Das Wesen - Arno Strobel - E-Book + Hörbuch

Das Wesen Hörbuch

Arno Strobel

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Beschreibung

Ein kleines Mädchen stirbt, und der Hauptverdächtige wandert in den Knast – unschuldig? 15 Jahre später: Wieder verschwindet ein Kind, und der Albtraum beginnt von vorn – für die Ermittler und den Täter von damals. Ein verurteilter Psychiater und ein besessener Kommissar – ein erbittertes Psychoduell um Schuld und Rache.

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Zeit:6 Std. 52 min

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Arno Strobel

Das Wesen

Psychothriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meinen VaterProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465DanksagungLeseprobeSie war nackt, und [...]Prolog1

Für meinen Vater

Prolog

7. April 2007

Er machte fünf, sechs Schritte, dann blieb er stehen. Sekundenlang verharrte er, den Blick auf die gelbe Häuserfront gegenüber gerichtet, ohne sie wahrzunehmen. Die Sonne war schon kräftig, er spürte die Wärme auf seinem Gesicht. Mehrmals setzte er an, sich umzudrehen, doch der Befehl aus den Synapsen seines Gehirns verpuffte auf dem Weg zu den Muskeln im Nichts. Er kannte diese Vorgänge genau, wusste, was ihn blockierte, und konnte doch nichts dagegen tun. Erst als ihn das Monster hinter seinem Rücken zu verbrennen drohte, löste sich die Starre, und er stellte sich dem Anblick.

Das vierstöckige weiße Gebäude mit den roten Dachziegeln sah gar nicht so aus, wie er das aus Filmen kannte. Zumindest nicht von vorne. Kein großes, schmutzig graues Eisentor, das auf quietschenden Rollen langsam von einem Motor zur Seite gezogen wurde, wenn sie einen rausließen. Die Kunststofftür mit dem bogenförmigen Überdach aus grünlichem Glas hätte auch der Eingang zu einem Elektrogroßhandel sein können. Nur der Schriftzug über den Fenstern daneben passte nicht dazu: JUSTIZVOLLZUGSANSTALT.

Dreizehn Jahre, ein Monat und zehn Tage. Er las ihn zum letzten Mal. Vorbei.

Mehrmals schon hatte er die JVA Hagen in den letzten Monaten verlassen. Als Freigänger, um sich langsam wieder an das Leben ohne Gitter zu gewöhnen. Und spätestens um 19.00 Uhr wieder einzufahren. Vorbei.

Jetzt.

Er wandte sich ab und ging los. Weg vom Knast, raus aus der Gerichtsstraße, auf die Bülowstraße zu. Dort würde er in einen Bus steigen und zum Bahnhof fahren. Dann mit dem Zug zwei Stunden bis Aachen. Er hatte den Freigang genutzt, hatte eine Wohnung gefunden. Die Stadt hatte sich kaum verändert in den letzten dreizehn Jahren. Er schon.

Tief sog er die Luft in seine Lungen. Frei. Und doch – er war nicht glücklich, wollte nicht glücklich sein.

Dreizehn Jahre.

Und die Wut war wieder da.

1

22. Juli 2009

Kriminalhauptkommissar Bernd Menkhoffs Handy klingelte, als wir nur noch wenige Meter von der Garagenauffahrt seines Einfamilienhauses im Aachener Stadtteil Brand entfernt waren. Während er umständlich sein Telefon aus der Hosentasche fingerte, lenkte ich den A6 an den Straßenrand. Seit 16 Jahren waren wir Partner, und meistens setzte ich ihn nach Dienstschluss zu Hause ab und nahm ihn am nächsten Tag wieder mit.

»Ja«, meldete sich Menkhoff knapp und senkte den Kopf ein wenig, während er dem Anrufer zuhörte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Hoffentlich nichts Dienstliches mehr. Den Motor des Audis ließ ich laufen, die Klimaanlage blies angenehm kühle Luft in den Innenraum. Draußen war es drückend.

»Ja, der bin ich«, sagte Menkhoff neben mir mürrisch. »Woher haben Sie diese Nummer?« Er hörte wieder eine Zeitlang zu, dann kniff er die Augen zusammen. »Was?«

Es war etwas Dienstliches.

»Aha. Und wie kommen Sie darauf?« Menkhoffs Stimme hatte einen unpersönlichen Klang angenommen. »Sagen Sie mir bitte erst mal Ihren Namen.« Es vergingen weitere Sekunden, dann ließ er das Handy sinken. »Aufgelegt.«

»Anonym?«

»Ja. Eine Männerstimme. Hat was erzählt von einem kleinen Mädchen, das angeblich seit mehreren Tagen verschwunden ist. In der Zeppelinstraße.«

»Nicht gerade die feinste Gegend. Und?«

»Was und? Sonst nichts.«

Er öffnete die Beifahrertür und sagte beim Aussteigen: »Bin gleich wieder da.«

Ich sah ihm nach, wie er über die Auffahrt zur Haustür ging, aufschloss und im Inneren verschwand.

Schon nach sieben. Melanie wartete zu Hause auf mich. Ich sah die herrlichen Rinderhüftsteaks vor mir, die ich an diesem Abend für uns beide zubereiten wollte. Es sollte ein romantisches Essen werden, mit Rotwein und Kerzen, eine kleine Entschädigung dafür, dass es in letzter Zeit oft sehr spät geworden war. Seit meiner Beförderung zum Hauptkommissar ein paar Monate zuvor … 

Die Beifahrertür wurde geöffnet, und Menkhoff ließ sich wieder in den Sitz fallen. »Alles in Ordnung, Frau Christ bleibt da und passt weiter auf Luisa auf.« Er deutete mit dem Kopf nach vorne. »Na komm, fahr los.«

Ich dachte an die Steaks und legte mit einem Seufzer den Gang ein. Vielleicht war der Anrufer ja nur ein Spinner, das kam öfter vor. Vielleicht würden wir in zwanzig Minuten wieder zurück sein.

Als ich vor einer Ampel an der Trierer Straße anhalten musste, sah ich zu Menkhoff herüber, der sein Handy in das Ablagefach der Mittelkonsole warf. »Keine Nummer, klar.« Er strich sich eine Strähne seiner von silbernen Fäden durchsetzten schwarzen Haare aus der Stirn. »Unterdrückt.«

Zehn Minuten später standen wir vor einem Mehrfamilienhaus, dessen Außenfassade dringend einen Anstrich nötig gehabt hätte.

»Im ersten Stock links, hat der Kerl gesagt«, erklärte Menkhoff. Ich betrachtete die Reihe verwitterter Holzfenster, die zur ersten Etage gehören musste, und stieg aus.

Die Haustür hatte kein Schloss, das Treppenhaus war ähnlich heruntergekommen wie die Fassade. Die meisten Kanten der ausgetretenen Betonstufen waren abgebrochen, hingekritzelte Klosprüche und Fäkalausdrücke bedeckten die Wände. Die wenigen nackten Glühbirnen ließen ihr diffuses, abweisendes Licht auf uns fallen.

Die Wohnungstür im ersten Stock links war an mehreren Stellen beschädigt und sah aus, als hätte vor langer Zeit jemand versucht, sie einzutreten. Ein Namensschild gab es weder auf dem braunen Holz noch an dem schmutzigen Klingelknopf daneben. Mit angewidertem Gesichtsausdruck drückte Menkhoff auf die Klingel, woraufhin hinter der Tür ein schrilles Läuten zu hören war.

Eine Zeitlang geschah nichts, und mein Partner hatte schon die Hand gehoben, um nochmal zu klingeln, als Schritte zu hören waren und das Schloss klackte.

Die Tür öffnete sich nur einen Spalt weit, das Gesicht eines Mannes tauchte auf, und mir stockte der Atem.

2

28. Januar 1994

Juliane wohnte mit ihren Eltern am Ende einer Sackgasse in Aachen-Steinebrück, gleich neben einem kleinen Spielplatz. Petra Körprich hatte sich nichts dabei gedacht, ihre vierjährige Tochter draußen spielen zu lassen, während sie das Mittagessen zubereitete. Die kurze Straße wurde fast ausschließlich von den wenigen Anwohnern benutzt, außerdem konnte sie den Spielplatz vom Küchenfenster aus einsehen. Als sie die Spülmaschine eingeräumt hatte und wieder einen Blick nach draußen warf, war Juliane verschwunden. Nach zehn Minuten rief sie ihren Mann im Büro an, eine Stunde später informierte der die Polizei.

Drei Tage lang suchten wir mit Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die gesamte Umgebung ab, bis der schreckliche Verdacht zur Gewissheit wurde: Die Kollegen fanden das Mädchen in einem Gebüsch im Aachener Wald, nicht weit von der Monschauer Straße und nur ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Jemand hatte Juliane erwürgt, den kleinen Körper dann in einen blauen Plastiksack gesteckt und ihn im Wald entsorgt wie Müll, den man unbeobachtet loswerden wollte.

Seit einem knappen halben Jahr gehörte ich zur MK2, der zweiten Mordkommission des Aachener Kriminalkommissariats 11, und es war der erste Mordfall, an dem ich als Junior-Partner von Oberkommissar Bernd Menkhoff mitarbeitete. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Anblick eines Mordopfers noch erspart geblieben. Als ich dann dieses weiße Gesicht im Dreck liegen sah mit den dunklen Flecken auf den eingefallenen Wangen, eingerahmt von einer Flut aus blonden, schmutzverklebten Locken, als ich meinen Blick nicht von den hässlichen, blauschwarzen Würgemalen an ihrem zarten Kinderhals abwenden konnte, da hätte ich weinen können vor Schmerz und gleichzeitig schreien vor Wut. »Reißen Sie sich zusammen!«, raunte der Oberkommissar mir zu, der mir angesehen haben musste, wie sehr ich gegen einen Gefühlsausbruch ankämpfte.

Als ich später den Wagen über den schmalen Pfad aus dem Wald herauslenkte, fragte Menkhoff mich: »Wie alt sind Sie nochmal, Herr Seifert? Vierundzwanzig?«

»Dreiundzwanzig«, antwortete ich kleinlaut.

»Das ist alt genug, um sich etwas hinter die Ohren zu schreiben, Herr Kriminalkommissar: Niemals, hören Sie, absolut niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen. Wenn so ein kleines Mädchen von einem Dreckschwein getötet wird, dann ist das entsetzlich, aber auch wenn es unmenschlich klingt – die Kleine ist tot, und sie ist ein Fall, den wir aufklären müssen, kapiert? Wir können dem Kind nicht mehr helfen, aber wir können dafür sorgen, dass dieser Abschaum so was nicht nochmal tun kann.« Menkhoff schlug kurz mit der flachen Hand gegen das Handschuhfach. »Verdammt, wenn Sie Gefühle zulassen, verlieren Sie den neutralen Blick, Sie übersehen Details. Sie müssen lernen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Darauf will ich mich verlassen können, verstanden?«

Ich verstand, musste in den folgenden Tagen aber immer wieder feststellen, dass Verstehen und Umsetzen zwei grundsätzlich unterschiedliche Dinge waren. Jedes Mal, wenn sich wieder ein Hinweis als wertlos herausstellte, überkam mich eine tiefe Niedergeschlagenheit, weil wir dieses Monster vielleicht nie fassen würden, und Wut und Angst, weil vielleicht noch ein Kind sterben würde, während wir vollkommen ahnungslos waren.

Niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen.

3

22. Juli 2009

Ich hatte ihn sofort erkannt, und doch dauerte es einen Moment, bis ich in der Lage war, zu realisieren, dass es tatsächlich Dr.Joachim Lichner war, der da vor uns stand. Älter, mit schmalerem Gesicht, und auch der Ansatz der kurzgeschnittenen blonden Haare war ein Stück nach hinten gerutscht, aber mit denselben klugen, wachen Augen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Augen, die uns nun ohne erkennbare Überraschung musterten. Mit einem Blick zur Seite erkannte ich, dass es Menkhoff ähnlich ergehen musste wie mir. Selten hatte ich meinen Kollegen so verblüfft dreinschauen sehen wie in diesem Moment.

»Herr Menkhoff und Herr Seifert, welch eine unangenehme Überraschung«, begrüßte Lichner uns in einem Tonfall, als hätte er gesagt: ›Wie schön, Sie zu sehen.‹

»Lichner.« Menkhoffs Stimme klang heiser. »Was zum Teufel tun Sie hier?«

Der Psychiater hob eine Braue. »Eine merkwürdige Frage, Herr Hauptkommissar, wenn man bedenkt, dass Sie vor meiner Tür stehen.«

Mein Partner war offensichtlich vollkommen durcheinander, er schien nach Worten zu suchen, und ich hatte das Gefühl, ihm helfen zu müssen. »Wir haben einen anonymen Anruf erhalten«, sagte ich so sachlich wie möglich. »Angeblich soll aus dieser Wohnung ein kleines Mädchen verschwunden sein.«

Innerhalb eines Sekundenbruchteils veränderte sich Lichners Gesichtsausdruck.

»Ach, ein kleines Mädchen? Und da dachten Sie, schauen wir doch präventiv mal beim guten alten Dr.Lichner vorbei. Falls wir wieder mal vollkommen erfolglos herumermitteln, können wir ihm ja was anhängen. Was einmal funktioniert hat, wird doch bestimmt wieder klappen, oder wie?«

»Der Anrufer hat konkret diese Adresse genannt, Herr Lichner«, schaltete sich Menkhoff ein, der sich offenbar wieder gefangen hatte. »Wir müssen dem nun mal nachgehen. Also, wohnt hier ein kleines Kind?«

»Welches Kind soll denn hier wohnen, Herr Hauptkommissar? Hier wohne ich und sonst niemand. Außerdem … «, er zeigte mit ausgestrecktem Daumen über die Schulter, »meinen Sie, man könnte einem Kind einen solchen Schweinestall zumuten? Hm?«

»Herr Lichner«, schaltete ich mich ein, »uns geht es nur um diesen Hinweis, und Ihre persönliche Wohnsitu –«

»Leider kann ich mir momentan nichts anderes leisten«, fiel er mir ins Wort. »Es ist nicht ganz leicht für einen verurteilten Kindermörder, einen Job als Psychiater zu bekommen, wissen Sie?«

»Das ist mir –«, setzte Menkhoff an, wurde aber ebenfalls von Lichner unterbrochen: »Ich habe gehört, sie hat Sie verlassen?«

Sekundenlang starrten die beiden Männer sich an, und während Lichner dabei fast teilnahmslos wirkte, sah Menkhoff aus, als wolle er dem Psychiater an den Hals springen. Ich wusste, dass Lichner gerade Salz in eine Wunde gestreut hatte, die noch lange nicht verheilt war.

»Das geht Sie einen Dreck an, Lichner«, zischte Menkhoff. »Ich möchte einen Blick in Ihre Wohnung werfen. Lassen Sie uns jetzt sofort rein oder erst in einer halben Stunde mit Durchsuchungsbeschluss?«

Joachim Lichner machte einen Schritt zur Seite und zeigte mit einer Geste ins Innere der Wohnung. »Nein, bitte, treten Sie doch ein. Aber ich werde Sie im Auge behalten, Herr Hauptkommissar. Wenn Sie belastendes Material in meiner Wohnung verstecken, dann werde ich das bemerken.«

Ohne darauf einzugehen, betrat Menkhoff an ihm vorbei die Wohnung. Als ich an Lichner vorbeiging, sagte er leise: »Ich hoffe, Sie lassen das nicht wieder zu, Herr Seifert.«

»Reden Sie keinen Blödsinn«, sagte ich und folgte meinem Kollegen. Die Wohnung war wirklich ein Schweinestall, und ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein gebildeter Mensch so hausen konnte. Andererseits – gebildete Menschen taten manchmal die unfassbarsten Dinge.

Das Zimmer, vor dem wir standen, mochte 15 Quadratmeter groß sein, vielleicht auch weniger, und es roch darin nach Feuchtigkeit und Schimmel wie in einem alten Kellerraum. Die Wand links neben der Tür wurde in ihrer ganzen Länge von einem wackelig aussehenden, vergammelten Holzregal eingenommen, auf dem sich jede Menge verstaubter Plunder stapelte. Der verkratzte Fernseher an der Wand gegenüber stand auf einer Obstkiste, davor zwei ausgefranste braune Sessel, die vom Sperrmüll stammen mussten. Eine speckige Holzplatte auf einer Bierkiste diente als Tisch, in einer aufgeklappten Pappschachtel darauf lag der Rest einer Pizza. Die geblümte Tapete war ebenso fleckig wie der braune Teppich, an manchen Stellen waren lange Fetzen herausgerissen.

»Scheiße«, sagte Menkhoff und ließ den Blick weiter durch das Zimmer wandern.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich noch hohen Besuch bekomme, hätte ich die Putzfrau kommen lassen.«

»Ihre Zelle im Knast war bestimmt sauberer.«

»Ja, vielleicht, Herr Menkhoff. Aber da roch es ziemlich unangenehm. Nach … Korruption.«

Einmal mehr überging Menkhoff Lichners Anspielung und wandte sich mir zu. »Los, schauen wir uns die anderen Räume an, damit wir schnell wieder hier rauskommen.«

Die Küche, sofern man das so bezeichnen konnte, war so unordentlich wie das Wohnzimmer und fast so versifft wie das winzige Bad. Umso überraschter waren wir, als wir schließlich die Tür zum letzten Zimmer öffneten. Der kleine Raum war leer und sauber, die pastellgelben Wände offenbar frisch gestrichen.

Menkhoff drehte sich zu Lichner um. »Was ist das für ein Zimmer?«

»Ein neu gestrichenes, Herr Kriminalhauptkommissar.«

»Ich wi… Haben Sie es gestrichen, Herr Lichner?«

»Würden Sie mich verhaften, wenn es so wäre?«

Wieder starrten sie sich an, und der Hass schien eine Brücke zwischen ihren Augen zu schlagen, über die sie schwerbewaffnete Gedanken in den Kopf des anderen einmarschieren ließen.

»Las uns abhauen, Alex.« Menkhoff riss sich von Lichners Augen los. Als wir schon im Treppenhaus standen, drehte er sich noch einmal um. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung, Herr Lichner, falls wir noch Fragen haben.«

»Sie verbringen zu viel Zeit vor dem Fernseher mit schlechten Krimis, Herr Hauptkommissar«, erwiderte Lichner und ließ uns in dem heruntergekommenen Treppenhaus stehen.

Menkhoff warf mir einen Blick zu, der mir deutlich sagte, dass es besser war, den Mund zu halten. Als wir aus dem Gebäude traten, blieb er plötzlich stehen und zog sein Handy hervor. »Warte mal kurz.«

4

14. Februar 1994

»Herr Seifert!«

Ich stand am Kopierer im Flur, als Oberkommissar Menkhoff aus unserem gemeinsamen Büro heraus nach mir rief.

»Hier!«, antwortete ich schnell und setzte mich sofort in Bewegung. Die Büros des Kriminalkommissariats lagen beidseitig des langen, braun verklinkerten Flurs im dritten Stock. Die meisten der grünen Türen waren nur ganz selten geschlossen.

Menkhoff stand schon neben seinem Schreibtisch und steckte einen Zettel in die Hosentasche. »Kommen Sie, wir müssen los. Wir haben einen Hinweis aus der Nachbarschaft, der uns vielleicht endlich weiterbringt. Ein Kerl hat der Kleinen angeblich öfter Süßigkeiten oder so was gegeben.«

Im Vorbeigehen schnappte ich mir meine dicke Jacke von der Garderobe neben der Tür und eilte Menkhoff aufgeregt nach.

Zwei Wochen war es schon her, seit wir die Leiche von Juliane Körprich gefunden hatten, doch bisher hatten unsere Ermittlungen noch nicht viel ergeben. Genaugenommen tappten wir noch völlig im Dunkeln, und das ausgerechnet bei meinem ersten Mordfall. Während ich mit Menkhoff quer über den Parkplatz auf unseren Dienstwagen zusteuerte, spürte ich erwartungsvolle Erregung in mir aufsteigen und gleichzeitig die Angst davor, wieder nur dem Hirngespinst eines Wichtigtuers nachzurennen. »Was hat der Anrufer denn genau gesagt, Herr Menkhoff?«, fragte ich vorsichtig.

»Es war eine Anruferin, Marlies soundso. Sie wohnt in der Nachbarschaft, auf der anderen Seite des Spielplatzes.«

»Eine Nachbarin? Und die ist noch nicht vernommen worden?«

»Doch, klar, die Kollegen haben sich mit der gesamten Nachbarschaft unterhalten.«

»Und ihr ist erst jetzt eingefallen, dass –«

»Ich weiß es ja auch nicht, warten wir’s ab.«

Wir hatten den Opel Omega erreicht, und ich setzte mich hinter das Steuer. Als der Jüngere war ich automatisch der Fahrer. Menkhoff schnallte sich an. »Sie sagt, sie hat ein paar Mal beobachtet, wie ein Mann auf dem Spielplatz dem Mädchen Schokolade gegeben hat.«

»Und kennt sie den Mann?«, fragte ich. »Natürlich nicht, oder? Wär ja auch zu –«

»Doch, und er wohnt angeblich sogar ganz in der Nähe.« Obwohl ich nach vorne schaute, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass mein Kollege mich ansah. »Na, was fällt Ihnen dazu ein, Herr Seifert?«

Ich wusste, auf welche Statistiken er anspielte. »Bei Tötungsdelikten an Kindern kommt der Täter in fast der Hälfte der Fälle aus der Familie, bei weiteren 35 Prozent aus dem näheren Umfeld.«

Bernd Menkhoff nickte stumm, und ich überfuhr eine rote Ampel.

 

Als ich kurze Zeit später vor dem Haus anhielt, war ich so aufgeregt, dass meine Hände zitterten. Ich hoffte, dass Menkhoff es nicht bemerken würde. Er blieb neben dem Wagen stehen und zog den Zettel aus der Tasche, den er im Büro eingesteckt hatte. »Bertels«, las er ab. »Sie heißt Marlies Bertels.«

Die alte Frau öffnete die Tür, als Menkhoff gerade den Fuß auf die unterste der fünf Treppenstufen setzte. Marlies Bertels war klein und sehr schmal, die kurzen, sorgsam gelegten Haare hatten einen Farbton irgendwo zwischen Lila und Blau.

»Sie müssen die Herren von der Polizei sein«, sagte sie mit dünner Stimme. »Bitte, kommen Sie doch herein.«

In dem schmalen Flur roch es muffig, Marlies Bertels dirigierte uns in ihre gute Stube. Meine Großeltern hatten in ihrem Häuschen in Richterich auch so einen Raum gehabt, der nur betreten werden durfte, wenn Besuch im Haus war. Hier war es peinlichst aufgeräumt, und hinter den Glaseinsätzen der Eichenvitrine war Omas bestes Geschirr aufgestellt.

Als wir an dem Esstisch aus dunklem Holz saßen, blieb Frau Bertels stehen und lächelte uns an. »Darf ich den Herren Polizisten einen Aufgesetzten anbieten? Himbeere, selbst gemacht.«

Menkhoff winkte ab. »Nein, danke, wir sind im Dienst. Frau Bertels, was können Sie uns über diesen Mann erzählen, den Sie gesehen haben, als er der kleinen Juliane Süßigkeiten gegeben hat? Sie sagten, Sie kennen ihn?«

5

22. Juli 2009

»Ja, ich bin’s. Bernd. Bernd Menkhoff. Sag mal, kannst du kurz was für mich rausfinden?« Ich schaute meinen Partner fragend an, doch der erwiderte meinen Blick nur flüchtig und drehte sich dann mit seinem Handy so von mir weg, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Eine typisch menkhoffsche Unart. Seit wir Joachim Lichners schäbige Wohnung verlassen hatten, überlegte ich, wer der anonyme Anrufer gewesen sein mochte, dem wir diese seltsame Begegnung kurz vor Schichtende zu verdanken hatten. Jemand, der Lichner eins auswischen wollte? Aber woher hatte derjenige Menkhoffs Handynummer? Und was versprach sich jemand davon, dass die Polizei bei Lichner anrückt? Oder ging es nur um Lichner und Menkhoff?

Mein Partner beendete sein Telefonat und wandte sich mir wieder zu. Sein Gesicht hatte sich auf eine Art verändert, die nichts Gutes verhieß. Er nahm das Handy vom Ohr und sagte: »So eine Scheiße. Los, Alex, komm mit!«

»Aber … Was ist los?« Ohne mir eine Antwort zu geben, verschwand er wieder in dem düsteren Hausflur. Während ich hinter ihm die Treppe hochstieg und dabei immer zwei Stufen auf einmal nahm, versuchte ich es noch einmal: »Bernd, jetzt sag schon, was ist los? Warum gehen wir wieder zurück?«

»Das Schwein hat uns angelogen, Alex«, stieß er keuchend hervor. »Verarscht hat er uns!«

Vor Lichners Wohnungstür zog Menkhoff seine Waffe, klingelte und hämmerte gleich darauf mit der freien Faust gegen die Tür. »Machen Sie sofort auf.« Ich ging zwei Schritte zurück, zog ebenfalls die Walther und entsicherte sie, hielt sie aber auf den Boden gerichtet. Adrenalin jagte durch meinen Körper, als ich das kalte Metall in meiner Hand spürte. Schneller als beim ersten Mal wurde die Tür geöffnet. Als Lichner die Waffe sah, die Menkhoff gegen seinen Bauch richtete, zuckte er zurück. »Was –«

»Sie haben uns angelogen, Lichner, sagen Sie mi–«

»Ich habe was?«

»Sagen Sie mir sofort, wo das Mädchen ist!«, schrie Menkhoff ihn an. »Sofort!«

»Welches Mädchen? Ich hab Ihnen doch schon … ich weiß nicht …«

»Sarah Lichner.« Menkhoff schrie nun nicht mehr, seine Stimme klang kalt. »Laut Melderegister geboren am 18. Juni 2007, wohnhaft hier, in diesem Dreckstall. Ich frage Sie jetzt nochmal: Wo verdammt ist Ihre Tochter, Dr.Lichner?«

Ich ließ den Psychiater nicht aus den Augen und versuchte zu verstehen, was Menkhoff gerade gesagt hatte. Lichners Tochter? Zwei Jahre alt?

Mit versteinertem Gesicht sah Dr.Lichner uns abwechselnd an. »Meine … Tochter? Sind Sie jetzt total verrückt geworden? Ich habe keine Tochter.«

6

14. Februar 1994

Marlies Bertels wackelte mit dem Kopf wie ein Hutablagendackel und setzte sich Menkhoff gegenüber an den Tisch. »Also es war ja eigentlich ein Zufall, Herr Kommissar, dass ich das überhaupt gesehen habe. Sie müssen nicht denken, ich wäre eine dieser neugierigen älteren Frauen, die den ganzen Tag am Fenster sitzen. Dafür hab ich keine Zeit. Ich habe einfach so mal rausgeschaut, aus dem Küchenfenster, und da sehe ich doch, wie der Doktor der Kleinen was zusteckt. Da vorn war das.« Sie deutete in die Richtung, in der vor dem Haus der Spielplatz liegen musste.

»Der Doktor?«, fragten Menkhoff und ich fast gleichzeitig.

»Ja, er wohnt da, ein paar Häuser weiter.« Auch diese Richtung gab sie mit ihrem knotigen Zeigefinger an.

»Was ist das für ein Doktor?«, wollte Menkhoff wissen. »Ein Arzt?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Ja, was denn sonst für ein Doktor?« Mit verschwörerischer Miene beugte sie sich ein Stück weit nach vorne und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Für solche Leute, die ein bisschen … seltsam sind. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«

Menkhoff sah mich kurz an und nickte ihr dann zu: »Ja, ich denke, ich verstehe, Frau Bertels.«

Ich zog den kleinen Notizblock aus der Innentasche meiner Jacke und klappte ihn auf. Dabei wurde mir bewusst, wie überhitzt der Raum war. Ich streifte die Jacke ab und legte sie über die Lehne des freien Stuhls neben mir. Als ich mich dabei ein Stück aufrichtete, fiel Marlies Bertels’ Blick auf meine Waffe im Holster rechts am Gürtel.

»Wissen Sie denn auch seinen Namen, Frau Bertels?«, fragte ich.

Sie starrte noch immer auf meine rechte Seite, obwohl ich wieder saß und die P6 vom Tisch verdeckt wurde. »Haben Sie damit schon jemanden totgeschossen?« Ihre Stimme schien noch eine Spur dünner geworden zu sein.

»Nein«, versicherte ich ihr. »Ich musste noch nie auf einen Menschen schießen. Kennen Sie den Namen des Doktors, Frau Bertels?«

Nun endlich sah sie mich wieder an. »Ja, Lichner heißt der. Er wohnt zusammen mit einer Frau.« Und in vorwurfsvollem Ton fügte sie hinzu: »Sie sind nicht verheiratet.«

›Dr.Lichner, Psychiater‹ fand seinen Platz oben rechts auf dem frischen Blatt. »Wissen Sie auch die Hausnummer?«

»Die Hausnummer? Nein … Es ist das gelbe Haus, ein Stück weiter, am Anfang der Straße. Es gibt nur ein gelbes Haus auf dieser Seite, wissen Sie. Sie müssen mal die Fenster sehen. Man kann fast nicht mehr hindurchsehen, so schmutzig sind die. Vom Saubermachen hält –«

»Sie sagten bei Ihrem Anruf, dass Sie öfter beobachtet haben, wie der Mann der kleinen Juliane Süßigkeiten gegeben hat«, unterbrach Menkhoff die alte Dame, und sie schrak bei seiner lauten Stimme zusammen. Ich auch. »Wie oft hat er das getan? Und wann genau war das?«

Marlies Bertels strich mit den Fingern über die pergamentartige, mit braunen Flecken übersäte Haut des Handrückens ihrer anderen Hand. »Ach, ich schaue eigentlich ja gar nicht so oft –«

»Ja, ich weiß, Frau Bertels. Niemand von uns glaubt, dass Sie oft aus dem Fenster sehen. Also?«

Sie nahm die Hände vom Tisch und zog den Kopf ein Stück ein. Ich fragte mich, ob er nicht merkte, dass er so bei der Frau nicht weiterkommen würde. Er beantwortete diese Frage im selben Moment, als er mit leiserer und deutlich freundlicherer Stimme weitersprach. »Es ist völlig normal, dass man ab und zu aus dem Fenster sehen muss, wenn man so viel Arbeit in der Küche hat wie Sie. Und dass man dabei dann zwangsläufig die Dinge sieht, die sich draußen abspielen, ist auch klar.«

Ihr Gesicht zeigte ein Lächeln. »Ja, da haben Sie recht, Herr Kommissar. Genau so war es auch.«

»Also, nochmal: Wie oft haben Sie – zufällig – gesehen, dass dieser Doktor dem Mädchen Süßigkeiten geschenkt hat?«

Sie richtete den Blick gegen die Decke und schien angestrengt nachzudenken. »Zweimal, glaube ich. Nein, dreimal, ich bin ganz sicher. Dreimal habe ich ihn am Spielplatz gesehen.«

»Und wann?«

»Aber das weiß ich doch jetzt nicht mehr.«

»Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal dabei beobachtet? Ungefähr?«

»Das ist ein paar Wochen her, also … ungefähr.«

Menkhoff atmete hörbar durch. »Frau Bertels, kurz nachdem Juliane gefunden worden ist, waren Kollegen von mir bei Ihnen und haben gefragt, ob Sie etwas beobachtet haben, was uns weiterhilft. Warum haben Sie denen nichts von diesem Doktor auf dem Spielplatz erzählt?«

Sie hob langsam die knochigen Schultern und schob dabei die Unterlippe vor. »Ich hatte es wohl vergessen.«

Menkhoff nickte mehrmals. »Vergessen also, na gut. Kann es sein, dass dieser Dr.Lichner die Familie der kleinen Juliane kennt? War er öfter dort zu Besuch? Oder waren die Eltern des Mädchens mal bei ihm?«

»Nein, das hätte ich gesehen.«

»Ja, das hätten Sie bestimmt gesehen.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und wandte sich wieder an die Frau, während ich weiter Notizen machte. »Und wie sieht es mit der Juliane aus? War die vielleicht mal in dem gelben Haus?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, auch nicht.«

»Kennen Sie den Doktor denn näher?«, wollte ich von ihr wissen. »Was ist er für ein Mensch? Ist er freundlich?«

»Nein, ich kenne ihn nicht näher. Die Leute hier in der Straße sind nicht sehr freundlich, die wollen mit einer alten Frau wie mir nichts zu tun haben. Die meisten grüßen mich noch nicht mal.«

Ich schaltete mich wieder ein: »Wie ist es mit dem Mädchen? Haben Sie Juliane gekannt?«

»Ja, natürlich. Nettes Mädchen. Sie war immer adrett angezogen, und sie hatte auch die Haare immer so hübsch, wie ein Engel. Wie kann man einem armen Kind nur so was Furchtbares antun? Es ist eine Schande.« In ihrem dünnen Stimmchen schwang Entrüstung. »Ich bin sicher, dieser Doktor hat was damit zu tun. Und es würde mich nicht wundern, wenn seine Freundin auch –«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau Bertels.« Mein Partner erhob sich. »Wir werden uns mal mit diesem Dr.Lichner unterhalten. Es kann sein, dass wir Sie nochmal bemühen müssen, wenn wir weitere Fragen haben.«

»Oh, Sie können mich gerne wieder besuchen, Herr Kommissar. Wenn Sie vorher anrufen, backe ich einen leckeren Kuchen für Sie beide. Vielleicht haben Sie dann ja ein bisschen länger Zeit.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich und verließ hinter Menkhoff die gute Stube.

»Was halten Sie von ihr?«, fragte er, als wir vor dem Haus standen.

»Sie ist einsam.«

7

22. Juli 2009

»Los, umdrehen, die Hände auf den Rücken, Sie kennen das ja.« Menkhoff hielt die Waffe auf Lichner gerichtet, der sich mit versteinerter Miene umwandte. Noch immer verwirrt über das, was ich gerade gehört hatte, zog ich die Handschellen aus meinem Gürtel, sicherte die Pistole und steckte sie zurück in das Holster, dann ließ ich die metallenen Bügel um Lichners Handgelenke einrasten.

»Sie lassen sich schon wieder von ihm benutzen, Herr Seifert«, sagte er in den tristen Flur seiner Wohnung hinein. »Ich habe kein Kind, und das weiß –«

»Halten Sie den Mund«, fiel Menkhoff ihm ins Wort, und in seiner Stimme schwang etwas mit, was unangenehme Erinnerungen in mir hervorrief. »Wenn Sie dem Mädchen etwas angetan haben, werden Sie im Knast krepieren, das schwöre ich Ihnen, Sie verdammtes Schwein.«

Ich machte ein paar Schritte zurück, und Lichner wandte sich uns wieder zu. »Ich habe es Ihnen schon mehrfach gesagt, ich habe kein Kind. Weder eine Tochter noch einen Sohn. Außerdem verbitte ich mir diese Beleidigungen, Herr Hauptkommissar.«

»Sie verbitten sich Beleidigungen? Ausgerechnet? Ich sage Ihnen mal was, Herr Doktor Lichner: Wenn Sie nicht endlich die Wahrheit sagen, kann es sein, dass ich mich vergesse, und dann wird es Ihnen auch nichts nützen, dass Sie sich das verbitten.«

Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Was soll ich Ihnen denn anderes sagen, als dass ich keine Tochter habe?« Seine Stimme klang nun bemerkenswert ruhig angesichts des Vorwurfs, mit dem er gerade konfrontiert worden war. Sein Blick heftete sich auf mich, und nicht zum ersten Mal löste er damit ein Gefühl bei mir aus, das ich nicht einordnen konnte. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber … bitte, Sie können doch nicht ernsthaft glauben, ich würde meinem eigenen Kind etwas antun und dann behaupten, gar kein Kind zu haben. Für so verrückt können selbst Sie mich nicht halten. Da spielt mir jemand einen üblen Streich, und Sie fallen prompt darauf herein.«

Menkhoff senkte die Waffe und ging auf Lichner zu. Dicht vor ihm blieb er stehen, so dicht, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich beobachtete sie beide genau und war bereit, einzugreifen, falls es notwendig werden sollte.

»Es ist so eine Sache mit dem Glauben, Herr Lichner. Es gab eine Zeit, da konnte ich nicht ernsthaft glauben, dass jemand so abartig ist, ein kleines Mädchen umzubringen, in einen Plastiksack zu stecken und wegzuwerfen wie ein verdammtes Stück Müll.« Er sprach nun so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Nein, ich halte Sie nicht für dumm, Lichner. Ich halte Sie für psychopathischen Abschaum, der nicht in den Bereichen denkt, die für einen normalen Menschen logisch sind.«

Lichner zeigte sich wenig beeindruckt. »Ich habe das damals nicht getan, und Sie wissen das.«

Es kam mir vor, als versuchten beide, den anderen mit dem bloßen Blick in die Knie zu zwingen.

»Das frisch gestrichene Zimmer da drinnen … das war das Kinderzimmer, oder? Das Zimmer Ihrer Tochter.« Menkhoffs Stimme klang beschwörend.

»Blödsinn.«

»Warum haben Sie ausgerechnet diesen Raum neu gestrichen, während der Rest Ihrer Bude eine vergammelte Müllkippe ist?«

»Irgendwo muss man ja anfangen.«

»Was war vorher in dem Zimmer?«

»Nichts Bestimmtes. Durcheinander, eine Abstellkammer.«

Ein erneuter Moment des stummen Anstarrens, dann nickte Menkhoff und machte ein paar Schritte zurück. »Dr.Joachim Lichner, Sie sind verdächtig, Ihre Tochter entführt zu haben. Ich erkläre Ihnen nun Ihre Rechte.«

»Sie können sich Ihre albernen Formalitäten sparen, Herr Hauptkommissar. Wir wissen doch alle drei, worum es Ihnen wirklich geht, nicht wahr?«

Menkhoffs Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und ich befürchtete, er würde sich jeden Moment auf den Mann stürzen. »Bernd«, sagte ich beschwörend, während Bilder der Vergangenheit an mir vorbeirasten, die schon lange hätten verblasst sein müssen. Als er nicht reagierte, wiederholte ich noch einmal eindringlicher: »Bernd …«

Endlich riss er sich von den Augen seines Gegenübers los und sah mich an. »Was?« Ich schüttelte leicht den Kopf und hoffte, er würde es registrieren. Einen Moment lang schien er sich nicht schlüssig zu sein, was er tun sollte, dann aber atmete er geräuschvoll aus und drehte sich weg. »Ruf die Spurensicherung an, Alex. Die sollen diesen Stall umkrempeln und DNA-Material sicherstellen. Ich brauch was von dem Mädchen. Danach tu mir den –«

Er wurde durch ein zweimaliges, trockenes Klacken schräg hinter ihm unterbrochen und fuhr herum. Die vergammelte Tür der Nachbarwohnung wurde geöffnet, eine schlanke, stark geschminkte Frau mit roten, struppigen Haaren tauchte auf. Sie mochte Mitte dreißig sein und wirkte ungepflegt. Als sie unsere Waffen sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus und erstarrte. »Polizei!«, schnauzte Menkhoff sie an. »Verschwinden Sie.«

Hastig schlüpfte sie wieder in ihre Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

»Mensch, Bernd …«, sagte ich und ging an Menkhoff vorbei zu der Tür gegenüber.

»Was?«

»Wart mal kurz.«

Keine fünf Sekunden nach meinem Anklopfen öffnete die Rothaarige die Tür, sie musste direkt dahinter gestanden haben. Zwischen den Fingerspitzen ihrer rechten Hand qualmte eine gerade angesteckte Zigarette. Missbilligend musterte sie mich und sah dann an mir vorbei auf Menkhoff, der noch immer mit gesenkter Waffe vor dem Psychiater stand.

»Guten Tag«, sagte ich und zog damit ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Kriminalhauptkommissar Alexander Seifert, ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Was is’n mit dem?« Sie sah zu Dr.Lichner herüber. »Hat der was angestellt?«

»Das wissen wir noch nicht. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Ullrich. Beate Ullrich. Wieso?«

»Wohnen Sie hier?« Sie sah mich an, als hätte ich sie gefragt, ob sie eine Frau ist. »Was denn sonst? Hab doch aufgemacht.«

»Wie gut kennen Sie Ihren Nachbarn, Dr.Lichner?«

»Den?« Wieder der Blick in Richtung des Psychiaters. »Gar nicht. Wieso?«

Beim nächsten Wieso würde ich möglicherweise die Geduld verlieren. »Aber Sie wissen schon, dass er hier wohnt, Frau Ullrich?«

Sie tat einen langen Zug an der Kippe und sagte: »Ja, logo, weiß ich.« Der blauweiße Rauch quoll ihr dabei zwischen den Worten aus dem Mund. Normalerweise reagieren die Leute leicht nervös, wenn wir vor der Tür stehen, selbst wenn nicht gerade im Hintergrund eine Waffe auf den Nachbarn gerichtet ist. Diese Frau war entweder abgebrüht im Umgang mit der Polizei, oder sie konnte sich gut verstellen. »Wohnt Dr.Lichner alleine hier?«

»Wieso fragen Sie nich ihn?«

»Hören Sie gefälligst auf, Gegenfragen zu stellen, und antworten Sie meinem Kollegen«, fuhr Menkhoff sie an. »Oder sollen wir Sie aufs Präsidium mitnehmen?«

Das wirkte. Sichtlich eingeschüchtert, stammelte sie: »Ähm … ja, glaub schon. Also … ich mein’ … ohne Frau. Nur er und das Mädel.«

Stille, zwei, drei Sekunden lang, dann stöhnte Lichner auf und ließ die Schultern hängen. Menkhoff starrte den Psychiater an, doch der blickte an ihm vorbei gegen die Wand und sagte: »Sie lügt.«

»Wer lügt hier, Sie …«, maulte die Rothaarige zu Lichner herüber.

»Frau Ullrich, wie alt ist dieses Mädchen? Und wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nich. Vielleicht zwei oder drei oder so. Gesehen … ähm, das letzte Mal vor ein paar Tagen, glaub ich.«

»Glauben Sie. Und wie würden Sie das Verhältnis von Dr.Lichner zu seinem Kind beschreiben?«

»Wieso Verhältnis? Wie meinen Sie’n das?«

»Wie hat er sich dem Kind gegenüber verhalten? War er nett? Hat er geschimpft, geschrien?«

Sie dachte nach und sah dabei mit heruntergezogenen Mundwinkeln kaugummikauend zur Decke. »Hm … weiß ich nich. Die haben nicht geredet.«

»Sie lügt.« Es kam so leise, dass ich es fast nicht verstehen konnte.

Menkhoff machte einen schnellen Schritt auf Lichner zu. »Ach ja? Sie lügt? Und ganz zufälligerweise errät sie beim Lügen das Alter Ihrer Tochter, oder wie? Und dass sie verschwunden ist, errät sie wohl zufälligerweise auch?«

Eine Zornesfalte stand wie ein Ausrufezeichen in der Mitte seiner Stirn. »Schaff mir diesen Kerl aus den Augen, Alex. Und Sie, junge Frau, halten sich bitte zu unserer Verfügung. Falls es wider Erwarten doch etwas gibt, was Sie wissen, rufen Sie mich an.«

Sie nahm Menkhoffs Visitenkarte und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Ich zog mein Handy aus der Tasche und forderte die Spurensicherung an.

 

Auf dem Weg zum Präsidium führte Menkhoff erst ein kurzes Telefonat mit der Leiterin des KK11, Kriminaloberrätin Ute Biermann, die er wohl zu Hause angerufen hatte, und dann mit unserer Dienststelle. Sonst sagte während der Fahrt niemand etwas, und ich war froh darüber.

Meine Gedanken kreisten um den Mann, der auf der Rücksitzbank neben meinem Partner saß. Dr.Joachim Lichner. Ich hatte gehofft, ihn nie wiedersehen zu müssen. Mit seinem plötzlichen Auftauchen war auch sofort wieder dieses seltsame Gefühl da, das mich damals noch lange nach seiner Verurteilung verfolgt hatte. So gut wie alles hatte darauf hingedeutet, dass Lichner das kleine Mädchen umgebracht hatte. Neunundneunzig Prozent. Aber hätten die Beweise auch ausgereicht, wenn Menkhoff nicht so besessen gewesen wäre von dem Gedanken, Joachim Lichner hinter Gitter zu bringen? Wenn es diese zarte Frau mit den langen, schwarzen Haaren nicht gegeben hätte? Oder wenn ich damals den Mumm gehabt hätte –

»Fahr vor den Eingang«, unterbrach Menkhoffs Stimme meine Überlegungen, als wir auf das gigantische gelbe Dach des Tivoli zufuhren und ich direkt davor rechts abbog. »Ich hab keine Lust, mit dem Kerl noch einen Spaziergang über den Platz zu machen.«

Neben dem Eingang des Präsidiums war ein Parkplatz zwischen zwei Streifenwagen frei. Der Pförtner hinter der Scheibe nickte uns zu und entriegelte mit einem Knopfdruck das Schloss der Glastür. »Hier sieht es ja noch genauso trist aus wie vor 15 Jahren«, bemerkte Lichner, als wir im inneren Eingangsbereich standen.

»Das hängt damit zusammen, dass wir es hier noch immer fast ausschließlich mit tristen Gestalten zu tun haben«, knurrte Menkhoff und bugsierte den Mann zur Treppe auf der linken Seite.

Im dritten Stock öffnete Oberkommissar Marco Egberts uns die Glastür, die den Teil des Flurs, in dem die Büros der Mordkommission lagen, vom Rest trennte. Als Menkhoff Lichner an ihm vorbeischob, sah Egberts dem Psychiater mit eisigem Blick nach. »Ich hab eben gehört, ihr habt einen Entführungsfall? Die eigene Tochter?«

»Mal sehn.« Mir war nicht nach langen Erklärungen zumute. Egberts würde sowieso gleich alles erfahren. »Stimmt es, dass das dieser Psychiater ist, der damals das kleine Mädchen umgebracht hat?«

»Wir sind im Verhörraum, Marco«, antwortete ich.

Unser Verhörzimmer war ein Büroraum, in dem außer einem Schreibtisch mit Telefon, Tastatur und Monitor ein einfacher, quadratischer Tisch mit weißer Kunststoffoberfläche und drei schlichte Holzstühle standen, an der Wand ein altmodisches Sideboard mit dem Drucker darauf. Hier drinnen waren es noch mindestens 30 Grad, eine Klimaanlage gab es nicht. In den meisten Büros halfen wir uns mit Tischventilatoren aus, aber ausgerechnet im Verhörzimmer stand keiner.

Menkhoff drückte den Psychiater auf einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber, Egberts blieb neben der Tür an der Wand stehen.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. »Also dann«, hörte ich von schräg hinter mir, »fangen wir nochmal von vorne an.«

»Fangen Sie alleine an, Herr Hauptkommissar«, antwortete Dr.Joachim Lichner. »Ohne Anwalt sage ich dieses Mal kein Wort.«

8

14. Februar 1994

Das Gelb von Dr.Lichners Haus erinnerte mich an die Farbe der würfelförmigen Duftsteine in Kneipenklos. Ich suchte die Front nach den schmutzigen Fenstern ab, die die alte Frau erwähnt hatte, aber sie waren alle blitzsauber. Ein mit hellen Natursteinen gepflasterter, geschwungener Weg führte durch den kleinen Vorgarten zur breiten Holzeingangstür. Ein graviertes Messingschild war rechts daneben angebracht:

Dr.med. Joachim Lichner

Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie

Öffnungszeiten:

Mo, Di, Do: 8.00–12.00 & 13.30–16.30 h

Mi, Fr: 8.00–12.00 h

»Er hat seine Praxis im Haus.« Menkhoff versuchte, die Tür aufzudrücken. Sie war verschlossen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Kurz nach zwölf, Mittagspause.«

Menkhoff zuckte mit den Schultern und klingelte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür geöffnet wurde.

Die Frau als gutaussehend oder hübsch zu beschreiben wäre ihr nicht gerecht geworden. Eine ganz eigene, schüchterne Schönheit schimmerte durch den Schleier aus Melancholie, der sie zu umgeben schien. Ich versuchte ihr Alter zu schätzen und kam zu dem Schluss, dass sie etwa Mitte zwanzig sein musste. Das glatte schwarze Haar floss zu beiden Seiten an ihrem Gesicht vorbei und reichte über die schmalen Schultern bis fast zur Taille. Ihre helle, fast weiße Haut stand dazu in reizvollem Kontrast, sie wirkte wie zerbrechliches Porzellan. »Oberkommissar Menkhoff, guten Tag.« Die Stimme meines Partners hatte einen Unterton, wie ich ihn nicht von ihm kannte, aber ich kannte Menkhoff ja auch noch nicht allzu lange. »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ähm, das …«, Menkhoffs Kinn zeigte auf mich, »ist mein Partner, Kommissar Seifert. Wir würden uns gerne mit Dr.Joachim Lichner unterhalten. Ist er zu Hause?«

Ihr Blick wanderte unruhig zwischen Menkhoff und mir hin und her, so dass ich versucht war, ihr zu versichern, dass wir ihr nichts Böses tun.

»Ja«, antwortete sie, sonst nichts, und ihre Stimme bestätigte die zarte Schüchternheit, die ihr Gesicht und ihre zierliche Gestalt ahnen ließen.

»Und … können wir ihn sprechen?«, fragte Menkhoff, als das Schweigen quälend wurde. Nach kurzem Zögern antwortete sie erneut nur mit einem »Ja« und machte einen Schritt zur Seite. Menkhoff warf mir einen nicht zu deutenden Blick zu und betrat das Haus.

Auf der linken Seite des großzügigen Eingangsbereiches führte eine Treppe nach oben. Als Handlauf diente die abgerundete Oberseite einer hüfthohen, mediterran anmutenden Mauer, die neben den Stufen schräg nach oben verlief. Eine Tontafel auf Augenhöhe deklarierte den Aufgang als Privat. Der ausladende Tresen an der Wand gegenüber dem Eingang deutete ebenso wie der breite Durchgang daneben mit den tönernen Hinweisen Wartezimmer und Behandlung darauf hin, dass das komplette Erdgeschoss als Praxis diente.

»Bitte, nehmen Sie einen Moment Platz, ich werde Dr.Lichner informieren.« Sie deutete auf eine Reihe mit braunem Leder überzogener Stühle, die entlang der Wand vor dem verlassenen Empfangstresen standen. Menkhoff schaute ihr nach, bis sie am oberen Treppenabsatz nicht mehr zu sehen war.

»Tolle Frau«, sagte ich leise, woraufhin er die Stirn runzelte. »Vergessen Sie’s, nicht Ihre Liga, Herr Kollege. Sie ist älter als Sie und außerdem mit einem Herrn Doktor liiert.«

Ich ließ mich auf einem der Lederstühle nieder. »Ich schätze, sie ist genauso alt wie ich, außerdem möchte ich sie ja nicht heiraten, sondern habe nur festgestellt, dass sie eine tolle Frau ist. Und wie kommen Sie darauf, dass sie mit Dr.Lichner zusammen ist? Könnte doch auch die Haushälterin sein oder seine Sprechstundenhilfe, die mit ihm zusammen Mittagspause macht.«

»Marlies Bertels.« Er setzte sich neben mich, flüsterte nun fast. »Sie hat erzählt, dass Dr.Lichner mit einer Frau zusammenlebt, mit der er nicht verheiratet ist und die keine Fenster putzt.« Mit einem Blick zu der Stelle an der Decke, an der die Treppenmauer endete, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Diese Frau putzt keine Fenster, Kollege Seifert, da bin ich mir ganz sicher.«

Ich suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er das als Scherz gemeint hatte, aber meine Aufmerksamkeit wurde von Schritten auf der Treppe abgelenkt.

Dr.Lichner war etwa eins achtzig groß und schlank. Er trug Jeans und ein weißes Poloshirt, seine gesamte Erscheinung wirkte ausgesprochen sportlich. Ich vermutete, dass er regelmäßig joggen ging. Er war wohl Mitte dreißig. Die blonden Haare über dem leicht gebräunten Gesicht waren auf einen Zentimeter gestutzt. Seine intelligenten Augen musterten uns eingehend, während er auf uns zukam. »Guten Tag. Ich gehe davon aus, bei Ihrem Besuch während meiner Mittagspause geht es wieder um den Mord an dem kleinen Mädchen?«

Wir standen beide auf, Menkhoff sagte: »Guten Tag, Dr.Lichner. Ich bin Kriminaloberkommissar Menkhoff, das ist Kriminalkommissar Seifert. Ja, es stimmt, wir kommen wegen des ermordeten Mädchens, Juliane Körprich.«

»Womit kann ich Ihnen helfen? Oder besser: Was könnte ich Ihnen sagen, das ich nicht schon Ihren Kollegen erzählt habe?« Lichners Blick war forschend und beunruhigte mich irgendwie. Menkhoff schien es ähnlich zu ergehen. Er trat von einem Bein auf das andere und sagte schließlich: »Wir haben uns eben mit einer Ihrer Nachbarinnen unterhalten, Frau Marlies Bertels. Kennen Sie sie?«

Hinter Lichner tauchte die Frau auf, die uns die Tür geöffnet hatte. Sie blieb am Fuß der Treppe stehen und sah zu uns herüber.

»Frau Bertels, ja, ich weiß, wen Sie meinen. Sie wohnt vorne am Spielplatz. Ich sehe sie immer am Fenster stehen, wenn ich dort vorbeigehe. Ich glaube, sie fühlt sich sehr einsam.«

»Wenn Sie dort vorbeigehen?« Menkhoff schaute an Lichner vorbei zu der Frau im Hintergrund, vielleicht einen Moment zu lange. »Welchen Grund gibt es für Sie, dort vorbeizugehen, Dr.Lichner? Diese Straße ist eine Sackgasse, und Frau Bertels wohnt am Ende. Außer dem Spielplatz gibt es dort meines Wissens nichts, weswegen man da vorbeigehen würde.«

Wieder wanderte sein Blick am Gesicht des Arztes vorbei, heftete sich auf das schmale Gesicht der Frau. »Haben Sie … Sie beide ein Kind, mit dem Sie auf den Spielplatz gehen?«

Der Psychiater lächelte und drehte sich um. »Nicole, komm doch bitte zu uns, ich möchte dich den Herren Polizisten vorstellen, das hast du doch bestimmt noch nicht getan.«

Als sie neben ihm stand, legte er ihr den Arm um die Taille. »Nicole Klement, meine Lebensgefährtin. Wir wohnen seit zwei Jahren hier zusammen. Ohne Kinder. Beantwortet das Ihre Frage, Herr Kriminaloberkommissar?«

»Nur zum Teil.« Menkhoff räusperte sich. »Meine erste Frage war, welchen Grund Sie haben können, am Haus von Frau Bertels vorbeizugehen.«

Lichner zeigte wieder seine makellosen Zähne. »Aber ja, Sie haben natürlich recht, Herr Oberkommissar. Die Frage nach einem Kind war wahrscheinlich das logische Resultat Ihrer einzigen Erklärung, warum ich am Haus der alten Frau vorbeigehen könnte.« Wieder wandte er sich an seine Freundin. »Da siehst du, dass die Serienpolizisten im Fernsehen nicht viel mit der Realität zu tun haben. Der Kommissar aus dem Abendprogramm hätte bestimmt gleich gesehen, dass neben dem Haus der alten Frau Bertels ein schmaler Fußweg zur Parallelstraße führt, in der es unter anderem einen Bäcker gibt.«

Es war unverkennbar, dass meinem Partner der Verlauf des Gesprächs immer weniger gefiel. Ich war versucht, mich einzumischen, hütete mich aber, es ausgerechnet in diesem Moment zu tun. Es war mein erster Mordfall, und ich hatte zugegebenermaßen große Angst, durch falsche Fragen vielleicht etwas zu vermasseln.

»Frau Bertels hat angegeben, sie hätte Sie mehrfach dabei beobachtet, wie Sie der kleinen Juliane Süßigkeiten gegeben haben.« Stille, in der Menkhoff den Psychiater fixierte, sekundenlang, bis er schließlich den Kopf ein wenig schief legte und sagte: »Herr Dr.Lichner?«

Der tat überrascht. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie eine Frage gestellt haben. Wie war die Frage noch gleich?«

Menkhoff senkte für einen Augenblick den Kopf wie ein Stier vor dem Angriff auf den Matador. »Hören Sie, Dr.Lichner, wenn Sie unbedingt möchten, können wir dieses Gespräch auch gerne im Präsidium weiterführen, und das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.« Sein Ton nahm noch an Schärfe zu. »Ein kleines Mädchen ist umgebracht worden, Herr Doktor, und wir sollen und wollen herausfinden, wer das getan hat. Dabei steht mir der Sinn überhaupt nicht nach schlauen Wortspielereien. Ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, aber ich schlage vor, Sie legen Ihre Arroganz mal für ein paar Minuten zur Seite und beantworten mir jetzt und hier meine Fragen, oder aber Sie tun es auf dem Polizeipräsidium. Also, was ist Ihnen lieber?«

Wieder sahen sie sich eine Zeitlang an – drei Sekunden? Fünf? –, bis Lichners Mund sich zu einem Lächeln verzog.

»Nein, es stimmt nicht. Ich habe der Kleinen nie was Süßes gegeben, genauso wenig, wie ich das bei anderen Kindern tue, die auf dem Spielplatz sind, wenn ich zum Bäcker gehe.«

»Dann hat Frau Bertels gelogen?«

»Offensichtlich.«

»Ich frage mich, warum die alte Frau das tun sollte.«

»Ja, das denke ich mir«, sagte Lichner.

»Was denken Sie sich?«

»Dass Sie sich das fragen.«

»Haben Sie das Mädchen näher gekannt?« Die Frage wäre als Nächstes auch von Menkhoff gekommen, aber nun schaltete ich mich bewusst ein, um die Situation ein wenig zu entschärfen. Lichners Dauerlächeln richtete sich auf mich. »Definieren Sie doch bitte näher, Herr … Wie war das, sind Sie noch in der Ausbildung oder schon Kommissar?«

Leichtes Kribbeln an den Haarwurzeln. »Ja, das bin ich. Kriminalkommissar, genaugenommen, und ich meine damit, ob Sie das Kind vielleicht über die Eltern kannten. Hatten oder haben Sie Kontakt zur Familie Körprich?«

»Nein, ich hatte und ich habe nicht, also auch nein, ich kannte die Kleine nicht näher.«

»Und was denken Sie, warum uns Frau Bertels anlügen sollte?«, schaltete sich Menkhoff dankenswerterweise wieder ein. »Haben Sie eine schlaue Erklärung dafür parat, Herr Doktor?«