Das weiße Nashorn - Markus Lutteman - E-Book
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Das weiße Nashorn E-Book

Markus Lutteman

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Beschreibung

In einem schwedischen Zoo wird ein Nashornweibchen blutüberströmt aufgefunden, die beiden Hörner gewaltsam entfernt. Drei Männer finden sich mit einem Mal in einem weltumspannenden Netz aus Schmuggelkartellen und korrupten Diplomaten wieder: ein internationaler Rockstar, der seine innere Leere nicht mehr erträgt, ein afrikanischer Farmer, der seine Kinder nicht mehr ernähren kann, und ein junger Vietnamese, der alles tun würde, um die Frau seines Herzens zu erobern. Es ist eine Jagd, der niemand entkommt – und bald ist nicht mehr klar, wer Jäger und wer Beute ist …

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MARKUS LUTTEMAN ist Autor und Journalist, zuletzt erschien sein Krimi »Die Fährte des Wolfes«. Für die Recherchen zu seinem neuen Thriller bereiste er jene Gegenden Südafrikas, die am stärksten von der illegalen Jagd auf Nashörner betroffen sind. Er interviewte zahlreiche Experten und zeltete selbst in der Wildnis. Viele der Szenen im Buch basieren auf realen Begebenheiten.

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Markus Lutteman

Das weiße Nashorn

Thriller

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Blodmåne« bei Bookmark Förlag, Stockholm.
Die Liedzeilen von Marilyn Manson auf siehe stammen aus dem Song »Third Day Of A Seven Day Binge« vom Album The Pale Emperor.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © Markus Lutteman 2016 by Agreement with Grand Agency Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: www.buerosued.de Covermotiv: Mauritius images/United Archives Redaktion: Sabine Thiele Satz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN 978-3-641-21789-1V003
www.penguin-verlag.de

Für Hanna und Agnes

Menschen, die lebenden Tieren aus rein finanziellem Interesse Körperteile abhacken, platzieren sich damit am untersten Ende der Gesellschaft.

Richard Peirce, Vorsitzender der Shark Conservation Society

Das größte Unglück des Nashorns ist es, dass es ein Vermögen auf der Nase trägt.

Lee M. Talbot, renommierter Ökologe und ehemaliger Generaldirektor der IUCN

Tierpark Kolmården, Schweden

Der kalte nächtliche Regen prasselt auf ihre Schirmmütze. Es dauert einen Augenblick, bis Alva Axelsson begreift, warum sie abrupt stehen geblieben ist. Dunkle, schlammige Rinnsale strömen an ihren Schuhen vorbei, spülen Halme und Kraftfutter den Hang hinunter. Und noch etwas.

Einen Zigarettenstummel.

Sie dreht dem grauen Stallgebäude den Rücken zu und folgt dem durchweichten Zigarettenrest mit dem Blick. Keiner der anderen Tierpfleger raucht, von wem stammt er dann? Vielleicht von einem der Journalisten, die am Abend durch den Tierpark geführt worden waren. Irgend so ein Idiot, der nicht fähig war, seine Zigarette in einen Mülleimer zu werfen.

Die Medien werden immer hysterischer, haben panische Angst, etwas zu verpassen. Dabei sind es noch zwei Monate. Alva und ihre Kollegen haben sich auf ihrem morgendlichen Meeting gestern unten im Kolosseum darüber unterhalten. Haben die Vorgehensweise besprochen, wie sie mit dem bevorstehenden Ansturm umgehen sollten.

In der Presseabteilung wehte bereits ein ganz anderer Wind. CNN rief praktisch jeden Tag an und nervte, die großen schwedischen Boulevardzeitungen ebenfalls. Bisher hatte man aber nur National Geographic und David Attenboroughs Filmteam von der BBC Zutritt gewährt.

Es ist schon Wahnsinn, dachte Alva, dass diese einzigartige Geburt ausgerechnet hier stattfinden wird.

Als der Tierpark Kolmården vor einem Jahr die Neuigkeit verkündete, dass Zoela trächtig ist, hatten die Medien das Gelände belagert. Alva hatte das Verhalten der gestressten Kamerateams weit mehr fasziniert als so manches, was sie bei den Tieren im Park beobachtet hatte. Aber natürlich verstand sie die Aufregung auch. Bei den düsteren Nachrichten über den weltweiten Bestand an Nashörnern war man froh um jeden Hoffnungsschimmer – und den gab es dank Zoela jetzt.

Die gute alte Zoela, eines der vier letzten noch lebenden Nördlichen Breitmaulnashörner. Dass sie in ihrem hohen Alter noch schwanger geworden war, war eine Weltsensation.

Die Versuche mit den beiden anderen Kühen im Reservat in Kenia waren gescheitert, und auch bei Zoela sah es zuerst sehr schlecht aus. Aber am Ende hatte die dreiundzwanzigjährige Nashornkuh auf die Behandlung angesprochen, und als die ersten Ultraschallbilder einen Embryo zeigten, hatte der Direktor des Tierparks die Champagnerkorken knallen lassen.

Ein lautes Scheppern aus dem Stall lässt Alva zusammenzucken.

War es eines der Nashörner, das gegen sein Gatter trat? Das passte gar nicht zu ihnen, schon gar nicht um halb drei in der Nacht.

Mit schnellen Schritten läuft sie hoch zum Stall. War es der Nachtwächter? Aber doch auch nicht um diese Uhrzeit, oder? Laut Plan hätte er seinen letzten Rundgang vor über zwei Stunden machen müssen.

Um diese Zeit übernimmt Alva die Aufsicht. Sie hat eingewilligt, ihre Schicht in den letzten Wochen vor der Geburt um ein paar Stunden vorzuverlegen und hat damit auch überhaupt keine Probleme. Das sind ihre Lieblingsstunden, wenn sie frühmorgens mit den drei Nashörnern allein ist. Wenn sie die Boxen ausmistet, frisches Heu verteilt, nach dem Rechten sieht und sich dann einfach zu ihnen setzt und den schwerfälligen und friedvollen Bewegungen dieser gewaltigen, urzeitlichen Tiere zusieht. Ihrem zufriedenen Schnauben lauscht, wenn sie mit ihren Hörnern im Stroh wühlen.

Sie legt die Hand auf die regennasse Türklinke und will sie herunterdrücken, als die Tür mit großer Wucht aufgestoßen wird und sie zurücktaumelt.

Sie fällt mit dem Rücken in eine Pfütze, prallt mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden auf und spürt, wie das kalte Wasser durch ihre Kleidung dringt, während zwei Gestalten in dunklen Hosen und Turnschuhen über sie hinwegspringen und davonrennen.

Was zum …

Sie rappelt sich auf und stolpert hinterher, aber dann wird ihr schwarz vor Augen, und sie stürzt wieder. Verdammt. Sie hört, wie die Schritte sich den Hang hinunter entfernen und zwingt sich auf alle viere.

Wer war das? Was hatten die hier zu suchen?

Sie brüllt den Flüchtenden hinterher, sie sollen stehen bleiben, wird aber von einem Schrei aus dem Stall übertönt. Ein schriller, gellender Schrei. Als würde ein Ferkel zu Tode gequält werden.

Zoela?

Alva richtet sich mühsam auf und taumelt durch die offene Tür. In den vorderen Boxen stehen Imfolozi und Namakula und stampfen unruhig. Sie haben die gewaltigen Köpfe in den Nacken geworfen, starren Alva aus ängstlichen Augen an und weichen vor ihr zurück, als sei sie eine Fremde.

Alva stürzt zu Zoelas Box. Sieht ihren Rücken durch die Gitterstäbe. Das Nashorn liegt auf der Seite im Sand, und Alva hört, wie das Tier seinen Kopf hin- und herwirft, sieht, wie der ganze Körper dabei zittert.

Ist es etwa so weit? Setzt die Geburt ein?

»Wie geht es dir, Süße?«, fragt Alva und schiebt sich zwischen den dicken Metallstangen der Box hindurch.

Dann bleiben ihr die Worte im Hals stecken. Sie schlägt die Hände vor den Mund und bleibt wie erstarrt stehen.

Solche Bilder hat sie schon mal gesehen. In Zeitungen, im Fernsehen und bei Seminaren. Aber sie hätte nie gedacht, es einmal selbst erleben zu müssen.

Sie will die Augen schließen – und so das Bild ungeschehen machen –, aber sie kann den Blick nicht von der langen, blutigen Fleischwunde an der Stelle lösen, an der vorher Zoelas Hörner waren. Sie sieht furchtbar aus, als hätte jemand mit einem stumpfen Messer in das Fleisch gehackt und so versucht, die Hörner herauszuschneiden, das große, lange und auch das kleine dahinter.

Zoela schreit erneut, so schrill, dass es wehtut. Das Tier wirft seinen Kopf hin und her, schlägt gegen die Betonwand, ohne es zu merken. Das Blut läuft in die offen liegenden Nebenhöhlen, Zoelas Atem geht pfeifend und mühsam, als würde man einen erschöpften Läufer zwingen, durch einen Strohhalm zu atmen. Die Fleischwunde bewegt sich, wenn die mit Blut gefüllten Nebenhöhlen sich öffnen. Der süßliche, metallische Geruch steigt Alva in die Nase.

Sie legt eine Hand auf die raue, warme Haut des Tieres. Spürt, wie sich sein Körper mit jedem Atemzug hebt und senkt, spürt das neue Leben, das sich darin bewegt. Das Kalb, das so viel bedeutet.

Dann fällt Zoelas Kopf schwer auf den blutgetränkten Sand und bleibt reglos liegen. Das Tier blinzelt langsam mit seinen grauen Augenlidern, kann kaum seine freundlichen, braunen Augen offen halten.

»Nein, nein, nein«, flüstert Alva und streichelt Zoela über den Hals, während sie mit der anderen Hand verzweifelt versucht, ihr Handy aus der engen, nassen Hosentasche zu ziehen.

Sie tippt eine Nummer, hält das Telefon ans Ohr und wartet. Tränen tropfen auf Zoelas runzelige Haut und bilden dunkle, runde Punkte.

»Komm schon, Süße«, flüstert sie. »Du musst kämpfen. Alles hängt von dir ab.«

New York City, USA

Rob Chazey sitzt mit verbundenen Augen auf dem weißen Sofa in der Hotelsuite, mit der Hand einer unbekannten Frau auf seinem Oberschenkel und einer Flasche Bier im Arm. Aus den tragbaren Marshall-Lautsprechern dröhnt »Highway To Hell« von AC/DC, aber er kann trotzdem die aufgedrehte Stimmung hinter seinem Rücken hören. Seine Kollegen hantieren offensichtlich mit diversen Gegenständen, reißen Klebeband ab und albern herum.

»Bist du gar nicht neugierig?«, fragt die junge Frau neben ihm.

Sie duftet nach einem sommerlichen Parfüm und fährt vorsichtig mit ihren spitzen Nägeln über seinen tätowierten Arm. Er wäre auch gern so aufgekratzt und erwartungsvoll.

Eigentlich sollte er es sein.

In den vergangenen Monaten hatte er sich diese Szene immer wieder vorgestellt. Hatte sich auf dem Tisch in genau dieser Luxussuite in dieser Nacht stehen sehen, Champagnerflaschen schüttelnd und vor Glück, Erleichterung und befriedigten Rachegefühlen brüllend. Er hatte sich den Genuss vorgestellt, wie es sein würde, sein Ziel endlich erreicht zu haben. Diese Band weiter gebracht zu haben, als er es sich hätte vorstellen können. Und zwar in die oberste Liga, wo andere große Bands darum bettelten, die Vorband von ObstiNation sein zu dürfen statt andersherum.

Er will so gerne die Euphorie dieses Erfolgs spüren. Innerlich explodieren. Aber er fühlt sich nur leer. Müde. Genervt.

»Mann, halt fest!«, hört er Wakko hinter sich brüllen.

»Was für ein geiler Schwanz!«, sagt TT Bones beeindruckt.

Rob schließt die Augen hinter seiner Binde. Was hatten sich die beiden kranken Idioten da wieder ausgedacht?

Er nimmt ein paar Schlucke von seinem Bier. Die Silberkette, die zwischen Ohr und Nasenflügel hängt, stößt leise klirrend gegen den Flaschenhals. Am liebsten würde er das Bier hinunterstürzen und sich so schnell wie möglich besaufen, aber nach wenigen Schlucken ist Schluss, als würde das Bier weit oben in der Kehle hängen bleiben und dort herumschwappen.

Sie hatten mehrere Tage am Stück gefeiert. Oder vielmehr die Intensität einer Party verstärkt, die schon seit Monaten im Gange war. Und es war immer noch nicht vorbei. Morgen sollte ein großes Bankett mit allen an der Tour Beteiligten stattfinden. Übermorgen waren die Bandmitglieder Ehrengäste auf einer schicken Rockgala, und am Tag darauf fand irgendetwas auf Long Island statt.

Rob fühlt sich wie in einer angstgetränkten Liedzeile von Marilyn Manson.

We’ve only reached the third day

of a seven day binge

Erneut setzt er die Flasche an die Lippen. Zwingt sich zu weiteren Schlucken und hört dem Lärm hinter sich zu. Auf den Sofas neben ihm lungern Roadies und Tontechniker zusammen mit dem Starproduzenten Stef Wagner und dem Manager Gus Wilsbury herum, außerdem ein paar Aufschneider von der Plattenfirma in Anzug und vier Silikontussis, deren Namen er nicht weiß.

»Hier, Rob. Streck mal eine Hand aus«, hört er Gus sagen.

Rob hebt suchend seine Hand und spürt eine kalte Bierflasche in der Handfläche.

»Oder willst du lieber Schampus haben?«

»Nein, Bier ist okay.«

Gus stößt mit ihm an.

»Auf einen Triple, der sich gewaschen hat«, sagt er.

»Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen, das weißt du, oder?«, antwortet Rob.

Gus klopft ihm auf die Schulter, und Rob sieht sein Lächeln und die warmen Augen geradezu vor sich. Wie er sich durch das dünne Haar streicht und seine schlecht sitzenden Chinos hochzieht, bevor er seine beeindruckende Leibesfülle wieder ins Sofa fallen lässt.

Gus Wilsbury, der unermüdliche Manager der Band ObstiNation, das Mädchen für alles. Alleskönner, Ersatzpapa, Therapeut, Finanzchef. Das Über-Ich der Band, der Kitt, der die vier dysfunktionalen Jungs zusammenhielt. Dreiundfünfzig, ursprünglich aus Birmingham. Hat fast die Hälfte seines Lebens auf Tour verbracht und erzählt oft und gerne davon, dass früher alles viel besser, verrückter und lustiger war, als man das auf Tour eingenommene Geld gleich wieder ausgab, statt seinen Lebensunterhalt damit zu finanzieren.

Das bringt die Jungs in der Band regelmäßig zur Weißglut. Vor allem Wakko und TT Bones, die sich die meiste Mühe geben, so wild wie möglich zu sein.

Das Mädchen neben Rob drückt die Lippen an seinen Hals. Reibt und kratzt mit ihren Nägeln fest an seiner Lederhose, wandert langsam zur Leiste hoch. Er befürchtet schon, dass sie seine Hose zerreißt. Zwölfhundert Dollar hat er dafür bezahlt. Sie ist sein Lieblingsstück, aus Chevreauleder, der fein gegerbten Haut einer jungen Ziege, ein Schneider auf dem Sunset Boulevard hat sie für ihn gemacht. Und sie sitzt wie eine zweite Haut.

Die Anlage wird ausgeschaltet, jemand nähert sich von hinten und legt seine knochigen Hände auf Robs Schultern.

»Jetzt darfst du dich umdrehen«, sagt Ahsanullah Sufyan Asif.

Rob nimmt die Augenbinde ab und dreht sich um. Mitten in der Suite steht ein schwankender Wischmopp auf dem Kopf, an dem jemand waagrecht mit Klebeband einen Besen befestigt hat. Das ganze Gebilde ist mit Rosen verziert und hängt an einer Schnur vom Kronleuchter an der Decke.

An den Enden des Besens baumelt je eine Klobrille.

Die drei anderen Bandmitglieder stehen stolz neben ihrem Kunstwerk und sehen Rob erwartungsvoll an.

»Jetzt kannst du dich endlich wie zu Hause fühlen«, sagt Wakko mit einem breiten Lächeln und schiebt sich seine dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht.

Erst da begreift Rob, worum es geht und sinkt zurück aufs Sofa. Verzweifelt schüttelt er den Kopf. Nein, nein, nein. Nicht das jetzt.

Mehrere Hände packen ihn und wollen ihn hochziehen, wogegen er sich wehrt.

»Seit über zwei Jahren warten wir auf den schwedischen Pimmeltanz«, ruft Wakko aufgekratzt.

Jubel und Gelächter von der Runde auf den Sofas.

»Der heißt Froschtanz«, sagt Ahsanullah.

»Sie tanzen um einen Schwanz, das ist das Wichtigste. Das habe ich selbst auf YouTube gesehen. Kinder machen auch mit. Das ist total krank.«

»Darum seid ihr da oben auch alle so sexbesessen«, fügt TT Bones hinzu. »Das kommt davon, wenn man in seiner Kindheit schon einen knallharten Schwanz anbetet, der wie ein Gott tief in dem feuchten, fruchtbaren Boden steckt und dessen Eier mit Laub geschmückt sind und für alle sichtbar in der Luft herumbaumeln.«

Bilder von ihrer ersten Tour tauchen auf. Rob erinnert sich, wie er in einem kleinen Hotelzimmer in einem Holiday Inn, irgendwo in Iowa, plötzlich angefangen hatte, zu dem Mittsommerlied »Små grodorna« – »Kleine Frösche« – zu tanzen, um das Ende der Tour zu feiern, bei der sie in dreizehn US-Staaten aufgetreten waren.

Das Ende der zweiten Tour wurde ebenfalls so begangen, und seitdem hatte man diese Tradition beibehalten. Es war ihm tatsächlich gelungen zu verdrängen, dass es jetzt wieder so weit sein würde. Vielleicht weil dieses Mal alles viel größer war als sonst. Unfassbar viel größer. In dem vergangenen halben Jahr war der Band ObstiNation eine Stadt nach der anderen zu Füßen gelegen. Zuerst die europäischen Konzertstädte wie London, Berlin, Barcelona und Mailand. Dann war es weitergegangen in Asien und Lateinamerika, und am Ende waren sie wieder in die USA zurückgekehrt, um in ausverkauften Arenen in Los Angeles, Las Vegas, Miami und Chicago zu spielen. Und dann der Abschluss, das große Finale: drei ausverkaufte Abende im Madison Square Garden.

Das wollte ich immer erreichen, denkt Rob. Warum kann ich es dann nicht genießen?

Seine Bandkollegen klatschen rhythmisch.

»Tanzen! Tanzen! Tanzen!«

Jetzt lässt er sich doch vom Sofa ziehen, zwingt sich zu einem Grinsen und sagt:

»Okay, okay. Ich mache es. Aber keiner von euch filmt das. Verstanden?«

»Alles in Ordnung, Baby«, beruhigt ihn ein rothaariges Mädchen mit einem kerzengeraden Pony und steckt ihr iPhone in Glitzerhülle demonstrativ in ihre Handtasche. »Wir wollen doch alle mittanzen, beim Pimmeltanz.«

Wakko geht bei dem Lautsprecher in die Hocke und blättert durch die Playlist auf seinem Handy.

Erst ertönt ein Klavierintro, dann stimmt eine Kinderstimme nach zwei Takten ein:

»Små grodorna, små grodorna är lustiga att se …«

Kleine Frösche, kleine Frösche sind so lustig …

Alle in der Hotelsuite klatschen in die Hände, stampfen mit den Füßen und singen die für sie unverständlichen Worte mit. Rob geht zu den in Form geklebten Putzutensilien, die eine Mittsommerstange darstellen sollen, und würde am liebsten einfach das Zimmer verlassen. Aber stattdessen geht er in die Hocke, dreht sich zu den anderen und brüllt:

»Seid ihr bereit, Motherfucker?«

Die anderen grölen und reißen die Arme in die Luft. Rob springt vor und singt mit, während die anderen hinter ihm eine lange Polonaise bilden. Sie hüpfen mit geschlossenen Beinen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und singen: »Qu-ack ack ack, qu-ack ack ack, qu-ack ack ack ack aaa …« Ab da entgleist alles, wie es zu so einem Abend vielleicht ja auch gehört. Die Stange kippt um, Wakko und TT Bones begießen sich mit Bier, dann stürzt TT Bones ins Badezimmer, kommt mit einer Flasche Haarspray zurück, hält das Feuerzeug vor den Sprühkopf und zielt mit einer großen Stichflamme auf den fliehenden Wakko.

Aber da hat Rob schon längst aufgehört zu tanzen. Er sitzt wieder auf dem Sofa, mit einem neuen Bier in der Hand und hat das Gefühl, er befände sich in seiner eigenen kleinen Blase und würde von dort aus ein surrealistisches Schauspiel beobachten, mit dem er nichts zu tun hat.

Die Lautstärke wird aufgedreht, die Leute tanzen überall, im Doppelbett, auf dem Balkon, auf dem Tisch. Wakko, der vor der Stichflamme in den Flur geflüchtet ist, kommt mit einem Feuerlöscher zurück. Überall sind Flammen und Wasser, es riecht verbrannt, und kurz darauf schalten sich sowohl der Feueralarm als auch die Sprinkleranlage ein. Alle schreien durcheinander, suchen ihre Jacken, Handtaschen und kleinen durchsichtigen Tütchen, und wenige Minuten später steigt Rob zusammen mit Gus Wilsbury, den anderen Bandmitgliedern und ein paar von den Mädchen in eine wartende Limousine.

TT Bones, der als Letzter das Hotel verlässt, springt wie beim Stagediving in die geöffnete Tür des Wagens und bekommt von Ahsanullah und Wakko sofort eine Bierdusche verpasst.

»Okay, wo soll es hingehen?«, brüllt er, während die weiße Limousine anfährt.

Rob sieht durch die regennassen Fenster und beobachtet die bunten Reflexe der Neonlichter auf dem nassen Asphalt.

Ja, wo soll es jetzt hingehen?

Massingir, Mosambik

Daniel Tamele kniet auf dem festgestampften Lehmboden, platziert die Ahle auf dem zerschlissenen Ledergürtel und schlägt mit dem Hammer zu. Der aufwirbelnde Staub tanzt im Licht der Morgensonne, die durch einen Spalt in der Hüttenwand scheint.

Er hebt den Hammer ein zweites Mal und schlägt zu. Die Spitze der Ahle dringt durch das Leder, er nimmt den Gürtel auf und bohrt und drückt die Nadel in das Loch, um es zu weiten.

»So. Probiere ihn jetzt nochmal an«, sagt er und gibt ihn seinem Sohn.

Der Achtjährige zieht den Gürtel durch die Schlaufen seiner Hose und zieht ihn fest zu. Dann hüpft er ein paarmal prüfend auf und ab, rennt schließlich zufrieden aus der Hütte und übt weiter Tricks mit seinem Ball.

Daniel ruft seine Tochter Maia, die hinter der Hütte ihrer Mutter beim Aufhängen der Wäsche hilft. Sie eilt sofort herbei, den Rucksack schon auf dem Rücken und das schöne dunkle Haar zu einem dicken Zopf geflochten.

»Hat Abel sein Arbeitsbuch eingepackt?«, fragt sie.

Daniel wirft einen Blick zur Kleiderstange, dort hängt der Rucksack, und tatsächlich liegt auch das Buch darin. Aber nichts zu essen. Es gab nicht einmal etwas Obst.

Er steckt seinen Kopf durch die Tür und ruft:

»Abel. Es wird Zeit.«

Der Junge seufzt und läuft wortlos zur Hütte. Er legt den Ball neben die Tür und setzt den Rucksack auf, den sein Vater ihm hinhält.

»Wart ihr auf der Toilette?«, fragt Daniel.

Beide Kinder nicken.

Er nimmt sie an die Hand, und sie gehen los. Ein Toyota Land Cruiser kommt ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegen, und Daniel zieht Maia zu sich. Der Fahrer trägt eine große Sonnenbrille und hat den Ellbogen lässig auf den Fensterrahmen gelegt. Sein Kopf wippt im Takt zur lauten Rapmusik, die aus dem Wagen dröhnt, aber er verzieht keine Miene, als er in zwei Meter Abstand an ihnen vorbeibraust.

Als würde er mich nicht mehr kennen, denkt Daniel und sieht dem Wagen hinterher, während sie ihren Weg fortsetzen. Als wären wir nicht die besten Freunde gewesen, als hätten wir in unserer Kindheit nicht unendlich viele Abende zusammen am Damm gesessen und geangelt, als hätten wir nie selbst gebrautes Maisbier aus alten Plastikflaschen getrunken und über die Mädchen aus dem Nachbardorf geredet.

Es ist lange her, dass er das letzte Mal angeln war. Viel zu lange. Er vermisst es sehr, einfach nur am Wasser zu sitzen und dem hüpfenden Styroporköder zuzusehen und alle Sorgen zu vergessen. Er vermisst es, den Ruck in der selbst geschnitzten Angel zu spüren, wenn ein Fisch angebissen hat. Vielleicht ein Tigersalmler. Oder ein Karpfen.

»So ein Auto will ich auch haben, wenn ich groß bin«, sagt Abel.

Daniel schweigt. Sie gehen an ein paar Hütten vorbei, die so aussehen wie ihre, dann aber erhebt sich Ishaan Chirindzas zweistöckiges Haus wie ein riesiger Betonkoloss hinter der erst vor Kurzem errichteten Backsteinmauer. Die getönten Fensterscheiben sind mit einbruchssicheren Gittern versehen, und Daniel fragt sich die ganze Zeit, wie es wohl im Inneren des Hauses aussieht. Ein Nachbar behauptet, dass in jedem Stockwerk ein Fernseher steht und das Wohnzimmer mit Teppich ausgelegt ist. Es wird sogar gemunkelt, dass sich Ishaan eine Heizung hat installieren lassen, damit es in dem Haus auch in den kalten Wintermonaten warm ist.

Als sie am Tor vorbeigehen, sieht Daniel einen anthrazitgrauen Nissan Navara in der Einfahrt stehen. Das neueste Modell.

Wie schnell das gegangen ist. Mit den neuen Autos und dem Luxus.

Und der Kriminalität.

Vor vier oder fünf Jahren hätte er seine Kinder nicht zur Schule begleiten müssen. Damals gab es noch keine großen Autos, die rücksichtslos über die Wege rasten. Vor allem gab es noch keine Drogen. Mittlerweile kommt es vor, dass junge Männer vor der Schule stehen und versuchen, die Kinder als Kokaindealer anzuwerben. Das hatte es früher nur in Maputo und Beira gegeben.

Als sie die Schule erreichen, steht die Lehrerin schon da und ruft die Kinder zum Unterrichtsbeginn. Abel und Maia umarmen ihren Vater und rennen in das Schulgebäude aus rohem, unverputztem Beton.

Es ist leer und still auf dem Schulhof. Ein Fensterladen hängt nur noch an einer Angel und quietscht leise im Wind.

Da hört Daniel Hammerschläge und dreht den Kopf. Zu Gitos Haus, dem größten im Ort. Er war einer der ersten, der zu Geld kam und sich ein Haus mit zwei Etagen baute. Aber im Gegensatz zu vielen anderen spricht er nach wie vor mit Daniel.

Daniel erinnert sich an ihr Gespräch letzte Woche. Er war bei Gito stehen geblieben und hatte ihn gefragt, ob er gerade ein zweites Haus für seine Cousins bauen würde. Da hatte Gito gelacht und gesagt, dass es eine Garage für seine beiden Autos würde.

»Ich will die Garage nachts abschließen können. Hier in der Gegend gibt es mittlerweile so viele Diebe«, hatte er erklärt und Daniel dabei zugezwinkert.

Dann hatte er Daniel auf ein kaltes 2M eingeladen. Für Daniel war es das erste Bier seit fast einem Jahr, und es hatte fantastisch geschmeckt. Sie hatten im Schatten unter dem Marula-Baum gesessen, aus den braunen Glasflaschen getrunken und über Familie und Verwandte geredet, über die Dürre und die inkompetente Regierung. Dann hatte Gito Daniel mit ernster Miene angesehen und gesagt:

»Wird es nicht auch für dich langsam Zeit, Daniel, ein bisschen Geld zu verdienen? Die Kunden stehen Schlange. Die Nachfrage ist so groß wie nie zuvor.«

Daniel war auf seinem Stuhl unruhig hin- und hergerutscht.

»Ich habe doch die Zusage, dass ich bald als Touristenführer anfangen kann. In dem neuen, großen Reservat.«

Die Politiker hatten auf einer großen Jahresversammlung im Ort vor ein paar Jahren großes Aufhebens darum gemacht. Der Great Limpopo Transfrontier Park. Er sollte den Kruger Nationalpark in Südafrika mit dem Nationalpark Limpopo in Mosambik sowie dem Gonarezhou Nationalpark in Simbabwe vereinen und damit zum größten und vorbildlichsten Naturschutzgebiet der Welt werden.

Gito hatte Daniels Einwand mit einer Geste weggewischt.

»Das mit dem Tourismus ist doch alles Unsinn. Wie lange reden die schon davon? Seit zehn Jahren, fünfzehn? Hast du in letzter Zeit einen Touristen hier in der Gegend gesehen?«

Daniel hatte den Kopf geschüttelt.

»Siehst du. Außer der Tatsache, dass ein Haufen von Leuten ihr Zuhause verlassen musste, ist nichts passiert. Vollkommen sinnlos. Und wenn Touristen kommen sollten, was sollen die sich denn ansehen? Hier gibt es doch gar keine Tiere mehr. Das weißt du ja selbst. Du bist einer der besten Jäger in der Stadt. Wann hast du das letzte Mal etwas erlegt?«

»Ja, das ist lange her.«

Gito hatte sein Portemonnaie aus schwarzem Leder aus der Hosentasche geholt und einen lila Schein auf den Tisch gelegt. Zwanzig Meticais. Dann hatte er mit dem Zeigefinger auf das Nashorn getippt, das auf der einen Seite abgebildet war.

»Das ist im Moment von Interesse. Da liegt das Geld. Und es ist wie gemacht für einen so guten Fährtenleser wie dich.«

Gito hatte einen großen Schluck aus seiner Flasche genommen und sich vorgebeugt.

»Daniel, mein Freund, ich weiß doch, wie es dir und deiner Familie geht. Ein einziges Nashorn würde dein Leben für immer verändern.«

Daniel hatte den Geldschein lange angesehen. Er war glatt und sah edel aus, nicht wie die Scheine, die er zu Hause in der Blechbüchse aufbewahrte. Wenn er überhaupt mal welche hatte.

»Ich gebe dir zweihunderttausend für zwei Hörner«, hatte Gito gesagt. »Das ist deutlich mehr, als dieser Geizhals Ishaan deinem jungen Cousin zahlen wird, wenn er aus Südafrika zurückkommt.«

Gito hatte mit dem Geldschein vor Daniels Nase herumgewedelt.

»Überleg es dir, Daniel. Zehntausend von diesen hier. Deine Kinder müssen nie wieder ohne Essen in die Schule gehen.«

Es ist still. Vielleicht machen die Arbeiter eine Pause und bekommen von Gito ein Bier spendiert.

Daniel wendet sich um und geht nach Hause. Dabei denkt er an Gitos Angebot und daran, was er mit dem Geld alles machen könnte.

Und er denkt an seinen Cousin Jomo, der vor vier Tagen mit zwei anderen abenteuerlustigen jungen Männern aufgebrochen war. Er hatte schon vor seiner Abreise das Haus entworfen, das er sich von dem Geld bauen würde. Und eine Bar.

»Und du kannst dann dort arbeiten, wenn sie steht«, hatte Jomo ihm vor der Abfahrt versprochen.

Aber Daniel mag nicht so recht daran glauben. Jomo redet immer viel. Aber er wünscht es sich trotzdem. Ihm würde es gefallen, in einer Bar zu arbeiten und die Gäste zu bedienen. Mit ihnen zu reden, ihnen zuzuhören.

Es raschelt neben ihm, als ein Windstoß das trockene Laub auf dem Feld aufwirbelt. Daniel sieht hoch in den Himmel. Im Westen türmen sich die Wolken auf. Vielleicht wird es doch noch regnen. Vielleicht würde die Erde seiner Familie doch das geben, was sie brauchte.

Hanoi, Vietnam

Der Regen trommelt so laut auf das Dach des Lagerraums, dass Than Vu Schwierigkeiten beim Zählen der Gelbköpfigen Tempelschildkröten hat, die er in den Karton schüttelt.

24 … 25 … 26.

Ein weiteres Mal beugt er sich über die Holzkiste und füllt seinen Eimer. Er atmet durch den Mund, um den Gestank der Tiere nicht riechen zu müssen.

48 … 49 … 50.

Dann verschließt er den Karton, klebt ihn mit einem breiten Packband zu, sticht mit dem Messer ein paar Löcher hinein und befestigt den Zettel mit dem Namen und der Adresse des Restaurants darauf. Danach schiebt er den Karton zu den anderen, die ebenfalls heute noch ausgeliefert werden müssen. Die Schildkröten sind von der groben Behandlung munter geworden, und er hört, wie sie sich im Dunkel des Kartons bewegen.

Than Vu riecht an seinen Händen. Obwohl er keines der Tiere berührt hat, haftet ihnen ihr Geruch an.

An einigen Abenden, wenn er zwölf Stunden im Lager geschuftet hat, fühlt es sich an, als hätte sich der Gestank in seine Haut geätzt. Dann kann er sich dreimal hintereinander einschäumen, sich mit der Wurzelbürste abschrubben und riecht immer noch nach Sumpf und vergorenem Fisch. Wie in der Hütte eines armen Fischers.

Mitten im Raum bleibt er plötzlich stehen, neigt den Kopf, um besser hören zu können. Das Hämmern des Regens auf das Wellblechdach geht über in ein leichtes Prasseln.

Er hört die Stimme seines Vaters.

Hinter dunklen Wolken wartet immer die Sonne darauf, wieder scheinen zu dürfen.

Die Zeit ist gekommen, denkt er und lächelt. Die Sonne wird jetzt endlich auch für ihn scheinen. In drei Tagen darf er an einer wichtigen Geschäftsreise nach China teilnehmen. Er soll eine Lieferung überwachen, die mehrere Millionen wert ist. Er erinnert sich genau, was Lillen gesagt hat, als er ihm die sehnsüchtig erwartete Nachricht überbracht hat.

»Wenn alles gut klappt, dann wartet ein satter Bonus auf dich. Und neue Aufgaben.«

Lillen war sein alter Kumpel aus Kindheitstagen. Damals: ein dürrer Spätzünder, der seine Freizeit damit verbrachte, Schach und Backgammon zu spielen. Heute: ein hochgewachsener Mann, der sich mit Hemden aus ägyptischer Baumwolle schmückt, sich mit schönen Frauen umgibt, einen nagelneuen, glänzenden Audi fährt und eine hohe Position in einem der Syndikate innehat.

Der Typ von Mann, den Than Vu seinen Freunden vorspielt. Der Typ von Mann, der er heute Abend sein will.

Er reibt sich mit der einen Hand im Nacken, holt mit der anderen sein Samsung-Handy aus der Tasche und ruft Facebook auf. Das Display ist so zersprungen, dass er kaum etwas lesen kann. Aber immerhin kann er erkennen, dass ihm bisher dreiunddreißig Leute zu seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gratuliert haben. Er scrollt durch die Namen. Alle geladenen Gäste gehören zu den Gratulanten.

Außer Phuong.

Aber sie hatte gesagt, dass sie auch kommen würde. Das hatte zumindest Kim Ly ihm erzählt, ihre beste Freundin. Vielleicht hebt sie sich die Glückwünsche für später auf.

Die schöne, sich zierende Phuong. Vielleicht hat sie ja eine Überraschung für ihn? So, wie er eine für sie hat.

Der Regen ist mittlerweile nur noch ein leises, fast friedliches Picken, als würden Hühner auf dem Dach herumtrippeln und nach Körnern suchen.

Jetzt ist die Zeit gekommen. Seine Zeit.

Er sieht auf die Uhr und schiebt das Handy zurück in die Tasche. Er muss sich beeilen, damit er die Überraschung rechtzeitig besorgen kann. Die Überraschung, die seine Gäste beeindrucken und Phuong dahinschmelzen lassen wird. Er hat schon ein paar diffuse Andeutungen verbreitet, was sie erwartet. Hat dafür gesorgt, dass geredet wird.

Er beugt sich über den rissigen Holztisch und liest den nächsten Auftrag: zwei Kisten mit Schuppentieren für das Restaurant Rainbow Garden.

Er läuft an den Reihen gestapelter Kisten unterschiedlichster Größe vorbei, stößt mit der Schulter gegen einen Sack mit vakuumverpackten Eidechsen, der an einem Haken an der Decke hängt, und zerrt schließlich zwei große Plastikbehälter mit perforiertem Deckel aus der Ecke. Wenn diese beiden verkauft sind, ist nur noch eine Kiste im Lager. Er darf nicht vergessen, Lillen Bescheid zu sagen.

Er öffnet eine der Kisten und zählt die blauen Säcke durch, in denen die Schuppentiere zusammengerollt liegen. Sonderbare Tiere. Vom Kopf bis zum Schwanzende mit harten Schuppen bedeckt. Sie sehen aus wie gigantische Artischocken. Aber sie bringen gutes Geld. Besonders diese hier, denn sie sind aus Tansania importiert. Er hat die Preise in den edlen Restaurants gesehen. Dreihundertfünfzig Dollar das Kilo. Dazu kommen noch Einnahmen von den Panzern, die Than wahrscheinlich säubern, trocknen und verpacken muss, damit sie nach China verkauft werden können, als eine Art Naturmedizin gegen alles Mögliche, von Entzündungen über Kreislaufschwäche bis hin zu eingewachsenen Wimpern.

Er schiebt die Kiste vor sich her zu den anderen Lieferungen und dehnt den Rücken. Dann liest er den nächsten Punkt auf der Liste.

Zwanzig Monokelkobras für das Restaurant des Hotel D’Or.

Verdammt. Er hasst Kobras. Eine ist ihm einmal runtergefallen, und er musste das halbe Lager ausräumen, bis er sie endlich gefunden hatte, und bei jedem Karton, den er bewegen musste, hatte er panische Angst gehabt, von ihr gebissen zu werden.

Er muss an die Anekdoten seines Vaters denken, wie dieser in seiner Kindheit im Mekongdelta mit einem Freund durch die Sümpfe gelaufen war und die Kobras mit bloßen Händen gefangen und in Stoffsäcken transportiert hatte.

»So habe ich mein erstes Geld verdient«, hatte sein Vater immer erzählt. »Ich habe die Kobras an die Restaurants an der Landstraße verkauft.«

Der Tourismus hatte zugenommen. Die Ausländer waren begierig auf exotisches Essen und bereit, viel dafür zu bezahlen. Sein Vater hatte das richtige Gespür und das richtige Timing gehabt. Auch ein paar Jahre später, als er in die brodelnde Millionenmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt zog und als Immobilienmakler arbeitete. In einer Stadt, in der alles von guten Kontakten abhing, hatte es sein Vater aus eigener Kraft ganz nach oben geschafft. Er machte schnell Karriere, verdiente gut an den Provisionen, lernte eine junge Frau kennen, heiratete sie, zog mit ihr in eine Zweizimmerwohnung. Er sparte sich alles vom Mund ab, während ihr Bauch immer dicker wurde. Er sparte und sparte und sparte, um seiner kleinen Familie ein schönes Haus kaufen zu können.

Aber so weit kam es nicht. Als Than vier Jahre alt war, starb seine Mutter bei einem Verkehrsunfall, und sein Vater ließ alles hinter sich. Er nahm seinen Sohn und zog mit ihm in seine Lieblingsstadt Hanoi. Dort kaufte er eine große Wohnung mitten in der Stadt, in der er seinen Lebensabend verbringen wollte. Guten Reiswein trinken, lesen und das Leben genießen, wie er sagte.

Zwei Wochen vor seiner Pensionierung starb er an Leukämie.

Jetzt wohnt Than Vu in dieser Wohnung, die noch nicht ganz abbezahlt ist und deren monatliche Kosten auch nicht ganz ohne sind, doch er hat nicht vor, mit dem Genuss zu warten, bis seine Haut runzelig ist.

Er will jetzt leben.

Das heißt, wenn er in der Wohnung bleiben darf. Der Hausverwalter ist ständig hinter ihm her wegen unbezahlter Rechnungen.

Als würden haarige Spinnen in seinem Inneren herumkrabbeln. So fühlt es sich an, wenn er daran denkt, wie er das Erbe seines Vaters verprasst hat. Wie er das Geld verbraten hat, mit dem er sich ein Studium finanzieren sollte. Ein Semester BWL hat er geschafft. Dann hatte er keine Lust mehr und hat das Geld für etwas anderes ausgegeben. Teure Restaurants, Luxusgüter aus dem Westen. Er hat nur noch die Wohnung. Aber wie lange noch?

Eilig verdrängt er diese Gedanken. Es wird sich schon etwas ergeben. Nach seiner Chinareise wird er bei dem alten Sauertopf anklopfen, ihm ein dickes Bündel Dollarscheine für die unbezahlten Rechnungen hinwerfen und noch eines als Vorschusszahlung. Er wird ihm zeigen, dass man sich auf ihn verlassen kann.

So wie auf seinen Vater.

Er öffnet den Verschluss der Holzkiste und muss unweigerlich an eine Geschichte denken, die ihm ein Typ von einem Lager in Da Nang erzählt hat. Ein Kollege hatte eine Kiste mit Kobras geöffnet und zwischen den sich windenden Schlangen eine Leiche gefunden. Der Tote hatte offensichtlich Elfenbein gestohlen, um es auf eigene Rechnung zu verkaufen.

Aber das war bestimmt nur ein Gerücht.

Than Vu öffnet den Deckel mit einem Ruck. Etwa zehn Kobras heben ihren Oberkörper, zischen und spreizen ihren Nackenschild. Die anderen suchen Schutz am Boden der Kiste.

Er schiebt die Greifzange hinein. Die Kobras zischen den metallischen Eindringling an. Attackieren ihn.

Than Vu wartet ab. Dann stößt er schnell zu, packt die erste Kobra und steckt sie in den Sack. Er bemerkt nicht den Regen, der langsam wieder an Stärke zunimmt.

Tierpark Kolmården, Schweden

Alva Axelsson steht in der Tür zum Stall und starrt auf den regennassen Asphalt. Der Morgen ist dunkel und grau, die schweren Regenwolken hängen tief, die Luft ist drückend und erschwert das Atmen.

Noch immer ist keine Polizei in Sicht. Aber sie hat keine Kraft mehr, sich darüber zu ärgern.

Was macht es für einen Unterschied, ob sie jetzt noch kommen, drei Stunden später. Es ist zu spät. Viel zu spät.

Sie will gerade die Stalltür hinter sich schließen, als sie einen Motor hört und einen Streifenwagen sieht, der langsam den Weg entlangfährt.

Ein Mann, etwa kurz vor der Rente, und eine junge Frau Mitte dreißig steigen aus. Die Frau kommt sofort auf Alva zu und stellt sich als Cecilia Hermansson und ihren älteren Kollegen als Göran Danielsson vor. Dieser bewegt sich im Gegensatz zu ihr unglaublich langsam. Keuchend watschelt er wie eine Ente auf sie zu und antwortet auf Alvas Begrüßung mürrisch: »Was für ein Scheißwetter.«

Alva würde am liebsten antworten: »Wen interessiert das?«, aber stattdessen sagt sie nur: »Hier entlang.«

Göran Danielsson lässt sich alle Zeit der Welt. Zuerst schlägt er seine nasse Uniformmütze am Bein aus. Dann sucht er systematisch alle vier Jackentaschen ab, bis er ein Taschentuch findet, um seine Brille abzutrocknen. Unfähig, mehrere dieser Bewegungen gleichzeitig auszuführen.

Cecilia Hermansson sieht Alva mit einem entschuldigenden Blick an. »Verzeihen Sie bitte, dass Sie so lange warten mussten, aber das war eine irre Nacht. Wir hatten einen Mordversuch in Hageby und eine Massenkarambolage auf der E4. Wir konnten nicht schneller hier sein.«

»Wenn Sie zwischen einem Autounfall und einem Bankraub mit einem Schaden in Millionenhöhe wählen müssten, was hätten Sie getan?«

Cecilia sah sie überrascht an.

»Den Bankraub, aber warum …«

»Dann haben Sie sich heute für das Falsche entschieden«, sagt Alva und öffnet die Stalltür.

Der Eisengeruch hängt schwer in der Luft, und Imfolozi und Namakula sind noch immer sehr unruhig. Sie drücken sich in die hinterste Ecke ihrer Boxen und schnauben, als Alva und die beiden Polizisten in den Stall kommen.

Die hatten hier heute genug Fremde, denkt Alva.

Den ganzen Morgen schon sind Leute hinein- und hinausgerannt. Ein kleiner, lauter Traktor hatte Zoela in Bauchlage gedreht, damit sich ihre Lungen nicht mit Blut füllen.

Die Tierärzte hatten getan, was sie konnten. Zoela bekam schmerzstillende Mittel, eine Infusion, und sie konnten die Blutungen stoppen. Man holte sich telefonisch Rat bei Zoologen im Zoo Dvůr Králové in Tschechien und im San Diego Zoo in den USA.

Das Schlimmste war die Kugel. Sie hatte die Halswirbelsäule getroffen und das Nashorn gelähmt. Die Überlebenschancen waren mikroskopisch klein. Sollten sie versuchen, das Kalb jetzt schon zu holen?

Es wurde ein Noteinsatz vorbereitet, aber bevor sie irgendetwas unternehmen konnten, schlief Zoela für immer ein. Und im Inneren ihres mächtigen Körpers hörte auch das Herz des Nashornkalbes auf, zu schlagen.

»Oh Gott«, sagt Cecilia, als sie in die Box sieht.

Göran Danielsson watschelt heran und stellt sich neben sie.

Zoelas Kopf liegt auf ihren Vorderbeinen. Die Wunde an der Nase ist gereinigt worden und leuchtet in einem noch intensiveren Rot als vorher.

»Oh, verdammt«, flucht er. »Da wollte sich aber jemand eine echte Trophäe an die Wand hängen.«

Alva starrt ihn an.

»Hier ging es nicht um irgendeine Trophäe«, antwortet sie und spürt, wie die Wut wieder in ihr hochsteigt. »Hier wollte jemand Millionen verdienen.«

Göran Danielsson sieht sie belustigt an.

»Jetzt übertreiben Sie aber ein bisschen, junge Dame. Das ist doch nur ein Horn.«

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, wendet sich Alva an Cecilia.

»Ein Kilo Horn eines Nashorns ist in Vietnam im Moment mehr wert als ein Kilo Gold oder Kokain. Ich habe versucht, den Polizisten in der Zentrale deutlich zu machen, dass sie den Zoll und den Grenzschutz alarmieren müssen, bevor …«

Göran Danielsson hebt die Hand und gebietet ihrem Redestrom Einhalt.

»Eins nach dem anderen. Zuerst müssen wir den Tatort absperren und die Beweise sichern, und dann …«

»Aber können Sie die nicht als Erstes anrufen? Ehe Sie hier fertig sind, befindet sich das Horn schon längst auf dem Weg nach Asien.«

»Und was will man dort damit anstellen, wenn ich fragen darf? Will es irgendein Chinese kaufen, der keinen mehr hochbekommt? Das hört man ja immer wieder.«

Er gluckst vor sich hin und sieht Beifall heischend zu seiner Kollegin.

Aber Cecilia lacht nicht.

»Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen«, fordert sie Alva auf.

New York City, USA

In der VIP-Lounge des Nachtclubs klettert Wakko auf den Tisch, öffnet seinen breiten Nietengürtel und zieht sich seine knallenge Jeans bis zu den Waden herunter.

»Man wird doch bestimmt schneller voll, wenn man den Champagner direkt hinten reinbekommt, oder?«, brüllt er und erhält zustimmendes Geschrei und Gelächter als Antwort.

TT Bones schnappt sich eine ungeöffnete Flasche Moët & Chandon aus dem Eimer mit Eis, stellt sich hinter Wakko und fängt an, die Flasche zu schütteln.

Wakko bückt sich und zieht seine Pobacken auseinander.

»Okay, ich bin bereit!«

Rob fragt sich nicht zum ersten Mal, wie jemand, der so gestört ist, so unfassbar gut Gitarre spielen kann. Wie ein so verwirrtes, planloses und unstetes Wesen es schafft, die nötige Konzentration und Präzision aufzubringen, sobald man ihm eine Gibson um den Hals hängt und anzählt.

»Jetzt mach schon!«, schreit Wakko, den weißen Hintern hoch in die Luft gestreckt.

Wann hat er die Ruhe gefunden, um diese vielen Tonleitern zu lernen?, fragt sich Rob. Der Typ konnte keine fünf Minuten still sitzen.

Rob spürt, wie seine Rückenlehne nach vorne gedrückt wird, und ihm wird ein großes Handy vor die Nase gehalten.

»Sieh dir das an, Rob. Das ist von heute Abend!«, schreit ihm Ahsanullah ins Ohr. »Das Video wurde schon neuntausend Mal angeklickt.«

Rob schiebt das Handy ein Stück von sich weg, um den Film scharf sehen zu können.

Die Aufnahme ist unten im Publikum entstanden, vorne an der Bühne. Man sieht hüpfende Köpfe und in die Luft gestreckte Arme.

Auf der Bühne springt Rob hin und her und heizt den Leuten ein, verschwitzt und mit nacktem Oberkörper. Links im Bild rutscht Wakko auf Knien über den Boden und setzt zu einem hysterischen Gitarrensolo an. Rob wirft den Mikrofonständer zu Boden und rennt auf die Reihe von Scheinwerfern zu, die am niedrigsten hängt. Er springt hoch, klammert sich an eine der Metallstangen, schwingt ein Bein darüber und zieht sich hoch. Das ist seine Spezialität.

Das Publikum jubelt, und Rob muss bei dem Anblick von sich lächeln. Es sieht eigentlich ganz gut aus, wie er da mit baumelnden Beinen sitzt.

»Ich soll übrigens von meiner Mutter grüßen«, brüllt ihm Ahsanullah ins Ohr. »Ich habe sie gerade angerufen. Sie ist sehr stolz auf ihre neue Küche.«

»Grüße zurück«, sagt Rob.

»Komm, wir machen ein Selfie, dann schicke ich ihr das.«

Erneut hält er Rob das Handy vors Gesicht und legt ihm seinen Kopf auf die Schulter.

Rob sieht auf dem Display das jungenhafte Gesicht des vierundzwanzigjährigen Pakistani, sein langes schwarzes Haar und das breite Lächeln. Und muss daran denken, was alles in den letzten drei Jahren passiert ist. Seit dem Tag, als er zu Hause auf dem Sofa saß und diesen Jungen in einem selbst produzierten YouTube-Video hatte Bass spielen sehen.

Ahsanullah hatte in seiner schmutzigen Tunika und mit dem wilden Haarschnitt wie ein Schafhirte ausgesehen, aber er hatte Bass gespielt wie kein anderer. Ohne Brüche konnte er zwischen einem knallharten westlichen Riff und arabischen Rhythmen wechseln. Er schob einen wunderschönen Moll-Akkord in eine bleischwere Tonfolge und brachte diese auf eine unvergleichliche Art und Weise zum Schwingen. Rob wusste sofort, dass er es sich sein Leben lang vorwerfen würde, wenn er ihn nicht ausfindig machte.

Zwei Wochen später befand sich Rob in einer beengten, nach Kräutern duftenden Wohnung in Islamabad. Er hatte eine Tasse Tee in der Hand, und drei kleine Kinder kletterten auf ihm herum, während er versuchte, Ahsanullah Sufyan Asifs Mutter davon zu überzeugen, dass ihr Sohn nach New York zu einer Probe mitfahren solle.

Ahsanullah hatte am Anfang in Robs Gästezimmer geschlafen. Wohlerzogen und zurückhaltend und immer darauf bedacht, es allen recht zu machen. Aber er hatte auch Prinzipien, die unverrückbar waren. Zum Beispiel, als TT Bones und Wakko sich ins Zeug legten, um einen angemessenen Künstlernamen für ihn zu finden.

»Ich heiße Ahsanullah Sufyan Asif, und darauf bin ich sehr stolz. Ich werde meine Familie nicht entehren, indem ich mir einen neuen Namen wähle.«

»Aber unsere Geburtsnamen sind doch auch anders, darum geht es nicht«, hatte TT Bones gesagt.

»Um was geht es denn dann?«, hatte Ahsanullah Sufyan Asif gefragt.

»Es muss irgendwie cool klingen. So wie TT Bones und Wakko. Knackig und einfach, eben. Damit sich die Fans den Namen merken können.«

»Ich finde Ahsanullah Sufyan Asif sehr cool. Und auch einfach zu merken«, hatte Ahsanullah Sufyan Asif unbeeindruckt geantwortet.

Und damit war diese Diskussion beendet, was sich für die Band als großes Glück herausstellen sollte.

Denn zwei Jahre später hatte es der eigensinnige Bassist mit dem komplizierten Namen auf das Cover aller einschlägigen Musikzeitschriften in den USA geschafft.

Der Champagner spritzt in alle Richtungen, als der Korken herausspringt und TT Bones mit dem Strahl zwischen Wakkos Pobacken zielt. Die anderen johlen vor Lachen, und als die beiden sich auf dem Boden wälzen und miteinander ringen, wird der Jubel noch größer. Ahsanullah verlässt seinen Platz am Sofa, um besser sehen zu können. Rob bleibt sitzen und starrt auf sein Bier.

Da spürt er eine Hand auf seiner Schulter.

»Na, wie geht es dir?«, fragt Gus Wilsbury.

Rob dreht sich zu ihm. Gus’ Augen glänzen, haben aber nichts von ihrer Klarheit eingebüßt.

»Es ist … ich weiß nicht«, antwortet Rob. »Ich bin total am Ende.«

»Na ja, ihr wart jetzt fast acht Monate auf Tour. Das ist anstrengend.«

»Du bist verdammt nochmal fünfzehn Jahre älter als ich. Und du siehst aus, als könntest du auch noch ein halbes Jahr länger machen. Mindestens.«

»Aber ich liebe das hier. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«

»Das gilt doch auch für mich.«

Gus lächelt ihn an. Ein warmes, väterliches Lächeln.

»Nein, das gilt überhaupt nicht für dich.«

Erneuter Jubel, Rob und Gus drehen sich um, wollen sehen, was passiert ist. TT Bones hat Wakko die Hosen ganz ausgezogen und jagt den nackten Gitarristen durch die VIP-Lounge.

Gus nimmt einen Schluck von seinem Gin Tonic.

»Und, was wirst du als Nächstes machen?«

Rob wird klar, dass er darüber noch nicht nachgedacht hat. Er hatte einen Tag nach dem anderen gelebt. War morgens aufgestanden, hatte seine Tasche gepackt, sich in den Flieger gesetzt, war zum Hotel gefahren, hatte Interviews gegeben, war zum Veranstaltungsort gefahren, hatte einen Soundcheck gemacht, was gegessen, hatte vorgeglüht, die Bühne zwei Stunden lang gerockt und danach noch weitergefeiert, bis er ins Bett gekippt war.

Und jetzt? Sie würden erst in zwei Monaten wieder zusammenkommen, um an neuen Songs zu schreiben. Das war noch eine Ewigkeit.

»Was machst du denn?«, fragt er Gus.

»Ich bleibe noch eine Weile in der Stadt. Werde ein paar alte Freunde treffen. Danach fahre ich bestimmt nach England und werde mich zu Hause ein bisschen ausruhen. Aber jetzt muss ich pinkeln.«

Rob sieht ihm hinterher.

Zu Hause? Wäre das in seinem Fall dann Schweden? Er ist schon seit Jahren nicht mehr in seiner Heimat gewesen. Seit der Beerdigung.

Es kribbelt im ganzen Körper, wenn er daran denkt. Verdammt, warum dachte er ausgerechnet jetzt daran?

»YEAAAAH!«

Plötzlich springen alle gleichzeitig auf und tanzen und brüllen wie Besessene.

Es dauert ein paar Sekunden, bis Rob begreift, was los ist. Dann hört er die Riffs, die aus den Lautsprechern dröhnen. Seine Riffs.

A funeral to die for.

TT Bones zerrt ihn vom Sofa.

»Jetzt komm schon, König. Das ist doch dein Song, Mann. Beweg dich!«

Rob kommt auf die Beine. Legt seinen Arm um TT Bones und tanzt und hüpft mit den anderen mit. Aber es fühlt sich nicht richtig an. Unnatürlich. Schwer und steif und einfach falsch.

Jemand legt ihm von hinten einen Arm um seine Schulter, zieht ihn an sich, lehnt den Kopf gegen seine Schulter und schiebt eine Selfiestange vor. Ein Blitz blendet ihn.

»Danke, Mann! Du bist echt cool!«

Sekunden später ist die Person wieder verschwunden. Einer der Wachleute hat sie entfernt.

Aber auf einmal stürmen sie in die Lounge. Fünfzig Leute oder vielleicht auch hundert. Tische und Stühle stürzen um, und Rob sieht, wie die beiden riesigen Wachmänner vergeblich versuchen, der Menschenmenge Herr zu werden. Aber es ist, als würde man eine Welle mit den Händen aufhalten wollen. Die Leute drängen rechts und links an Rob vorbei. Hunderte von Handys sind in der Luft. Stifte und Blöcke wedeln vor seiner Nase. An ihm wird gezerrt, er wird angeschrien. Zwei rote Lippen pressen sich auf seine. Eine warme, feuchte Zunge dringt in seinen Mund, und zwei riesige, weiche Brüste drücken sich gegen seinen Körper.

Er bekommt einen harten Schlag gegen den Kopf. Was soll das? Da sieht er Wakkos Bein in der Luft. Er muss vom Tisch in die Fanmenge gesprungen sein.

Idiot.

Die Musik hämmert. Rob wird ein Drink in die Hand gedrückt, doch direkt danach rempelt ihn jemand an, und er verschüttet die Flüssigkeit über seinen Pullover. Den Rest des Drinks gießt er dem Typen über den Kopf, der in ihn hineingestolpert ist. Rob versucht, abzuhauen. Aber es ist zu eng, zu verschwitzt, zu laut. Ein Handy taucht wenige Zentimeter vor seinem Gesicht auf und trifft ihn dabei am Auge.

Rob schlägt das Gerät mit der Hand weg, und es fliegt quer über die Menge.

»Hey, was soll das?«

Ein bärtiger Mann mit einem ObstiNation-T-Shirt und stinkendem Atem schreit ihm ins Ohr. Rüttelt an seinem Arm.

Ohne nachzudenken, schlägt Rob zu. Eine geballte Faust direkt ins Gesicht. Der Mann fällt nach hinten. Die Leute schreien, weichen zurück. Aber nicht alle. Ein hochgewachsener Mann mit Glatze rempelt ihn an.

Die Luft ist voller Schweiß und Adrenalin und nervtötenden elektronischen Beats. Er muss da weg, aber es geht nicht. Der Glatzköpfige grinst ihn an. Es ist schon zu spät, das weiß er genau. Jetzt kann er nicht mehr zurück. Sein Gesichtsfeld verengt sich. Alle Geräusche verstummen. Er sieht nur noch dieses dämliche Grinsen. Lippen, die abfällige Dinge sagen.

Rob ballt die Fäuste und stürzt sich auf den Typen.

Hanoi, Vietnam

Es gießt wie aus Eimern, während Than Vu im Zickzack um die immer größer werdenden Pfützen zurück zum Lieferwagen rennt. Eine letzte Kiste noch. Und die soll in ein Restaurant, das in dem Stadtteil liegt, wo er seine kleine Überraschung abholen wird. Aber bei diesem Verkehr wird es mindestens eine halbe Stunde dauern. Mindestens.

Ein kurzer Blick auf die Uhr. Am liebsten wäre er jetzt schon zu Hause. Um sich auszuruhen, bevor die Gäste kommen. Ein kaltes Tiger Beer, oder auch zwei. Duschen. Ein bisschen Musik hören.

Sein Telefon klingelt, als er gerade den Wagen starten will.

»Hallo?«

»Hallo, Kumpel. Wie läuft’s?«

Diese schleppende Stimme mit dem kaum hörbaren, aber doch unverkennbaren herablassenden Ton, dem man vor allem bei Neureichen begegnet.

Lillen.

»Die Straßen sind voll, aber ich habe nur noch eine Lieferung.«

»Perfekt. Du machst deine Sache echt gut.«

Than schluckt angestrengt. Lillen hat vor, ihm noch mehr Arbeit aufzuhalsen. Sonst würde er nicht mit einem Lob anfangen.

»Danke«, erwidert er kurz angebunden.

»Du, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Eine Lieferung von Souvenirs kommt in Noi Bai an, und die muss sofort ins Speziallager gebracht werden.«

Than Vu schließt die Augen. Das Speziallager, mit Sicherheitspersonal und Überwachungskameras, liegt auf der anderen Seite der Stadt. Wenn er erst zum Flughafen und dann dorthin fahren muss, wäre er erst zu Hause, wenn die Gäste kamen.

»Das wird schwierig«, versucht er es. »Ich habe heute Gäste eingeladen und …«

»Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

Than Vu will noch etwas erwidern, aber Lillen hat bereits aufgelegt.

Eine Weile sitzt er reglos da, starrt auf sein Handy. Dann schreit er laut auf und schlägt mit der Faust auf das Lenkrad.

Massingir, Mosambik

Abel Tamele verschlingt den Maisbrei in Windeseile und fragt dann, ob er aufstehen darf.

»Bleib noch einen Augenblick sitzen«, befiehlt Halima.

Ein Fahrzeug nähert sich laut dröhnend, und die ganze Familie sieht durch die geöffnete Tür, wie der glänzende Toyota Prado an ihrer Hütte vorbeirollt. Der verchromte Grill glitzert wie ein breites Grinsen in der Sonne.

»War das nicht Thomas?«, fragt Halima.

»Weiß ich nicht«, sagt Daniel und starrt auf seinen leeren Teller.

Aber natürlich hat er ihn erkannt. Natürlich war es Thomas. Er also auch.

Halima sieht ihren Mann an und legt ihre Hand auf seine.

»Wir kommen schon klar, irgendwie wird es gehen. Ich kann Marcia nochmal um einen Sack Maismehl bitten.«

Daniel antwortet nicht. Die Worte seiner Frau legen sich wie zentnerschwere Felsen auf seine Schultern.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragt Abel. »Die anderen warten doch schon.«

Halima nickt, und Abel rennt aus der Hütte zum Fußballspielen.

Daniel deckt den Tisch ab und stapelt die Teller zu einem kleinen Turm. Stellt ihn in die Plastikschüssel und will Wasser holen gehen, bleibt aber abrupt stehen.

Draußen auf der Straße sind Schreie zu hören. Und Weinen. Die Trauer einer verzweifelten Frau. Daniel geht nach draußen, um nachzusehen. Halima folgt ihm.

Ein mitgenommener Isuzu Pick-up rollt langsam den Weg entlang. Er zieht eine Staubwolke hinter sich her, und mehrere Menschen versuchen, einen Blick auf die Ladefläche zu werfen. Halima schlägt eine Hand vor den Mund, die andere legt sie Daniel auf den Rücken. Und dann begreift auch er, was sie da sehen.

Wen sie da sehen.

Er versucht zu atmen, aber sein Brustkorb hat sich zusammengezogen. Er rennt los, bleibt aber nach ein paar Metern wieder stehen. Will am liebsten umdrehen. Weglaufen. Sich die Ohren zuhalten und einfach immer weiterlaufen und nie wieder ein Wort über den Pick-up oder seine Last auf der Ladefläche hören. Aber er bleibt stehen, sein Mund ist ganz trocken, und er friert in der feuchten Wärme.

Er weiß ja schon, was passiert ist. Er hat es in Adeles Gesicht gesehen. Adele, die sich krampfhaft an der Ladefläche festhält, während sie am ganzen üppigen Körper zitternd neben dem Wagen herläuft und ihr buntes Kleid um ihre Waden flattert.

Und auf der anderen Seite des Wagens: Kinder. Die keine Mühe haben, zu laufen und ab und zu neugierig hochzuhüpfen, um einen Blick auf den Menschen zu erhaschen, der auf der Ladefläche hin- und herschaukelt.

Daniel stellt sich auf den Weg und hält die Hand hoch, um den Pick-up zum Halten zu bringen. Er kennt den Fahrer. Ein wortkarger und fast zahnloser Mann um die fünfzig, der schon viele zuversichtliche junge Männer zur Grenze gebracht und wieder abgeholt hat. Auf dem Beifahrersitz kauern zwei durchtrainierte junge Männer mit weit aufgerissenen Augen und starren Daniel an, ohne ihn wirklich zu sehen. Freunde seines Cousins. Sie hatten die Grenze gemeinsam überquert.

Der Wagen hält. Daniel schreit die Kinder an, dass sie verschwinden sollen, und sie laufen tatsächlich weg und stellen sich in den Schatten eines alten Grenadill-Baums, lassen das Fahrzeug aber keine Sekunde aus den Augen.

Der Motor erstirbt. Die ganze Welt verstummt, sogar die Vögel. Daniel läuft um den Wagen herum zur Ladefläche.

Jomo ist in eine schmutzige graue Decke gewickelt, die auf der langen, unruhigen Fahrt zur Seite gerutscht ist und seinen Kopf, eine Schulter und ein Bein freigegeben hat.

Der Tod hat seine Gesichtszüge verändert. Sie sind kantiger, gerader. Er hat die ausgetrockneten Lippen eines alten Mannes, und das Haar ist grau vom Staub.

Daniel zieht die Decke beiseite. Jomos Hemd ist schmutzig, aber unversehrt, es ist kein Blut zu sehen. Neben dem Wagen steht Adele und weint herzzerreißend. Er kann sie nicht ansehen.

Die Beifahrertür öffnet sich. Jemand steigt aus und stellt sich neben ihn.

»Sie haben ihm in den Rücken geschossen«, sagt einer von Jomos Freunden.

Daniel nickt, ohne den Blick von dem toten Körper abzuwenden.