Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein magischer Fantasy-Krimi vom Feinsten Das legendäre »World Famous Nine« hat alles, was man sich nur vorstellen kann. In diesem spektakulären neunzehnstöckigen Wolkenkratzer-Kaufhaus gibt es unter anderem ein gigantisches Riesenrad auf dem Dach, eine von der Decke hängende Schienenbahn und fünfundzwanzig gläserne Aufzüge, die blitzschnell nach oben und unten sausen. Doch im Verborgenen lauert ein böser Schatten … Den Gästen passieren seltsame Unfälle, immer wieder fällt der Strom aus, und Figuren auf den Gemälden erwachen plötzlich zum Leben. Zander und seine Freundin Natascha entdecken mysteriöse Inschriften an den Wänden, die zu einem magischen Objekt zu führen scheinen. Wer versucht, den fantastischen Wolkenkratzer zu zerstören? Können die beiden die Codes rechtzeitig entschlüsseln und das Gebäude vor der Zerstörung retten? Ein magisches neues Leseabenteuer des Meistererzählers und Bestsellerautors Ben Guterson.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ben Guterson
Für Nathan
TEIL 1
KAPITEL 1 EIN LÄNGST ÜBERFÄLLIGES WIEDERSEHEN
KAPITEL 2 EINE STUNDE IM 360 GRAD
KAPITEL 3 IHR FÜHRER DURCH DAS WORLD FAMOUS NINE
KAPITEL 4 DER TAG BEGINNT MIT EINEM EID
KAPITEL 5 DIE LEGENDE VON DÜSTERBLUME
KAPITEL 6 WÖRTER AN DEN WÄNDEN
KAPITEL 7 DIE GALERIE
KAPITEL 8 SELTSAME KUNDE, SELTSAME FUNDE
KAPITEL 9 DER SCHARLACHROTE STICH
TEIL 2
KAPITEL 1 ERLEBNISSE IM LESERAUM
KAPITEL 2 MITTAGESSEN AUF DEM DACH - UND EIN SCHOCK
KAPITEL 3 DER MANN MIT DEM HUT
KAPITEL 4 EIN ABSTECHER ZUM RÖHRENRAUM
KAPITEL 5 DIE LEERE VITRINE
KAPITEL 6 GEDICHTE UND GEMÄLDE
KAPITEL 7 IN DEN WÄNDEN
KAPITEL 8 MISS HUGARDS MAGISCHE MENAGERIE
KAPITEL 9 EINE UNHEIMLICHE BEGEGNUNG IM KELLER
TEIL 3
KAPITEL 1 DIE KARMINSKI-KISTE
KAPITEL 2 ALTE NOTIZEN, NEUE SORGEN
KAPITEL 3 EINE ÜBERRASCHUNG IM XANADU-CAFÉ
KAPITEL 4 DIE KARTEN HABEN GESPROCHEN
KAPITEL 5 DIE GLÄSERNE DECKE
KAPITEL 6 EINE KARTE - UND NOCH MEHR HINWEISE
KAPITEL 7 EINE GRANDIOSE IDEE
KAPITEL 8 DAS KONZERT BEGINNT!
KAPITEL 9 DER RAUM
EPILOG ÜBER DER STADT
DANKSAGUNG
ÜBER DEN AUTOR
Helle Nächte und dreimal am Tag baden, um sich abzukühlen: In den Sommerferien passiert nie etwas.
Aus: Der verborgene See, Band VIII der «Falken und Banditen»-Reihe von B. J. Sturgeon
AlsdielangeRolltreppe gemächlich nach unten glitt und das Erdgeschoss des World Famous Nine in Sicht kam – die vielen Menschen, die bunten Waren und die ganze Pracht aus Glitzer und Chrom und Lichtern –, hielt Zander Olinga vor Begeisterung die Luft an. Und bemerkte einen Mann, der durch die wogende Menge der Kunden eilte. Oder vielmehr bemerkte Zander, dass an dem Hut des Mannes ein lila Edelstein befestigt war, der im Licht der hohen kristallenen Deckenleuchter funkelte.
«Sieh mal!», sagte Zanders Mutter neben ihm und deutete nach unten. «Da ist deine Großmutter!»
Zanders Interesse an dem Mann mit dem Hut verschwand sofort, als er Zina Winebee erblickte, die am Fuß der Rolltreppe stand und ihnen zuwinkte. Seine Großmutter sah nicht nur genauso aus wie auf den Fotos, die er gesehen hatte, sie hatte sich seit Zanders letztem Besuch vor sechs Jahren auch kaum verändert. Ihre schwarzen Haare hatte sie immer noch kurz geschnitten, ihr Gesicht war wie damals freundlich, aber ernst, und sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit Blazer und einem langen Rock, in dem sie sehr förmlich aussah – fand zumindest Zander – und das sie noch größer machte, als sie mit ihren ein Meter einundachtzigeinhalb ohnehin schon war.
«Fünf Wochen bei Grandma Zina!», sagte sein Vater, der hinter ihm stand. «Und sieh doch, Zander, wie sehr sie sich auf dich freut.»
Bei den Worten «fünf Wochen» verspürte Zander wieder dieses Glücksgefühl, das er kaum fassen konnte. Er würde sein kleines Haus in Pittsburgh vermissen, wo er mit seiner Mutter und seinem Vater lebte; er würde die Pittsburgh Pirates vermissen, deren Spiele er sich johlend und jubelnd im Radio anhörte; und er würde Izzy vermissen, seine Zwergpinscherhündin – obwohl er wusste, dass die Fleischmanns von gegenüber gut auf sie aufpassten. Aber sein sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen, den er innerlich ausgesprochen hatte, als er die Kerzen auf der besten Geburtstagstorte der Welt ausgeblasen hatte: Er durfte den restlichen Juni und fast den ganzen Juli im World Famous Nine verbringen. Es war das größte, berühmteste und außergewöhnlichste Kaufhaus der ganzen Welt, und es gehörte zu Zanders allergrößten Freude seiner Großmutter.
«Endlich sind wir wieder da!», sagte Zanders Mutter und drückte ihm glücklich die Schulter. «Im World Famous Nine!»
Zander wandte die Augen von seiner Großmutter und ließ seinen Blick wieder über die Szenerie schweifen. Das Erdgeschoss wurde immer weitläufiger, je weiter er und seine Eltern auf der langen Rolltreppe nach unten fuhren. Zander konnte nicht einmal die Wände des Kaufhauses deutlich erkennen; sie kamen ihm meilenweit entfernt vor. Er hatte das Gefühl, in ein Meer aus Kleiderständern, Kosmetikregalen und Schmuckvitrinen einzutauchen, aus Tresen und Spiegeln und Schachteln – und Menschen, Menschen, Menschen! Es war schwindelerregend und viel zu viel, um alles aufnehmen zu können; es war so viel, dass er sogar seine Höhenangst vergaß, die normalerweise immer aufkam, wenn er auf einer Rolltreppe fuhr, eine Treppe hinaufstieg oder von einer Position, die sich mehr als einen Meter über dem Boden befand, nach unten schaute.
«Es ist viel größer, als ich es in Erinnerung habe!», sagte Zander.
«Du warst damals erst fünf», sagte sein Vater, «und …» Er brach abrupt ab, als sämtliche Lichter ausgingen, die Lautsprechermusik verstummte und die Rolltreppe zum Stehen kam. Zander und seine Eltern fielen durch den Ruck nach vorne und mussten sich am Gummihandlauf festhalten. Ein allgemeiner Aufschrei ertönte aus der Menschenmenge in der Dunkelheit unter ihnen. Und dann war, so schnell wie die Störung eingesetzt hatte, plötzlich alles wieder in Ordnung: Die Rolltreppe fuhr wieder nach
unten, die Musik setzte wieder ein, die Lichter strahlten genauso hell wie zuvor, und die Menge im Erdgeschoss stieß kleine Jubelrufe aus. Die Verwirrung hatte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert.
«Nur ein kleiner Stromausfall!», sagte Zanders Vater mit einem nervösen Kichern.
Zander spürte wieder das beruhigende Summen des Kaufhausbetriebs ringsum; trotzdem drückte er fest die Hand seines Vaters. «Das war irgendwie beängstigend», sagte er. Seine Eltern wechselten einen beunruhigten Blick, ehe seine Mutter wieder nach unten schaute.
«Hallo Mama!», rief sie, während sich die Rolltreppe dem Ende näherte.
Zina strecke die Hände aus, die Handflächen nach oben gerichtet, als ob sie die drei näher an sich heranziehen wollte, blickte aber – wie zum Eingeständnis, dass soeben etwas Unerwartetes in ihrem Kaufhaus vorgefallen war – kurz nach oben. «Zaylee, Mason und Zander», sagte sie in ihrer knappen und klaren Art.
Die Rolltreppe schob Zander auf den Marmorboden, direkt in die Arme seiner Großmutter. Er erwiderte ihre Umarmung, und bei ihrem Fliederparfüm wurde wieder die Erinnerung an seinen bislang einzigen Besuch im World Famous Nine wach.
«Lass dich ansehen!» Seine Großmutter löste sich aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück, um Zander zu betrachten.
«Hallo, Grandma Zina», sagte Zander mit einem schüchternen Grinsen.
«So groß und stark! Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich einen so erwachsenen jungen Mann bei mir aufnehmen würde.»
Bis auf die Sache mit dem Aufnehmen stimmte nichts davon. Zander war der drittkleinste Junge seiner Klasse, mit schmalen Schultern und einer Brille vor seinen großen Augen und unter seinen kurzen braunen Haaren, und er hatte in den drei Jahren Turnunterricht noch nie einen Baseball getroffen oder einen Basketball im Korb versenkt. Alle mochten den stillen, fleißigen und liebenswürdigen Zander, aber niemand hätte ihn erwachsen genannt. Oder groß und stark.
«Er hat über nichts anderes geredet als über das fantastische Kaufhaus und über dich, Mama», sagte Zanders Mutter und nahm Zina in die Arme. «Und es ist so schön, dich zu sehen.»
«Endlich wieder im World Famous Nine!», rief Zanders Vater, als auch er Zina umarmte. «Es ist viel zu lange her.» Zina deutete nach oben. «Habt ihr einen Parkplatz gefunden? Wir haben letztes Jahr zweihundert Plätze aufgestockt.»
«Alles bestens», versicherte Zanders Vater. «So eine schöne Parkebene.»
Zina versteifte sich, und das Lächeln wich aus ihrem Gesicht. «Automobilhof», sagte sie streng. «Wir haben hier kein Parkhaus im World Famous Nine. Es ist ein Automobilhof.»
Zander zuckte zusammen. Die Stimmung seiner Großmutter schien sich von einem Moment zum nächsten völlig verändert zu haben. War es denn wirklich so schlimm, dass sein Vater das weitläufige Gelände vor den Toren des ersten Stocks «Parkebene» genannt hatte?
«Tut mir leid.» Zanders Vater zog die Mundwinkel nach unten und blickte verwirrt drein. «Ähm, Automobilhof. Ja, der Automobilhof ist wunderschön.»
Zina funkelte Zanders Vater an – und dann stahl sich ein winziges Lächeln in ihre Mundwinkel, ehe sie lauthals lachte. «Du meine Güte, Mason», sagte sie. «Ich jage dir doch nicht etwa Angst ein, oder?»
Masons Lächeln kehrte zurück, aber nur allmählich. Er drohte Zina mit dem Zeigefinger. «Du hast mich erwischt. Du hast mich wirklich erwischt.»
«Meine sehr besondere Mutter», sagte Zaylee und umarmte Zina ein zweites Mal. «Immer ganz akkurat. Aber egal, wie du es auch nennst, ob Parkebene oder Automobilhof, wir sind so froh, hier zu sein.»
«Und ich bin froh, euch alle wiederzusehen», sagte Zina und zupfte den Kragen ihres Blazers mit einer brüsken Geste zurecht. «Und am meisten freue ich mich, dass Zander bei mir wohnen wird.» Sie drehte sich zu ihm hin. «Du und ich, wir werden uns prächtig amüsieren, während deine Eltern mit ihren Forschungen beschäftigt sind.»
«Wir wollen forschen und schreiben», ergänzte Zaylee und schaute dabei Mason an. «Der Arbeitstitel für unsere geplante Veröffentlichung lautet ‹Die Feuervulkane von Kamtschatka›.»
«Ja», setzte Zanders Vater hinzu. «Wir hoffen dabei auf explosionsartige Erfolge für unser Buch.» Er kicherte und schaute Zaylee an, die sich Mühe geben musste, nicht zu lächeln.
«Den Witz habe ich mittlerweile schon hundertmal gehört», sagte sie zu Zina, die herzhaft lachte.
«Ich bin sicher, dass ihr auf eurer Reise in den Osten viel erreichen werdet.» Zina wandte sich wieder an Zander. «Kannst du dich noch an das letzte Mal erinnern, als du hier warst?»
«Ein bisschen» sagte Zander. Er wusste vor allem noch, dass er über das gewaltige Riesenrad gestaunt hatte, das auf dem Dach des Kaufhauses stand. Er hatte auch die Magnetschwebebahn an der Decke hoch oben über der Spielzeugabteilung bewundert, ebenso die Totenkopfäffchen in ihrem weitläufigen Gehege in einer der Schuhabteilungen. Und er konnte sich daran erinnern, dass er im Kristallpalast Eiscreme gegessen hatte, wobei ihm das Eis mit Kirsch- und Essiggurkengeschmack besonders zugesagt hatte.
Was er nicht begreifen konnte, war die Tatsache, dass es sechs lange Jahre gedauert hatte, bis seine Eltern und er wieder einen Besuch im World Famous Nine machten. Er hatte im letzten Jahr gehört, wie seine Eltern über das «Familienbudget» diskutiert hatten, als sie dachten, er würde schlafen. Und er wusste, dass beide sehr hart an der Universität arbeiteten und sich oft nicht einmal eine Woche zum Zelten freinehmen konnten. Umso glücklicher war er, dass ihr augenblickliches Projekt, eine Studie über die erstaunlichsten Vulkane der Welt, es ihnen ermöglichte, nach Novatrosk zu fahren und dabei das World Famous Nine zu besuchen.
Zander wollte gerade etwas über seine Erinnerung an das berühmte Kaufhaus sagen, als sein Blick auf eine riesige Skulptur in der Ferne fiel, die hell erleuchtet in einem offenen Bereich stand. Er deutete darauf.
«Das gibt’s doch nicht!», rief er aus. «Ist das etwa ein Mandala?»
«Das stimmt», sagte Zina und schaute zu der Skulptur – ein drei Meter hoher Block aus Sandstein auf einem Podest, in den ein kompliziertes, kreisrundes Muster eingraviert war –, als ob ihr jetzt erst bewusst wurde, dass sich der Stein in ihrem Kaufhaus befand. «Du bist wohl ein Kunstliebhaber. Nicht viele Leute hätten auf die Entfernung erkannt, dass es sich um ein Mandala handelt.»
«Zander will Künstler werden, wenn er groß ist», sagte Zaylee.
Mason nickte. «Und er übt fleißig. Er zeichnet ununterbrochen.» Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Skulptur und sagte: «Er malt Bilder, die genauso aussehen.»
Zina zog anerkennend die Augenbrauen hoch. «Was weißt du über Mandalas?», fragte sie Zander.
«Es sind Kreise mit allen möglichen Mustern darin», sagte Zander. Seit er ein Buch mit dem Titel Kunst und Künstler von A bis Z aus der Bücherei ausgeliehen hatte – hauptsächlich, weil er den Titel interessant fand –, faszinierten ihn diese vielfältigen geometrischen Motive. «Ich finde sie so cool.»
«Es ist bemerkenswert, dass du dich für Mandalas interessierst», sagte Zina und warf Zaylee einen fragenden Blick zu. «Denn das ist etwas, dem du hier im World Famous Nine recht häufig begegnen wirst. Die Winebees schätzen sie seit Jahrzehnten.» Immer noch blickte sie ihre Tochter an. «Wie du dich sicher erinnern kannst, meine Liebe.»
Zanders Mutter lächelte. «Ich erinnere mich an unser Kaufhaus, als wäre ich nie weggewesen, Mama.»
Für einen Moment schwiegen alle. Zina verschränkte die Hände und strahlte. «Ich bin überglücklich, dass ich euch drei hier habe. Wir haben uns viel zu erzählen.» Sie drehte sich auf dem Absatz um und begann auf die Skulptur zuzugehen. «Erst mal müssen wir dafür sorgen, dass ihr drei etwas zu essen bekommt.»
«Mama, wir …», setzte Zaylee an.
«Ich weiß, was du sagen willst», sagte Zina, ohne stehenzubleiben. «Ihr seid spät dran, ihr müsst bis morgen Nachmittag euer Ziel erreicht haben, und nächsten Monat seid ihr wieder da und habt ein bisschen Zeit, um die jetzige Eile wiedergutzumachen. Aber zunächst wird gegessen. Ich habe uns einen Tisch oben im 360 Grad reservieren lassen.»
Sie blieb abrupt stehen, wirbelte herum und schaute Zander an. «Das ist unser bestes Restaurant. Der Boden dreht sich im Kreis. Innerhalb von einer Stunde bekommst du einen Rundblick auf die ganze Stadt, und dann bist du wieder am Ausgangspunkt angelangt. Es wird dir bestimmt gefallen.»
«Zina», sagte Mason, «es ist wirklich wichtig, dass wir …»
«Ich möchte euch all die braven Leute hier im Erdgeschoss vorstellen», sagte Zina, ohne ihr Tempo zu verlangsamen. Sie deutete auf drei Frauen hinter einer Verkaufsvitrine, in der nur Handschuhe lagen. «Oksana, Odette und Oretis», rief sie. «Das ist meine Tochter mit ihrer Familie.» Die drei Frauen winkten grüßend; Zina marschierte weiter und wiederholte die kurze Vorstellung ihrer Gäste wieder und wieder, während sie mit Zander, Zaylee und Mason an Auslagen und Tresen und Ständern vorbeikam, wo alles nur Erdenkliche angeboten wurde: karierte Blusen, Schirme mit Knäufen aus Eichenholz, Blumensträuße mit orientalischen Lilien, verschiedene Filzhüte auf einem riesigen Hutständer, meterhohe Stapel mit Schachteln aus Mahagoniholz mit einem Schachbrett auf der Oberfläche und den Spielfiguren im Inneren und glänzendes spanisches Besteck auf polierten Holzregalen. Zina kannte jede Person, die im World Famous Nine arbeitete, und sie sprach alle mit Namen an, während sie erklärte: «Mein Enkel hat seine Eltern zu Besuch mitgebracht.» Oder: «Meine Tochter ist gekommen, zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn Zander, der ein weltberühmter Künstler werden will.»
Schließlich standen sie vor der riesigen Mandala-Skulptur. Sie befand sich im Zentrum eines Atriums, dessen Glaskuppel sich so hoch über ihnen wölbte, dass sie wie ein zweiter Himmel wirkte. Vor Zina und den Olingas erstreckten sich die Eingangstüren des World Famous Nine – eine glitzernde Glasreihe, durch die die Menschen in einem ständigen Strom kamen und gingen. Ein runder Teich, etwa neun Meter im Durchmesser, war der Blickfang der offenen Fläche, und aus dem Teich schossen zierliche Fontänen in die Höhe. Glasschränke stellten Waren aus, die der letzte Schrei waren; Hemden, Hosen und Kleider wurden in dem riesigen Raum über ihren Köpfen an Seilen hochgezogen und wieder abgelassen, sodass die präsentierten Stücke ständig wechselten. Direkt hinter dem Teich standen in fünf Reihen Fahnenstangen, an denen die Nationalflaggen von Ländern aus aller Welt hingen – mindestens einhundert, schätzte Zander –, und gegenüber den Türen ragten, dicht nebeneinander, schier endlos viele Schächte mit goldenen und gläsernen Aufzügen in die Höhe; das Ganze wirkte wie ein reich verzierter, sirrender Mechanismus, eine lebende Wand, die sich in der Höhe und Weite des World Famous Nine verlor. Von einem unsichtbaren Ort erklang Klaviergeklimper, während in der Luft ein angenehmer Duft von Zimt, Kerzenwachs und Zuckerwatte lag. Hunderte von Kunden schwatzten und lachten – ein Stimmengewirr, das Zander wie ein Kribbeln in seinem Rückgrat spüren konnte.
«Wow!», sagte er und starrte mit offenem Mund nach oben. Dann blickte er sich in alle Richtungen um.
Die Lichter flackerten.
«Ist alles in Ordnung, Mama?», fragte Zaylee. Sie beschrieb mit ihrem Zeigefinger kreiselnde Bewegungen über ihrem Kopf. «Der Strom?»
Zina schaute sich einem wachsamen Gesichtsausdruck um, als erwarte sie einen weiteren kurzen Stromausfall. «Wir hatten in letzter Zeit ein paar Probleme mit der Elektrizität.» Sie runzelte die Stirn doch dann nickte sie rasch in Richtung des Mandalas. «Gefällt es dir, Zander?»
Vor ihm ragte ein riesiger roter Sandstein auf, in den ein kompliziertes, labyrinthartiges Maßwerk eingraviert war – mit Rauten und Kreisen und spitzen Dreiecken, die alle konzentrisch nach außen wanderten. Das Ganze erinnerte Zander an eine riesige Stadt, die man von oben durch die Wolken betrachtete. Es war atemberaubend. Ein Kunstwerk, das so vielschichtig und elegant war, dass Zander es stundenlang hätte betrachten können, ohne dass ihm langweilig geworden wäre.
«Es sieht so aus wie die Mandalas, die ich zeichne», sagte er langsam. Er war überwältigt von dem, was er vor sich sah. «Aber viel, viel größer.»
Eine Frau, die etwa so alt wie Zanders Mutter war, ging vorbei, streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über den unteren Bogen des Sandstein-Mandalas. Dabei sagte sie: «Hoffentlich gibt es in der Glaswarenabteilung heute Sonderangebote.»
«Sie haben Glück, Marissa», sagte Zina. «Muranoglas, heute zwei zum Preis von einem.»
«Danke, Mrs. Winebee!», sagte die Dame, die Zina erst jetzt bemerkte, und eilte davon.
«Du kennst die Kunden persönlich?», fragte Mason und musterte seine Schwiegermutter.
«Gäste, Mason», korrigierte ihn Zina – sehr freundlich diesmal. «Gäste. Wir haben keine ‹Kunden› im World Famous Nine. Und ja, ich kenne sie. Ich kenne sehr viele dieser wunderbaren Menschen, die uns besuchen.»
«Berühren die Leute das Mandala, weil es Glück bringen soll?», fragte Zander. «Ich mache das immer mit der Schnauze der Schweinefigur vor unserer Bücherei.»
«Genau.» Zina deutete zu dem Sandstein. «Versuch es einmal.»
Zander legte die Hand auf den Stein – und in seinem Kopf wurde es leer. Er war so aufgeregt und so überwältigt von allem, was er sah, hörte und roch, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dann kam doch einer. «Ich hoffe, dass ich Grandma Zina hier im World Famous Nine helfen kann», sagte er, und unwillkürlich dachte er an den Mann mit dem glitzernden Edelstein am Hut.
«Nun, so was hören wir doch gern.» Zina schaute Zaylee und Mason an. «Ich bin sicher, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen wird.»
«Mama», sagte Zaylee, «ich weiß, es ist sehr ungünstig, dass wir schon so bald wieder aufbrechen müssen.»
Zina deutete zu den Fahrstühlen. «Das verstehe ich doch. Es ist nicht eure Schuld, dass ihr euch auf dem Weg hierher verspätet habt. Ihr müsst euren Zeitplan einhalten, da gibt es gar keine Diskussionen. Aber gehen wir erst einmal ins 360 Grad.»
Als sie sich den Aufzügen näherten, hörte Zander ein klackendes Geräusch, das immer lauter wurde. Er betrachtete die Fahrstühle und sah neben jedem einen Mann oder eine Frau in einer blauen Uniform sitzen; in der einen Hand hielt die jeweilige Person etwas, das wie ein blauer Zauberstab aussah, und um die Finger der anderen Hand hatte sie sich eine Art von Kastagnetten geschlungen. Die Tür eines Aufzugs öffnete sich, und Zander sah, wie der Mann neben dem Lift aufstand. Eine Gruppe von Menschen trat in die Kabine, und dann wedelte der Mann mit seinem blauen Stab vor der Tür hin und her und rief «Voll!», bevor er dramatisch mit den Kastagnetten klapperte. Die Fahrstuhltür ging zu, und der Mann trat zurück.
«Das sind unsere unübertroffenen Starter», sagte Zina zu Zander und wies auf die blau gekleideten Männer und Frauen. «Insgesamt fünfundzwanzig Starter, für jeden Fahrstuhl eine Person. Darf ich vorstellen: Hortensia, Marvin, Gyasi und Hideki. Ich freue mich, euch mit meiner Tochter und ihrer reizenden Familie bekannt machen zu können.»
«Mrs. Winebee!», rief eine Frau hinter Zina, als die vier Starter zu einer Begrüßung ansetzten. Die Frau war nur ein bisschen größer als Zander, sie hatte einen weißen Haarknoten auf dem Kopf und sah gut fünfzehn Jahre älter aus als Zina. Die Brille auf ihrer Nase ließ ihre Augen doppelt so groß aussehen, wie sie in Wirklichkeit waren. Sie stand vor der offenen Tür eines Fahrstuhls, der zu drei Vierteln voll war.
«Der hier fährt zum siebzehnten Stock», sagte die weißhaarige Frau. «Zum 360 Grad, wenn es beliebt.»
«Irina Obrastoff», sagte Zina, während sie herumwirbelte und auf die Frau deutete. «Sie erinnern sich sicher an Zaylee und ihren Mann Mason und an ihren Sohn Zander.» «Mrs. Obrastoff!», rief Zaylee. «Wie schön, Sie wiederzusehen!»
«Ich freue mich auch, Zaylee», sagte die ältere Frau. «Aber bitte steigen Sie jetzt ein, wir wollen die anderen nicht aufhalten.»
«Mrs. Obrastoff ist seit achtundvierzig Jahren Starterin bei uns», sagte Zina zu Zander. «Sie hat deine Mutter schon als Baby gekannt.»
«Bitte gehen Sie in den Aufzug, Mrs. Winebee», sagte Irina. «Sie alle. Ich würde zu gerne noch plaudern, aber der Laden ist rappelvoll. Zaylee, du siehst fantastisch aus, Liebes. Alles Gute für dich und deine Familie. Bis bald!»
Zina und die Olingas betraten den Fahrstuhl. Irina schenkte ihnen ein breites Lächeln, bei dem ihre riesigen Zähne zu sehen waren. Dann schwenkte sie ihren Stab nach unten, gerade als ein Mann und eine Frau auftauchten und versuchten, noch in den Aufzug zu gelangen.
«Voll!», tönte Irina und klapperte mit ihren Kastagnetten. Sie zwinkerte Zander zu. «Wir sehen uns bald wieder, junger Mann.»
Zander fing den Blick ein, den die ältere Frau gerade noch Zina zuwarf. Ihre Augen zuckten nach oben, und Zander hatte den Eindruck, dass auch sie sich wegen des Stromausfalls Sorgen machte.
Die Tür ging zu, und eine Frau, die neben dem Tastenfeld stand und einen Anzug trug, der wie ein exotischer Seidenpyjama aussah, sagte: «Zum siebzehnten Stock. Zum Restaurant 360 Grad.»
«Wir feiern dort heute unseren Jahrestag!», sagte jemand hinter Zander.
Zina versteifte sich. Ihre Augen wurden groß, und sie hob das Kinn. Ihre Reaktion verwirrte Zander. Hätten sie nicht in einem Fahrstuhl gestanden, dann hätte man meinen können, sie habe in der Ferne etwas entdeckt, was ihr Angst machte.
«Glückwunsch zu Ihrem Jahrestag!», sagte eine andere Stimme, und ein paar Leute klatschten.
Diesmal zuckte Zina bei dem Wort «Jahrestag» merklich zusammen.
«Alles in Ordnung, Grandma?», fragte Zander. Der Aufzug sauste unaufhaltsam nach oben.
Zina drehte sich zu ihm um, befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und nickte, als wäre etwas völlig Unwichtiges vorgefallen – oder als versuchte sie, etwas als völlig unwichtig darzustellen.
«Mir geht’s gut, mein Lieber», sagte sie. «Danke der Nachfrage.»
«Siebzehnter Stock!», verkündete die Frau in dem Pyjamaanzug. Die Türen glitten auf, und alle traten hinaus in einen merkwürdig dämmrigen Raum.
«Unser Jahrestag!», sagte eine Frau in einem roten Kleid und hakte sich bei dem Mann neben ihr unter.
Zina kniff die Augen zu und drückte ihre Finger auf ihre Nasenwurzel – als wäre sie für einen kurzen Moment von einer schmerzvollen Erinnerung überwältigt worden. Zanders Eltern bemerkten nichts davon. Zander aber schon.
Warum hat dieses Wort eine solche Wirkung auf sie?, fragte er sich.
Zina schlug die Augen auf. «Willkommen im 360 Grad!», sagte sie zu den Olingas. Sie lächelte wieder, genau wie zuvor. «Ich freue mich so sehr, dass wir alle beisammen sind.»
Zander spürte, dass sie mit ihrem Ausruf den Gedanken an das Wort Jahrestag beiseiteschieben wollte.
ImFahrstuhlwaressohellgewesen, dass Zanders Augen einen Moment brauchten, um sich an das dämmrige Licht in dem riesigen Ballsaal zu gewöhnen, den er, seine Eltern und Zina jetzt betraten. Und gerade, als er den ersten Schritt machte, duckte er sich instinktiv, weil er spürte, dass sich etwas von oben auf ihn stürzte.
«Natascha!», rief Zina und schaute zur Decke hoch. «Hallo.»
Der weitläufige Saal war beeindruckend: deckenhohe Fenster, verzierte Säulen, die den Raum trugen wie einen griechischen Tempel, sanftes Lampenlicht und Perserteppiche auf dem Boden. Allein die Decke, die Zander staunend betrachtete, bot einen spektakulären Anblick: Sie war etwa neun Meter hoch und mit verzierten Mahagoni-Paneelen verkleidet. Die Täfelung war mit komplizierten Mustern bemalt, wie Zander sie schon oft auf dem Mahjong-Spiel seiner Mutter bewundert hatte. Aber er kam nicht dazu, all das gründlich zu betrachten, denn ein seltsamer Anblick zog ihn in seinen Bann: Quer durch den hohen Raum über ihren Köpfen streckte ein Mädchen mit schwarzen, gescheitelten Haaren und einem roten Overall ihre Fersen in die Höhe und zog sie wieder zurück; sie flog auf einer Schaukel aus festem Stoff, die mit zwei dicken Seilen an der Decke befestigt war, weit durch die Luft und holte immer wieder Schwung.
«Hallo, Mrs. Winebee!», schrie das Mädchen, das drei Meter über ihnen hin- und hersauste.
«Also, das ist neu, Mutter», sagte Zaylee und schaute dem Mädchen nach, das von einer Seite des Saals zur anderen schwang.
«Das ist Natascha Novikov», sagte Zina. «Sie ist elf. Und sie liebt das Schaukeln. Jetzt, in den Ferien, verbringt sie viel Zeit bei uns. Und unsere Gäste erfreuen sich an dem Anblick, weil sie selbst so viel Freude dabei empfindet, hin und her zu schaukeln, hin und her und hin und her. Manchmal ist sie unten im The Niner, manchmal auch in Tatiana Trotskis Teetraum, aber meistens findet man sie hier im 360 Grad.»
Zander starrte das Mädchen mit offenem Mund an. Sie trug zwei Haarspangen und eine eng anliegende lila Kette, die die Mädchen an seiner Schule «Choker» nannten. Jetzt
ließ sie mit einer Hand das Seil los und winkte ihm zu, aber er war zu verblüfft, um zurückzuwinken.
«Sie schaukelt über die Leute hinweg, während sie essen?», fragte Zander, der immer noch nach oben blickte. Er selbst würde sich nicht mal trauen, einen Meter über dem Boden zu schaukeln, geschweige denn in einer solchen Höhe wie Natascha.
«Sie ist eine absolute Schaukelexpertin», sagte Zina, «natürlich mit einer sehr stabilen Sicherheitsleine. Wir haben Glück, dass sie bei uns ist, und ich freue mich schon darauf, dass ihr euch bald kennenlernt, Zander.»
Zina hob noch einmal ihren Arm zur Begrüßung, und das Mädchen lächelte freudig zurück.
«Ihr Tisch ist bereit, Mrs. Winebee», sagte jemand, und Zander riss sich von dem Anblick des schaukelnden Mädchens los. Vor ihnen stand eine Frau in einem langen indigoblauen Kleid und kniff die Augen zusammen. Sie war nicht größer als Irina Obrastoff, doch ihr Haar war rabenschwarz, und sie hatte einen knallroten Lippenstift aufgelegt.
«Danke, Miss Suzuki.» Zina wies auf die drei Olingas. «Meine Tochter Zaylee, an die Sie sich vielleicht erinnern, ihr Mann Mason und ihr Sohn Zander. Dies ist Miss Phyllis Lee Suzuki, die uns heute bei Tisch aufwarten wird.»
Die Frau neigte grüßend den Kopf. «Ich erinnere mich an Sie alle von Ihrem letzten Besuch. Willkommen!» Sie wies mit einer Armbewegung auf einen Tisch in einiger Entfernung und ging los. «Bitte folgen Sie mir.» Nach etwa fünf Schritten blieb sie stehen und deutete auf einen Mann, der zusammen mit einer Frau in einer Nische saß. «Sie müssen Ihre Erbsen aufessen, Sir! Die sind gesund!» «Ich gebe mir alle Mühe!», sagte der Mann und hob ergeben beide Hände.
Zander lachte verblüfft, warf noch einen Blick auf die schaukelnde Natascha und folgte den anderen zu ihrem Tisch.
Der Boden des 360 Grad drehte sich tatsächlich im Kreis. Ein unsichtbarer Mechanismus unter den Bodendielen sorgte dafür, dass der weitläufige Raum im siebzehnten Stock des Kaufhauses unablässig und beinahe unmerklich rotierte. Fasziniert betrachtete Zander den Ausblick auf die Stadt unter ihm, der sich ständig langsam veränderte: den breiten Fluss, der mitten durch Novatrosk floss, die majestätischen Gebäude der Innenstadt, das Fußballstadion in der Ferne, die grünen Parks überall und den Verkehr in den Straßen – es gab so viel zu sehen, dass er sich kaum auf das Gespräch mit seinen Eltern und seiner Großmutter konzentrieren konnte. Außerdem brachte Phyllis Lee Suzuki andauernd Platten mit neuen Gerichten herbei. «Der Koch hat sich mit dem Steak große Mühe gegeben und wäre sehr traurig, wenn Sie etwas davon übrigließen, Mr. Olinga», sagte sie zu seinem Vater. Währenddessen schaukelte Natascha unentwegt über ihre Köpfe hinweg, und auf einer niedrigen Bühne in der Nähe der Küche spielte ein Trio aus Bassgitarre, Saxophon und Schlagzeug muntere Musik. All das überwältigte Zander, aber auf eine angenehme Art.
An der gegenüberliegenden Seite des 360 Grad geriet allmählich ein großes Wandgemälde ins Blickfeld, und Zander spürte, wie ihn ein Zittern durchlief, als er es genauer betrachtete. Die Szene, die er vor sich sah, zeigte das Kaufhaus, wie es vor etlichen Jahrzehnten gewesen war, und mitten in der Menge der Kunden entdeckte er einen Mann mit einem lila Edelstein an seinem Hut.
Entgeistert deutete Zander auf das Wandbild.
«Seht mal!», sagte er, und die anderen drei folgten seinem Blick.
«Wunderschön, nicht wahr?», sagte Zina. «Lasst mich mal überlegen: Das Wandbild wurde 1972 gemalt, es ist jetzt also vierzig Jahre alt.» Sie schaute Zaylee an. «Erinnerst du dich an Diego Ruiz, den Maler? Das ist schon so lange her.»
«Natürlich erinnere ich mich», sagte Zanders Mutter und zuckte mit den Schultern. «Ich bin im World Famous Nine aufgewachsen.»
Zander schaute seine Mutter an. Er hatte sie diesen Satz schon oft sagen hören, und er wusste viel von ihrer Kindheit im Kaufhaus; sie hatte ihm oft von ihren Erinnerungen erzählt – und davon, wie sie mit siebzehn dann nach Ohio auf die Universität gegangen war. Ein anderes Land, ein anderes Leben, eine andere Zukunft. Und dort hatte sie seinen Vater kennengelernt, der zum Studieren aus Kamerun in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen war. Zander wusste auch – obwohl sie es nie ausgesprochen hatte –, dass seine Mutter nie vorgehabt hatte, die Leitung des Kaufhauses zu übernehmen.
Zina schaute zu dem Wandbild. «Gefällt dir das Gemälde, Zander?»
Er deutete noch einmal darauf. «Der Mann mit dem lila Edelstein am Hut», sagte er. Und dann wusste er nicht, was er noch sagen sollte. Es kam ihm komisch vor, dass ihm dieses Detail auffiel, und noch dazu ein zweites Mal an diesem Tag. Denn es war noch keine Stunde her, dass er im World Famous Nine einen Mann mit genau demselben Hut gesehen hatte. Und der Anblick hatte ihn aus irgendeinem Grund beunruhigt.
Seine Großmutter beugte sich vor. Mit leicht verengten Augen und verwundertem Blick schaute sie ihn an. «Das hast du bemerkt?», fragte sie, aber es war keine wirkliche Frage. Sie sagte es, als würde sie ihn einschätzen, als hätte sie etwas Faszinierendes an ihm entdeckt.
«Zander hat ein Auge für Details», sagte sein Vater. «Das ist der Blick eines Künstlers.»
Zina schaute Zander weiterhin so an, als hätte er erst den kleinen Teil eines Geheimnisses verraten, das er ihnen mitteilen wollte. «Ein wunderbares Gemälde, nicht wahr?», sagte sie in einem rätselhaften Ton.
«Apropos wunderbar», sagte Zanders Vater. «Das World Famous Nine scheint voller zu sein als bei unserem letzten Besuch. Es gibt so viele Kunden – ich meine natürlich Gäste.»
Und mit diesen Worten waren sie bei einem anderen Thema angelangt, doch Zander warf immer wieder einen Blick auf das Wandbild, bis der Boden sich so weit gedreht hatte, dass er es nicht mehr sehen konnte. In dem Moment bemerkte Zander, dass das Mädchen auf der Schaukel – Natascha Novikov – an einem hölzernen Vorsprung unterhalb der gewölbten Decke, direkt über dem Küchenbereich, angehalten hatte. Sie löste sich von ihrer Sicherungsleine, trat auf den Vorsprung und verschwand durch eine kleine Tür in der Wand.
«Bitte entschuldigt mich», sagte Zander zu seinen Eltern und zu seiner Großmutter. «Ich muss mal auf die Toilette.» Zina deutete in Richtung Küche. «Dort entlang», sagte sie, und Zander lief los. Als er den Gang erreichte, wo ein Schild zu den Toiletten wies, blieb er stehen und schaute sich um, in der Hoffnung, das Mädchen zu sehen, das eben noch auf der Schaukel gesessen hatte. Er blickte nach rechts und nach links – nichts. Er ging ein paar Schritte zurück, sodass er in die Küche sehen konnte – und dort entdeckte er sie.
Eingehüllt in eine Dampfwolke, die von einem langen Herd mit unzähligen Töpfen und Kesseln aufstieg, lief Natascha Novikov über den Fliesenboden. Sie hatte den roten Overall ausgezogen und trug jetzt Jeans, fluoreszierende grüne Sneaker und – zu Zanders Überraschung – ein schwarz-gelbes T-Shirt mit dem P-Logo der Pittsburgh Pirates. Ebenso überrascht war er, dass sie im Gehen mit zwei lila Murmeln jonglierte, und zwar mit einer Hand. Die Bewegung war kaum sichtbar – ein leichtes, rhythmisches Auf und Ab –, doch sie zog Zander in ihren Bann.
In dem Moment, als Natascha beide Murmeln in der Hand auffing und die Faust darum schloss, blickte sie auf und blieb mit weit aufgerissenen Augen etwa fünf Schritte vor Zander stehen.
«Fliegende Brezel!», rief sie aus. «Hast du mich erschreckt!»
Zander war sprachlos. Er starrte auf die blaue Haarsträhne direkt über Nataschas rechtem Auge, die er nicht bemerkt hatte, als sie über ihm auf der Schaukel gesessen hatte.
«Bist du Mrs. Winebees Enkel?», fragte Natascha.
«Ja», sagte er mit leichtem Zögern. «Zander.» Stille. Er deutete nach oben. «Ich habe dich da oben gesehen.»
«Ich heiße Natascha.» Sie drehte sich zum Speisesaal. «Waren das deine Eltern vorhin?»
Zander nickte und schaute auf ihr T-Shirt. «Magst du die Pittsburgh Pirates?»
«Mein Lieblingsteam.»
«Das glaub ich nicht! Da komme ich her. Aus Pittsburgh.»
«Du sagst es ganz falsch.»
«Häh?»
«Es heißt doch: ‹Das glaub ich nicht›.»
«So sagen wir es aber bei uns in der Schule. Das glaub ich nicht.»
«Ich habe seit dieser Woche Sommerferien. Jetzt kann ich mit Mr. Lukovski den ganzen Sommer lang ins World Famous Nine kommen, sooft ich will. Mrs. Winebee erlaubt mir, in zwei der Restaurants und in Tatiana Trotskis Teetraum zu schaukeln, weil sie sagt, dass es den Kunden gefällt.»
«Wer ist Mr. Lukovski?»
Natascha schlug sich zerknirscht gegen die Stirn. «Oh, Fischköder! Tut mir leid. Das ist mein Vater.»
«Du nennst deinen Vater Mr. Lukovski?»
«Ja.» Sie klickerte mit den Murmeln in ihrer Hand. «Ich muss jetzt gehen. Er wartet unten auf mich.»
«Okay.» Zander zögerte. «Ich wohne ein paar Wochen lang bei meiner Großmutter. Vielleicht sehen wir uns in der Zeit.»
«Sie hat mir gesagt, dass du kommst.» Natascha zerrte an ihrem lila Choker. «Ich könnte dir hier im Kaufhaus ein paar coole Sachen zeigen. Schon morgen, wenn du da bist. Wollen wir uns in der Eingangshalle treffen? So gegen zwei, am Teich?»
«Klingt super. Ich frage meine Großmutter.»
Natascha öffnete ihre Faust und fing wieder an, mit den beiden lila Murmeln zu jonglieren. Nach einer kurzen Weile sagte sie: «Also, dann bis morgen!» Die Murmeln plumpsten in ihre Handfläche, und Natascha wandte sich zum Gehen. «Oh, du musst dir unbedingt ‹Niner’s Minzflocken› besorgen. Die schmecken dir bestimmt! Sie schmelzen im Mund wie Schneeflocken. Bis morgen dann.»
Zander sah ihr nach, wie sie um die Ecke zu den Fahrstühlen ging, und schaute dann in seine leere Handfläche, als ob er aus irgendeinem Grund erwarten würde, dort zwei Murmeln zu sehen. Schließlich wandte er sich ab und lief zurück zu seinem Tisch.
Als der Nachtisch serviert wurde – Cremeschnitten mit einem dicken Belag aus Vollkornkekskrümeln –, merkte Zander, dass seine Eltern nervös wurden: Sie mussten aufbrechen.
«Wir haben noch eine stundenlange Autofahrt vor uns, Mutter», sagte Zaylee. «Mason und ich werden uns mit dem Fahren abwechseln, aber wenn wir uns beeilen, dann sollten wir ungefähr morgen Mittag im Institut sein.»
«Und ihr wollt wirklich vier Wochen dort bleiben?», vergewisserte sich Zina.
«Vielleicht schaffen wir es auch, früher zurückzukommen», sagte Mason.
Zina richtete ihren Blick kurz auf Zaylee, und Zander fragte sich, was ihr wohl auf der Zunge lag. Sie wirkte so ernst.
«Ich hoffe sehr, ihr verbringt danach noch eine schöne Zeit hier», sagte sie zu Mason, während sie zugleich stumm mit ihrer Tochter zu kommunizieren schien.
«Mutter», sagte Zaylee, «ich liebe das World Famous Nine. Ich habe es immer geliebt.»
Zina hob die Hand und wehrte weitere Erklärungen ab. «Ich weiß, Liebes, ich weiß.»
Zander war verwirrt. Er glaubte, eine leichte Gereiztheit in der Stimme seiner Großmutter zu vernehmen.
«Aber Professorin zu sein liebe ich noch mehr», sagte Zaylee.
Zander merkte, dass seine Mutter kurz zu ihm blickte und damit seiner Großmutter signalisierte, dass sie dieses Gespräch nicht in seiner Anwesenheit führen wollte.
Zina legte eine Hand an die Stirn. «Das verstehe ich, Zaylee. Deine Welt ist da draußen, und ich respektiere das. Aber ich wollte immer, dass das Kaufhaus ein Ort ist, den du liebst.»
«Was stimmt denn mit dem World Famous Nine nicht?», fragte Zander.
«Gar nichts», sagte seine Mutter. «Es gibt hier nur unheimlich viele Dinge und unheimlich viele Leute, die diese Dinge kaufen wollen.»
Zina beugte sich vor. «Das World Famous Nine ist viel mehr als das.» Sie schaute Zander an. «Wir bieten nicht nur Dinge zum Kaufen an – angefangen von Möbeln über Haushaltsgeräte bis zu Kleidung und Lebensmitteln –, wir erweitern auch den Horizont all der Menschen, die zu uns kommen. Wir haben das schönste Kaufhaus auf der ganzen Welt, und jeder ist willkommen und kann es bewundern. Hinter jeder Biegung und in jeder Ecke finden sich die herrlichsten und exquisitesten Gegenstände – Schmuckkästchen aus Marmor mit Einlegearbeiten, die im Schatten des Taj Mahal hergestellt wurden, Nasenflöten aus Bambus, gefertigt in Tansania, Kalebassengefäße aus Argentinien und noch vieles, vieles mehr –, eine unübersehbare Fülle von Dingen, dank derer alle unsere Gäste hier wahre Wunder erleben können.»
So etwas hatte Zander noch nie gehört, und er ahnte, dass dies ein Teil der Differenzen zwischen seiner Mutter und seiner Großmutter war. Aber er verstand es einfach nicht. Wer würde das World Famous Nine und alles darin nicht lieben?
Zanders Vater hüstelte unbehaglich und legte seine Handflächen auf den Tisch. «Ein fantastisches Essen, Zina», sagte er. «Ich freue mich schon auf mehr davon, wenn wir wiederkommen, so viel ist sicher.»
An einem Tisch auf der anderen Seite des Mittelgangs brandete Jubel auf, und Zander schaute in die Richtung. Vier Servicekräfte näherten sich der Tafel, und zwei von ihnen trugen einen riesigen Kuchen, der dort von etwa einem Dutzend Gästen mit Freudenrufen und Gelächter begrüßt wurde.
«Herzlichen Glückwunsch zum Jahrestag!», riefen etliche von ihnen.
Zander musste daran denken, wie merkwürdig seine Großmutter im Aufzug reagiert hatte, als das Wort «Jahrestag» gefallen war. Er drehte sich zu ihr um – und richtig: Der Mund seiner Großmutter stand offen, und ihre Wangen waren gerötet.
«Ist alles in Ordnung, Mutter?», fragte Zaylee, die Zina ebenfalls anschaute. «Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.»
Auch Zanders Vater betrachtete Zina besorgt. «Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?», fragte er.
Zina schüttelte den Kopf und riss die Augen auf. «Es geht mir gut», wehrte sie ab.
Wieder schallte das Wort «Jahrestag» von den Gästen an dem Tisch zu ihnen herüber, und Zina kniff einen Moment lang wie gequält die Augen zu.
«Ist etwas mit dem Wort ‹Jahrestag›, Zina?», fragte Mason, dem Zinas Reaktion nicht entgangen war.
Sie schaute ihn an und nickte langsam. «Zaylee weiß Bescheid.»
«Oh», sagte Zanders Mutter und schlug die Hand vor den Mund. «Diese alte Legende?»
«Was für eine Legende?», fragte Zanders Vater.
«Ach, nur eine Familiengeschichte», sagte Zaylee schnell. Sie legte eine Hand auf Zinas Handgelenk. «Mutter, bitte. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.» Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: «Oder sonst jemand.»
Zina kniff wieder die Augen zu. Eine unbehagliche Stille machte sich breit.
«Wir sollten Zanders Koffer aus dem Wagen holen», sagte Mason und stand auf.
Zander schaute noch einmal zu dem Tisch, an dem alle lachten und sich den Kuchen schmecken ließen. Irgendjemand rief wieder das Wort «Jahrestag».
Zina, die gerade aufgestanden war, griff nach der Stuhllehne, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
«Mrs. Winebee!», rief Phyllis Lee Suzuki, die sich dem Tisch näherte. «Ich bringe Ihnen einen Kamillentee.»
Zina winkte ab. «Es geht mir gut, Miss Suzuki. Meine Tochter und ihr Mann müssen aufbrechen.»
«Ich hole Ihnen einen Becher zum Mitnehmen», sagte Phyllis. «Sie müssen den Tee trinken. Und keine Ausreden, wenn ich bitten darf.»
«Danke.» Zina richtete sich auf und zog ihren Kragen straff. Dann streckte sie Zaylee ihre eine Hand entgegen und Mason die andere.
Für einen kurzen Moment gingen die Lichter aus.
«Es gefällt mir gar nicht, dass das ständig passiert», sagte Zaylee. «Ist wirklich alles in Ordnung, Mutter?»
«Macht euch keine Sorgen», sagte Zina. «Wir werden das Problem lösen.» Zander bemerkte, dass sie einen raschen Blick mit Miss Suzuki wechselte – und er hatte den Eindruck, dass sich seine Mutter zu Recht Sorgen machte. Diese ständigen Stromausfälle kamen auch ihm komisch vor.
«Ich hoffe, man findet bald die Ursache», sagte Zaylee.
«Ich bringe euch noch zum Auto», sagte Zina zu Zaylee und Mason, «und dann zeige ich Zander sein Zimmer. Dort wird er sich fühlen wie in Abrahams Schoß.»
EineStundespäterlagZanderimBett. Seine Eltern hatten sich nach vielen Umarmungen und dem Versprechen, sich so oft wie möglich zu melden, rasch verabschiedet. Zander musste die Tränen unterdrücken, als er ihnen auf Wiedersehen sagte.
Während er ihnen nachschaute, wie sie davonfuhren, schlug seine Großmutter vor, der Kunstabteilung und dem Buchladen noch einen kurzen Besuch abzustatten. Aber in dem Moment, als sie das World Famous Nine wieder betraten – Zander zerrte noch seinen Rollkoffer hinter sich her –, machte eine Ankündigung über Lautsprecher ihre Pläne zunichte: «Das World Famous Nine schließt in zehn Minuten.»
«Schon neun Uhr?», sagte seine Großmutter. «Dann müssen wir unsere Tour leider auf morgen verschieben. Ich verspreche dir, dass ich dir dann alle Highlights unseres Hauses zeigen werde.»
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den achtzehnten Stock – das oberste Stockwerk des Gebäudes –, wo sich Zinas riesige Penthouse-Wohnung befand.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: