DAS WARTEZIMMER ZUM JENSEITS - James H. Chase - E-Book

DAS WARTEZIMMER ZUM JENSEITS E-Book

James H. Chase

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Beschreibung

Das erste Opfer muss sterben, damit die anderen fügsam zahlen. So will es der Erpresser, der unter dem Decknamen Schildkröte in den USA und in Europa eine beispiellose Verbrecher-Organisation leitet. Und die tizianrote Lorelli ist seine Todesbotin.

Aber die Gangster haben nicht mit Don Micklem gerechnet, der Zeuge des ersten Mordes wurde. Er sagt der Schildkröte den Kampf an – aber wird er ihren Panzer zerschmettern können?

Der Roman Das Wartezimmer zum Jenseits von James H. Chase (* 1906 in London; † 1985 Corseaux/Schweiz) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962 (unter dem Titel Zahle oder stirb).

Alfred Vohrer verfilmte den Roman 1964 – in den Hauptrollen Hildegard Knef (als Laura Lorelli), Götz George (als Donald Micklem), Klaus Kinski (als Shapiro) und Pinkas Braun (als Felix).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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JAMES H. CHASE

 

 

Das Wartezimmer

zum Jenseits

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 82

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS WARTEZIMMER ZUM JENSEITS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Das erste Opfer muss sterben, damit die anderen fügsam zahlen. So will es der Erpresser, der unter dem Decknamen Schildkröte in den USA und in Europa eine beispiellose Verbrecher-Organisation leitet. Und die tizianrote Lorelli ist seine Todesbotin.

Aber die Gangster haben nicht mit Don Micklem gerechnet, der Zeuge des ersten Mordes wurde. Er sagt der Schildkröte den Kampf an – aber wird er ihren Panzer zerschmettern können?

 

Der Roman Das Wartezimmer zum Jenseits von James H. Chase (* 1906 in London; † 1985 Corseaux/Schweiz) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962 (unter dem Titel Zahle oder stirb).  

Alfred Vohrer verfilmte den Roman 1964 – in den Hauptrollen Hildegard Knef (als Laura Lorelli), Götz George (als Donald Micklem), Klaus Kinski (als Shapiro) und Pinkas Braun (als Felix). 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DAS WARTEZIMMER ZUM JENSEITS

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Constable Elliott stand im Schutze einer Ladenpassage. Sein Blick schweifte uninteressiert über die Ostseite des Platzes.

Es war eine dunkle regnerische Novembernacht; die Uhr zeigte ein paar Minuten nach elf. Der Regen hatte im Verein mit der späten Stunde die letzten Passanten von der Straße vertrieben, und der Platz lag menschenleer vor den Augen des Polizisten.

Es regnete nun bereits seit drei Stunden ununterbrochen. Das Wasser gurgelte in den Rinnsteinen und tropfte von den Straßenlaternen, deren mattgelber Schein sich auf dem Pflaster spiegelte. Wie um das Maß vollzumachen, fegte ein eiskalter Wind über den Platz, und Elliott dachte sehnsüchtig an sein gemütliches Wohnzimmer, an das anheimelnde Kaminfeuer, das dort brannte, und an seine Frau, die in dieser Minute hoffentlich an ihren Mann denken würde, den die Ungunst des Dienstplanes zum nächtlichen Streifengang verdammt hatte.

Er sah prüfend zum stockdunklen Himmel auf, ob sich die Wolkendecke nicht bald auflockern würde.

Unvermittelt sprach ihn eine Frauenstimme an: »Können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Polsen-Hotel komme?«

Elliott senkte den Blick. Ein Mädchen stand vor ihm. Sie hatte den Rücken der nächsten Straßenlaterne zugekehrt, und er konnte sie nur undeutlich erkennen. Sie trug einen weißen Regenmantel und einen Hut, der wie ein Südwester aussah. In ihrer rechten Hand hielt sie einen kleinen Koffer aus Segeltuch mit lederverstärkten Ecken.

Sie sprach mit ausländischem Akzent, und er tippte auf Spanierin oder Italienerin; genau konnte Elliott, der keine Sprachkenntnisse besaß, das nicht ausmachen.

»Polsen-Hotel, Miss?«

»Ja.«

»Knapp hundert Meter auf der rechten Seite.« Er trat aus dem Schutz der Ladenpassage hinaus auf das Trottoir und zeigte ihr mit dem Finger die Richtung. Das Mädchen drehte sich um und sah in die angegebene Richtung. Da fiel das Licht der Straßenlaterne voll auf ihr Gesicht.

Elliott schätzte ihr Alter auf fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre. Als erstes fiel ihm ihr kupferrotes Haar auf, das sich unter ihrem Hut hervordrängte; eine Farbschattierung, die er bisher noch nie gesehen hatte. Ihre Augen hatten, soweit er das in dem trüben Licht beurteilen konnte, die grüne Farbe von Saphiren. Es war ein ausgesprochen schönes Mädchen, und sie strahlte etwas aus, das selbst den in jahrelangem hartem Polizeidienst abgebrühten Elliott nicht unberührt ließ.

»Haben Sie vielen Dank«, sagte das Mädchen und wollte in der angegebenen Richtung davongehen.

»Moment mal, Miss«, sagte Elliott. »Wenn Sie fremd in London sind, dann möchte ich Sie warnen. Das Polsen-Hotel ist nicht das Richtige für Sie.«

Das Mädchen schaute ihn nicht an, sondern ließ ihre Blicke über den regennassen Platz schweifen. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt zuhörte, was er ihr sagte.

»Das Hotel hat keinen guten Ruf, Miss«, fuhr Elliott fort. »Für eine junge Dame wie Sie ist es bestimmt nicht das richtige Haus zum Übernachten.«

Das Mädchen sah ihn überrascht an. »Vielen Dank für den guten Rat. Aber ich will gar nicht dort bleiben«, antwortete sie. »Gute Nacht.«

Sie wandte sich um und ging mit schnellen Schritten hinaus in den Regen und die Dunkelheit; Elliott blickte ihr stirnrunzelnd nach.

Resigniert zuckte er mit seinen kräftigen Schultern unter dem regennassen Cape. Nun, er hatte sie gewarnt, beruhigte er sich selbst. Mehr konnte er nicht tun. Er fragte sich, wer sie wohl war und woher sie kommen mochte. Und er wunderte sich vor allem, warum sie ausgerechnet in das Polsen-Hotel ging. Das Polsen war eines der vielen Stundenhotels in dieser Gegend Londons; nicht übler als die anderen, aber auch nicht weniger schmutzig und widerlich.

Er schüttelte seinen Kopf. Das hätte er wirklich nicht gedacht, dass auch ein Mädchen wie dieses... Aber da er nun schon fünfzehn Jahre in diesem Revier Dienst tat und im Laufe eines langen Polizistenlebens ziemlich alle Illusionen verloren hatte, unterließ er es, sich weitere Gedanken darüber zu machen, warum sie ausgerechnet in dieses Hotel wollte. Wenn er sich über das Tun und Lassen jedes Menschen, der ihn nach dem Weg fragte, den Kopf zerbrechen wollte, dann - so sagte er sich - würde er keine ruhige Minute mehr in seinem Leben haben.

Elliott ging ebenfalls weiter; doch sosehr er sich dagegen sträubte: auf seinem einsamen Streifengang durch den Regen begleitete ihn das Bild des schönen Mädchens.

 

Jack Dale, der Nachtportier des Polsen-Hotel, warf einen kurzen Blick auf den älteren dicken Mann, der durch das dämmerige Foyer zur Drehtür eilte und unversehens im Regen verschwand.

Er zuckte mit seinen schmalen Schultern. Sicherlich, so sagte er sich, wollte der wohlbeleibte Herr noch einen Zug erreichen. Er grinste zynisch und fragte sich, welches Märchen dieser Hotelgast wohl seiner Frau aufbinden würde, um sein spätes Nachhausekommen zu entschuldigen. Das Gros der Hotelgäste des Polsen waren ältere und verheiratete Männer.

In einem schäbigen Mantel, auf dem der Regen bereits große dunkle Flecken hinterlassen hatte, kam ein Mädchen die Treppe herunter. Granitharte Augen und ein schmaler, bitterer Mund nahmen ihrem Gesicht jeden Anflug von Reiz.

Sie ging zu Dale hinüber und warf einen Schlüssel auf das durch zahllose Tintenflecke verunzierte Pult. Neben den Schlüssel legte sie eine zerknitterte Pfundnote.

»Gehst du wieder raus?«, fragte Dale, als er das Geld nahm und in eine Schublade legte. »Es gießt ganz ordentlich.«

»Natürlich gehe ich nochmals los«, entgegnete das Mädchen mürrisch. »Ich habe diese Woche noch nicht genug verdient, um meine Miete zahlen zu können. Wenn der Regen nicht bald aufhört, dann weiß ich wirklich nicht mehr, was ich tun soll.«

Dale grinste. »Immer das alte Lied«, sagte er und drehte sich um, um den Schlüssel an das große Brett an der Wand hinter sich zu hängen. »Wenn es nicht der Regen ist, dann ist halt was anderes schuld.«

»Du hast gut reden«, entgegnete das Mädchen in bitterem Tonfall. »Du brauchst schließlich nicht Stunde für Stunde draußen im Regen zu stehen.«

»Verschwinde«, sagte Dale. »Du brichst mir sonst das Herz.«

Er sah ihr nach, wie sie die Stufen der Vortreppe hinunterging und in der regennassen Dunkelheit verschwand. Er zuckte die Achseln und griff nach dem Evening Standard. Er las gerade die letzten Sportberichte, als das Mädchen in dem weißen Regenmantel hereinkam. Dale sah auf und fragte sich, was sie wohl hier wolle. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Tolle Puppe, ging es ihm durch den Kopf. Er richtete sich auf und sah sie mit provozierendem Grinsen an, wobei er seine gelbgefärbten Zähne zeigte.

»Ist Mr. Crantor da?«, fragte das Mädchen und sah ihn aus ihren grünen Augen voll an.

Dale starrte sie an. »Ja, er ist da. Zimmer sechsundzwanzig im ersten Stock. Er sagte, Sie sollten gleich hinaufgehen.«

Das Mädchen wandte sich um, durchquerte das Foyer und stieg mit raschen Schritten die Treppenstufen hoch.

Dale pfiff leise durch die Zähne. Was, zum Teufel, wollte eine solch tolle Puppe von Crantor? fragte er sich. Ausgerechnet von Crantor! Sie trug einen kleinen Reisekoffer in der rechten Hand. Wollte sie etwa bleiben? Wenn sie in der nächsten Stunde nicht wieder herunterkam, würde er vorsichtshalber Crantor anrufen.

Das Mädchen ging den nur schwach beleuchteten Korridor entlang und blieb dann abwartend stehen. Kein Geräusch drang aus dem Zimmer. Sie klopfte mit ihrer behandschuhten Hand an.

Die Tür ging auf, und Crantor stand im Rahmen. »Da sind Sie ja endlich«, sagte er, und sein einziges Auge musterte sie in Sekundenschnelle. »Ich fragte mich bereits, ob Sie überhaupt noch kämen.«

Sie folgte ihm in das große Wohn-Schlafzimmer.

Eine Schreibtischlampe warf ihren abgeschirmten Lichtstrahl auf den großen Tisch, auf dem eine Menge Papiere unordentlich herumlagen. Der übrige Teil des Zimmers befand sich im Halbdunkel. Weder Crantor noch das Mädchen konnten sich richtig sehen.

»Das ist ja ein Sauwetter heute Nacht«, brach Crantor das Schweigen. »Legen Sie Ihren Mantel ab. Ich werde ihn solange im Badezimmer aufhängen.«

Das Mädchen schälte sich aus dem weißen Regenmantel, nahm ihren Südwester ab und reichte ihm beides. Sie schüttelte ihr Haar aus und trat vor den Spiegel, der über der Gasheizung hing.

Als Crantor ins Badezimmer, das sich unmittelbar an das Wohn-Schlafzimmer anschloss, ging, um die nassen Sachen aufzuhängen, knipste er das Licht an. Er ließ sich Zeit, während er den nassen Regenmantel über eine Stuhllehne hängte. Dann kam er zurück, blieb im Türrahmen stehen und sah ihr zu. Mach schon, dachte er sarkastisch. Schau endlich her. Wollen mal sehen, ob du starke Nerven hast, du rothaarige Hexe.

Das Mädchen wärmte sich gerade vor der Gasheizung die schlanken Beine. Sie suchte in ihren Taschen nach einer Zigarette, als sie aufblickte und ihn nun zum ersten Mal im hellen Licht der Deckenlampe sah.

Die Verletzungen, die Crantors Gesicht entsetzlich entstellten, hatte er aus dem Krieg davongetragen. Glühendheiße Splitter aus einem Granatwerfereinschlag hatten es fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Ärzte hatten sich mit ihm große Mühe gegeben, und wenn man berücksichtigte, wie er ausgesehen hatte, bevor er unter die Messer der Chirurgen gekommen war, dann musste man zugeben, dass sie ein kleines Wunder vollbracht hatten; sie hatten ihm wenigstens wieder ein halbwegs menschliches Aussehen gegeben. Sein linkes Auge war durch eine schwarze Binde verdeckt. Seine dünnen harten Lippen waren nach unten gezogen, und sein Unterkiefer lag frei, wodurch sein Ausdruck noch brutaler wirkte. Der Rest seines Gesichtes sah aus, als habe hier jemand die Wirkung von scharfen Rasiermessern und Salzsäure erproben wollen.

Die Ärzte hatten ihm geraten, die Narben heilen zu lassen und dann zurückzukommen, um sich einer Reihe weiterer kosmetischer Operationen zu unterziehen. Sie hatten ihm versichert, in ein, zwei Jahren könnten sie aus ihm wieder einen Mann machen, der sich sehen lassen durfte.

Aber Crantor war nicht mehr in die Klinik gegangen. Er hatte es sich zwar immer wieder vorgenommen, aber dann doch nie die Zeit dazu gefunden. Und als Alsconi ihn als seinen Vertreter in London einsetzte, schlug er sich den Gedanken daran ganz aus dem Kopf. Er würde doch nicht für nichts und wieder nichts lange Monate in einer Klinik vertrödeln, während ihm Alsconi die einmalige Chance bot, viel Geld verhältnismäßig leicht zu verdienen. Geld war für ihn wichtiger als gutes Aussehen.

Die ersten Monate waren für ihn sehr hart gewesen. Aber das hatte er nun endgültig überwunden, und es bereitete ihm ein fast perverses Vergnügen zu beobachten, wie die Leute, die ihn sahen, reagierten, wie sie zusammenzuckten und wegzuschauen versuchten. Und jetzt beobachtete er aufmerksam, wie das Mädchen ihn anblickte. Wie würde sie reagieren?

Er wurde enttäuscht. Sie zuckte weder zusammen, noch schaute sie zur Seite. Vielmehr betrachtete sie genau sein Gesicht und zeigte dabei weder Bedauern noch Ekel. »Konnten die Ärzte nicht mehr für Sie tun?«, sagte sie schließlich.

Crantor fühlte heiße Wut in sich aufsteigen. Ihre herausfordernde Sachlichkeit reizte ihn zur Weißglut. Am liebsten hätte er ihren weißen Hals gepackt und ihren Kopf gegen die Wand gehämmert. »Was geht das Sie an?«, gab er zurück. »Es ist meine Fratze.«

»Ich verbitte mir diesen Ton!«, sagte das Mädchen mit scharfer Stimme.

Crantor nahm sich zusammen. Was sollte sie von ihm denken! Er wollte auf jeden Fall einen guten Eindruck auf sie machen, aber das erreichte er nicht, wenn er sie in dieser Weise anpöbelte. Sie war sein erster persönlicher Kontakt mit Alsconis Organisation. Schließlich hatte sie den langen Weg von Italien hierher zurückgelegt, um mit ihm die Vorbereitungen für den neuesten Coup Alsconis zu besprechen. Fand seine Arbeit Anerkennung, war das eine Chance weiterzukommen. Denn Crantor war ehrgeizig. Er arbeitete nun schon zwei Jahre für Alsconi, doch erst kürzlich war es ihm richtig zum Bewusstsein gekommen, dass seine Arbeit für die Organisation nur von untergeordneter Bedeutung war: Er war nur ein kleines Rädchen. Nun aber hatte Alsconi beschlossen, auch in London groß ins Geschäft einzusteigen. Und darin lag seine große Chance.

»Entschuldigung«, sagte er und schaltete die Deckenbeleuchtung aus. »Wegen meines Gesichts bin ich eben doch noch immer sehr empfindlich. Wer wäre das nicht? Bitte, setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Nein, danke.«

Sie kam herüber an den Tisch, rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. Sie trug ein schwarzes Kleid, das aus einem erstklassigen Modesalon stammen musste. Um ihren Hals hing eine goldene Kette aus stilisierten Lorbeerblättern.

Crantor setzte sich ebenfalls. Er hielt sich im Schatten. Als er sich eine Zigarette anzündete, drehte er den Kopf zur Seite, so dass sie im Schein der Flamme sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Haben Sie inzwischen jemanden gefunden, der die Arbeit ausführt?«, fragte sie.

»Gewiss«, gab Crantor zurück. »Er wird in ein paar Minuten hier sein. Ich dachte mir, Sie wollten ihn vielleicht selbst sehen.«

»Um Irrtümer auszuschließen«, unterbrach sie ihn, und ihre grünen Augen suchten im Dunkel sein Gesicht, »dies ist unser Start in London, und der erste Versuch muss unter allen Umständen erfolgreich sein.« Sie schnippte die Asche von ihrer Zigarette und fuhr fort: »Was ist das für ein Mann, den Sie für die Arbeit ausgewählt haben?«

»Er heißt Ed Shapiro«, erläuterte Crantor. »Bisher ist er noch nie mit der Polizei in Berührung gekommen. Er kam in einem Zirkus zur Welt. Später arbeitete er als Messerwerfer. Er versteht sein Geschäft aus dem Effeff; das ist auch der Grund, warum ich gerade ihn ausgewählt habe. Ab und zu habe ich ihn in den letzten Monaten als Schmuggler eingesetzt, und jetzt möchte er sich gern selbständig machen. Dazu will er sich ein schnelles Boot kaufen. Ich bot ihm die Chance, das dafür notwendige Geld auf einen Schlag zu verdienen, und er hat mit beiden Händen zugegriffen, als ich ihm den Vorschlag machte.«

»Er wird die Sache doch nicht etwa verpatzen?«

»Wenn überhaupt jemand die Aufgabe zufriedenstellend lösen kann, dann ist er es.«

»Was haben Sie inzwischen eingeleitet?«

»Der Brief mit der Geldforderung wurde am Dienstag abgeschickt. Heute Nacht geht Shapiro zu dem Haus. Er wird die Schildkröte mit einer weiteren Notiz in das Frühstückszimmer praktizieren. Morgen Abend um neun wird ein Dienstmann nach dem Geld fragen...« Er brach mitten im Wort ab und sah über den Tisch zu dem Mädchen. »Dabei ist noch etwas, über das ich mir noch nicht ganz im Klaren bin. Angenommen, er zahlt?«

»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Er wird nicht zahlen. Gerade darum haben wir ihn ja gewählt. Er ist nicht der Typ, der sich durch Drohungen einschüchtern lässt.«

»In Ordnung. Sie müssen es ja wissen. Es käme sehr ungelegen, wenn er tatsächlich zahlen sollte.«

»Trösten Sie sich; er wird nicht zahlen.«

»Dann wird Shapiro um neun Uhr fünfzehn loslegen. Haben Sie das Messer mitgebracht?«

Sie beugte sich seitwärts und zog den Koffer, der auf dem Boden lag, zu sich heran. Er starrte auf ihren Rücken, als sie so gebückt den Koffer öffnete. Wieder fühlte er Bitterkeit in sich aufsteigen. Eine Frau, die so schön war wie diese, war nicht für ihn bestimmt. Er musste sich mit den hässlichen begnügen.

Sie nahm aus ihrem Koffer eine flache Holzschachtel und legte sie auf den Tisch. Dann öffnete sie das Kästchen und entnahm ihm ein Messer mit breiter Klinge und schwerem, geschnitztem Holzgriff.

Crantor betrachtete die Waffe eingehend. »Ist das nicht gefährlich?«, fragte er. »Könnte nicht die Polizei in der Lage sein, die Herkunft des Messers festzustellen?«

»Wir benutzen immer das gleiche Modell«, erklärte das Mädchen. »Es ist eine Sonderanfertigung für uns. Es besteht nicht die geringste Möglichkeit, seine Herkunft festzustellen.«

»Ich nehme an, das alles ist notwendig«, bemerkte Crantor zögernd.

»Was alles?«, fragte das Mädchen scharf.

»Die Schildkröte, das Messer und die Warnbriefe.«

»Selbstverständlich. Wir brauchen Publicity. Der Fall wird Schlagzeilen machen, und gerade darauf kommt es uns an. Wir haben bereits den Mann ausgewählt, der nach Ferenci drankommt. Wenn er dann den Brief mit unserer Forderung erhält, wird er wissen, dass wir es ernst meinen. Und er wird zahlen. Unser Verfahren hat sich in Frankreich, Italien und Amerika bereits bestens bewährt. Und es wird sich auch hier in England bewähren.«

»Wenn unser Vorhaben gelingt, werde ich dann die weiteren Aktionen selbständig leiten?«, fragte Crantor.

»Natürlich.«

»Die Sache geht hundertprozentig in Ordnung. Das kann ich Ihnen schon jetzt versprechen.« Crantor sprang auf und schenkte sich ein Glas Whisky ein. »Wollen Sie wirklich nichts trinken?«

»Nein, vielen Dank.«

Er stand im Halbdunkel und sah sie an. »Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen«, sagte er, »oder darf ich das nicht fragen?«

»Nennen Sie mich Lorelli«, antwortete das Mädchen.

»Lorelli...« Crantor nickte. »Das ist ein schöner Name. Sind Sie schon lange bei der Organisation?«

»Ich habe Anweisung, Shapiro auszuzahlen«, sagte das Mädchen, die Frage überhörend. »Wo finde ich ihn, nachdem er die Sache hinter sich hat?«

Crantor spürte, dass ihm das Blut zu Kopfe stieg. »Sie selbst wollen ihn auszahlen? Warum? Ich habe ihn engagiert. Geben Sie mir das Geld. Ich werde es ihm übergeben.«

»Wo finde ich ihn?«, wiederholte das Mädchen und sah dabei Crantor kalt an.

»Aber..., aber, ich verstehe nicht«, stotterte Crantor, während er wieder zum Tisch zurückging. »Traut man mir nicht?«

»Soll ich berichten, dass Sie nicht bereit sind, den Ihnen gegebenen Befehlen zu gehorchen?«, fragte das Mädchen leise mit eisiger Stimme.

»Natürlich nicht«, gab Crantor hastig zurück. »Ich dachte nur...«

»Wo finde ich ihn?«

»Athens Street 25. Das ist in Soho«, erläuterte Crantor. Er gab sich alle Mühe, seinen Zorn nicht offen zu zeigen.

Das Telefon klingelte, und Crantor nahm den Hörer ab.

»Hier unten ist jemand, der nach Ihnen fragt«, tönte Dales Stimme durch die Membrane. »Soll ich ihn hinaufschicken?«

»Ja«, sagte Crantor.

»Noch etwas«, fuhr Dale fort. »Wünscht die junge Dame ein Zimmer im Hotel? Ich kann sie in dem Zimmer neben Ihnen unterbringen.«

Crantor sah Lorelli an. »Brauchen Sie heute Nacht ein Zimmer?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie bleibt nicht hier«, gab er an Dale weiter.

»Da haben Sie ja wieder einmal Pech gehabt«, kicherte Dale.

Crantor warf wütend den Hörer auf die Gabel.

 

Ed Shapiro war ein langer, schlaksiger Kerl mit Hakennase, dunkler Gesichtsfarbe und kleinen lebhaften Augen. Sein Anzug war schwarz mit weißen Nadelstreifen; darunter trug er ein schwarzes Hemd mit einer weißen Krawatte. Einen schwarzenHut mit schmaler Krempe hatte er flott auf den Kopf gestülpt.

Er lümmelte sich gegen die Portiersloge; zwischen seinen schmalen Lippen klebte eine Zigarette, und nach jedem Zug blies er eine nach Whisky stinkende Rauchwolke in Dales Gesicht.

»Los, gehen Sie schon hinauf. Zimmer sechsundzwanzig«, brummte Dale; er lehnte sich zurück und verzog das Gesicht. »Sie haben ganz schön einen sitzen, wie?«

Unversehens schoss Shapiros langer Arm nach vorn, und seine Hand packte Dales Hemdbrust. Er zog den Portier zu sich heran und versetzte ihm dann einen so heftigen Stoß, dass sein Kopf nach hinten flog. »Halt’s Maul, Kerl«, sagte er. »Spar dir deine blöden Redensarten auf, oder ich schlag dir deine dreckigen Zähne aus.«

Dale wagte nicht, sich zu bewegen; sein Gesicht war plötzlich kalkweiß geworden. Der brutale Ausdruck in Shapiros Augen versetzte ihm einen Schock.

Shapiro lockerte seinen Griff, zog seinen Hut noch tiefer in die Stirn und ging mit langen Schritten quer durch die Hotelhalle und die Stufen hoch. Er hatte den größten Teil des Abends ausgiebig getrunken, um seine angespannten Nerven zu beruhigen. Er hatte zwar schon manches Ding gedreht, aber bis jetzt hatte er immer noch vor einem Mord zurückgeschreckt. Doch jetzt war es anders. Er wollte unbedingt das schnelle Motorboot besitzen, und dieses Verlangen ließ ihn schon seit zwei Monaten nicht mehr zur Ruhe kommen. Denn das Boot, das er im Auge hatte, war eine außerordentlich günstige Gelegenheit. Er wusste, dass er nie wieder ein so gutes Boot so billig würde kaufen können. Doch wie sollte er die dafür erforderlichen tausend Pfund aufbringen, wenn er nicht Crantors Angebot annahm?

Während Shapiro jetzt die Treppe hocheilte, war er in der richtigen Stimmung, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Übertrieben zuversichtlich ging er den Flur entlang, bis er die Nummer sechsundzwanzig fand, und stieß, ohne anzuklopfen, die Tür auf. Er blieb im Türrahmen stehen und starrte auf Lorelli, die sich in ihrem Sessel umgewandt hatte und ihn eingehend musterte.

»Komm herein und mach die Tür zu!«, bellte Crantor.

Shapiro schloss die Tür. Er schaute von Lorelli zu Crantor und wieder zurück von Crantor zu Lorelli. Was hatte die Biene hier zu suchen? fragte er sich. Eine tolle Puppe! Er rückte seine Krawatte zurecht, nahm den Hut ab und grinste Lorelli an.

Crantor stand auf. »Okay, Ed, lass das«, sagte er, und seine Stimme klang wie ein Reibeisen. »Sie gehört zu uns.«

Shapiro trat an den Tisch. Sein Grinsen wurde noch breiter. »Da schau her, wie nett. Hallo, Baby! Ich sehe schon, wir beide werden uns ganz gut verstehen.«

Lorellis kalte grüne Augen musterten ihn von oben bis unten. »Sie haben erst zu sprechen, wenn Sie gefragt werden«, gab sie scharf zurück.

»He! Diese Tour zieht bei mir nicht«, grinste Shapiro. Da traf ihn Crantors Hand mitten auf die Wange, und er taumelte durchs Zimmer. Shapiro hatte alle Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Verblüfft starrte er Crantor an, wagte aber nicht, sich zu rühren.

»Setz dich hin und halt den Mund!«, zischte ihn Crantor an, und sein einziges Auge brannte dabei wie eine glühende Kohle.

Shapiro zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.. Er befühlte mit der rechten Hand seine Bache. »Ich würde dir raten, das nicht noch einmal zu tun«, sagte er mühsam.

»Halt den Mund!«, wiederholte Crantor.

»Ich halte nicht viel von ihm«, mischte sich jetzt Lorelli ins Gespräch. Sie sprach, als sei Shapiro gar nicht im Zimmer. »Er ist betrunken; er hat schwache Nerven, und von Disziplin hat er nicht die geringste Ahnung.«

»Er wird die Sache erledigen«, versicherte Crantor. »Falls er sie verpatzt, werde ich persönlich ihn umlegen.«

Plötzlich fühlte sich Shapiro nicht mehr wohl in seiner Haut. Er erkannte, dass Crantor keine leere Drohung ausstieß. »Moment mal...«, begann er. Aber die nächsten Worte blieben ihm im Hals stecken, als Crantor sich umwandte und ihn anstarrte.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe! Pfuschst du, bringe ich dich eigenhändig um.«

»Wer sagt denn, dass ich Mist machen werde?«, gab Shapiro heiser zurück.

»Ich kann dir in deinem eigenen Interesse nur raten, es nicht zu tun«, sagte Crantor. Er nahm das Messer und reichte es Shapiro; dabei hielt er die Klinge zwischen den Fingern, so dass Shapiro das Messer am Griff packen konnte. »Mit dem wirst du es tun. Und nun zeige ihr, was du mit solch einem Ding alles anstellen kannst.«

Shapiro nahm das Messer und balancierte es in seiner Hand. Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn, als er mit seinem Daumen über die Schneide der Klinge fuhr. Unversehens spannten sich seine Gesichtszüge, seine Bewegungen wurden bestimmter, seine Augen lebhaft und entschlossen. »Ein toller Apparat«, murmelte er. »Das ist eine Wucht.« Mit einer kurzen Bewegung warf er das Messer hoch, so dass es sich mehrmals um sich selbst drehte; als es herunterfiel, fing er es am Griff wieder auf.

»Zeig es ihr«, wiederholte Crantor.

Shapiro sah sich im Zimmer um. Offensichtlich entdeckte er kein Ziel, das einen Wurf aus seiner Hand wert gewesen wäre. Schließlich holte er aus seiner Jackettasche ein Kartenspiel, suchte sich das Herz-As heraus und ging quer durch das Zimmer an die gegenüberliegende Wand. Mit dem Kaugummi, den er bisher im Mund gehabt hatte, klebte er die Spielkarte daran. Er trat zurück in die entfernteste Ecke des Zimmers. Die Wand mit der angeklebten Spielkarte lag im Halbdunkel. Lorelli konnte das Herz-As nicht erkennen, obwohl sie der Spielkarte näher war als der Messerwerfer. Sie beobachtete - die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht zwischen den Händen - aufmerksam Shapiros Bewegungen.

Ed wog das Messer auf der Handfläche. Dann schleuderte er es plötzlich mit einer blitzschnellen Bewegung zur gegenüberliegenden Wand. Crantor drehte die Leselampe herum und richtete den Lichtkegel auf die Spielkarte an der Wand.

Das Messer hatte die Mitte des Herz-As’ durchschnitten und war etwa fünf Zentimeter tief in den Putz eingedrungen.

»Sie haben sich selbst überzeugen können«, sagte Crantor. »Bei zwanzig Würfen trifft er zwanzigmal haargenau die gleiche Stelle.«

Lorelli lehnte sich zurück. »Ja, das reicht aus für unseren Zweck«, entgegnete sie.

Shapiro stolzierte durch das Zimmer, zog das Messer aus der Wand und kam wieder zurück. »Es gibt niemanden in England, der mir das nachmacht«, sagte er. »Sie glauben also auch, dass ich den Auftrag erledigen kann?«

»Sie können es schaffen«, antwortete Lorelli, ohne ihn anzusehen. »Vorausgesetzt, Sie behalten ruhig Blut.«

»Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen«, sagte Shapiro. »Meine Nerven sind in Ordnung. Aber wie steht es mit dem Geld? Ich brauche jetzt gleich welches.«

Sie sah ihn überrascht an. »Sie werden bezahlt, wenn er tot ist. Und keine Minute früher«, gab sie zurück und stand auf. »Morgen Nacht um halb zwölf werde ich in der Athens Street 25 sein. Sie werden mir dann genauen Bericht geben.«

Shapiro wollte noch etwas sagen, ließ es aber sein, als Crantor eine drohende Bewegung machte.

»Ich habe noch einiges zu erledigen«, fuhr Lorelli fort, »und muss jetzt gehen. Ich werde Sie morgen Mittag Wiedersehen. Meinen Mantel, bitte.«

Crantor ging ins Badezimmer und brachte Regenmantel und Hut. Keiner der beiden Männer sagte ein Wort, als sie den Südwester aufsetzte und vor dem Spiegel das Haar ordnete.

»Es darf nichts schiefgehen«, sagte sie, während sie ihren Regenmantel überzog.

»Es geht alles in Ordnung«, gab Crantor zurück.

Sie nahm ihren Koffer und ging zur Tür. »Sie sind dafür verantwortlich«, betonte sie und verließ das Zimmer.

Leise machte sie die Tür hinter sich zu.