa und die Zeichnungen seiner Landkarten. Und trotzdem sind sie demselben Kopf entsprungen. Den feinen Faden zu finden, der alles verbindet, war für uns sehr wichtig. Es war auch das Mittel, mit dem wir später getestet haben, ob die von uns ausgearbeitete Denkweise tatsächlich stimmte: Funktionierte sie nur für einige der Erfindungen und Erkenntnisse – oder passte sie zu allen?

4. Auch Hobbys und Leidenschaften eines Denkers konnten Aufschluss geben – etwa die Musik, die er liebte, oder was er in seiner Freizeit machte. Einstein zum Beispiel liebte Mozart, und auch Freuds Antiquitätensammlung war für uns ein aufschlussreicher Hinweis.

5. In manchen Fällen haben die Denker netterweise selbst beschrieben, wie sich ihr Denkprozess unmittelbar anfühlte und abspielte. Oft steckte hinter diesen Aussagen ein eifriger Forscher, der nachfragte. In dem Bemühen, ihr eigenes Erleben zu beschreiben, griffen die Befragten gerne auf Metaphern zurück, die für unser Verstehen sehr nützlich waren. So sehr, dass wir sie selbst für unsere Kapitelüberschriften verwendet haben.

6. Gelegentlich haben wir versucht, durch die Augen unserer Denker zu blicken, die Welt so zu sehen, wie sie es getan haben. Wir haben unsere Phantasie eingesetzt (eine Herangehensweise, die viele unserer Figuren stark befürwortet haben), um uns ihrem Denken persönlich zu nähern, um auszuprobieren, wie das Leben aus ihrer Sicht ausgesehen haben mag.

 

Jedes Mal, wenn wir uns mit dem Verstand eines großen Denkers beschäftigt haben, war das wie eine Reise in eine ganz neue Welt, deren Horizont nicht abzusehen war. Wir hätten dem Denken jeder einzelnen unserer Figuren leicht ein eigenes Buch widmen können, um deren ganze Welt kennenzulernen und zu beschreiben. Dass dies nicht geht, ist ein weiterer Grund dafür, warum wir die Biographien und die Werke unserer Protagonisten nicht bis ins Detail auffächern. All diese Dinge sind nur die Bühne für das eigentliche Schauspiel: der einzigartige Denkmechanismus, der diesen Menschen ermöglicht hat, so zu denken, wie sie es getan haben.

Können wir mit Sicherheit sagen, dass der jeweilige Faktor, den wir identifiziert haben, für die Leistungen dieser Menschen allein verantwortlich ist? Sehr wahrscheinlich nicht. Es scheint eine weitere geheime ›Zutat‹ zu geben, die aus einem Menschen ein Genie macht – etwas, das angeboren ist. Trotz Simone de Beauvoirs berühmter Aussage »Man wird nicht als Genie geboren, man wird zum Genie« und trotz mancher Bücher, die tatsächlich behaupten, dass jeder ein Genie wie Leonardo werden kann, halten wir es für mindestens fraglich, ob jener zusätzliche Faktor nicht doch eine Frage der Veranlagung ist.

Gleichzeitig sind die wahren Helden dieses Buchs nicht die Protagonisten der einzelnen Kapitel. Der Held dieses Werks ist das menschliche Denken an sich – Ihr persönliches und unser aller Denken – und sein Potenzial. Es geht darum, dass unser Denken, wenn es optimal arbeitet, enorm kreativ sein und erstaunliche Entdeckungen machen kann. Aber auch darum, wie unser Denken, wenn es nicht gut funktioniert, wie ein Käfig sein kann, aus dem man nicht herausfindet. So gesehen war der Grund, aus dem wir uns diese Denker angesehen haben, auch das Interesse an uns selbst. Wir sind davon ausgegangen, dass sie zumindest in ihrem Fachgebiet ihr Denkpotenzial voll ausschöpfen konnten, und wir haben gehofft, daraus Hinweise ziehen zu können, wie auch der Verstand Normalsterblicher besser arbeiten kann. Es ging uns also nicht nur darum, ihre Denkweise zu verstehen, sondern auch darum, diese Denkweisen (zumindest teilweise) kopieren zu können.

Wir haben deshalb absichtlich die Denkmuster von der jeweiligen Person gelöst und ihnen einen eigenen Titel gegeben (wie das paradoxe Denken oder das organische Denken). Dann haben wir es einem anderen Denkprinzip gegenübergestellt, das Einschränkungen schafft oder Fehler produziert (wie das Entweder-oder-Denken oder das distanzierte Denken). Diese Gegenüberstellung, so hoffen wir, macht für den Leser eine Selbstreflexion einfacher. Wir haben diese Denkprinzipien außerdem mit aufschlussreichen Forschungsergebnissen zu kognitiven Fehlern verknüpft. Und in jedem Kapitel finden Sie einen Teil, der Ihre eigenen oder typische gesellschaftliche Denkmuster deutlicher machen soll – wie also »bessere« Denkweisen ein Schlaglicht auf unsere typischen Denkfehler werfen und wie sie diese korrigieren können.

Dieses Buch ist zwar nicht als praktischer Ratgeber konzipiert, dennoch werden Sie hier und da Vorschläge und Gedankenexperimente finden, mit denen Sie während oder nach der Lektüre spielen und arbeiten können. Natürlich kann auch mit Hilfe dieses Buches nicht jeder von uns zum nächsten Einstein werden. Es geht nicht um die Idee, dass in jedem von uns ein kleiner Nobelpreisträger steckt. Und auch nicht darum, unglaubliche geistige Spezialbegabungen zu entwickeln, um die Zahl Pi bis auf 22500 Stellen hinter dem Komma aufsagen zu können. Es geht darum, was wir Normalsterblichen von den größten Denkern für unser eigenes Denken und Leben lernen können. Wir können nicht alle brillante Erfinder sein, aber wir können uns bestimmte mentale Fähigkeiten, Strategien und Techniken aneignen, die unseren Blick auf die Welt und uns selbst entscheidend verändern.

Mit anderen Worten: Man muss kein Genie sein, um wie eines denken zu können.

 

Theresa Bäuerlein & Shai Tubali

Albert Einstein

Denken ohne Worte oder Wie der blinde Käfer sehen lernte

Wir sind nicht die Ersten, die Albert Einsteins Denkweise verstehen wollen. Er, dessen Namen sogar Kinder schon mit dem Begriff ›Genie‹ assoziieren, war für Wissenschaftler und Denker ein begehrtes Studienobjekt. Manche haben sogar den Wunsch, in Einsteins Kopf gucken zu wollen, sehr wörtlich genommen: Nach seinem Tod im Jahr 1955 wurde sein Körper eingeäschert und die Asche verstreut, sein Gehirn aber trat eine seltsame Reise als wanderndes Relikt an. Es stellte sich heraus, dass der Pathologe des Princeton Hospitals, Thomas Harvey, das Gehirn heimlich behalten und konserviert hatte. Obwohl Einsteins entsetzte Familie sich dagegen wehrte, bestand Harvey darauf, dass man das Gehirn im Interesse der Wissenschaft untersuchen müsse. Die Familie wusste nicht recht, was sie tun sollte, ließ die Sache also auf sich beruhen, und so wurde Harvey zum Besitzer des Gehirns und schickte gelegentlich nach Gutdünken Scheiben und Stücke davon weg, um sie untersuchen zu lassen.

Dutzende Wissenschaftler bekamen das Privileg, das Gehirn untersuchen zu dürfen, nur drei veröffentlichten daraufhin beachtenswerte Studien. Die erste kam 1985 von einem Team aus Berkeley unter der Leitung von Marian Diamond, das vier würfelzuckergroße Stücke von Einsteins Gehirn untersucht hatte und dem aufgefallen war, dass die Zahl der Gliazellen in einem Bereich von Einsteins Kortex, der für höhere Denkprozesse zuständig ist, im Verhältnis zu den vorhandenen Neuronen überdurchschnittlich hoch war. Gliazellen sind Zellen, die Nervenfasern schützen, voneinander isolieren und mit energiereichen Stoffwechselprodukten versorgen. Dies konnte bedeuten, dass Einsteins »Neuronen mehr Energie brauchten und verbrauchten«.[1]

Es gab jedoch keine weiteren Gehirne von außerordentlichen Wissenschaftlern, mit denen man Vergleiche hätte anstellen können; man wusste also nicht, ob diese Tatsache irgendeine Aussagekraft in Bezug auf Einsteins Denkvermögen hatte. Zudem konnte niemand sagen, ob diese Besonderheit der Grund für Einsteins Intelligenz war oder ob sie einfach daher kam, dass Einstein bestimmte Teile des Gehirns jahrelang trainiert hatte.

Eine zweite Studie verkündete 1996, dass Einsteins Hirnrinde dünner als gewöhnlich und die Neuronendichte größer gewesen sei. Am häufigsten aber wird heute die dritte und letzte Studie von 1999 zitiert. Laut der Forscher, einem Team um Professor Sandra Witelson an der McMaster University in Ontario, hatte Einsteins Gehirn ungewöhnlich breite untere Scheitellappen – ein Bereich, der vermutlich für mathematisches und räumliches Denken zuständig ist. Außerdem, hieß es, sei eine bestimmte Furche, die diesen Lappen etwa auf Höhe des Ohrs durchläuft, verkürzt. Dies könnte, glaubten die Forscher, zu zusätzlichen Nervenverknüpfungen geführt haben.

Aber, wie Walter Isaacson in einer der neuesten Einstein-Biographien schreibt, man kann »Einsteins Vorstellungskraft und Intuition nicht begreifen, indem man die Muster seiner Gliazellen und Hirnfurchen durchstöbert«.[2]

Angeregt von anderen Denkern und Forschern hat Einstein selbst verschiedene Male versucht, die Arbeitsweise seines eigenen Denkapparats zu verstehen. Eine besonders bildhafte und lebendige Erklärung lieferte er seinem jungen Sohn Eduard, der fragte, warum sein Vater so berühmt geworden sei. Sein Vater gab folgende Antwort: »Schau, wenn ein blinder Käfer auf der Oberfläche einer Kugel kriecht, merkt er nicht, dass sein Weg gekrümmt ist, mir aber gelang es, dies zu bemerken.«[3] Das mag zunächst verwirrend klingen, aber dieses simple Bild wird im folgenden Kapitel tatsächlich der Schlüssel sein, der die Tür zu Einsteins Denken öffnet. Folgen wir also den Spuren dieses blinden Käfers, versuchen wir, durch seine Augen zu blicken und zu begreifen, was genau er sehen konnte – und warum.

Das Licht und seine zwei Gesichter

Es war das Jahr 1900, und während Einstein in Bern Patente prüfte (und heimlich nebenbei über Gedankenexperimenten grübelte), saß Professor Max Planck in Berlin an einem Experiment, das zu Einsteins erstem großen Durchbruch führen würde.

Planck muss sich sehr unwohl gefühlt haben. Er suchte nach einer Formel, die das Verhalten eines schwarzen Körpers beschreiben sollte, wenn dieser Licht absorbierte und abstrahlte. Damit er die experimentellen Daten richtig beschreiben konnte, kam er nicht darum herum, eine Konstante in seine Formel einzufügen. Später würde man sie die Planck’sche Konstante nennen, die dritte fundamentale Naturkonstante der Physik. In diesem Moment aber mag Planck sich verlegen den Kopf gekratzt haben: Was war das für ein geheimnisvoller Faktor, der sich in seine Formel schleichen wollte? Hatte er überhaupt eine physikalische Bedeutung? Er hatte einen Beweis vor sich, dass der schwarze Körper das Licht nicht, wie die Physik seiner Zeit annahm, gleichmäßig in Wellen abstrahlte. Sein Ergebnis konnte bedeuten, dass Licht sich unter bestimmten Umständen völlig anders verhielt, nämlich als einzeln abgegebene Energiebündel.

Planck war ein herausragender Wissenschaftler. Man kann sich vorstellen, dass an diesem Punkt allerlei Gedanken über die Konsequenzen seiner Erkenntnisse durch seinen Kopf rasten. Wenn diese Anomalie etwas über die grundsätzliche Beschaffenheit von Licht aussagte, würde das ein wahres Erdbeben in der Fachwelt der Physik verursachen. Mehr noch, wahrscheinlich würde es nicht bei einem bloßen Beben bleiben, ein Zusammenbruch der klassischen Physik, die Planck so sehr bewunderte, schien möglich. Ah, die gute alte Physik des 19. Jahrhunderts, in der Licht stets vollkommen kontinuierlich strahlte … Was sollte er nun mit seiner beunruhigenden Entdeckung anfangen, die eine Abweichung von den perfekten Gesetzen der Natur bedeutete, ja sie zu untergraben schien? Planck mochte die Erde unter seinen Füßen wanken gespürt haben – diesen Widerspruch konnte und wollte er nicht akzeptieren. Schnell fand er einen Weg aus seiner verstörenden Lage. Er behandelte seine Entdeckung nicht wie ein Erdbeben, sondern als würde die Erde nur kurz zittern, weil ein Zug vorbeifuhr. Dann schloss er die Sache ab, indem er davon ausging, dass der schwarze Körper schuld am Verhalten des Lichts war. Seine Formel beschrieb also nicht die Natur des Lichts an sich, sondern nur sein Verhalten unter diesen bestimmten Umständen. Die verstörende Konstante in der Formel, beschloss Planck, war nur ein mathematischer Trick, um dieses Verhalten vorherzusagen.

Wer hätte gedacht, dass sich aus dieser für Planck so ungemütlichen Entdeckung eines Tages die Quantenmechanik entwickeln würde, eine revolutionäre Neuerung in der Physik? Planck hat sicher nicht daran geglaubt. Er liebte die Vorstellung einer »kontinuierlichen Materie«, er wollte denken, dass die neu entdeckten »vibrierenden Moleküle« oder »harmonischen Oszillatoren«[4] (wie er die Energiebündel nannte), schlicht Phänomene waren, die nichts mit der physikalischen Wirklichkeit zu tun hatten.

Was Planck davon abgehalten hat, an diesem Punkt einen großen Vorwärtssprung zu machen, ist durchaus nachvollziehbar. Es ging ihm nicht einfach nur darum, seine respektable Position an der Universität zu wahren. Wie viele große Wissenschaftler liebte er die alten Denkstrukturen, die sich stabil und sicher anfühlten. Newton und die Physiker des 19. Jahrhunderts hatten die Vorstellung eines mechanischen, vernünftigen Universums geprägt. In dieser sicheren und verlässlichen Weltordnung konnte alles erklärt, bestimmt und vorhergesagt werden. Wer diese Ordnung erschütterte, musste sich ins Dunkle, Unbekannte vortasten, musste die ganze Menschheit in eine neue Welt zwingen, die viel weniger verständlich und kontrollierbar war.

Weit entfernt von den sicheren Armen der akademischen Welt wagte ein Beamter im Berner Patentamt diesen Sprung: Albert Einstein begriff die Konsequenzen von Plancks Arbeit schnell: »All meine Versuche, das theoretische Fundament der Physik diesen Erkenntnissen anzupassen, scheiterten völlig. Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können.«[5] In einem 1905 veröffentlichten Artikel machte Einstein einen radikalen Schritt, den manche später für seine größte Entdeckung überhaupt hielten. Er nahm Plancks mathematische Konstruktion wörtlich und zog den Schluss, dass Licht tatsächlich als Energiequanten strahlen musste und dass der schwarze Körper dabei keine Rolle spielte. Er wagte also zu behaupten, dass dieses Verhalten des Lichts nicht abnorm, sondern seine Natur war. Gleichzeitig betonte er, dass die Wellentheorie trotzdem weiterhin galt. Man konnte Licht nur vollständig beschreiben, wenn man beide Prinzipien kombinierte. So blies er in die schwelenden Kohlen, die Planck erzeugt hatte, und machte daraus ein Feuer, das die klassische Physik aufzehren sollte – und aus Planck einen Revolutionär wider Willen werden ließ. Planck widersetzte sich für den Rest seines Lebens seiner eigenen Erkenntnis. Kurz vor seinem Tod erklärte er: »Meine vergeblichen Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie der klassischen Theorie einzugliedern, erstreckten sich auf eine Reihe von Jahren und kosteten mich viel Arbeit. Manche Fachgenossen haben darin eine Art Tragik erblickt.«[6]

Planck hatte sich von ganzem Herzen gewünscht, das neue Wissen, das sich ihm auftat, in alte, bewährte Denkstrukturen einfügen zu können. Einstein hingegen akzeptierte bereitwillig, dass die alten Strukturen zerfallen mussten. Wenn ihm auch das Herz dabei wehtat, schließlich bewunderte auch er das Newton’sche Universum. Doch anscheinend gehört es zu den charakteristischen Eigenschaften von Genies, dass sie sich vom Wissen der Vergangenheit lösen können, so großartig dieses Wissen auch sein mag. Epochale Entdeckungen setzen die Bereitschaft voraus, dass der Entdecker eine Wahrheit akzeptieren kann, die außerhalb des bereits bekannten und vertrauten Wissens liegt. Folgt er ihr, muss er in unerforschtes Gebiet vordringen, was meistens mit einer gewissen Furcht einhergeht. Für ein Genie aber sind genau jene Dinge, die uns Sicherheit geben, die Hürden, die größeren Entdeckungen im Weg stehen. Genies sehen altes Wissen mit dem gleichen Blick, den die meisten von uns unseren Eltern gegenüber haben: Wir sind dankbar für alles, was sie für uns getan haben, aber wir wollen doch das sichere Nest der Familie verlassen und das Leben selbst entdecken.

Einstein war oft weder der Erste noch der Einzige, der bahnbrechende Erkenntnisse hatte, aber er war stets derjenige, der den Schritt machte, den kein anderer sich zu tun traute. Ein Grund dafür war, dass er keine Angst davor hatte, alte Denkstrukturen zu zerschlagen, wenn sie die Realität nicht mehr beschreiben konnten. Man muss sich die Bedeutung dieser Fähigkeit klarmachen: Was tun die meisten von uns, wenn ihre gewohnten Denkweisen die Wirklichkeit nicht mehr fassen können? Ordnen sie die neue Wirklichkeit mit aller Macht ihrer alten Weltsicht unter, oder lassen sie zu, dass sie erst einmal nicht weiterwissen, dass neue Tatsachen sie sogar in Verwirrung stürzen? Für Einstein gab es nur die letztere Möglichkeit. Ironischerweise sagte Henri Poincaré, der Einsteins spätere spezielle Relativitätstheorie fast selbst aufgestellt hätte, sie aber doch nicht akzeptieren konnte, über Einstein: »Was ich an ihm bewundere, ist, wie er sich an neue Konzepte anzupassen schafft. Er bleibt keinen klassischen Prinzipien verhaftet und erfasst angesichts eines physikalischen Problems prompt alle sich eröffnenden Möglichkeiten.«[7]

Aber es steckt noch mehr dahinter: Planck und Poincaré blieben lieber bei ihren alten Denkmustern, weil sie auf eine eindimensionale lineare Weise dachten. Sie konnten gedanklich nur einem Weg auf einmal folgen, da ihr Verstand offenbar nicht flexibel genug war, um in ›wildere‹ Richtungen zu gehen. Es ist wie mit Plancks Glauben an die »Kontinuität« der Materie und an Licht als ununterbrochene Wellen: Alles, was es gab, musste einer beständigen und klaren Richtung folgen und für jeden Widerspruch, der sich auftat, musste es entweder eine sofortige und effiziente Antwort oder eine Entschuldigung geben – oder man überging die Sache elegant. Einstein hingegen dachte multidimensional: Er war bereit, gleichzeitig unterschiedliche gedankliche Richtungen einzuschlagen und musste Paradoxen und Widersprüchen deshalb nicht aus dem Weg gehen. Im Gegenteil, für Einstein wirkte ein Widerspruch wie ein Katalysator, der ein größeres und komplexeres Verständnis der Wirklichkeit ermöglichte. Was für Planck wie zwei Instrumente tönte, die unterschiedliche Melodien spielten, klang in Einsteins Ohren wie eine einzige, harmonische Symphonie.

Ein tanzendes Universum

Nachdem er mit seinen Erkenntnissen über die Natur des Lichts eine Revolution in der Physik in Gang gesetzt hatte, gab es für Einstein kein Halten mehr: Sein erstaunlich flexibler Denkapparat schien alle bestehenden physikalischen Widersprüche im Universum lösen zu wollen. Wie sein Biograph Isaacson schreibt: »Er hatte die Fähigkeit zwei Gedanken gleichzeitig im Sinn zu halten, verblüfft ihre Widersprüche zu betrachten und zu staunen, wenn er eine darunter liegende Einheit erahnte.«[8] Einstein hielt es einfach nicht aus, wenn zwei beziehungslose Theorien das gleiche Phänomen erklären wollten, und akzeptierte keine Theorie, die nur in bestimmten Fällen und unter besonderen Umständen gelten sollte. Jedes Element musste sich in die Einheit fügen, die Einstein vor seinem geistigen Auge auftauchen sah, in einen kosmischen, berauschenden Tanz.

Eine der wichtigsten Theorien, die Einstein entwickelte, war die spezielle (und später die allgemeine) Relativitätstheorie. An ihr wäre Einstein 1905 beinahe verzweifelt. Und an ihr können wir wiederum wunderbar sehen, wie Einsteins Denken funktioniert. Wieder spielt das Licht die zentrale Rolle. Um ungefähr nachzuvollziehen, vor welchem Dilemma Einstein stand, stellen Sie sich doch einmal einen Lichtstrahl vor, der einen Bahndamm entlanggeschickt wird. Ein Mann, der an diesem Bahndamm steht, würde die Schnelligkeit dieses Lichts als 300000 Kilometer pro Sekunde messen. Aber stellen Sie sich nun auch noch eine Frau vor, die in einem sehr schnellen Zug mit 100000 Kilometern pro Sekunde von der Lichtquelle wegfährt. Man würde annehmen, dass die Geschwindigkeit des Lichtstrahls, der sie einholt, langsamer sein müsste. Man müsste die Geschwindigkeit des Zugs abziehen, die Schnelligkeit des Lichts müsste aus dem Blickwinkel der Frau dann also bei 200000 Kilometern pro Sekunde liegen. Das aber müsste heißen, dass die Geschwindigkeit des Lichts relativ zum Zug niedriger sein würde. Dem entgegen war aber bekannt, dass die Geschwindigkeit des Lichts immer gleich sein musste – ganz unabhängig vom Beobachter oder der Lichtquelle, immer 300000 km pro Sekunde, sie konnte sich nicht ändern. Wie nur konnte Einstein diesen Widerspruch lösen? Einstein beschäftigte das Problem sehr, fast schien er es nicht zu knacken – ein ganzes Jahr verbrachte der genialste Physiker seiner Zeit mit fruchtlosem Nachdenken, bis er eine Lösung fand.

Dann passierte plötzlich etwas sehr Erfreuliches. Während er mit einem Freund spazierte und ihm sein Dilemma erklärte, traf Einstein wie aus heiterem Himmel die Erkenntnis: Nicht das Licht war das Problem, sondern die Zeit! Beide Beobachtungen waren möglich, wenn man nicht davon ausging, dass es eine absolute Zeit und einen absoluten Raum gab. Die Geschwindigkeit war ja der Quotient aus Strecke (Raum) pro Zeit. Wenn man erlaubte, dass Raum und Zeit sich dehnen und komprimieren konnten, dann konnte die Lichtgeschwindigkeit für beide Beobachter konstant bleiben. Zwei Ereignisse, die aus der Perspektive des einen Beobachters gleichzeitig passierten, würden einem anderen Beobachter, der sich in schneller Bewegung befand, als zeitlich versetzte Ereignisse erscheinen – und es gab keine Möglichkeit zu sagen, dass einer der Beobachter objektiv recht hatte. Stellen wir uns einen Blitz vor, der an zwei verschiedenen Punkten des Bahndamms, A und B, einschlägt. Wir würden die beiden Blitze nur dann gleichzeitig sehen, wenn wir genau in der Mitte zwischen den beiden Punkten stünden und das Licht beider Blitze uns gleichzeitig erreichen würde. Wenn sich aber ein Zug von A nach B bewegen würde, und auf diese Weise B näher käme, wäre ein Beobachter im Zug davon überzeugt, dass B noch vor A vom Blitz getroffen wurde. Denn das Licht des Blitzschlags von Punkt B würde ihn früher erreichen als das Licht vom Punkt A.

An diesem Beispiel lässt sich wunderbar erkennen, wie Einstein sich durch scheinbar widersprüchliche Beobachtungen nicht aus der Bahn werfen ließ. Nur so konnte er verstehen, dass die Wurzel des Problems in der Tatsache lag, dass er wie alle anderen von einer absoluten Zeit ausgegangen war. Die Idee einer absoluten Zeit – einer unveränderlichen, objektiven Zeit also – gehörte zu Newtons Erbe. Einstein jedoch erkannte, dass man unmöglich von einem der beiden Ereignisse sagen konnte, dass sie wirklich oder objektiv gleichzeitig stattfanden. So ließ Einstein das ehrwürdige Konzept der absoluten Zeit in sich zusammenbrechen. Und die Zeit wurde zu einem Teil des Tanzes: relativ, undefiniert, lebendig.

Einen noch mutigeren Schritt wagte Einstein, als er kurzerhand das störrische wissenschaftliche Dogma des »Äther« im Mülleimer der Geschichte entsorgte: Der »Äther« galt als alles durchdringende, elastische Substanz, in der alle Zeit und aller Raum existierte. Man glaubte fest daran, dass dieser Äther den Weltraum füllte, dass dort also kein Vakuum herrschte. Während die anderen Physiker seiner Zeit noch auf diese Substanz fixiert waren und fieberhaft oder einfach aus Tradition nach ihr suchten, verwarf Einstein den Äther einfach ganz und hinterfragte die von Newton postulierten Prinzipien der absoluten Zeit und des absoluten Raums. Einstein wollte ein neues, universelles Prinzip, in dem sich alles im Einklang bewegte, wie ein wirbelnder Strudel, der alles in sich hineinsaugte. Sein Universum war voller Dynamik und lebendiger Bewegung, alle Dinge darin wurden ständig voneinander angezogen und beeinflusst.

Einstein war weiterhin nicht zu bremsen: Nach dem blendenden Erfolg seiner speziellen Relativitätstheorie machte er sich ans Komponieren einer noch großartigeren kosmischen Symphonie: der allgemeinen Relativitätstheorie. Der Physiker Brian Greene beschrieb diese Melodie wie folgt:

»Raum und Zeit werden zu Spielern im sich entwickelnden Kosmos. Sie werden lebendig. Die Materie hier sorgt dafür, dass der Raum dort hinten sich krümmt, das versetzt die Materie wieder hier in Bewegung, und das bringt den Raum weiter hinten dazu, sich noch weiter zu krümmen – und so weiter. Die allgemeine Relativitätstheorie gibt die Schritte für einen Tanz vor, bei dem sich Raum, Zeit, Materie und Energie miteinander verweben.«[9]

Es war eine ganz und gar neue Art, die Wirklichkeit zu betrachten. Newton hatte ein Universum hinterlassen, in dem Zeit auf eine absolute Weise existierte und immer weitertickte, ohne sich von anderen Dingen oder Beobachtern beeinflussen zu lassen. Auch Raum existierte bei Newton in einer absoluten Form, die Schwerkraft wiederum sah er als die Anziehungskraft zwischen Massekörpern. Dann kam Einstein, nahm Zeit und Raum ihre Unabhängigkeit als zwei voneinander getrennte Größen weg und zeigte, dass man beides stattdessen als eine einheitliche Struktur denken konnte – als Raumzeit. Diese Struktur war nicht mehr nur eine Art Behälter für Materie, nein: Sie besaß eine eigene Dynamik. Die Materie wirkte auf die Raumzeit, die Raumzeit auf die Bewegung der Materie. Schwerkraft war die Verzerrung des Gewebes der Raumzeit, und Trägheit, also das Bestreben physikalischer Körper, in ihrem Bewegungszustand zu verharren, entstand einfach aus der Wechselwirkung zwischen Massekörpern – sie war kein Effekt, den der Raum in irgendeiner Weise mitverursachte. Was für ein unglaublicher Anblick: der lebendige, bewegliche Kosmos, eingefangen in mathematischen Formeln!

1917 bewies Einstein erneut, wie gut sein Verstand mit Widersprüchen fertig wurde – und zwar, als er eine Idee entwickelte, die er selbst bescheiden »etwas verrückt« nannte. Die Idee kam ihm zunächst sogar so wahnsinnig vor, dass er zu einem Freund sagte, sie brächte ihn in Gefahr, in ein Irrenhaus gesperrt zu werden. Einsteins neue Theorie war seine Antwort auf die Frage: Ist das Universum unendlich oder endlich? Er behauptete, dass ein absolut unendliches Universum nicht wahrscheinlich war, weil an jedem Punkt eine unendliche Menge Schwerkraft wirken und eine unendliche Menge Licht aus jeder Richtung strahlen müsse. Wie wäre es aber mit einem endlichen Universum, das an einem zufälligen Ort im Raum schwebte? Das war ebenfalls unvorstellbar: Was würde Sterne und Energie vom davonfliegen abhalten? Müsste dieses Universum nicht buchstäblich auslaufen? Man kann an diesem Punkt leicht erraten, für welche Möglichkeit sich der Physiker entschied: Er wählte eine dritte Möglichkeit, ein endliches Universum nämlich, das aber keine Umgrenzung hatte; ein geschlossenes System ohne Rand und ohne Ende.

Einsteins simpelste Gleichung

Was Einsteins Denken auszeichnet ist also, dass er bereit war, Widersprüche gelten zu lassen, ihnen produktiv zu begegnen und sie nicht als striktes Entweder-Oder zu betrachten. Warum gelingt uns Normalsterblichen das so selten? Der gewöhnliche Verstand mag leider keine Widersprüche, da ihm Verwirrung nicht gefällt. Er zwingt neue und ungemütliche Daten in alte Strukturen, weil er nur in Form von ›dies oder das‹ denken kann. Dieses Entweder-oder-Denken ist die am weitesten verbreitete Denkart, die es gibt. Sie beruht auf scharfen und starren Unterscheidungen, die sich selbst angesichts eindeutiger Tatsachen nicht ändern können: Wenn das Entweder-oder-Denken auf Widersprüche trifft, benimmt es sich wie ein Wanderer, der auf einer vertrauten Strecke plötzlich einer ganz neuen Aussicht begegnet: Erst betrachtet er sie verwirrt, dann beschließt er, dass er sich verirrt haben muss, und dass er diese Peinlichkeit lieber unter den Tisch kehren sollte.

Einstein ertrug das Entweder-oder-Denken nicht. Für ihn gab es in Wirklichkeit keine Widersprüche, nur Ganzheit. Er dachte in Harmonien, Einheit und Schlichtheit. Wenn er also auf scheinbare Widersprüche stieß, bedeutete das, dass es ein noch größeres, noch unerkanntes Ganzes geben musste. Wo immer das alte Denken starr und dualistisch, kompliziert und konfliktreich war, suchte Einstein nach einer höheren Ebene, in der zwei Kräfte als Einheit zusammenkamen. Einstein suchte nach der perfekten Melodie, nach einer höheren Form von Musikalität. Nach einer Konferenz in Salzburg, bei der auch der besorgte Planck im Publikum gesessen hatte, schrieb Einstein fröhlich einem Freund: »Ist es möglich, Energiequanten und das Wellenprinzip zu kombinieren? Die Erscheinungen sprechen dagegen, aber der Allmächtige – so scheint es – hat den Trick zustande gebracht.«[10] Seine Kollegen waren darüber viel weniger glücklich, wie man den Worten des britischen Mathematikers und Physikers Banesh Hoffmann entnehmen kann: »Den Physikern bleibt nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen und sie liefen mit Jammermienen herum. Sie klagten darüber, dass sie montags, mittwochs und freitags das Licht als Welle betrachten mussten, dienstags, donnerstags und samstags aber als Teilchen. Sonntags beteten sie.«[11]

Das Entweder-oder-Denken kann nur einen Teil der Wirklichkeit auf einmal sehen, und deshalb waren die anderen Physiker von der simultanen Sicht, die Einstein ihnen ohne viel Federlesens servierte, schlicht überfordert. Einsteins Verstand wiederum nahm die neue Weltsicht schnell an, weil sein Denken beweglicher war: Das Bild, das sich ihm bot, war komplexer als alles bisher Dagewesene, aber statt sich dagegen zu wehren, nahm er es einfach als Aufforderung, größer und umfassender zu denken. Ein starres Denken kann nur statische Systeme und Wahrheiten begreifen. Das Entweder-oder-Denken will jedes Ding an seinem vorschriftsmäßigen Platz sehen: Hier ist Zeit, und dort ist Raum; hier das elektromagnetische Feld und dort die Schwerkraft. Die Dinge tanzen nicht, sie funktionieren.

Einsteins flexibles Denken konnte auch widersprüchliche Bewegungen im Leben und Kosmos akzeptieren. Man kann die beiden Denkstrategien mit verschiedenen Formen von Architektur vergleichen: Auf der einen Seite kalte, präzise Strukturen, auf der anderen runde, geschwungene Formen, die, obwohl menschengemacht, die Bewegungen der Natur widerspiegeln und direkt aus der Erde zu wachsen scheinen. Charakteristisch für diese Denkweise sind Strukturen, Eindimensionalität, starre Systeme. Simultanes Denken dagegen kann Strukturen durchbrechen, kann Paradoxe und Widersprüche gelten lassen, ohne sich davon einschüchtern zu lassen, und eine dynamische Wirklichkeit akzeptieren.

Lassen Sie uns Einsteins Denken so beschreiben, wie der Physiker es selbst am liebsten hatte, so einfach wie möglich also – in Form einer simplen Gleichung:

1+11

Das Entweder-oder-Denken bringt Wissenschaftler und natürlich auch Laien zu der falschen Schlussfolgerung, dass es Dinge gibt, die sich einfach nicht miteinander vereinen lassen. Das passiert jedem von uns mit den Widersprüchen im Leben, bei denen eindeutig klar zu sein scheint, dass wir nur eine Seite der Medaille haben können.

Ruhe kommt uns beispielsweise wie das völlige Gegenteil von Anspannung vor. Wir meinen, dass wir entweder ruhig sein können, und zwar dann, wenn wir nicht unter Druck sind, oder gestresst. Wenn wir die Spannung aber wirklich akzeptieren, ohne uns gegen sie zu wehren, weil sie nun mal zum Leben als Ganzem gehört, bringt das sofort eine ganz neue Form von Ruhe. Das gegensätzliche Denken ist gefangen, weil es in einer Welt der Gegensätze festhängt, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Einstein dagegen hat jede polarisierte Wirklichkeit als zweiseitige Medaille gesehen. Man denke nur an seine berühmteste Formel E = mc2. Diese Gleichung besagt ganz einfach, dass Masse und Energie unterschiedliche Erscheinungen der gleichen Sache sind. Fast war es, als hätte Einstein dreidimensional sehen können, während das normale Denken nur eine flache Sicht zustande brachte.

Für Einstein also mussten zwei scheinbar gegensätzliche Elemente stets ein größeres Ganzes ergeben: Raum + Zeit = Raumzeit. Addierte man zum einen Element ein weiteres Element, war das Ergebnis immer noch eins. Wenn man in Entweder-oder-Kategorien denkt, muss jedes weitere Element die Endsumme vergrößern. Denken Sie an das Licht: Seine Beschaffenheit konnte man erst dann vollständig beschreiben, als man ein weiteres Element hinzudachte. Man konnte seine Natur erst dann vollständig beschreiben, als man bereit war, es als Wellen und Partikel zu denken. Und so macht jede neue Sache, die in dieses Denksystem eintritt, die Dinge komplizierter. Darum hat das Entweder-oder-Denken die automatische Tendenz, alle neuen Ideen und Informationen abzuwehren. Es will nicht überladen werden.

Das Geheimnis hinter Einsteins Denkstrategie lautet: Einfachheit. Man könnte vermuten, dass der genialste Kopf des 20. Jahrhunderts eine raffiniertere Denkart vertreten hätte. Aber genau das Gegenteil war der Fall: Einstein hat einen ganzen Berg Zitate hinterlassen, in denen er das einfache Denken lobt. Jedes Mal, wenn Einstein sich über eine gelungene Formel freute, betonte er stolz, wie »einfach« sie sei. Einmal soll er gesagt haben: »Wenn die Lösung einfach ist, antwortet Gott« – derselbe Gott, der die Natur nach den einfachsten mathematischen Prinzipien geschaffen hatte, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Natürlich meinte Einstein nicht die Einfachheit eines Höhlenmenschen, der nach Essen jagt. Im Vergleich zur normalen Denkart spielt das einfache Denken sich nicht etwa auf einer primitiveren, sondern einer höheren Ebene ab, einer Ebene, die jenseits von starren Trennungen und festen Konzepten ist. Einfaches Denken ist eine andere Form von Intelligenz.

Einfachheit ist nämlich nicht das Gegenteil von Komplexität, sondern von Kompliziertheit. Wie Einstein können wir komplexe Ideen denken, ohne dabei kompliziert zu werden. Wir müssen sogar einfach denken, um Komplexität verarbeiten und das harmonische Prinzip darin finden zu können. Kurz gesagt: Je komplexer die Dinge sind, desto offener und einfacher sollten wir sie betrachten.

So gesehen kann man jedes vorstellbare Gegensatzpaar als Denkfehler betrachten: Wenn wir Gegensätze sehen, begreifen wir einfach nicht das größere Ganze, das beide Seiten enthält. Das einfache Denken erlaubt allen Gegensätzen, sich zusammenzufügen, gemeinsam bilden sie ein einheitliches und ziemlich erstaunliches Bild der Wirklichkeit. Jedes Element, was man dann hinzufügt, macht das Bild nur noch vielschichtiger. Man kann sich eine solche Denkart wie eine elastische Struktur vorstellen, die immer wieder neue Dinge aufnehmen kann, und dadurch immer weiter wächst, statt alles Neue in bereits vorhandene Schubladen zu stopfen.

Denken Sie einen Moment lang an einige typische Gegensatzpaare im Leben:

Beziehung

Alleinsein

Individualität

Konformität

Hemmungslosigkeit

Selbstdisziplin

Triebhaftigkeit

Erhabenheit

Materialismus

Spiritualismus

Religion

Wissenschaft

Spannung

Entspannung

Konflikt

Friede

Emotion

Intellekt

Intuition

Logik

Egoismus

Altruismus

Freier Wille

Determinismus

Das Entweder-oder-Denken ist so starr, dass es diese Gegensätze nie als natürliche Einheit begreifen kann. Selbst wenn es das Gegenteil einer Sache als legitim akzeptiert, kann es sich immer nur für eine Sache auf einmal entscheiden. Deshalb hat Einstein, der dem simultanen Denken auch in seinem Privatleben treu blieb, so viele Menschen irritiert, wenn er sagte: »Ich bin ein tief religiöser Ungläubiger. Das ist eine irgendwie neue Art von Religion.«[12]

Das Leben besteht aus Paradoxen. Für das normale Denken sind Paradoxe logische Fehler, aber lassen Sie uns doch einmal ein Gedankenexperiment probieren: Können Sie sich eine Wirklichkeit vorstellen, in der zwei Gegensätze gleichzeitig gelten? Stellen Sie sich zwei Gegensätze vor und suchen Sie in Ihrem Verstand nach einem Ort, an dem beide gleichzeitig Platz haben, ja harmonieren. Können Sie in ihrem Denken an einen Punkt kommen, an dem Sie ganz klar sehen können, dass zum Beispiel Spannung kein Widerspruch zu Ruhe ist, sondern dass beides gemeinsam als Einheit existieren kann?

Ein Problem zum Beispiel, das sehr viele Menschen haben, ist, dass sie sich zwischen Beziehung und Alleinsein entscheiden müssen. Wenn man in einer Beziehung ist, vermisst man das Alleinsein, wenn man allein ist, vermisst man die Beziehung. Die Lösung liegt nicht etwa darin, dass man sich irgendwann nur mit einem von beidem zufriedengibt. Es ist schließlich eine Tatsache, dass ein Mensch selbst dann ein Individuum bleibt, wenn er in einer Beziehung ist, er vergisst es nur gelegentlich oder ist vielleicht der Auffassung, dass er nur noch als Einheit mit dem Partner existieren darf.

Wenn Sie Ihr eigenes Denken genauer betrachten, werden Sie möglicherweise schnell feststellen, dass der Verstand darunter leidet, wenn er immer und überall scharfe und starre Grenzen zieht. Die Erkenntnis, dass wir beides haben können, kann sehr erleichternd sein: Es ist, als hätten wir dann innerlich mehr Platz für die vielschichtigen Facetten des Lebens. Denn in Wirklichkeit ergänzen Gegensätze einander, sie bewegen sich gemeinsam, ja sie tanzen förmlich miteinander. Die eine Seite kann ohne die andere nicht sein. Sie können einander also entweder ausschließen oder ein größeres Ganzes bilden. Für Einstein war diese Art von Wahrnehmung der göttlichen Realität am nächsten: Er sah ein äußerst komplexes System, das sich als untrennbare Einheit bewegte und funktionierte, und deshalb konnte man es niemals durch Widersprüche oder kompliziertes Denken begreifen. Man musste sich Gottes Gehirn mit einer sehr einfachen geistigen Haltung nähern.

Unsere Reise an der Seite des blinden Käfers ist jedoch noch nicht zu Ende. Schließlich bleibt noch eine ziemlich wichtige Frage: Wie konnte Einstein diese zugleich einfachen und komplexen Muster, die sich hinter den scheinbaren Widersprüchen verbergen, aufspüren?

Denken ohne zu denken

Zürich, 1910: Das Haus war in heillosem Durcheinander. Mileva, Einsteins Frau, lag in ihrem Bett im Schlafzimmer, noch immer erschöpft von einer schwierigen Geburt drei Monate vorher. Der neugeborene Eduard schrie nach Kräften, trotz der liebevollen Versuche seiner Mutter, ihn zu beruhigen. Sein älterer Bruder Hans wollte mit dem Vater spielen und rang um dessen Aufmerksamkeit. »Warte noch eine Minute, ich bin fast fertig«, sagte Albert Einstein geistesabwesend, während er auf einen Papierfetzen allerlei, wie es Hans vorkam, seltsame Zahlen und Formen kritzelte. Eine Sekunde später stöhnte er: »Ach! Das funktioniert nicht! – Wo ist sie?« Hans wusste Bescheid: Der Vater suchte seine Geige. Und schon rannte Einstein in sein Arbeitszimmer und schlug die Tür zu. Wenig später strömten wunderbare Harmonien aus dem Zimmer und füllten die Räume mit einer großen Schönheit. Hingerissen von der Melodie, konnte Hans nicht mehr spielen. Sogar der winzige Eduard stellte sein Gebrüll ein. Eine Viertelstunde später rief eine glückliche Stimme aus dem Arbeitszimmer: »Da, jetzt habe ich es!«

So hätte, den Beschreibungen von Freunden und Familie zufolge, ein typischer Nachmittag im Haus der Familie Einstein, irgendwann im Jahr 1910, aussehen können. Die Geige erwies sich bei vielen Gelegenheiten als nützlich, auch in den Jahren, in denen Einstein allein in Berlin lebte und mit der allgemeinen Relativitätstheorie kämpfte. Oft spielte er die Geige spät nachts in der Küche, improvisierte Melodien, während er über vertrackte Fragestellungen nachdachte. Dann, mitten im Spiel, rief er auf einmal erregt aus: »Ich hab’s!«

Die Musik war für Einstein nicht nur ein angenehmer Zeitvertreib oder ein Hobby wie Golfspielen oder Bergsteigen. Sie stimulierte seinen Verstand, sie half ihm, neue und kreativere Antworten zu finden. Er nutzte die Geige und auch das Klavierspielen als eine Art Erkenntniswerkzeug, sie ließen ihn geistig ins Herz des Kosmos vordringen, wo, so fühlte er, Gottes perfekte Melodien spielten und darauf warteten, in Formeln oder Symphonien umgewandelt zu werden. Musik, besonders Mozarts Musik, war für Einstein ein wichtiger Weg, der versteckten Musikalität der Physik auf die Spur zu kommen.

Und damit sind wir dem Geheimnis von Einsteins Denken schon ganz dicht auf den Fersen. Wenn es in der Physik ein Teil