Winterhaus - Ben Guterson - E-Book

Winterhaus E-Book

Ben Guterson

5,0

Beschreibung

Diese Geschichte hat alle Zutaten, die man sich für ein besonderes Buch mit viel Winteratmosphäre wünscht: ein zwielichtiges Paar (gefährlich?), einen netten Hotelbesitzer (nur manchmal verdächtig) mit langem Stammbaum, Riesenpuzzles und codierte Botschaften, eine sensationelle Bibliothek und ein magisches Buch, geisterhafte Erscheinungen und tolle Ausflüge in die verschneite Landschaft. Und mittendrin Elizabeth, die einen guten Freund sucht und ihre Eltern nicht kennt. • Heimliche und unheimliche Entdeckungen in einer Familiengeschichte. • Prickelnd abenteuerlich, magisch und rätselhaft. • Mit verlockenden Herausforderungen für alle, die gern puzzeln und Schriftcodes knacken.

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Ben Guterson

WINTERHAUS

Aus dem Englischen von Alexandra ErnstMit Illustrationen von Chloe Bristol

Für meine Mutter und meinen Vater

Inhalt

ERSTER TEIL HINAUF IN DEN NORDEN

KAPITEL 1 EIN BEUNRUHIGENDER ZETTEL

KAPITEL 2 EINE MERKWÜRDIGE BEGEGNUNG IM BUS

KAPITEL 3 ENDLICH – DAS HOTEL

KAPITEL 4 RÄTSEL IN DER HALLE

KAPITEL 5 EINE BEGEGNUNG UND PASSENDE TEILE

KAPITEL 6 APRIKOSEN UND NÜSSE

KAPITEL 7 DIE BIBLIOTHEK – MITTEN IN DER NACHT

KAPITEL 8 EIN SPIEL AM FRÜHSTÜCKSTISCH LEISE

KAPITEL 9 EIN SPRECHENDER VOGEL

KAPITEL 10 DAS BUCH HINTER DEN BÜCHERN

KAPITEL 11 EIN GEDICHT UND VIELE WÖRTER

KAPITEL 12 EINE SEHR BEUNRUHIGENDE BEGEGNUNG

KAPITEL 13 EIN SAAL VOLLER BILDER

KAPITEL 14 EIN ZAUBER AM ABEND

KAPITEL 15 NOCH EIN BESUCH IN DER BIBLIOTHEK

ZWEITER TEIL WEIHNACHTEN STEHT VOR DER TÜR – UND DUNKEL SIND DIE NÄCHTE

KAPITEL 16 EIN UNLÖSBARER CODE

KAPITEL 17 DIE VORBEREITUNGEN FÜR EIN SPIEL

KAPITEL 18 SCHNITZELJAGD IM HOTEL

KAPITEL 19 DER DUNKLE GANG

KAPITEL 20 EINE ALTE LEGENDE

KAPITEL 21 DIE KARTE DES BUCHHÄNDLERS

KAPITEL 22 EIN FESTLICHER ABEND

KAPITEL 23 DREI MAL MUSST DU RUFEN

DRITTER TEIL ZWISCHEN ZWEI FEIERTAGEN – UND DER MOND NIMMT ZU

KAPITEL 24 EINSAME WEIHNACHTEN

KAPITEL 25 EINIGE SEITEN IN EINEM DICKEN TAGEBUCH

KAPITEL 26 DIE STATUE AM RAND DES SEES

KAPITEL 27 TEE UND KEKSE

KAPITEL 28 DIE DUNKLE HÜTTE IM WALD

KAPITEL 29 EIN UNHEIMLICHES LICHT

KAPITEL 30 EIN SCHLIMMER VERLUST

VIERTER TEIL DIE LETZTE STUNDE SCHLÄGT

KAPITEL 31 EINE WAGHALSIGE SUCHE NACH HINWEISEN

KAPITEL 32 DIE ECKE DES PORTRÄTS

KAPITEL 33 EINE VERZWEIFELTE BITTE

KAPITEL 34 DER SCHLÜSSEL TAUCHT AUF

KAPITEL 35 EIN BLUTROTES LICHT IN DER BIBLIOTHEK

KAPITEL 36 EIN BUCH FÄLLT ZU BODEN

KAPITEL 37 EINE KETTE AUS SILBER

KAPITEL 38 EIN SCHLÜSSEL, EIN BRIEF UND EIN GESCHENK

DANKSAGUNG

«In Die Festungsstadt Sehrif-Kála gibt es einen Hinweis auf ein Buch, das nicht existiert. Es ist ein erfundenes Buch, das der Autor einmal schreiben wollte, das er nach einiger Überlegung aber bloß kurz erwähnte – nicht mehr als eine Skizze, eine Fußnote.»

In: Labyrinthe der Welt von Silas Haslam

Das kleine Gatter klemmte – wie üblich – und Elizabeth Somers musste daran zerren, um es zu öffnen. Als sie in den Vorgarten trat, fiel ihr Blick auf die Haustür, an der mit Klebeband ein Brief befestigt war. Elizabeth wusste sofort, dass dieser Brief nichts Gutes zu bedeuten hatte. Die Treppenstufen, die ihr Onkel Burlap niemals sauber hielt, waren glitschig von Eis und Schnee, sodass Elizabeth langsam und vorsichtig nach oben ging. Vor der Tür stellte sie ihre Schultasche ab und schüttelte ihre nasse Kapuze mit einer Kopfbewegung nach hinten. Sie ahnte, was sich in dem Umschlag befand, den sie von der Tür abriss und dann öffnete.

Wir haben dir mehr als einmal gesagt, dass wir drei Wochen lang weg sein würden und du in dieser Zeit nicht im Haus bleiben kannst. Dieser Brief dürfte also keine Überraschung für dich sein. Das Haus ist abgeschlossen. Beiliegend findest du eine Fahrkarte für den Zug um 18:20 Uhr in Richtung Norden. Setz dich in den Zug und steig morgen früh in Sternhaven aus. Am Busbahnhof liegt eine weitere Fahrkarte für dich. Nimm den Bus, der zum Hotel «Winterhaus» fährt. Dort erwartet man dich. Hier sind noch drei Dollar für den Fall, dass du unterwegs irgendetwas brauchst. Die Rückfahrkarten bekommst du nach Silvester. Pass auf, dass du niemandem auf die Nerven gehst. Benimm dich gefälligst!

Elizabeth betrachtete die Fahrkarte. Bis 18:20 Uhr waren es noch drei Stunden – die ersten drei Stunden ihrer 24 Tage Weihnachtsferien. Und wie sie es ihr in den vergangenen zwei Wochen wieder und wieder angekündigt hatten, waren ihre Tante und ihr Onkel tatsächlich weggefahren und schickten sie auf eine Reise ins Unbekannte. Elizabeth sah durch ihre beschlagenen Brillengläser auf die Straße. Es schneite wieder stärker.

Am Türknauf hing eine Plastiktüte. Elizabeth schaute hinein. In der Tüte steckten drei Pullover, zwei Paar Socken, eine Hose und etwas Unterwäsche. Dann betrachtete sie die drei fleckigen Geldscheine, die in dem Umschlag gelegen hatten, und stellte sich vor, wie Tante Purdy sie mit ihren dürren Fingern aus der Geldbörse geschält und widerstrebend zu dem Brief gesteckt hatte. In Elizabeths Vorstellung stand Onkel Burlap neben ihr und beäugte das Geld mit zweifelndem Blick, als ob er selbst diesen Betrag für zu großzügig hielt. Sie stieß die Luft aus und das Bild verflüchtigte sich wie ihr Atem in der kalten Luft.

Elizabeth las den Zettel ein zweites Mal. Dann stopfte sie ihn zusammen mit dem Geld und der Fahrkarte in ihre Jackentasche. Sie bückte sich und zog den Reißverschluss ihrer Schultasche auf. Ganz unten, neben den vier Taschenbüchern, die sie sich für die Weihnachtsferien aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte, lagen ein Stift und ein kleiner Notizblock. Der Notizblock hatte am oberen Rand eine Spiralbindung, einen grünen Einband und Knickfalten, wie der Block eines Kellners in einem Restaurant. Elizabeth klappte ihn auf und schrieb auf die fünfte Seite den Eintrag Nr. 43 auf ihrer Liste mit «Gründen, warum ich meine Tante und meinen Onkel nicht mag»: Weil sie mich in den Weihnachtsferien ohne Geld und mit kaum etwas anzuziehen in ein Hotel im Nirgendwo verfrachten.

Sie steckte den Block wieder in ihre Schultasche, stopfte auch die Plastiktüte hinein und zog den Reißverschluss zu. Sie wollte sich eigentlich zum Gehen wenden, blieb aber stehen und starrte den Streifen Klebeband an, mit dem der Brief an der Haustür befestigt gewesen war. Ihr Atem ging schneller, ihr wurde die Kehle eng, und noch ehe ihr klar wurde, was sie tat, schlug sie mit der flachen Hand gegen die dünne Holztür. Der scharfe Knall, wie von einem Buch, das auf einen harten Boden fällt, erschreckte Elizabeth, und sie fragte sich, was in sie gefahren war. Sie schaute sich um, ob jemand sie beobachtet hatte, aber alles war ruhig, die Straße menschenleer in der aufkommenden Dunkelheit und dem immer dichter werdenden Schneefall. Elizabeth seufzte und schulterte ihre Tasche.

Warum nur kann ich meine Eltern nicht wiederhaben?, dachte sie.

Und weil sie keine Freunde hatte, die sie bitten könnte, ihr drei Wochen lang eine Unterkunft zu geben, und keine Aussicht, dem Zorn ihrer Tante und ihres Onkels zu entgehen, falls sie ihren Anweisungen nicht folgte, beschloss Elizabeth, die anderthalb Meilen zum Bahnhof zu laufen und dort auf den Zug nach Sternhaven zu warten. Sie stapfte zum Gartentor, und in dem Moment, in dem sie hindurchtrat und den Fuß auf den Bürgersteig setzte, überkam sie das Gefühl. Sie erstarrte, riss die Augen auf und fragte sich, was wohl dieses Mal passieren würde. Ihr Herz raste. Alles war still – und dann gab es hinter ihr ein ohrenbetäubendes Krachen.

Das Gefühl, das Elizabeth hatte, war so, als wüsste man genau, dass gleich irgendetwas geschieht – egal ob etwas Gutes oder Schlechtes, etwas Lustiges oder etwas nicht so Lustiges. Sie konnte nicht erklären, warum sie das in diesem Moment wusste und wo dieses Gefühl überhaupt herkam. Sie wusste nur, dass es in diesem Sommer angefangen hatte und immer stärker geworden war, je weiter das Jahr fortschritt. Merkwürdig daran war, dass es für die Dinge, die passierten, keinen Grund und keine Erklärung zu geben schien. Mal fiel ein Buch aus dem Regal, dann kippte ein Glas in der Spüle um oder ein leeres Tablett rutschte vom Tisch, während sie in der Schulcafeteria saß und ihren Kartoffelbrei mit Soße aß. Und jedes Mal, kurz bevor etwas Derartiges geschah, hatte sie ein Flattern im Bauch, das ihr deutlich ankündigte, dass es geschehen würde. Und das war auch der Grund, warum sie jetzt, als das Gefühl auf dem verschneiten Bürgersteig über sie kam, das Krachen in ihrem Rücken nicht überraschte.

Elizabeth drehte sich um und sah, dass das kleine Gatter, das sie nicht angerührt hatte und das klemmte, weswegen es auch nie und nimmer von allein zufallen konnte, geschlossen war. Erleichtert atmete sie auf. Verglichen mit einem zerbrochenen Teller oder herunterfallenden Büchern war dies hier harmlos. Aber obwohl sie sich schon so sehr an diese merkwürdigen Vorkommnisse gewöhnt hatte, dass sie kaum noch darüber erschrak, wollte sie doch gerne wissen, was dahintersteckte und warum sie dieses Gefühl hatte.

Sie vergewisserte sich noch einmal, ob nicht irgendjemand etwas bemerkt hätte, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Mit einem neuerlichen Seufzen und einem letzten Blick auf das Haus ihrer Tante und ihres Onkels marschierte Elizabeth in Richtung Bahnhof.

Nach einer nächtlichen Zugfahrt und fünf Stunden Warten am Bahnhof in Sternhaven saß Elizabeth im Bus und schaute durch das eisumkränzte Fenster in das Schneetreiben hinaus. Der Abend dämmerte schon. Sie hatte nichts gegessen außer einem halben Erdnussbuttersandwich, das von der Pause am letzten Schultag übrig geblieben war, einer Tüte Studentenfutter für einen Dollar fünfunddreißig, die sie am Bahnhof gekauft hatte, und einem Schokoriegel, der im Zeitungsfach ihres Sitzes im Zug gesteckt hatte. Sie versuchte, nicht allzu niedergeschlagen zu sein. Mit jeder Umdrehung der Räder brachte der Bus sie einem Ort in den Bergen näher, an dem sie ihre Weihnachtsferien verbringen würde, zu einem Hotel, das womöglich eine Kreuzung zwischen einem Pflegeheim und einem Spukhaus wie in Der Goldene Kompass war, einem ihrer Lieblingsbücher. Sieben Jahre lang hatte sie gehofft, dass jemand sie aus den Fängen ihrer Tante und ihres Onkels befreien würde. Aber drei Wochen in einem Hotel im hintersten Winkel der Welt waren wohl nichts, worauf sie sich freuen durfte. Eher hatten sich ihre Tante und ihr Onkel die ganze Sache bestimmt als eine Art Strafe ausgedacht. Elizabeth war jetzt elf Jahre alt, und sie hatte sich nicht nur auf ihre vier Taschenbücher aus der Schulbibliothek gefreut, die sie während der Feiertage in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers hatte lesen wollen, sondern auch auf das Krippenspiel, das jedes Jahr am 21. Dezember im Gemeindezentrum neben ihrer Schule aufgeführt wurde. Sie hatte ihre Tante und ihren Onkel angefleht, ihr zu erlauben, in den drei Wochen, in denen die beiden nicht da sein würden, allein im Haus zu bleiben. Sie hatte behauptet, sie sei alt genug, um allein für sich zu sorgen, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie nie eine Chance gehabt hatte.

Seit Elizabeth den Brief von ihrer Tante und ihrem Onkel zum ersten Mal gelesen hatte, fragte sie sich immer wieder, wie um alles in der Welt sie es sich leisten konnten, ihr eine Zugfahrt zu bezahlen, von einem dreiwöchigen Hotelaufenthalt ganz zu schweigen. Bereits vor Jahren hatte Elizabeth begriffen, dass ihre Tante und ihr Onkel arm waren. Onkel Burlap sortierte im hintersten Winkel des Postbüros falsch adressierte Briefe aus, und Tante Purdy patrouillierte fünf Tage pro Woche durch die Straßen von Drere, der Kleinstadt, an deren Rand sie wohnten, und sammelte Pfanddosen ein, die sie und Onkel Burlap einmal im Monat in Smelterville, der nächstgrößeren Stadt, gegen Geld eintauschten. Die Fahrt dorthin dauerte eine halbe Stunde. Manchmal nahmen sie Elizabeth mit. Weiter weg war sie noch nie gewesen. Elizabeth konnte grübeln, so viel sie wollte: Dass sie nun eine richtige Reise mit Zug, Bus und Hotel unternahm, passte überhaupt nicht ins Bild.

Der gemächlich tuckernde rot-weiß gestreifte Bus war nach sieben Haltestellen auf dem Weg nach Norden halb leer. Elizabeth saß auf einem weichen Sitz mit einer bequemen Kopfstütze und füllte ein Kreuzworträtsel in einer Zeitung aus, die jemand im Gepäcknetz über ihr liegen gelassen hatte. Sie war gut im Lösen von Kreuzworträtseln. Eigentlich war sie in allen möglichen Rätseln gut: Wörtersuche, Galgenmännchen, Leistenverse, Symbolrätsel – alle Rätsel mit Wörtern. Sie liebte Anagramme und hatte im Geiste schon die Buchstaben der Beschilderung auf dem Bus – «Amos Blake Reisen» – neu sortiert: «Omas Kabelriesen».

An der achten Haltestelle stieg eine pummelige Frau in einem dicken Wollmantel und mit tiefen Grübchen im Gesicht ein, blieb neben Elizabeths Sitzreihe stehen und deutete brüsk auf den leeren Sitz neben ihr.

«Ist da frei?», fragte sie in einem Ton, der Elizabeth an Tante Purdy erinnerte.

Obwohl sie hungrig und müde und immer noch ein bisschen erschüttert über den Brief ihrer Tante und ihres Onkels war, lächelte Elizabeth die Frau freundlich an. «Ja, der Platz ist frei, und Sie können sich gerne setzen», sagte sie, weil sie mit Erwachsenen immer so sprach, wie sie selbst von ihnen gerne angesprochen werden wollte.

Die Frau zog die Augenbrauen hoch und hievte sich dann in den Sitz, wobei sie ausgiebig mit ihren Ellbogen ruderte, um es sich bequem zu machen. Dann prustete sie einmal und schaute Elizabeth an, als ob sie überrascht wäre, dass sie immer noch da war.

«Einen schönen Paletot haben Sie da an», sagte Elizabeth, die es weiterhin mit Freundlichkeit versuchte und sich außerdem freute, ein Wort benutzen zu können, das sie erst kürzlich gelesen hatte.

Die Frau senkte das Kinn und schaute auf ihre gelblich grüne Wolljacke, als suche sie nach einem Fettfleck. Dann schaute sie Elizabeth an und fragte pikiert: «Ist das ein Fremdwort für meinen Mantel?»

Elizabeth fühlte sich genauso wie immer, wenn Tante Purdy ihr über den Mund fuhr. Sie erkannte, dass es ein Fehler gewesen war, der Frau den Platz neben sich anzubieten. «Ich bitte um Entschuldigung. Ich meinte ‹Farbton›. Ich bringe manchmal die Wörter durcheinander.» Sie senkte den Blick und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu.

Fünf Minuten, nachdem der Bus wieder losgefahren war, sagte die Frau: «Und wohin, wenn ich fragen darf, fährt so ein kleines Mädchen wie du ganz allein?»

«Zum Hotel Winterhaus», sagte Elizabeth kurz angebunden. Sie betrachtete weiter das Kreuzworträtsel, wobei sie unwillkürlich an den Prospekt denken musste, den Tante Purdy letzte Woche auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte – aus Versehen, wie sich herausstellte. Das einzige Bild, auf das Elizabeth einen Blick erhaschen konnte, zeigte einen Haufen alter Leute in langen Unterhosen und komischen Hüten. Jeden Abend ein Galakonzert des Winterhaus-Chors!, lautete die Überschrift. Festliche Mahlzeiten in unserem festlich geschmückten Wintersaal! Vorträge von namhaften Vorträgern über namhafte Themen! Herrliche Ausblicke auf den Mondsee!

«Das ist schon was ganz Besonderes», sagte die Frau mit den Grübchen, die bei der Erwähnung des Hotels merklich auftaute. «Da wollte ich auch schon immer mal hin. Du kannst dich glücklich schätzen.»

Elizabeth schaute an der Frau vorbei zu einer Familie, die auf der anderen Seite des Mittelgangs zwei Reihen weiter vorne saß. Immer wieder war ihr Blick dorthin gewandert. Sie hatte zugesehen, wie der Vater die Hand seiner Tochter gehalten hatte – ein Mädchen in Elizabeths Alter – und ihr Dinge gezeigt hatte, die draußen vor dem Fenster im fallenden Schnee vorbeizogen. Und der Mutter machte es offenbar nichts aus, dass der Junge neben ihr mit dem Kopf auf ihrem Schoß einschlief. Im Gegenteil – sie schien es zu genießen, dass sie seine Wange streicheln und ihm die Jacke überlegen konnte, um ihn zu wärmen.

«Ja», wiederholte die Frau neben Elizabeth, «du kannst dich wirklich glücklich schätzen.»

«Kann sein», sagte Elizabeth. Sie hätte so gern neben der Familie auf der anderen Seite des Gangs gesessen.

«Nun, du könntest ruhig etwas zufriedener sein», sagte die Frau neben ihr spitz. «Immerhin ist das ein sehr schöner Bus.»

Damit hatte sie recht. Elizabeth hatte schon genau den gleichen Gedanken gehabt und sich vorgenommen, den Punkt «Fahren in einem schönen Bus» auf ihre Liste mit «Dingen, die ich überraschenderweise mag» zu setzen. Sie war Expertin im Anfertigen von Listen und hatte Dutzende davon in ihrem grünen Notizblock – und in unzähligen anderen, vollgeschriebenen Blöcken, die sie zu Hause unter ihrer Matratze versteckte. In einigen ihrer Listen ging es um «Dinge, die Tante Purdy behauptet, die aber gar nicht stimmen», «Seen, die ich gerne sehen würde», «Frisuren, die ich nicht mag», «Gefährliche Tiere, denen ich gerne in freier Wildbahn begegnen würde», «Leckere Eintöpfe», «Die schlimmsten Grammatikfehler, die uns Mrs. Thorngrack in der ersten Klasse beibrachte», «Dinge, die man tut, wenn man glaubt, dass keiner hinguckt», «Sachen, die Onkel Burlap sagt, die keinen Sinn ergeben» und «Berühmte Leute, denen ich Briefe schreiben werde, bevor ich dreizehn bin».

Elizabeth zupfte ihren Pullover glatt. «Ich fahre jeden Tag mit dem Bus zur Schule», sagte sie ausdruckslos. Wieder verglich sie unwillkürlich die Stimme der Frau mit der von Tante Purdy. Dann schob sie den Gedanken beiseite. Das Kreuzworträtsel – schwierig, aber nicht zu schwierig – wartete auf sie, und sie konzentrierte sich auf die Herausforderung.

Keine fünf Minuten später, als Elizabeth gerade über die Lösung für Dreizehn waagerecht nachdachte (ein Wort mit sechs Buchstaben für «steuern»), deutete die Frau mit dem Finger auf das Kreuzworträtsel und sagte: «Ich glaube, das ist ‹fliegen›, wie in ‹ein Flugzeug fliegen›.» Sie lächelte, als ob sie gerade einem Baby einen Schnuller in den Mund gesteckt hätte, in der Hoffnung, es auf diese Weise zum Schweigen zu bringen.

Elizabeth fasste ihren Stift fester und sagte: «Ich glaube, es heißt ‹lenken›.» Wenn sie sich an ein Rätsel machte, hatte sie oft den Eindruck, dass die Wörter sich wie von selbst in ihrem Geist ordneten, dass sie nichts weiter tun musste, als die Tabelle, Liste oder das Raster eine Weile zu betrachten, und dann würde die Antwort von selbst auftauchen.

Die Frau schaute zu, wie Elizabeth zwei Wörter senkrecht ausfüllte, die sich mit Dreizehn waagerecht kreuzten, sodass kein Zweifel mehr daran bestand, dass «lenken» die einzig mögliche Antwort war.

Die Frau lächelte weiter, aber mit deutlich mehr Mühe als zuvor. «Eigentlich bin ich ganz gut mit Wörtern», sagte sie. Sie strich ihren Mantelkragen glatt und betrachtete das Kreuzworträtsel mit leerem Blick, als ob sie davon überzeugt war, dass Elizabeth etwas Wichtiges übersehen hatte.

«Ich auch», gab Elizabeth scharf zurück. «Wussten Sie, dass man aus ‹Schienen› ‹Chinesen› machen kann?» Das hatte ihr Lehrer einmal gesagt, und Elizabeth hatte es lustig gefunden. «Oder dass aus ‹Weise› eine ‹Wiese› wird?» Sie faltete die Zeitung zusammen und schaute zum Fenster hinaus. Es wurde dunkel.

Die Frau seufzte und sagte nichts mehr. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus und Elizabeth hatte die Sitzreihe wieder für sich allein.

Nach einer Weile kuschelte sich Elizabeth in ihre Wolljacke, schaltete das kleine Licht an der Unterseite des Gepäckfachs über ihrem Kopf ein und fing an, ein Buch zu lesen. Sie kannte es schon, Anne aus Green Gables war eines ihrer Lieblingsbücher, und sie las es bereits zum fünften Mal. Mitten im ersten Kapitel hatte sie plötzlich das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie schob ihre Brille nach oben und drehte sich um. Auf der Rückbank des Busses, ein paar Reihen hinter ihr, saß ein Mann, etwa vierzig Jahre alt, mit einem schwarzen Wollmantel über einem tadellos gebügelten Anzug samt Krawatte, und schaute in ihre Richtung. Neben ihm saß eine Frau, ebenfalls ganz in Schwarz gekleidet: schwarzer Wollblazer, schwarze Hosen, schwarze Stiefel und über dem Kopf ein schwarzer Schal. Auch ihre Haare waren schwarz, aber Elizabeth konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf an die Schulter des Mannes gelehnt hatte und schlief.

Es schien, als ob der Mann nur darauf gewartet hätte, dass Elizabeth sich umdrehte. Er hatte die Haare mit Pomade glatt nach hinten frisiert, wie es Elizabeth aus alten Schwarzweißfilmen kannte, und sah in seinem schwarzen Anzug elegant und kultiviert aus. Doch seine Augen musterten sie kalt und prüfend. Nach einer Weile wandte der Mann den Blick ab. Elizabeth widmete sich wieder ihrem Buch, aber nach zehn Minuten kroch ihr erneut dieses merkwürdige Gefühl in den Nacken, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Mann sie wieder anschaute. Die Frau neben ihm schlief nach wie vor.

«Wollten Sie mich etwas fragen?», richtete sie das Wort an den Mann. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum irgendjemand ihr mehr als einen flüchtigen Blick gönnen sollte. Sie war klein für ihr Alter und trug eine Brille mit einem dicken Gestell, das sie selbst hässlich fand, aber etwas anderes konnten sich ihre Tante und ihr Onkel nicht leisten. Behaupteten sie. Braune Haare umrahmten ihr zartes Gesicht, das den Anschein machte, als könnte ein Sturm es davonwehen (wo sie doch Stürme so liebte!). Kurz und gut: Elizabeth Somers war so unscheinbar und unauffällig, wie ein Mädchen nur sein konnte. Nur wenn sie wütend war oder ungeduldig und ihre Lippen kräuselte oder die Stirn runzelte, sodass zwischen ihren dicht beieinander stehenden Augenbrauen eine tiefe Furche entstand, wirkte ihr Gesicht eindrucksvoll. Und in letzter Zeit war Elizabeth zunehmend häufiger wütend oder ungeduldig, besonders in Gegenwart ihrer Tante und ihres Onkels.

Der Mann strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnurrbart und sagte: «Bitte um Verzeihung. Du siehst jemandem ähnlich, das ist alles. Entschuldige die Störung.» Er nickte, lächelte knapp und blickte dann zur Seite. Plötzlich setzte sich die Frau neben ihm auf und starrte Elizabeth mit Augen an, die noch schwärzer und kälter waren als die des Mannes. Nach ein paar Sekunden beugte sie sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann richtete sie wieder den Blick auf Elizabeth. Die ganze Situation war so seltsam und unerklärlich – als ob sie dem Mann in diesem Moment ein Geheimnis anvertraut hätte –, dass Elizabeth sich plötzlich unwohl fühlte, umso mehr, als die Frau sie weiterhin unverfroren mit starrem Blick musterte. Sie schien zu den Menschen zu gehören, die jeden Blick so lange erwiderten, bis man sich so unbehaglich fühlte, dass man zuerst wegsah. Aber was hatte sie dem Mann zugeflüstert?

Elizabeth wollte wegschauen. Aber der Blick der Frau war so durchdringend und so unheimlich, dass sich Elizabeth nicht rühren konnte. Ihre Augen bohrten sich in Elizabeths. Die Sekunden verstrichen, und die Spannung war so groß, dass Elizabeth Angst hatte, ihre Brillengläser würden jeden Moment zerplatzen. Sie schaffte es einfach nicht, den Blick abzuwenden.

«Nächster Halt – Ragnar!», rief der Busfahrer, und der Bann war gebrochen. Elizabeth schaute weg, während die Frau ihren Kopf wieder an die Schulter des Mannes lehnte. Elizabeth holte tief Atem, schloss die Augen und dachte: Sie kann mir keine Angst einjagen. Das sagte sie sich seit einiger Zeit immer dann, wenn Tante Purdy drohte, sie zu bestrafen. Wann genau sie damit angefangen hatte, wusste sie allerdings nicht. Sie wusste nur, dass sie sich mit diesem Gedanken besser fühlte.

Elizabeth machte die Augen wieder auf und versuchte weiterzulesen. Aber sie musste ständig an den Mann und die Frau hinten im Bus denken, und schließlich legte sie das Buch weg und grübelte noch einmal darüber nach, wie merkwürdig es war, dass ihre Tante und ihr Onkel sie in den Weihnachtsferien auf Reisen geschickt hatten. Es gab keine Verwandten, die in der Nähe lebten, und deshalb verbrachten sie alle Ferien und Feiertage – selbst Thanksgiving und Ostern – nur zu dritt. Elizabeth besuchte niemals ihre Schulkameradinnen, einerseits weil Tante Purdy es verbot, andererseits weil Elizabeth nie eingeladen wurde. Es war schwer, in einer so kleinen Schule Freunde zu finden, wo alle wussten, dass sie mit ihrer merkwürdigen Tante und ihrem ebenso merkwürdigen Onkel im armseligsten Haus von Drere wohnte – und dass sie in der Mittagspause lieber allein in der Bibliothek saß, anstatt draußen zu spielen oder sich mit den anderen Kindern zu unterhalten. Einmal hatte sie gehört, wie ein Junge aus ihrer Klasse sagte, dass Elizabeths einzige Freunde ihre Bücher seien. Dabei tanzte sie gar nicht absichtlich aus der Reihe, und sie war auch ganz bestimmt nicht unfreundlich. Es kam ihr nur meistens einfacher vor, für sich zu bleiben. Außerdem las sie für ihr Leben gern.

Das viele Nachdenken erschöpfte sie, und die Reise war lang und ermüdend. Und noch ehe sie es merkte, war Elizabeth eingeschlafen.

Sie hätte wohl die ganze Nacht durchgeschlafen, wenn sie nicht um kurz nach neun aus einem Albtraum hochgeschreckt wäre. In ihrem Traum war sie zwischen zwei langen Bücherregalen in einer dunklen Bibliothek hindurchgegangen, als sie eine Stimme hörte – eine gespenstische Stimme –, die ihren Namen rief. Sie ging schneller, dann fing sie an zu laufen, aber die Regale zogen sich schier endlos dahin, und sie fühlte sich gefangen. Und gerade als sie vor sich den Ausgang erblickte, trat ihr aus den Schatten eine Gestalt in den Weg, sodass sie stehen bleiben musste. Es war eine Frau, die der Frau in Schwarz hinten im Bus ähnlich sah. Aber sie war älter und größer, und ihre Augen waren noch unheimlicher. Elizabeth wollte sich umdrehen und weglaufen, aber sie konnte sich nicht rühren. Sie war zur Salzsäule erstarrt. Die Frau redete leise auf sie ein, und als sie Elizabeth beim Namen nannte, streckte sie die Hand aus …

Nach Luft schnappend schlug Elizabeth die Augen auf. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus und versuchte, sich zu beruhigen. Dann schüttelte sie den Kopf, um die Erinnerung an die seltsame Frau aus ihrem Traum loszuwerden.

Während Elizabeth geschlafen hatte, musste der Bus mehrere Male angehalten haben, denn abgesehen von ihr und einigen wenigen anderen Fahrgästen saß nur noch das seltsame schwarz gekleidete Paar im Bus. Jetzt schliefen beide. Elizabeth wartete darauf, dass der Albtraum seinen Schrecken verlor, aber ihre Angst ebbte nur langsam ab.

Geistesabwesend zog Elizabeth die Halskette unter ihrem Pullover hervor. Es war der einzige Gegenstand, der ihr von ihrer Mutter geblieben war: ein flacher, kreisrunder Anhänger aus indigoblauem Marmor, eingefasst in Silber, und darunter das Wort «Glaube» mit der Einritzung in Form eines altertümlichen Schlüssels. Sie würde sich eher von allen siebenunddreißig Büchern trennen, die sie besaß, und jede Nacht die Pennys in Onkel Burlaps Münzsammlung zählen – was sie tatsächlich jeden Freitagabend hatte tun müssen, bis sie zehn Jahre alt war, obwohl sie genau wusste, dass es 21 Dollar und 73 Cents waren –, als diesen Anhänger zu verlieren. Manchmal hatte sie Angst, dass die schwachen Erinnerungen, die sie an ihre Eltern hatte, immer weiter verblassen und irgendwann ganz verschwinden würden.

Sie umklammerte den Anhänger in ihrer Faust und drückte ihn an ihr Herz. Unwillkürlich musste sie wieder an die Familie denken, die schräg gegenüber gesessen hatte. Und dann sagte sie leise zu sich selbst: «Ich weiß zwar, dass die nächsten drei Wochen furchtbar langweilig sein werden, aber ich hoffe trotzdem, dass im Hotel Winterhaus etwas Schönes passiert. Bitte.» Sie wollte noch mehr sagen, etwas, das mit der Familie im Bus zu tun hatte, aber sie wusste nicht genau, was sie sagen wollte, und so hielt sie nur eine Weile die Augen geschlossen und schwieg. Der Bus rumpelte weiter. Es schneite stärker. Schließlich steckte sie den Anhänger wieder unter ihren Pullover.

In diesem Moment ebnete sich die steile Straße, und Elizabeth spürte, wie sich etwas in der Luft veränderte, als ob sie elektrisiert wäre. Sie schob ihre Brille hoch und schaute nach vorn, aber außer dem Schneetreiben und dem schwarzen Himmel konnte sie im Scheinwerferlicht des Busses nichts sehen. Sie legte eine Hand auf die Stelle, wo unter dem Pullover ihre Halskette war, und fühlte ein leichtes Flattern in ihrem Herzen und ihrem Bauch.

Der Bus fuhr langsamer, und dann kamen hohe Laternenpfosten in Sicht, die Elizabeth an ein Bild des Königspalastes in England erinnerten, das sie einmal gesehen hatte. «Letzter Halt!», rief der Busfahrer. «Winterhaus! Alles aussteigen!»

Im Scheinwerferlicht tauchte eine Backsteinmauer auf und dann ein riesiges, offen stehendes Schmiedeeisentor. Und da, direkt vor ihr, so hell erleuchtet wie an einem Sommertag, erhob sich ein riesiges Hotel – eine Festung aus goldfarbenen Steinen, mit Zinnen und Bogengängen, blitzenden Fenstern und hohen Türmen, die im Licht erstrahlten und von denen Fahnen und tausend silberne Banner wehten, auf denen ein weißes «W» prangte. Hier und da ragten mit zierlichen Brüstungen versehene Balkone, Terrassen und Aussichtspunkte über die Fassade hinaus, überall dekoriert mit chinesischen Lampions, und vor dem Haus standen mit Lametta behangene, glitzernde Bäume wie die Rampenlichter einer Bühne. Elizabeth hätte sich nie träumen lassen, dass ein Gebäude so groß und gleichzeitig so schön sein konnte.

Der Bus fuhr die bogenförmige Einfahrt hoch, und dann stieg Elizabeth aus und begaffte mit offenem Mund die schimmernden Mauern von Winterhaus. Hinter dem Hotel lag – beschienen von dem strahlenden Licht des Gebäudes – ein vereister riesiger See mit einem Skilift an einer Seite, der zu einem Gipfel führte, der erste einer Bergkette, die sich in die Ferne zog wie ein Himmel voller Segel, geisterhaft grau vor der sternengespickten Dunkelheit. Wunderschöne Musik – wie in einer Kirche oder einem Konzertsaal – drang aus dem Hotel. Elizabeths Wangen, verwöhnt durch die Wärme im Bus, wurden in der kalten Luft taub, aber sie merkte es kaum.

Der Mann und die Frau in Schwarz stiegen ebenfalls aus dem Bus. Jetzt, da sie die Frau deutlich sehen konnte, schätzte Elizabeth sie auf das gleiche Alter wie den Mann. Ihre weiße Haut wirkte im Kontrast zu dem rabenschwarzen Haar fast durchscheinend. Die Frau schaute den Mann an und sagte leise – aber doch so, dass Elizabeth es verstehen konnte: «Es fängt an.»

Sehr merkwürdige Leute, dachte Elizabeth.

«Bitte holen Sie Ihr Gepäck ab!», forderte der Busfahrer die Fahrgäste auf und öffnete eine große Ladeklappe unterhalb der Sitzreihen, wo die Koffer standen. Bei den Gepäckstücken fiel Elizabeth eine große Sperrholzkiste auf, die den Maßen nach zu urteilen eine Posaune enthalten mochte – oder auch zwei oder drei – oder vielleicht ein paar Skier.

«Das ist meine Büchersammlung!», sagte der Mann in Schwarz streng und wies auf die Kiste. «Seien Sie vorsichtig damit», forderte er den Busfahrer auf.

«Sieht aus wie ein Sarg», bemerkte ein Fahrgast trocken, und die anderen lachten – nicht aber der Mann und die Frau in Schwarz. Elizabeth betrachtete die Kiste und spürte dann wieder den Blick der Frau auf sich.

«Offensichtlich hast du es bis nach Winterhaus geschafft», sagte die Frau im Flüsterton.

Die Bemerkung an sich war schon seltsam genug, aber was sie als Nächstes sagte, war noch viel seltsamer: «Bist du froh, hier zu sein, Elizabeth Somers?»

«Woher kennen Sie meinen Namen?», fragte Elizabeth verblüfft. Die Frau in Schwarz legte ihren Kopf schräg und deutete auf das Lesezeichen, das aus Elizabeths Buch ragte: Ihr Name stand darauf.

Elizabeth fand es komisch, dass jemand, den sie überhaupt nicht kannte, sie beim Namen nannte. Aber in diesem Augenblick kamen zwei Hotelpagen in roter Livree durch die elfenbeinfarben gerahmte Glastür geeilt und riefen wie aus einem Mund: «Willkommen im Winterhaus!» Und Elizabeth merkte, dass sie nichts weiter wollte, als von dem Mann und der Frau in Schwarz wegzukommen.

Sie kann mir keine Angst einjagen, sagte sie sich noch einmal.

Die Lobby des Hotels Winterhaus versetzte Elizabeth wiederum in Staunen – beinahe so sehr wie der Anblick des Gebäudes selbst. Die Eingangshalle war riesig und herrlich ausgestattet: holzgetäfelte Wände, ausladende Kerzenleuchter, Teppiche mit Rautenmuster und große, mit Vorhängen versehene Fenster, die auf den See hinausgingen. Elizabeth blieb wie angewurzelt stehen und blickte sich mit großen Augen um.

Das ist alles ganz anders, als ich erwartet habe, dachte sie. Sie würde diesen Moment auf ihre Liste schreiben mit «Dingen, die mich maßlos überraschten», auf der als letzter Eintrag stand: «Onkel Burlap hat die verstopfte Toilette nicht gereinigt, obwohl Tante Purdy es ihm befohlen hat.»

«Bitte hier entlang, Miss», sagte der Page neben ihr, «kommen Sie herein und wärmen Sie sich auf.» Er verrenkte sich den Hals. «Sonst niemand mehr?», fragte er verwundert.

Elizabeth schob den Rucksack auf ihrem Rücken höher. Sie hatte auf der Fahrt lang und breit darüber nachgedacht, was sie sagen würde, wenn jemand sie fragte, was sie im Winterhaus wollte, und jetzt, da der Moment gekommen war, fiel ihr nur das Offensichtliche ein: «Ich bin allein.»

Die Lobby wirkte so einladend, der Page war so freundlich und Elizabeth so neugierig, was wohl als Nächstes geschehen würde, dass sie nichts weiter mehr sagte. Sie musterte ihre Umgebung. Rechts und links von ihr öffneten sich Bogengänge und gaben den Blick frei in schier endlose Flure. Eine Prunktreppe mit einem silbernen Handlauf zog sich in etwa zwanzig Metern Entfernung elegant nach oben. Auf einem Podest auf dem Treppenabsatz stand eine Bronzebüste, und an der hohen Wand hingen sechs Hirschköpfe. In der Luft lag ein herrlicher, süßer Duft – ein Duft nach Zucker und Kerzen und dem Rauch eines Kaminfeuers. An einem Empfangstisch war das schwarz gekleidete Paar in ein Gespräch mit einem anderen Pagen verwickelt. Sie waren so weit entfernt, dass Elizabeth nicht verstehen konnte, was sie sagten, aber sie schienen wütend zu sein.

«Ganz allein?», wiederholte der Page jetzt und schaute Elizabeth an. Seine rote Livree war faltenlos, und auf dem Kopf saß keck ein kleines Hütchen. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, und auf seinen Wangen prangte ein Bartschatten, obwohl es ganz so aussah, als hätte er sich erst am Morgen rasiert. Aber sein Lächeln war freundlich und offen. Er beugte sich vor und starrte sie an, als säße ein Schmetterling auf ihrer Nase. «Das ist ja ganz wundervoll! Wir freuen uns über jeden einzelnen Gast!»

Elizabeth war nicht ganz bei der Sache. Am anderen Ende der Lobby hatte sie zwei ältere Herren entdeckt, die an einem langen Tisch standen und etwas betrachteten, was darauf lag – vielleicht ein kompliziertes Spiel oder ein wichtiges Dokument. Sie waren so darin vertieft, dass sie weder Elizabeth noch irgendetwas sonst um sie herum zu bemerken schienen.

«Was machen die beiden da?», fragte Elizabeth den Pagen.

Er schaute in Richtung der Männer, als ob er den Horizont nach einem Schiff absuchen würde. «Ach, die?», sagte er dann. «Das sind Mr. Wellington und Mr. Rajput.» Er räusperte sich. «Sie legen ein Puzzle.» Er beugte sich vor und flüsterte: «Es hat fünfunddreißigtausend Teile, und sie arbeiten daran seit … nun, es müssen mittlerweile zwei Jahre sein. Auf dem Bild ist ein großer blauer Himmel zu sehen, und ich glaube, sie können sich glücklich schätzen, wenn sie pro Tag fünf passende Teile finden.» Er richtete sich wieder auf und kräuselte die Lippen, als wollte er sagen: Ziemlich beeindruckend, nicht wahr?

«Das ist das größte Puzzle, von dem ich je gehört habe.» Elizabeth hätte zu gerne einen Blick darauf geworfen.

«Ich habe auch noch nie ein größeres gesehen.»

Elizabeth fühlte ein Wort in sich aufsteigen. «Man könnte sagen, es ist gigantisch.»

Der Page musterte sie über den Rand seiner Brille hinweg. «Nur so aus Neugier, Miss», sagte er, «wie alt sind Sie?»

«Elf.»

Er betrachtete sie weiterhin aufmerksam. «Wir freuen uns wirklich sehr, dass Sie hier bei uns im Winterhaus sind», sagte er leise. Er legte kurz seine Handflächen aneinander und zog dann einen Zettel aus seiner Brusttasche. «Und Sie sind bestimmt …», sagte er, während er den Zettel überflog. «Lassen Sie mich mal sehen, Sie sind …»

«Elizabeth Somers», sagte sie.

«Somers … Somers», wiederholte der Page und betrachtete den Zettel mit zusammengekniffenen Augen. «Aha, sehr gut.» Er blinzelte und beugte sich dann zu ihr vor. «Da steht es. Ja, Elizabeth Somers, eine Person. Alles bestens.» Er schaute auf. «Hier haben wir Sie. Zimmer 213.» Er blickte sich um. «Ihr Gepäck?»

Sie zupfte an dem Gurt ihres Rucksacks auf ihrer Schulter. «Das ist alles», sagte sie. In dem Moment wurde ihre Aufmerksamkeit zu dem Paar in Schwarz gelenkt. Der Mann, der immer noch mit dem anderen Pagen sprach, hatte seine Stimme erhoben, und Elizabeth glaubte die Worte «Bücher» und «Kiste» zu verstehen.

Sie schob ihre Brille nach oben. «Die Sache ist die», wandte sich Elizabeth wieder an den Pagen vor ihr, «ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht sicher, ob ich wirklich hier sein sollte.»

Der Page hielt ihr den Zettel hin. «Ihr Name steht auf der Liste», sagte er und lächelte. «Also sind Sie hier richtig.»

Elizabeth runzelte die Stirn. «Steht da auch, wer für den Aufenthalt bezahlt?»

Er warf einen Blick auf den Zettel. «Hier steht nur: Vollpension. Das Zimmer und alle Mahlzeiten wurden im Voraus bezahlt. Sie sind bis zum fünften Januar unser Gast.» Er sah sie an. «Aber Sie wissen nicht, wer diese Reise für Sie gebucht hat?»

Elizabeth schüttelte den Kopf. Dann plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sie in der vergangenen Woche durch die geschlossene Tür ihre Tante und ihren Onkel miteinander reden gehört hatte. Sie hatte nur ein paar Sätze verstanden. Onkel Burlap hatte gesagt: «Also, wer immer das ist, wenn er irgendein komisches Hotel für sie bezahlt und uns Geld gibt, um in Urlaub zu fahren, gibt es doch nichts zu überlegen! Wann sind uns das letzte Mal fünftausend Dollar in den Schoß gefallen? Fünftausend Dollar! Wen kümmert’s, dass wir weder wissen, wer das macht, noch warum?» Tante Purdy hatte ihn ermahnt, leise zu sprechen, und mehr hatte Elizabeth nicht aufschnappen können. Auch ihr war die Sache rätselhaft, damals wie heute. Wer sollte ihrer Tante und ihrem Onkel Geld schenken? Oder die beiden bitten, sie ins Hotel Winterhaus zu schicken?

Der Page steckte den Zettel wieder ein. «Das spielt keine Rolle, Miss Somers. Alles ist in bester Ordnung. Ich heiße übrigens Jackson», sagte er und nickte zu dem kleinen Messingschild an der Brusttasche seiner roten Livreejacke.

Der Mann in Schwarz hinter ihnen sprach jetzt noch lauter. «Wir haben eine Suite mit zwei Schlafzimmern gebucht, und darauf bestehen wir!» Seine Stimme hallte durch die Lobby. «Ich brauche Platz für meine Bücher!» Elizabeth starrte ihn an. Die beiden Männer am Puzzletisch schauten ebenfalls hoch, und auch Jackson musterte den Mann und die Frau am Empfangstresen und schien Elizabeth ganz vergessen zu haben. Der Kopf der schwarz gekleideten Frau ruckte herum, als ob sie etwas gehört oder gerochen hätte, und sie funkelte Elizabeth eine Sekunde lang an, ehe sie sich wieder dem Pagen zuwandte, den ihr Mann zur Schnecke machte.

«Da scheint irgendetwas durcheinandergeraten zu sein», sagte Jackson zu Elizabeth.

«Gibt es ein Problem?», fragte sie. Der Blick der Frau hatte sie wieder in Unruhe versetzt. Und auch die Kiste, fand sie, war ein merkwürdiges Gepäckstück für Bücher. Sie sieht wirklich aus wie ein Sarg, dachte Elizabeth.

«Aber nicht doch!», sagte Jackson. Er drehte sich um, als sich die Eingangstür öffnete. «Und sehen Sie, was für ein Glück wir haben! Da kommt Mr. Norbridge Falls!»

Ein großer Mann in einem Wolljackett, einem blütenweißen Hemd und einer Fliege am Kragen, die aussah wie eine große Schleife, trat mit einem Grinsen auf sie zu. Elizabeth schätzte ihn auf etwa fünfundsiebzig Jahre, aber trotz seines weißen Haars und seiner hageren Gestalt schien er voller Leben zu sein, wie ein Bergsteiger, der nicht nur körperlich stark geblieben war, sondern über eine innere Kraft verfügte, die er in einem langen Leben im Freien förmlich aufgesaugt hatte. Seine Wangen waren rot, und sein gepflegter Bart, der über der Oberlippe zu einem schmalen Strich gestutzt war, lief in einem weißen, akkuraten Dreieck über sein Kinn spitz nach unten. Er sah einfach fabelhaft aus.

Vor Elizabeth blieb er stehen und streckte die Hand aus. «Einen schönen guten Abend wünsche ich!», sagte er. Seine Augen waren dunkel und ausdrucksstark. «Ich bin Norbridge Falls. Und du musst Elizabeth Somers sein.» Er nickte Jackson zu.

Elizabeth nahm die dargebotene Hand. Sein Griff war kräftig und angenehm. «Woher kennen Sie meinen Namen?», fragte sie. «Ähm … Ich meine natürlich, auch Ihnen einen guten Abend, Sir.»

Er breitete die Arme aus. «Winterhaus gehört mir», sagte er mit der größten Selbstverständlichkeit, als ob er sie darüber informieren würde, dass er einen Bart trug. «Und ich muss diese Dinge wissen. Bitte nenn mich Norbridge.» Er lachte freundlich – nicht so, wie Elizabeth es von ihrer Tante oder ihrem Onkel gewohnt war, mit diesem Unterton, der ihr klarmachen sollte, wie dumm und erbärmlich sie war – und strich sich dann über den Bart. «Außerdem habe ich mir die Liste mit den Gästen angeschaut, die heute erwartet werden. Und auf dieser Liste steht, dass Elizabeth Somers, elf Jahre, allein reist und mit dem letzten Bus eintreffen wird. Und du bist das einzige elfjährige Mädchen, das um zehn Uhr abends hier in der Lobby vor mir steht. Also musst du Elizabeth Somers sein. Die einzig wahre Elizabeth Somers!» Seine Augen tanzten, als ob er gerade ein Rätsel gelöst hätte und sich darüber freuen würde, dass er ihr die Antwort verraten konnte.

«Sie haben recht», sagte sie, obwohl sie irgendwie das Gefühl hatte, dass an der Sache etwas faul war. «Ich bin gerade angekommen.»

«Zwei Zimmer!», schrie der Mann in Schwarz. Die Frau neben ihm runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

«Bitte entschuldigen Sie mich», sagte Jackson mit einem kurzen Blick auf den anderen Pagen, «ich werde mal sehen, wie ich helfen kann.» Er nickte Norbridge Falls zu und trat zu dem Trio am Empfang. Norbridge betrachtete den Mann und die Frau in Schwarz und wandte sich wieder Elizabeth zu.

«Alles klar bei dir?», fragte er. Dann bemerkte er ihren Rucksack. «Ah, du reist mit leichtem Gepäck. Sehr gut. So gefällt mir das. Eine Person, eine Tasche, einhundert Pfund Gepäck – oder doch besser nur zehn. Komm, ich bringe dich zu deinem Zimmer. Nr. 213, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.»

«Sir …»

«Norbridge», fiel er ihr ins Wort.

«Norbridge», sagte Elizabeth, «als Sie sagten, Winterhaus gehöre Ihnen, was meinten Sie damit?»

Er legte die Hand an den Mund und schien gründlich über ihre Frage nachzudenken, als ob er dergleichen noch nie gehört hätte. Seine Augen wurden schmal und seine Kiefermuskeln bewegten sich. Und dann streckte er die Hand aus und berührte Elizabeth kurz hinter dem Ohr, ehe er die Hand schnell wieder wegzog. Zwischen den Fingern hielt er einen Gegenstand.

«Bewahrst du dein Geld immer dort auf?», fragte er und hielt ihr die offene Handfläche hin, auf der eine Münze lag, so groß wie ein Silberdollar. Aber diese Münze war golden und sah anders aus als jedes Geldstück, das Elizabeth kannte.

Sie war völlig baff. «Wie haben Sie das gemacht?» Seine Hand war ganz sicher leer gewesen, als er an ihr Ohr gefasst hatte.

Norbridge zuckte mit den Schultern. «Ich kann doch nichts dafür, wenn du dein Geld hinter den Ohren stecken hast», sagte er. Er nahm die Münze am Rand und hielt sie Elizabeth vor die Augen. Sie war mit einem Bild des Hotels Winterhaus geprägt, und darunter stand: Inhaber: Norbridge Falls.

«Sie leiten Winterhaus?», fragte Elizabeth.

Norbridge lächelte und ließ die Münze in seiner Brusttasche verschwinden. «Ja, ich leite es. Es gehört mir! Winterhaus wurde 1897 von meinem Großvater Nestor Falls erbaut, und ich führe das Hotel, seit ich es vor beinahe fünfundvierzig Jahren von meinem Vater Nathaniel übernommen habe. Aber es ist schon spät.» Er warf einen Blick auf das schwarz gekleidete Paar, ehe er wieder Elizabeth anschaute. Er wirkte plötzlich besorgt. «Du bist bestimmt müde», sagte er.

«Ein bisschen», sagte Elizabeth, die ihm nicht widersprechen wollte, obwohl sie sich nach ihrem ausgiebigen Nickerchen im Bus und wegen ihrer Erregung über das prächtige Hotel überhaupt nicht müde fühlte. «Aber ich besitze eine gute Kondition.»

Norbridge hob die geballte Faust, als wollte er seine Muskeln spielen lassen. «Ich liebe dieses Wort: ‹Kondition›.» Noch einmal schaute er zu dem Mann und der Frau am Empfangstisch und seine Augen verdunkelten sich. «Komm, ich bring dich in dein Zimmer.» Er schnippte mit den Fingern, als ob ihm gerade eine wundervolle Idee gekommen sei. «Und auf dem Weg dorthin holen wir uns ein oder zwei Flurschen.»

«Ein oder zwei was?», fragte sie. Aber Norbridge hatte sich bereits auf dem Absatz umgedreht und marschierte los, als ob er ganz selbstverständlich davon ausging, dass Elizabeth ihm folgen würde. Was sie auch tat.

«So spät, so spät», sagte Norbridge, wohl zu sich selbst, und als sie am Puzzletisch vorbeikamen, hob er grüßend die Hand und erkundigte sich kurz: «Meine Herren, wie geht es heute Abend mit Ihrem Puzzle voran?»

«Drei Teile heute!», sagte einer der Männer – groß und dünn und beinahe völlig kahl – und deutete stolz auf den Tisch.

«Der Himmel wird allmählich größer. Aber langsam, viel zu langsam», sagte der andere Mann – kurz und pummelig und mit einem dicken Schnurrbart.

«Ein anständiges Tagewerk!», rief Norbridge, der bereits an den beiden Männern vorbei war, über die Schulter.

Der pummelige Mann nickte Elizabeth zu. «Guten Abend», sagte er.

Elizabeth blieb stehen. «Danke schön.» Sie befand sich jetzt direkt vor dem langen Tisch, auf dem Tausende und Abertausende Puzzleteile lagen sowie der feste, rechteckige Rahmen des Bildes. Innerhalb des Rahmens lagen hier und da kleine, zusammengesetzte Stücke des komplizierten und äußerst detailreichen Motivs. «Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend.»

Norbridge blieb stehen und schaute zu Elizabeth.

«Unser ganzer Stolz», sagte der pummelige Mann und deutete mit einer Geste auf den Tisch, als würde er ihr eine Kiste mit Juwelen präsentieren.

«Es ist sehr beeindruckend», sagte Elizabeth und versuchte, aus dem Bild, das innerhalb des Rahmens Gestalt annehmen sollte, schlau zu werden. «Was ist das?»

Der dünne Mann hob einen Finger, als ob er etwas abzählen wollte. «Ein großer Tempel im Himalaya!», sagte er mit dröhnender Stimme. «Hoch oben auf einem Berg!»

«Hier kannst du dir das ganze Bild anschauen», sagte der pummelige Mann und deutete auf eine große Blechdose am Rand des Tischs. Darauf prangte das Motiv eines imposanten steinernen Tempels mit bunten Wimpeln an den Dächern und im Hintergrund eine schneebedeckte Bergkette unter einem strahlend blauen Himmel.

«Diese Dose sieht sehr alt aus», sagte Elizabeth. Ihr fiel auf, dass auch die Puzzleteile dicker und stabiler waren als die Stücke aus Pappe, die sie von gewöhnlichen Puzzles her kannte.

«Das Puzzle gehörte meinem Großvater», sagte Norbridge. «Es ist antik.»

«Wenn wir die Dose nicht hätten», sagte der pummelige Mann und schüttelte niedergeschlagen den Kopf, «dann kämen wir überhaupt nicht zurecht. Woher sollten wir dann wissen, wie das Bild aussieht? Auch so gehört jede Menge Können und Geduld und Beharrlichkeit dazu.» Er seufzte. «Wir kämpfen uns durch. Es ist wie in einem Sumpf.»

Norbridge trat an den Tisch. «Mr. Wellington», sagte er zu dem großen Mann, «Mr. Rajput» zu dem kleinen. «Darf ich Ihnen Miss Elizabeth Somers vorstellen? Sie ist gerade angekommen und wird den Jahreswechsel mit uns verbringen. Sie reist mit leichtem Gepäck und wird nicht schnell müde.» Die Herren verbeugten sich und lächelten. «Nichtsdestotrotz, es ist schon spät, und sie muss sich ausruhen.» Er zog bekümmert die Augenbrauen hoch, als müsste er zu seinem Bedauern eine angenehme Teegesellschaft verlassen.

Derweil hatte Elizabeth ein Puzzleteil am Rand des Tisches ins Visier genommen. Sie empfand eine merkwürdige Gewissheit, ganz ähnlich wie das Gefühl, allerdings nicht ganz so intensiv und beunruhigend. Nichts fiel um oder zerbrach oder knallte zu. Stattdessen wusste sie instinktiv, wohin dieses kleine Stückchen gehörte. Und unter den Blicken der drei Männer nahm sie es in die Hand, schaute einmal quer über den Tisch und trat zu einer kleinen Gruppe von zusammengesetzten Puzzleteilen. Dann streckte sie die Hand aus und schob ihr Teil in die obere Ecke. Es fügte sich nahtlos ein und sie schaute hoch.

«Es passt!», sagte sie.

Mr. Rajput stockte der Atem. «Erstaunlich!», sagte er.

«Wie hast du das so schnell erkennen können?», fragte Mr. Wellington.

«Vielleicht an der Farbe», sagte Elizabeth, obwohl sie genauso überrascht war wie die Herren. «Es schien irgendwie dorthin zu gehören.»