Das Wissen der 35-Jährigen - Volker Marquardt - E-Book

Das Wissen der 35-Jährigen E-Book

Volker Marquardt

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Beschreibung

35 – wenn wir jetzt nicht erwachsen werden, werden wir es nie! Warum kaufen wir zu viele Schuhe? Warum fangen wir schon wieder eine neue Beziehung an? Antworten auf diese Fragen finden Sie hier. Außerdem noch alles, was man mit 35 wissen sollte, um als erwachsen zu gelten – und vor allem, welche Ausreden nicht mehr funktionieren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Volker Marquardt

Das Wissen der 35-Jährigen

Handbuch fürs Überleben

FISCHER E-Books

Inhalt

für Dodo und Zoe [...]Willkommen in meiner SpalteLiebenDie Kinder unserer ElternDon’t go for second best! – Wir MaßlosenNimm mich und meine Macken!Alles Singles oder was?Die Eltern unserer KinderFreundschaftenArbeitenUnser Kindergarten und die FolgenVon »Dallas« lernen heißt siegen lernenDas Leben als ewiges Praktikum?Antiautoritäre KönigskinderDer kurze Sommer der AnarchieSoft Skills? – Nein, danke!Arbeitslosigkeit und andere KleinigkeitenHeute ist KriseKaufenWir WohlstandskinderMy Marke is my castleEwige Kindheit dank NiveaWillkommen in der BedürfniserweckungsanstaltDer einzig wahre Fake: Aldi und H&MKaufen als ErlebnisPhasen der KonsumverweigerungEins, zwei oder drei?AnhangEinen Heiratsantrag machenSeinen Dispokredit ab jetzt einhaltenFür einen Partner sein Leben ändernDie Eltern zum Geburtstag einladenEinen Job kündigenSeine Heimat akzeptierenGruppensex ausprobierenSeinen Eltern die Meinung geigenEinen Psycho-Ratgeber lesenFür mehr Freizeit auf Karriere verzichtenEinen Weihnachtsbaum kaufenSeinen Freund aus der gemeinsamen Wohnung werfenSeine Steuererklärung selbst machenKinder in die Welt setzen (Mann)Kinder in die Welt setzen (Frau)Sich auf ein Abiturtreffen freuenFreundschaften pflegenEinem Unbekannten seine Telefonnummer gebenSich vier Wochen vorher festlegen, wo man Silvester verbringtEinem Menschen sagen, dass er einem wichtig istSich für einen Partner entscheiden (ohne zu glauben, dass man noch einen besseren findet)Seinen eigenen Laden aufmachenSich fragen, was wichtig istDanke

für Dodo und Zoe

Willkommen in meiner Spalte

Hand aufs Herz: Früher haben wir alle gedacht, mit 35 ist alles gelaufen. Der Job ist super, das Häuschen zwar noch nicht abbezahlt, aber solide finanziert. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, und die Liebe wächst von Tag zu Tag. Irgendwo zwischen der Spießigkeit der »Lindenstraße« und der Lockerheit der »Sesamstraße« wollten wir landen. Heute nervt der Job, die Beziehung ging letzte Woche in die Brüche. Die Kinder sind entweder ungeboren, oder du siehst sie nur am Wochenende. Obwohl du Glück und noch einen Job hast, erscheint am Ende des Monats immer ein Minusguthaben auf deinem Konto, das – und dies ist mit den einfachsten Regeln der Mathematik durchaus vorhersehbar – entsprechend von Monat zu Monat wächst. Trotzdem will es dir nicht in den Kopf, dass du pleite bist – und zwar in jeder Beziehung.

Aber deine Freunde sind auch nicht besser. Sie behaupten, sie würden seit Jahren an einem genialen Roman schreiben, von dem du noch nie eine Seite gesehen hast. Deine Nachbarin, allein erziehende Ex-Akademikerin, hat einen neuen Job im Bioladen gefunden. Peu à peu hat sie den Rückzug von der festen Universitätsanstellung angetreten, weil ihr das Büro, die Kollegen, die Aufgabe oder sonst was nicht gepasst hat. Überhaupt will sie ihr Geld eigentlich lieber mit Photographieren verdienen, obwohl sie als Alt-Historikerin vor einigen Jahren sehr gute Chancen an der Universität hatte. Deine Ex, die BWL und Sinologie studierte, lässt sich zur Hebamme umschulen, und dein bester Freund, der das Medizinstudium mit Auszeichnung bestanden hatte, bettelt gerade bei den Sparkassen um ein wenig Geld: Er will einen Cateringservice aufziehen. Einfach so. Und weil ihn seine Arbeit im Klinikum langweilt und er mal was anderes sehen will. Axel hat als Produktmanager gekündigt und lebt seit einem halben Jahr in einem Kloster in Südfrankreich. Wir sind Pleite und gleichzeitig auf der Flucht, um ja nicht anzukommen.

Auch in der Liebe. Thomas hat seine schwangere Freundin verlassen. Die Verantwortung für ein Kind ist ihm einfach zu groß. Marlies hat sich von Jürgen getrennt, weil dieser ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte und sie das mit ihren Vorstellungen von Freiheit innerhalb einer Beziehung nicht zusammenbrachte. Manche Paare leben so lange es irgendwie geht in getrennten Wohnungen. Bloß keinen Pärchenalltag aufkommen lassen. Dabei hat Tom schon seine halbe Garderobe zu Karin geschafft. Natürlich sind die beiden noch Singles, obwohl sie seit fünf Jahren nur zusammen ausgehen und obwohl beide mindestens seit drei Jahren keinen Sex mehr mit einem anderen Menschen hatten. Es gelingt uns einfach nicht, uns in eine Sache, eine Liebe voll reinzuwerfen. Nach der ersten Nacht denken wir: »Das wird was.« Aber wir halten uns Hintertüren offen – und natürlich kreuzen dahinter Möglichkeiten, Alternativen, Abzweigungen auf. Dann lassen wir uns treiben. Bis wir uns so verändert haben, dass uns unser Partner nicht mehr wieder erkennt. Und wir uns manchmal auch nicht mehr.

Früher war alles besser. Wir dachten: Wow, das Leben ist verdammt lang, und klar werden wir fünf Jahre in Berlin leben, fünf Jahre in Hamburg oder München, ein paar Jahre in Rom, Madrid, London und New York, wir werden uns aus der Studentenwohnung in eine schicke Altbauwohnung einmieten. Später werden wir eine tolle Villa am Stadtrand beziehen, den Segel- und den Tauchschein machen, mindestens einen 6000er besteigen, noch ein paar Sprachen lernen, die Kontinente bereisen und uns frühzeitig aus dem Berufsleben verabschieden. Dann werden wir im Kreise unserer Liebsten noch ein paar Jahrzehnte am Starnberger See oder auf Sylt verbringen. So haben wir uns das gedacht. Und wir glauben immer noch daran. Aber wir hocken weiterhin in unserer Studentenbude. Die ist preiswert, und so bleibt mehr Geld zum Ausgehen übrig. Aber wir haben natürlich noch alle Möglichkeiten, denn 35 ist kein Alter, mit 35 kann man noch mal ganz von vorne anfangen! Man kann zum Beispiel noch ein Jurastudium beginnen und dann in den diplomatischen Dienst gehen. Oder geht das vielleicht doch nicht mehr?

Wir schieben ständig Entscheidungen vor uns her. Wenn wir doch etwas anfangen, dann mit der Option, sofort wieder aussteigen zu können. Deshalb mieten wir auch keine schicke Altbauwohnung und finanzieren keine Villa. Vielleicht kündigen wir ja im nächsten Jahr unseren Job, da er uns vom Wesentlichen abhält. Was das Wesentliche ist, können wir nicht sagen. Wir wissen zwar, dass es drei wichtige Dinge in unserem Leben gibt, nämlich Lieben, Arbeiten und Kaufen. Aber das hilft uns auch nicht wirklich weiter, da wir uns immer wieder neu aufstellen. Geht es uns bei der Liebe, fragen wir uns, um Freundschaft, Milieu oder Leidenschaft? Sollen wir nach dem suchen, was wir noch nie oder schon immer hatten? Andauernd stellen wir Ranglisten für unsere Liebesgründe auf und werfen sie im nächsten Moment wieder über den Haufen. So sind wir.

Wir sind wie die Kinder der TV-Show »Eins, zwei oder drei?«. Wir rennen über die bunt blinkenden Felder und können uns nicht entscheiden. Schuld daran sind natürlich unsere Eltern. Wir sind aufgewachsen als Kinder einer Elterngeneration, die uns ein Meer der Möglichkeiten versprach. Für sie ging es darum, uns alles zu ermöglichen und uns vor den Sprüchen unserer Großeltern zu schützen. Denn Oma und Opa haben uns an ihren runden Geburtstagen immer zugeflüstert: »Das Leben ist kein Zuckerschlecken«, »Alles hat seinen Preis«, »Man muss sich entscheiden«, »Du kannst nicht alles haben«. Aber unsere Eltern gingen immer dazwischen und ließen uns glauben, nichts habe seinen Preis, wir müssten uns nie für oder gegen etwas entscheiden. Alles sei schon da und wir könnten natürlich alles haben. Wenn wir sie fragten »Warum?«, dann sagten sie »Weil du unser Kind bist«. Das klang überzeugend. Dass diese Antwort falsch war, wollen wir bis heute nicht wahrhaben.

Wir hätten ja den Traumpartner geheiratet, die Kinder gezeugt, den grandiosen Job angenommen, die Villa bezogen, den Tauchschein gemacht und das Bollhagen-Geschirr für das Wochenendhaus bestellt, wenn man uns all das auf dem Silbertablett präsentiert hätte. Ohne Wenn und Aber. Ohne sich darum bemühen zu müssen. Wenn all das wie in unserer Kindheit schön verpackt und mit einer roten Schleife versehen unter dem Weihnachtsbaum gelegen hätte. Wir es also gleich als Geschenk erkannt hätten. Wenn uns das Nicken von Mama und Papa dazu gedrängt hätte, uns auf dieses Paket zu stürzen und die Verpackung aufzureißen. Wir wussten immer: Wenn Mama und Papa uns zulächeln, kann es nicht ganz falsch sein.

Heute aber müssen wir feststellen, dass Mama und Papa nicht mehr nicken. Sie haben nämlich selbst keine Ahnung davon, wo heute das rettende Ufer verläuft. Sie wurden in einer normierten Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre erwachsen, die es so heute nicht mehr gibt. Und sie waren deshalb auch nicht in der Lage, uns die Kenntnisse mitzugeben, die wir heute benötigten, um im Leben klarzukommen. Sie wollten nur unser Bestes. Sie haben uns unser Pausenbrot geschmiert und sich schützend vor uns gestellt, wenn es Ärger gab. Sie haben uns keine Vorschriften gemacht – außer: »Mach, was du willst.« Das war zwar eine ungeheure Befreiung, aber auch ein Freischwimmer für eine endlose Suche – nach dem richtigen Partner, nach dem richtigen Job, nach der richtigen Umhängetasche. An dieser erzieherischen Wassersuppe verschlucken wir uns bis heute.

Das ist dumm. Weil der richtige Partner manchmal vor der Tür steht, weil man sein Konto nicht wirklich überziehen muss, ein guter Job ab und an auch in den schlimmsten Zeiten zu finden ist. Vor allem aber, weil einfach eine Menge echtes Leben im Leben auf uns wartet. Zumindest dann, wenn wir nicht ständig damit beschäftigt wären, zu überlegen, welche Tür diese oder jene Entscheidung verschließen könnte. Wir wollen nicht anerkennen, dass es mit Mitte 30 nicht mehr darum gehen kann, sich gegen etwas zu entscheiden, sondern für etwas. Und da wir genau diese Kunst überhaupt nicht beherrschen, werden wir lieber nicht erwachsen. Wir wollen ewig Kind bleiben. Wir suchen uns Nischen, in denen wir weiterhin Teenager sein dürfen – und vielleicht dafür bezahlt werden. Wenn das nicht klappt, kaufen wir uns nach Feierabend wenigstens eine G-Star-Hose mit Knieschonern. Damit, so hoffen wir, sehen wir aus wie ein 19-Jähriger Hip-Hopper aus der Vorstadt. Diese Vorstellung gefällt uns.

Trotzdem rutschen wir mit dem 35. Geburtstag demographisch in eine andere Spalte. Vorher fielen wir, wenn es gut lief, in die Spalte »18 bis 34 Jahre«, und Marktforscher interessierten sich für uns, weil sie herausfinden wollten, wie unsere MTV-Sehgewohnheiten sind. Oder in die Spalte »25 bis 34 Jahre«. Das war auch gut. Dann tauchten wir in Studien zum Thema »Frequenz Geschlechtsverkehr pro Woche« auf. Damit ist jetzt Schluss. Jetzt sind wir 35, und die neue Spalte nennt sich »35 und älter«. Ab jetzt heißen die Studien, zu denen wir befragt werden »Der Einfluss des Marathonlaufs auf den Kreislauf von Senioren zwischen 35 und 60«. Das hört sich nicht wirklich gut an. Mit einem Geburtstag auf den anderen sollen wir aus der MTV-Generation in den Vorruhestand durchstarten. Dabei sind wir doch im besten Alter. Wofür eigentlich? Na, für alles!

Solche kleinen Veränderungen sollen uns aber signalisieren: »Du bist jetzt 35, und du solltest eigentlich wissen, was du mit deinem Leben anfangen willst. Stell dich nicht so an. Du hattest eine Menge Möglichkeiten. Einige hast du genutzt, andere vorbeiziehen lassen. Aber du hast sie gehabt. Jetzt ist wirklich Schluss mit lustig!« So von der Seite angequatscht, spüren wir, dass sich die Tür zur Dauerjugendlichkeit langsam, aber sicher schließt. Und ganz ehrlich: Mit 35 sollten wir einen Job gefunden haben, sonst bekommen wir Probleme – nicht nur mit den Rentenzahlungen. Mit 35 sollten Frauen ein Kind bekommen haben, sonst wird es eine Risikoschwangerschaft. Und mit 35 wollen die meisten von uns heiraten – ob sie einen Partner haben oder nicht. Jetzt geht’s für uns um die Wurst.

»35 ist ein interessantes, kritisches Alter«, sagt der japanische Schriftsteller Haruki Murakami. »In ihren 20ern sind die Menschen optimistisch und frei. Wenn sie 35 werden, müssen sie ihr Leben ernsthaft in die Hand nehmen. Dieses Alter ist der Wendepunkt.«

Mit 30 Jahren kokettiert man noch gerne mit seinen Fehlern und seinen Unzulänglichkeiten: der kleinen Hinterhofwohnung, der ungeschriebenen Magisterarbeit, den Secondhandklamotten und dem Umstand, dass man seit Jahren schon keine ernsthafte Beziehung mehr hatte. Mit 40 schweigt man darüber und trifft sich nur noch mit Gleichgesinnten, die einen nicht mehr in Frage stellen.

Doch mit 35 steht man zwischen Hoffen und Bangen, mit 35 hat man noch eine Chance. Eine Chance auf einen zweiten Beginn oder überhaupt auf einen Beginn. Eine Chance auf Erkenntnis und Veränderung. Wer jenseits der 35 noch nicht verstanden hat, dass das Leben »als ob« das falsche Leben ist und dass man Träume verwirklichen oder sich davon verabschieden soll, dem ist nicht mehr zu helfen. Viele von uns haben sich gerade zum ersten Mal für etwas entschieden und dabei gemerkt, dass sie durch den Verlust anderer Möglichkeiten tatsächlich Orientierung gefunden haben. Definitely maybe.

Lieben

Die Kinder unserer Eltern

Erste Erfahrungen in Sachen Liebe haben wir bei unseren Eltern gesammelt. Das geht wohl den meisten Menschen so. Ungewöhnlich bei uns war aber, dass das Mantra der elterlichen Fürsorge immer hieß: »Egal, was du mit deinem Leben anstellst, wir werden dich immer lieb haben.« Wenn wir Pech hatten, waren wir Einzelkinder und wurden von unserer Mutter verhätschelt und mit allen Segnungen der Kinderpädagogik erzogen. Hatten wir Glück, gab es noch drei Geschwister, auf die sich die mütterliche Liebe verteilen konnte. Oder aber Mama musste wieder arbeiten, da die monatlichen Tilgungsraten für das Reihenhaus sehr hoch waren. Dann konnten wir die halbe Kindheit ungestört von pädagogischen Feldversuchen und libidinösen Überdosierungen bei Oma im Garten verbringen, auf der Straße oder in den ersten Schülerläden.

Liebe, Aufmerksamkeit, Zuneigung gab es also für die meisten von uns im Überfluss. Und das ist bis heute Teil unseres Problems. Denn erstens kam irgendwann das Alter, in dem wir uns nicht mehr an Muttis, sondern eher an eine andere Brust schmiegen wollten, während wir für den Frieden demonstrierten. Und zweitens sind wir bis heute der Meinung, in Beziehungen mindestens so viel Liebe, Aufmerksamkeit und Verständnis bekommen zu müssen, wie wir von unseren Eltern bekamen, als wir etwa sieben Jahre alt waren. Dass dies unrealistisch ist, will uns nicht in den Kopf, zumal ja unseren Eltern bis heute nicht in den Kopf will, dass wir keine sieben mehr sind. Entsprechend repariert Papa bis heute den Kühlschrank oder sucht eine neue Waschmaschine für die Tochter aus. Und Mama lässt es sich nicht nehmen, wenn sie auf Besuch bei uns ist, mal schnell die Wohnung durchzuwischen und ein paar Hemden zu bügeln. Dieses anhaltende Verwöhnprogramm wollen wir auch in anderen Beziehungen haben.

Dass wir es anders machen wollten als unsere Eltern, haben wir ziemlich schnell begriffen. Sie bauten noch ganz auf die junge Familie. Wir wollten das lieber noch etwas hinausschieben. Trotz aller biologischen Widerstände. Bei unseren Eltern haben wir gesehen, dass es durchaus Sinn machen könnte, auf den richtigen Partner und auf das erste Kind etwas länger zu warten. Es muss ja nicht unbedingt wie in den 1960er Jahren üblich schon mit Anfang 20 und mitten in der Ausbildung sein. Uns war schnell klar, dass man dadurch einiges verpasst, was Spaß macht. Diesen Eindruck hatten auch unsere Mütter. Warum sonst stürzten sie sich Ende der 1970er Jahre in Makramee-Kurse, Yoga-Seminare und Frauengruppen oder wälzten das Volkshochschulprogramm ›Sprachkurse‹? Warum sonst streiften sie sich mittags das aus dem Griechenland-Urlaub mitgebrachte blau-weiß gestreifte Hemd über und schnippelten Auberginen in das Moussaka? Wahrscheinlich für die griechischen Momente in ihrem Leben, die bis dato eindeutig gefehlt hatten.

Im Rückblick ist das nicht weiter verwunderlich. Waren unsere Eltern doch 68er. Ein bisschen zumindest. Leider mussten sie früh heiraten, weil sie ja uns bekamen. Und ein Kind ohne Ehe – das gehörte sich damals noch nicht. Nun saßen sie, als sie vom wilden Leben der Berliner Kommunarden hörten, schon in ihrem erst zu einem Zehntel abbezahlten Eigenheim. Nur ein paar Jahre älter als die radikalen Studenten, wohnten sie eben nicht in Hamburg, Berlin oder München, sondern wie die meisten Deutschen in Mittelstädten wie Augsburg, Koblenz und Emden. Oder auf dem Land. Dort merkte man nicht allzu viel vom veränderten gesellschaftlichen Klima. Von Kommunen, schwarzem Afghanen und Gruppensex hatten sie zwar schon gehört oder im Stern gelesen. Aber das war nichts für sie. Sie mussten ja den Kredit für die Doppelhaushälfte abbezahlen. Irgendwann achtete Mama beim Moussaka auch darauf, nicht so viel Knoblauch zu verwenden. Schließlich musste Papa ja noch arbeiten.

80er-Jahre-Nostalgie: Seit etwa 2000 immer beliebtere, meist verklärende Erinnerung an die eigene Jugend. Die 35-Jährigen beginnen anders als Opa (»Damals in den Ardennen«) und die 68er mit ihrer Terrorismus-Nostalgie bereits mitten im Leben damit. Zum Glück für 80er-Jahre-Shows und dieses Buch. »Die neue Afri-Cola erinnert mich ungeheuer an die Schwipp-Schwapp-Phase meiner Jugend.« Heute auch beliebt Dot-Com-Nostalgie.

Ein wenig 68er-Gesinnung gelangte dennoch in die letzte Wohnküche der Bundesrepublik. Und damit auch zu uns. Bei manchen war es der Flokati-Teppich oder die Lederfransenjacke, bei meiner Mutter waren es alternative Kurse und Seminare. Sie probierte wirklich alles aus, was eine süddeutsche Kleinstadt anzubieten hatte: Vollwertküche, vegetarische und vegane Gerichte, Meditationstechniken verschiedener Meister, Yoga, Atemübungen à la Schnitzler, Tai-Chi, Akupunktur, Hypnose und Gestalttherapie. Für einige Zeit war sie in insgesamt neun gemeinnützigen Vereinen. Schon als Teenager haben wir uns gewundert, warum eigentlich wir die Konsumkids sein sollen. Nur weil wir keine Lust mehr auf Skifahren hatten, obwohl wir zu Weihnachten gerade erst eine komplette Ausrüstung bekommen hatten? Unsere Mütter waren doch kein bisschen besser. Auch sie machten alle zwei Wochen ein neues Fass auf. Überhaupt nicht gewundert haben wir uns allerdings, dass unsere Konsum-Mamas bei all diesen Terminen kein weiteres Kind mehr wollten. Denn jetzt war es schließlich an der Zeit, sich selbst zu verwirklichen, endlich seine Chakren zu finden. Wir wollen das anders machen. Erst uns selbst verwirklichen, dann den Partner fürs Leben finden und dann erst die Kinder in die Welt setzen. Das Problem mit der Selbstverwirklichung ist nur: Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man so schlecht wieder damit aufhören. Das ist wie beim Magnum-Mandel-Eis.

Don’t go for second best! – Wir Maßlosen

Bis heute tun wir uns schwer damit, unsere Vorstellungen von Liebe unserem Alter anzupassen. Noch immer sind diese Vorstellungen von den Popsongs der frühen 1980er Jahre dominiert, dem Soundtrack zum ersten Verliebtsein. Bei mir war das »Blaue Augen« von Ideal. Ich weiß noch genau, wie ich diesen Song das erste Mal im Radio hörte. Es muss auf SWF3 gewesen sein, in einer Sendung von Elmar Hörig. Wie immer saß ich abends mit meiner Mutter am Küchentisch. Wie immer haben wir Brote gegessen – mit Aufschnitt und abgepacktem Tilsiter. Im Wohnzimmer lief das Radio leise, aber der Refrain »Deine blauen Augen machen mich so sentimental« war plötzlich ganz laut in der Küche zu hören. Danach hatte ich keinen Hunger mehr auf Brote mit Tilsiter. Am nächsten Morgen bin ich in der 10-Uhr-Pause zu Woolworth gelaufen – sonst gab es in dem Thermalkurort an der Schweizer Grenze nirgendwo Platten – und habe mir die Single von Ideal gekauft. Dazu eines von den Plastikkreuzen mit einem Loch in der Mitte, damit ich sie auf Papas Kompaktanlage überhaupt abspielen konnte.

Adhokratie: Gegenteil der Bürokratie. Arbeiten ohne Stundenplan und geregelte Arbeitsabläufe. In den späten 1990ern vor allem in der New Economy weit verbreitet. Meetings genannte Konferenzen wurden ad hoc – lateinisch für »sofort« – per Rundmail einberufen: »In 10 Minuten treffen. Bringt Ideen mit. Euer Chef«. Gilt seit der Krise der New Economy als ähnlich problematisch wie die Bürokratie.

Toll war auch Nenas »Irgendwie, irgendwo, irgendwann«. Weil der Anfang langweilig war, habe ich immer auf eine einzige Zeile gewartet: »Gib mir die Hand, ich bau dir ein Schloss aus Sand«. Das wollte ich auch zu Marion sagen, die in der 9. Klasse zwei Bänke vor mir saß, wenn ich mal die Gelegenheit dazu haben sollte. Die Gelegenheit ergab sich nie. Stattdessen habe ich Marion ein ganzes Schuljahr stumm angehimmelt, bis sie zum Schüleraustausch in ein Kaff in den USA verschwunden ist. Vielleicht war sie ja weniger romantisch. Dann hätte ihr »Der Knutschfleck« besser gefallen. Eine gewisse Ixi sang ganz frech, dass wir ihr einen Knutschfleck machen sollen oder mit ihr »Brause blubbern«. Obwohl wir nicht so genau wussten, was das bedeutet, bekamen wir rote Ohren vor Aufregung. Diese Ixi war eine, die sich die Jungs ausgesucht hat. Wenn sie ihr nicht mehr gefielen, hieß es: »Ene mene mu – und raus bist du.« Aber so weit ist es mit Marion ja nicht einmal gekommen.

Bis heute haben wir in den unpassendsten Momenten solche Songs im Kopf. Bis heute wollen wir nicht erwachsen werden. »Ich will« von UKW gefiel uns deshalb so gut, weil es sich wie eine immer währende Trotzphase anhört. Den Refrain »Ja, ich will, was mir gefällt. Es gibt nichts, was mich noch hält« konnten wir dann auch schnell auswendig. Besonders »Lalaa, lalalalalaa« und die mühsam gereimte Aufforderung zu mehr Eigensinn: »Lauf der Herde nicht nach wie die anderen Kälber. Was gut für mich ist, weiß ich selber.« Auf Grammatik achteten UKW dabei offenbar genauso wenig wie wir. Dafür waren sie aber irgendwie rebellisch und sahen in ihren Flohmarkt-Anzügen in der Bravo auch noch gut aus. Zumindest dachten wir das Anfang der 1980er Jahre, als es noch neu war, dass uns jemand zeigte, wie man aus der Herde ausscheren konnte.

Aidstest:1. Machte Sex für die 35-Jährigen mitten in ihrer Experimentierphase zum Problem. Mit der Einführung des HIV-Antikörpertests – wie der Aidstest seit 1985 medizinisch korrekt heißt – war klar: Aids konnte jeden treffen. 2. Grund für Hysterie. Nicht nur Hypochonder tasteten den Hals nach geschwollenen Lymphknoten ab und machten nach jedem ungeschützten Sex als Erstes einen Aidstest (siehe Angst). Heute aus unerfindlichen Gründen kein Gesprächsthema mehr.

Dieser Individualismus steht uns bei Beziehungen immer noch im Weg. »Ich halte zärtlich meine Hand. In meinem Film bin ich der Star, ich komme nur alleine klar«, haben uns Ideal in »Eiszeit« vorgesungen. Das war auf demselben Album wie »Blaue Augen«. Ich war gerade 13 Jahre alt, als ich es mir für 14,90 Mark kaufte. Trotzdem stimmt das manchmal noch heute. Weil wir seither der Star sein wollen, wird es für uns immer schwieriger, jemanden zu finden, der da mitmacht. In Liebesdingen sind wir absolut. Vielleicht liegt das daran, dass wir gesehen haben, wie Papa sich in den Hobbykeller zurückzog, als Mama mit ihrem esoterischen Volkshochschulzeugs anfing. Da dachten wir: So wollen wir uns nie zurückziehen müssen.

Wenn wir merken, dass wir unterschiedliche Bücher lesen, unterschiedliche Restaurants mögen, im Kino an unterschiedlichen Stellen lachen oder weinen, ist das ein Scheidungsgrund. Null Toleranz! Ein falsches Wort, ein falscher Film, ein falsches Lieblingsbuch, und der schöne Film »Frisch verliebt« bekommt einen Riss, bricht einfach ab ohne happy ending. Wenn der Partner beim Essen schmatzt oder eine zitronenfarbene Batikhose trägt, sind wir weg.

Mit dieser Einstellung kann natürlich keine Beziehung funktionieren, die Ehe unserer Eltern hätte unter diesen Voraussetzungen kaum länger als 6 Monate gehalten. Das wissen wir zwar in der Theorie, aber in der Praxis bleiben wir weiter uneinsichtig. Wir wollen alles. Wir wollen keine Kompromisse eingehen, nicht einmal das kleinste Zugeständnis machen. Und natürlich wird diese Einstellung mit jedem Lebensjahr problematischer, denn wir werden ja nicht einfacher. Wir entwickeln immer mehr Spleens, die sich nicht mehr vermitteln lassen oder so speziell sind, dass selbst in einer Millionenstadt die Chancen schwinden, mehr als drei Leute zu finden, die ebenfalls diese oder jene Macke teilen. Trotz unserer theoretischen Einsicht, trotz der vielen, vielen Gespräche, die wir mit anderen Singles oder Ex-Partnern führen, trotz der bitteren Tränen, die wir immer wieder heimlich unter der Dusche abdrücken – die Praxis straft uns Lügen.

Aktie: Eigentlich nur ein Stück Papier. In den 1990ern der Schlüssel zu Reichtum. Seit März 2000 fragwürdiges Investitionsobjekt (siehe Börsencrash). Heutige Besitzer oft ratlos und verarmt. Nicht mehr abstoßbar. Kein gutes Thema für Partys. Häufige Antwort »Ich will nicht darüber reden« (siehe Geld).

So hatte Ute vor einiger Zeit endlich einen tollen Mann kennen gelernt. Sie sagt auch heute noch: »Ich finde Gerald als Mann toll, ich finde ihn als Mensch toll, und ich fände ihn als Vater meines Kindes toll. Ich vermisse die Gespräche mit ihm, sein Lachen. Er konnte hervorragend kochen, und ich mochte seine Freunde.« Was will man eigentlich mehr? »Und doch habe ich gemerkt, dass ich nicht mit einem Mann schlafen kann, der Gerald heißt. Den Namen fand ich schon in der Schule immer schrecklich.« In ihrer Klasse hießen nur die verklemmten Typen so. Und erotische Phantasien konnte sie bisher noch mit keinem der Geralds verbinden.

Eine Zeit lang hat Ute es deshalb mit seinem zweiten Namen Paul versucht. Aber das funktionierte nicht: Gerald hat sich nie angesprochen gefühlt. Entsprechend verließ Ute Gerald nach wenigen Monaten wieder und dachte sich, sie könne Gerald plus X finden. Das ist jetzt vier Jahre her. Gerald hat mittlerweile eine neue Beziehung, und Ute ist alleine geblieben. Denn die Männer, die sie danach traf, hatten zwar alle schöne Namen, aber entweder nichts zu erzählen, konnten nicht kochen oder waren durch und durch langweilig. »Ich habe überhaupt nicht begriffen, was ich an Gerald hatte, und dachte immer nur: Genau so will ich das, aber eben noch ein wenig mehr. Ich war der Überzeugung, dass mir das auch irgendwie zusteht und dass ich das auch finden werde.«

Mark konnte auch nie genug kriegen. In jeder Partnerschaft war er der Überzeugung, dass noch mal was Besseres kommen könnte. Mittlerweile ist er seit drei Jahren alleine, geht zwei Mal die Woche zu seinem Therapeuten und arbeitet intensiv an der Eindämmung seiner Maßlosigkeit. Manchmal, wenn ihm ganz klein zumute ist – und das ist ziemlich oft der Fall –, fragt er sich laut, warum er 1988 nicht erkennen konnte, dass Barbara ganz klar die Frau seines Lebens war, und warum er sie nur so schlecht behandelt habe und sich einen Dreck um ihre Bedürfnisse geschert habe etc. pp. »Warum war ich nur so blind?«, lautet die Anklage in eigener Sache.

Unsere jüngeren Geschwister aus der Generation Golf waren so spießig und konservativ, dass sie massenhaft mit Mitte zwanzig den Bund der Ehe geschlossen haben. Wir hingegen wollen immer noch was ausprobieren, uns nicht festlegen. So leben wir bis heute nach dem Motto: »Etwas Besseres als das Zweitbeste finden wir allemal«. Oder summen leise Madonnas »Don’t go for second best, baby, put your love to the test«. Und das ist fatal. Langsam müssten wir eigentlich einsehen, dass wir bald gar niemanden mehr finden werden, schon allein weil die wenigen ernst zu nehmenden möglichen Partner mittlerweile selbst ernst zu nehmende Partner gefunden haben. Wenn wir bisher gedacht haben, dass wir wie die Kinder in Michael Schanzes TV-Show »Eins, zwei oder drei« noch die Auswahl haben, befürchten wir jetzt, dass es schon längst plop gemacht haben könnte, und plop, das heißt Stopp. Aber das haben wir wohl überhört …

AKWs: Abkürzung für Atomkraftwerke. In den 1980er Jahren von Atomkraftgegnern verwendet. Befürworter sprachen lieber von Kernkraftwerken, um die positive Wirkung der Kernspaltung zu betonen (siehe Atomkraft? Nein danke!). Heute würden 35-Jährige immer noch gerne auf alternative Energien umsteigen, wenn es nur nicht so aufwendig wäre.

Wie andere Abkürzungen (Kita, Sozi, Antifa) im alternativen Millieu äußerst beliebt.

Viele von uns sind derart verbohrt, dass sie gar nicht merken, wie sie zwei völlig gegensätzliche Lebensmodelle mit nur einem Partner leben wollen. Bettina zum Beispiel will einen Mann, mit dem sie eine Familie gründen kann, und sie will einen Mann, mit dem sie bis morgens um halb vier um die Häuser ziehen kann. Vielleicht mag es diesen Mann irgendwo geben, aber ganz sicher ist: Er wird nicht mit Mitte 30 Abend für Abend in einer Bar in der Innenstadt versumpfen. Denn eigentlich will man diejenigen, die wie man selbst ab halb vier in Bars ganz verzweifelt um sich schauen, um noch jemanden zu finden, gar nicht näher kennen lernen. Und die, die man kennen lernen will, treiben sich um diese Zeit nicht in Bars herum. Man selbst ist ja auch nur zufällig da, weil Vollmond ist und man nicht schlafen kann und weil morgen im Büro sowieso nichts zu tun ist und so weiter und so fort. Wenn Bettina mal einen Mann mit nach Haus nimmt, bleibt er nie zum Frühstück. Nur in den Romanen von Ildíko von Kürthy entpuppen sich die Männer aus den Bars als echte Prinzen, die zwar einerseits unendlich gut aussehend, cool und hip sind, andererseits aber sensibel und vom Wunsch nach Familie und Kindern getrieben. Bettina aber sitzt alleine am Frühstückstisch und flennt sich die Augen aus. Die Typen rufen auch nach drei Tagen nicht wieder an. Trotzdem wird sie wieder in die Bars gehen, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.

So bleiben wir bei der Partnersuche uneinsichtig, selbst wenn wir uns damit schaden. Wenn nicht alles stimmt, stimmt gar nichts mehr.

Nur Karsten scheint da eine Ausnahme zu sein. Karsten ist bis zur Selbstaufgabe tolerant. Das ist für ihn kein Problem, da er es selbst gar nicht bemerkt. Es ist seine zweite Natur und kein bewusstes Programm. Während seine letzte Freundin dunkelhaarig, rauchend und großbusig war, ist nun die Mutter seines Sohnes und aktuelle Lebensabschnittspartnerin wasserstoffblond, nicht rauchend und burschikos. Während Freundin Nummer eins sozial umtriebig war und dauernd Freunde zum Essen einlud, ständig etwas organisierte und Karsten immer irgendwie eingebunden wurde, ist Freundin Nummer zwei still und extrem zurückhaltend, wenn es um soziale Kontakte geht. Nun kann man natürlich sagen, dass Karsten sich bewusst für etwas anderes entschieden hat, und damit wäre die Sache erledigt. Karsten allerdings hat von all diesen Unterschieden keine Ahnung, er hat nicht einmal bemerkt, dass es diese Unterschiede gibt. Er hat Freundin Nummer eins von ganzem Herzen geliebt, und er liebt Freundin Nummer zwei ebenso. So wären wir auch gerne, dann wäre vieles leichter. Aber ein echter 35-Jähriger kann das nicht verstehen. Trotzdem bewundere ich Karsten sehr dafür. Denn er hat begriffen, wie man eine Beziehung haben kann, die länger als 6 Monate hält: Immer die Ruhe bewahren.

Altersvorsorge: Lange kein Thema für die Mitt-30er. »Ich bin doch noch jung!« Später eine Funktion des Aktiendepots. Seit kurzem wollen sich einige »mal darum kümmern« und etwa beim Bundesministerium für Arbeit die zukünftige Rente erfragen. Sie hoffen immer noch, das vor ihrem 40. Geburtstag erledigt zu haben. Guter Grund für schlechtes Gewissen.

Das ist aber nicht unsere Art. Insbesondere, da es mit 35 um alles oder nichts geht, sind wir neuerdings schnell dabei, alles zu riskieren. Entsprechend neigen wir dazu, wenn sich schon mal das kleine Glück der kurzen Verliebtheit zeigt, das Ganze gleich mit der großen Liebe zu verwechseln. Immerhin gehen wir stramm auf die Vierzig zu und müssen schauen, wo wir bleiben. Mein Freund Christian hat es so formuliert: »Momentan geht es mir eigentlich als Single sehr gut. Ich habe nur heute schon so ungeheure Angst vor dem Alleinsein im Alter.« Auch mein Nachbar Marcus hat deshalb sein Glück auf Biegen und Brechen versucht, obwohl eigentlich allen Beobachtern klar war, dass er und seine Frau nun wirklich nicht zusammenpassten. Aber Marcus wollte davon nichts hören. Zwei Jahre lang hat er geleugnet, dass Julia bei ihren Streits immer geschwiegen – oder gleich das Haus verlassen hat. Für zwei, drei, manchmal vier Tage. Sie kam immer wieder zurück. Und dann schien alles wieder in Ordnung zu sein. Zwei Jahre lang leugnete er auch, dass er und Julia gar keine gemeinsamen Gesprächsthemen hatten. »Wir waren doch glücklich«, meint Marcus. Aber wenn man ihn fragt, warum, fällt ihm nichts ein.

Amerikaner: Im Durchschnitt weiblich, 35 Jahre, weiß und verheiratet. Mutter, Nichtraucherin, wohnhaft in der Vorstadt. Trägt keine Waffe und hat bei der letzten Wahl republikanisch gewählt. Sagt eine Studie des State Departments. Für 35-Jährige: 1. Kriegsverbrecher (Vietnam, Golfkrieg etc.) 2. Bewohner des gelobten Lands (Levi’s, Nike, Coca-Cola, wichtige Bands). Ebenfalls guter Grund für schlechtes Gewissen (siehe Altersvorsorge).

Nachdem sich die beiden vier Wochen kannten, waren sie zusammengezogen, hatten in Dänemark geheiratet, und ein halbes Jahr später war Julia mit Antonia schwanger. Die drei fanden eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt. Oft haben sie Freunde zum Essen eingeladen und an einem runden Esszimmertisch drei, vier Gänge aufgetragen. Das waren die schönsten Momente für Marcus. Angst hatte er vor dem Alleinsein mit Julia. Irgendwann einmal fuhren sie nach Erfurt. Dort lebte Julias Bruder. Einfamilienhaus, Passat in der Garage, Wasserwaage auf dem riesengroßen Fernseher. Alles passte zusammen. Als sie nach Hause fuhren, sagte Marcus. »Es war nett, aber sie sind nicht so wie wir.« Und Julia antwortete: »Doch, ich bin genau so. Das ist es, was ich auch vom Leben will: ein Haus, zwei Kinder, eine Einbauküche.« Danach hat nur noch Marcus geredet. »Julia sollte«, sagt er heute, »nicht mehr zu Wort kommen, sie sollte nie mehr so etwas sagen. Wenigstens nicht auf der Rückfahrt.« Also redete er weiter, bis dieser Satz vergessen war, bis er ungesagt war, bis Julia wieder zu ihm gehörte.

Das hat natürlich nicht funktioniert. An einem gewissen Punkt merkte Marcus, dass es zuvor schon einige Abende gegeben hatte, an denen er so viel geredet hatte. Nicht weil er so viel zu sagen gehabt hätte, sondern damit Julia nicht zu Wort käme. Marcus merkte mit jedem Satz von Julia, dass sich beide ein völlig anderes Leben wünschten. War es also vorbei mit ihnen? »Dabei sieht sie doch so wunderbar aus«, sagt er noch heute. Hatte er sich jahrelang etwas vorgemacht? Hatte er nie etwas mit seiner eigenen Frau gemeinsam? Im April haben sie sich getrennt. Die Scheidung verlief in beiderseitigem Einvernehmen. Jetzt kümmert sich jeder ein paar Tage um die gemeinsame Tochter Antonia. Das Projekt Lebensabschnittspartnerin ist für Marcus erst einmal erledigt: Einerseits hat ihn das Scheitern dieser Beziehung in eine große Krise gestürzt. Andererseits bleibt heute zwischen Arbeit und Tochter sowieso keine Zeit. »Vielleicht«, sagt er, »verliebe ich mich noch einmal mit Ende vierzig. Dann ist Antonia aus dem Gröbsten raus und ich habe wieder Zeit, mich umzuschauen und mich auf jemanden einzulassen.«

Anne hat eine ganz ähnliche Geschichte. Vor einem Jahr hat sie auf der Popkomm in Köln einen Mann kennen gelernt und sich augenblicklich verliebt. Eine Woche später konnte sie ihn dazu überreden, aus München in ihre Wohnung nach Berlin zu ziehen. Sechs Monate später war alles vorbei, und beide lecken sich seitdem mit therapeutischer Hilfe ihre Wunden. »Rückblickend ärgere ich mich nur, dass ich nicht gleich schwanger wurde von ihm. Dann wäre zumindest das Thema Kinder für mich durch.« So aber muss sich Anne, die unbedingt eigenen Nachwuchs haben möchte, wieder mit fremden Männern treffen, obwohl sie eigentlich gar keine Lust mehr darauf hat.

Nimm mich und meine Macken!

Zu unserer Maßlosigkeit und dem unerschütterlichen Glauben an die eine große Liebe kommt noch hinzu, dass der professionell durchindividualisierte Mitt-30er auf Enttäuschungen überhaupt nicht vorbereitet ist. Daran sind mal wieder unsere Eltern schuld. Sie haben uns doch immer gesagt, dass wir einzigartig sind, dass wir die Besten sind. Nur sind leider nicht alle dieser Ansicht. Wenn so ein einzigartiger Bester das erste Mal von einem anderen einzigartigen Besten verlassen wird, wird sein Selbstwertgefühl natürlich völlig verunsichert. Von diesem Schock haben sich viele von uns nie wieder erholt. So was kann schon mal 20 Jahre anhalten.

Wie sehr uns eine fehlgeschlagene Beziehung erschüttern kann, zeigen die Kontaktanzeigen, die unsere Jahrgänge mittlerweile in den Stadtmagazinen oder im Internet schalten. In einer ziemlich trostlosen Phase meines Lebens habe ich gleich drei verschiedene aufgegeben. Eine ganz sachlich: »Akademiker sucht Partnerin fürs ganze Leben«. Die andere assoziativ: »New York & Nordsee, Sushi & Bratwurst, Houellebecq & Sex and the City, Kino & Ausgehen«. In der dritten habe ich mich ziemlich ausführlich beschrieben – inklusive einiger meiner liebsten Fehler. Ich weiß nicht mehr genau, wie der Wortlaut war, aber ich habe mich als kompliziert und etwas geizig beschrieben, aber auch als aufregend und neugierig. Was man halt so über sich sagt, wenn man etwas damit erreichen will.