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Die Jagd nach einem Serienmörder führt augerechnet in die Stockholmer Literaturszene
Hans Rekke und Micaela Vargas haben einige Fälle gemeinsam gelöst. Doch nun kämpft der geniale Psychologe mit seinem eigenen psychischen Zustand, und Vargas hat Geheimnisse vor ihm. Da taucht spontan ein spanischer Polizeikollege bei Rekke zu Besuch auf. Er ist überzeugt, einem Serienmörder auf der Spur zu sein. Ein seit 1988 ungelöster Mord an einer Studentin weist erschreckende Parallelen zu anderen Fällen auf: Die Körper der Opfer sind mit Zeichen versehen, die scheinbar eine Reihenfolge ergeben. Rekke und Vargas nehmen die Ermittlungen auf, denn die Spur führt in die Literaturszene Stockholms, wo tiefe Abgründe und Lügen auf sie warten.
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
2008: Hans Rekke steckt mitten in einer hypomanischen Episode, als er einen Überraschungsbesuch des spanischen Chefinspektors Rafael Corales erhält. Dieser kann den ungeklärten Mord an einer jungen Frau in Santander im Jahr 1988 nicht vergessen. Er ist der festen Überzeugung, dass dieser Fall in Verbindung zu einem Serienmörder steht, der auf den Leichen seiner Opfer Zeichen hinterlässt. Zeichen, die einer numerischen Ordnung zu entsprechen scheinen. Die Spur des Täters führt nach Stockholm. Rekke und Vargas nehmen sich des Falls an. Doch können sie trotz Rekkes gesundheitlicher Probleme und Geheimnissen, die zwischen den beiden stehen, den Fall lösen?
Der Autor
David Lagercrantz, 1962 geboren, debütierte als Autor mit dem internationalen Bestseller »Allein auf dem Everest«. Seitdem hat er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 2013 wurde er vom Originalverlag und Stieg Larssons Familie ausgewählt, die Millennium-Trilogie fortzusetzen. 2021 hat er eine neue Reihe mit einem genialen Ermittler-Duo begonnen: Rekke und Vargas. Die Krimis waren in Schweden Nr. 1-Bestseller. David Lagercrantz lebt in Stockholm.
DAVIDLAGERCRANTZ
THRILLER
Aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
POSTMORTEM
bei Norstedts, Stockholm.
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Copyright © 2025 David Lagercrantz
Published by agreement with Norstedts Agency
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleichPflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Ingola Lammers
Herstellung: Magdalena Gerblinger
Umschlaggestaltung: favoritbüro,
unter Verwendung von Shutterstock.com/korkeng
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-26907-4V002
www.heyne.de
Es kam Wind auf an jenem Abend, und mit dem Sturm kamen die Windhunde, gepeinigt, ausgesetzt und mager. Sie versammelten sich um die alte Eiche, deren Äste sich nach oben streckten, als würde sie mit dreißig Armen zum Himmel beten.
Als es an der Zeit war, legten sich die Hunde am Fuße des Baumes zum Sterben nieder, und das Ende kam immer mit eisiger Einsamkeit.
Professor Hans Rekke konnte an diesem Morgen überhaupt nichts finden, nicht einmal eine Schale oder einen Löffel für seinen Joghurt.
»Meine Güte, was ist denn hier los?«, rief er.
Micaela Vargas, seine Mitbewohnerin, betrat die Küche in einen seiner Morgenmäntel gehüllt, der wie eine Königsrobe hinter ihr her über den Boden wischte.
»Change we need«, sagte sie.
Rekke sah sie skeptisch an und zog eine Schublade heraus, wo anstelle von Messern Topflappen und Handtücher lagen.
»Das ist sehr schlau ausgedacht«, fuhr sie fort und lächelte etwas schief.
»Das ist es sicherlich. Aber es ist neu, und ich halte …« Neues … nicht aus, hatte er sagen wollen, aber ihm fiel noch rechtzeitig ein, dass das nicht sonderlich unterhaltsam, sondern nur wahr und lächerlich sein würde.
»Nun gut«, sagte er stattdessen. »Es wird eine gute Ausrede für meine Hilflosigkeit sein. Warst du die ganze Nacht auf?«
»Die ganze Nacht, bis lange nachdem das alles fertig war. Wenn du nett bist, kann ich dir einen Espresso machen.«
»Eher gebe ich ein Königreich für eine Schale und einen Löffel. Und die Morgenzeitungen.«
Er ließ sich am Küchentisch nieder, während Micaela ihm mit geradezu unverschämt guter Laune Kaffee, Joghurt und Zeitungen reichte, und auch wenn ihn das insgeheim ein wenig ärgerte, konnte er ihr doch keinen Vorwurf machen. Es war ein großer Tag, ganz gleich, wie viel am falschen Ort lag. Ein ungewöhnlich begabter und sympathischer Senator aus Illinois hatte die amerikanische Präsidentenwahl gewonnen, und er sehnte sich danach, darüber zu lesen und in seinen Gedanken darüber zu versinken. Doch schaffte er nicht sonderlich viele Zeilen über die Headline »Obama auf dem Weg zum Sieg« hinaus, ehe es an der Tür klopfte und er etwas hoffnungsvoll zu Micaela schaute. Doch die verschwand nur mit ihrer Morgenmantelschleppe in den Tiefen der Wohnung, also erhob er sich widerwillig und ging in die Diele hinaus.
Er öffnete die Eingangstür, und an einem anderen Tag, an einem etwas konzentrierteren Morgen, hätte er sich rein phänomenologisch für diesen Moment interessiert, in dem wir alles Mögliche erwarten und dann bemerken, was dort wirklich ist, und sich für einen Moment Vorstellung und Realität vermischen. Doch jetzt blinzelte er nur und erkannte, dass der Besucher ein Mann in den Sechzigern mit südeuropäischem Aussehen und großen braunen, tief liegenden Augen war.
»Guten Morgen«, sagte Rekke.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich hier einfach so reinplatze«, erwiderte der Mann in gebrochenem Englisch.
»Worum geht es?«
»Mein Name ist Rafael Corales«, fuhr der Mann fort. »Ich bin Polizeimeister in Pamplona in Spanien, und ich habe bereits mehrmals angerufen und Mails geschickt.«
»Ah ja, stimmt. Darf ich Sie dennoch bitten, später noch einmal wiederzukommen? Ich sitze mitten in …«
Doch der Mann machte eine Bewegung mit seiner Aktentasche, als wäre es allzu anstrengend, mit einer solchen Last wieder umzukehren.
»Da wird es aber später Abend werden«, erwiderte er. »Ich bin den ganzen Tag auf einer Konferenz, und danach gibt es noch ein Abendessen.«
Rekke machte eine ergebene Geste mit den Händen.
»Dann treten Sie doch ein, Señor Corales. Kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Kaffee anbieten?«, fragte er und ging zurück Richtung Küche. Was natürlich ein Fehler war, das eine wie das andere.
Als Rekke die Morgenzeitungen auf dem Tisch liegen sah, ärgerte es ihn noch mehr, in seiner Lektüre unterbrochen worden zu sein. Außerdem fand er keine Tassen und auch sonst nichts.
»Ist es kalt draußen?«, fragte er, hauptsächlich, um seine Hilflosigkeit in Sachen Küchenschubladen zu überspielen.
»Es soll wohl einen Schneesturm geben«, meinte Corales und hängte seine Pelzjacke über einen Küchenstuhl. »Was suchen Sie?«
»Eine Tasse für meinen Gast. Doch das übersteigt offensichtlich meine detektivischen Fähigkeiten.«
Corales, der einen eng sitzenden Anzug mit Schlips trug, hatte eine verwegene Frisur – im Grunde eine Art Vokuhila – und sah aus, als würde er nichts begreifen oder sich nicht einmal vorstellen können, dass Rekke in seiner eigenen Küche nichts fand. Wo er doch der Meisterdetektiv sein sollte, und so.
»Lesen Sie über Obama?«, fragte der Polizeimeister und sah auf die Zeitungen hinunter.
»Würde ich gern«, antwortete Rekke, ohne seinen Ärger zu verbergen. »Einfach fantastisch«, schob er etwas freundlicher nach.
»Geht so«, erwiderte Corales.
Auch das ärgerte Rekke.
»Geht so?«
»Ich hätte McCain vorgezogen.«
»Und warum in aller Welt?«
»Ein Mann, der Folter und Gefangenschaft auf solche Weise erträgt, muss ein Mensch sein, auf den man sich verlassen kann«, sagte Corales, und Rekke erwog, darauf einzugehen und eine kleine politische Diskussion zu beginnen, einfach nur for the hell of it.
»Aber Gott behüte uns vor Sarah Palin«, sagte er stattdessen. »Was ist das für eine Konferenz, die Sie besuchen?«
»Über digitale Zusammenarbeit und alles, was dazugehört. Aber am interessantesten sind die Mittagessen und die Pausen. Da diskutieren wir über alte Ermittlungen, und als ich erzählt habe, dass ich Kontakt zu Ihnen aufgenommen habe, waren alle Feuer und Flamme.«
Rekke versuchte, sich zu erinnern, worum es bei der Sache ging, und sah verstohlen auf die allzu schwere Aktentasche, die jetzt auf dem Küchenfußboden stand. Er fürchtete, dass der Besuch sich lange hinziehen würde. Danach suchte er noch einmal nach den Tassen, und tatsächlich: Im Schrank direkt über der Espressomaschine standen sie in vorbildlicher Ordnung aufgereiht. Das war doch mal ein Fortschritt, dachte er.
»Das Rätsel ist gelöst. Was für einen Kaffee hätten Sie denn gern?«
Rafael Corales sah zufrieden aus.
»Ah, Sie haben aber eine schicke Maschine. Wenn möglich, bitte einen Cappuccino, extra stark. Es heißt, Sie seien ein Meister darin, alte Spuren zu interpretieren, Herr Professor.«
»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Rekke, schäumte die Milch auf und fragte sich, ob er den Mann nicht einfach den Kaffee austrinken lassen und ihn dann freundlich rauskomplimentieren sollte. Dieser unwillkommene Besuch wurde langsam zu einem Unding.
»Könnten Sie mich ein wenig an Ihr Anliegen erinnern?«, bat er.
Corales lehnte sich zurück und machte es sich beunruhigend bequem, während die Maschine die Espressobohnen mahlte.
»Gewiss. Selbstverständlich. Ich kann es noch einmal von vorn erzählen, wenn Sie möchten.«
»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Rekke und servierte den Kaffee.
Corales nahm einen Schluck und strahlte.
»Ausnehmend gut«, sagte er. Er streckte sich. »Ich möchte Sie nicht mit meiner Lebensgeschichte langweilen.«
Nein, um Gottes willen, bitte tu das nicht, dachte Rekke.
»Doch eine Sache möchte ich noch erwähnen, da sie von Bedeutung für meine Geschichte ist.«
»Lassen Sie hören«, sagte Rekke und begann, mit dem rechten Auge weiter in der Zeitung zu lesen.
»Ich bin ein Wettkampftyp«, gestand Corales.
Oh nein, dachte Rekke.
»Ich weiß, das sagt inzwischen jeder«, fuhr der Polizeimeister fort, als hätte er die Gedanken des Professors gelesen.
»Da haben Sie zweifellos recht.«
»Doch für mich war es mehr ein Fluch als ein Vorteil. Es hat mich nach vorn gebracht, aber ich bin durchaus auch mal gescheitert, und manchmal habe ich mich geweigert, meine Fehler einzugestehen.«
Rekke lächelte aufmunternd.
»Und doch haben Sie genau das getan.«
»Das Gute war, dass ich niemals aufgegeben habe, und deshalb sitze ich hier bei Ihnen, Herr Professor. Meinen wichtigsten Fall habe ich verbockt.«
In der frommen Hoffnung, ein Lebenszeichen von Micaela zu vernehmen, lauschte Rekke in die Wohnung hinein. Doch es blieb still, nur der Wind rüttelte an den Atelierfenstern, und er fragte sich, ob er nicht gleich eine gute Ausrede erfinden sollte, um sich das alles hier zu ersparen. Hatte er nicht seinem schrecklichen Bruder versprochen, heute auf irgendeinen Empfang zu gehen?
»Und wie lange war das noch gleich her?«, fragte Rekke.
»Zwanzig Jahre.«
»Ein Cold Case.«
»Nicht für mich«, entgegnete Corales. »Für mich ist er immer noch frisch.«
Ich meinte mich selbst, dachte Rekke. Ich hätte was Heißes gebraucht, um meinen Ärger abzuschütteln.
»Wo fand das Drama statt?«
»Santander, an der Nordküste, im Baskenland.«
»Weit weg«, murmelte Rekke, erinnerte sich aber auch an den Fall.
»Ich war Kripochef in der Stadt«, fuhr Corales fort. »Wir haben uns auf die alljährliche Fiesta vorbereitet, Semana Grande. Ich weiß nicht, ob Sie irgendwelche Erfahrungen mit unseren diesbezüglichen Traditionen haben, Professor.«
»Ich kenne sie mehr in der Theorie als in der Praxis«, antwortete Rekke nicht ganz wahrheitsgetreu, doch dies hier war kaum der richtige Zeitpunkt, alte Sünden zu gestehen.
»Die Fiesta dauert sieben Tage lang rund um die Uhr. Die Leute sind in der Regel betrunken, aber fröhlich«, erklärte Corales.
»Aber eine junge Frau ist doch ermordet worden, nicht wahr?«
»In der ersten Nacht der Fiesta.«
In der ersten Nacht, dachte Rekke und hatte ein kurzes, fast traumähnliches Bild vor Augen von einem Mädchen, das dalag und starb, während die Party um sie herum aufblühte. Dieses Szenario, während eines Karnevals in einem von fern her tobenden Lärm zu sterben, weckte Wehmut in ihm.
»Traurig«, sagte er.
»Ja, ungeheuer, sie war ganz anders, alle sagten das. Sie saß immer mit einem Buch auf dem Schoß da.«
»Ein begabtes Mädchen.«
»Oh ja.« Corales schob die Hand in die Innentasche seines Anzugs. »Sie müssen sie sehen.«
Er zog eine Fotografie heraus und reichte sie ihm. Rekke machte eine abwehrende Geste, als wolle er sich nicht emotional binden.
Corales sah erstaunt aus.
»Wollen Sie nicht hinsehen? Ist das eine Methode, die Sie pflegen?«
»Meine Methoden wechseln immer mal wieder«, antwortete Rekke. »Aber ich pflege eine Regel, mit der ich trotz allem sehr konsequent bin. Und zwar, dass ich gern meine Kollegin dabeihabe, wenn ich etwas Interessantes höre. Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.«
»Selbstverständlich«, sagte Corales.
Rekke stand auf und verließ die Küche, ging am Flügel im Salon vorbei bis zu Micaelas Zimmer ganz hinten in der Wohnung. Ein paar Meter davor blieb er stehen, ergriffen von der Stille in der Luft, und er dachte: Lass sie in Ruhe, dränge dich nicht immer in ihr Leben. Trotzdem ging er weiter, schob die Tür einen Spalt auf und sah sie dadrinnen, zusammengerollt, mit der Decke halb bis zu den Schultern hochgezogen. Sie sah zerbrechlich aus, als hätte sie die Rüstung abgelegt, die sie sonst immer trug, und er betrachtete sie lange und hatte Lust, hinzugehen und ihr übers Haar zu streichen und ein paar freundliche Worte zu sagen.
Auf der anderen Seite wäre es nicht sonderlich freundlich, sie zu wecken, also machte er wieder kehrt, und ihm wurde klar, dass er vorhin in der Küche doch kurz das Mädchen, das ermordet worden war, gesehen haben musste. Ein zugleich zielgerichteter wie unsicherer Blick flimmerte vor seinen Augen vorbei, aber er wusste nicht, was er wirklich auf dem Foto gesehen hatte und was nur von seinem Traumbild herrührte.
»Sie schläft«, sagte er, als er wieder in die Küche kam.
»Ah ja«, antwortete Corales und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Natürlich, es ist ja auch Sonntag.«
Rekke nickte und dachte, dass nun, da sein friedlicher Morgen mit Obama schon mal ruiniert war, er sich durchaus diese Geschichte anhören konnte.
»Erzählen Sie«, bat er.
Santander, 12. Juli 1988
Nach dem Frühstück, das aus zwei Eiern und einem halben Glas Orangensaft bestand, ging sie in das Restaurant, in dem sie arbeitete. Es war erst halb neun Uhr morgens, also würde Roberto nicht dort sein, um sie anzumotzen. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Veranda auf einen Stuhl an der Bar und schrieb in ihr Tagebuch:
Die Windhunde kamen mit dem Sturm.
Als Mädchen war sie nicht weit von hier von einem Windhund, einem Galgo, gebissen worden. Aber weil sie Schriftstellerin werden wollte – das hatte sie allerdings noch keiner Menschenseele verraten –, veränderte sie die Geschichte die ganze Zeit, und das Neue war, dass sie den Hund nicht mehr wie ein Monster, wie ein seelenloses abgemagertes Gerippe beschreiben wollte. Sie wollte ihm eine Persönlichkeit geben, und das hing mit dem zusammen, was sie über Galgos in National Geographic gelesen und dabei begriffen hatte, wie gequält sie waren.
»Sitz nicht einfach nur da rum.«
Roberto war früher als erwartet gekommen, in schwarzen Baumwollhosen und einem lose heraushängenden weißen Hemd, und sah genauso aus wie der Idiot, der er auch war.
»Jetzt mach mal los«, zischte er.
Sie stand auf und räumte auf dem Tresen herum, während sie aufs Meer hinaussah und an ihre Windhunde dachte. Unten am Hafen waren die Fischerboote schon lange rausgefahren. Keine Markthändler waren zu sehen. Kein einziger Mensch, nur Vögel und eine magere hinkende Katze. Es war erstaunlich ruhig, vielleicht schliefen die Leute vor der Fiesta. Aber da … unten links, bei den roten Fischtonnen, kamen zwei junge Männer, gut aussehende Jungs, der eine blond und graziös, der andere dunkler und größer. Jeder hatte ein Buch in der Hand, und allein das war schon ein Ding für sie. Niemand in ihrem Umkreis las Romane, jedenfalls nicht so wie sie, und manchmal wünschte sie sich, dass jemand von außen kommen und sie wirklich verstehen würde.
»Was sind das denn für Gecken«, motzte Roberto. »Sag denen, dass wir noch nicht aufhaben.«
»Das kannst du selber machen«, antwortete sie und erhielt dafür einen Tritt ans Bein und merkte gleichzeitig, dass die beiden jungen Männer wirklich auf dem Weg zu ihnen waren.
Kommt und rettet mich, dachte sie.
Micaela ahnte Rekkes Anwesenheit in der Tür, aber sie war auf dem Weg in den Schlaf und rührte sich deswegen nicht. Sie war völlig fertig. Die ganze Nacht war sie wach gewesen und dann in einen traumlosen Dämmer gefallen. Das musste aber trotzdem ein zerbrechlicher Zustand gewesen sein, denn sie fuhr zusammen, als hätte etwas Bedrohliches sie geweckt. Doch es schien nichts geschehen zu sein, außer dass eine Männerstimme, die nicht die von Rekke war, in der Küche sprach.
Sie hörte nicht, was genau geredet wurde, doch klang es wie Englisch … Englisch mit spanischem Akzent, und dem Tonfall konnte man entnehmen, dass es um etwas Dramatisches ging, und da musste sie lächeln. Sie begriff, warum Rekke auf der Schwelle gestanden hatte. Er wollte sie dabeihaben, wie immer, sowie er etwas Spannendes hörte, und das war natürlich schmeichelhaft. Aber es genügte nicht, um ihr Ruhe zu schenken. Sie schaute auf Rekkes Morgenmantel hinunter, der mit ausgebreiteten Armen, wie auf einem altmodischen Tatortfoto, auf dem Boden lag.
»Ich bin bescheuert«, murmelte sie.
Sie hätte es einfach nur sagen müssen, es ausspucken: »Ich werde ausziehen, das hat nicht gepasst.« Trotzdem schob sie es die ganze Zeit auf, und nun zog sie sich wütend die Decke übers Gesicht, die Stimme da draußen nervte sie. Hör doch auf zu reden, dachte sie. Hör auf, mich aus dem Bett zu zerren. Natürlich hatte sie schon Tausende von Malen über ihre und Rekkes Beziehung nachgedacht. Waren sie Freunde, Kollegen oder mehr? Sie waren definitiv kein Paar, auch wenn es Momente gegeben hatte … aber das war jetzt schon Ewigkeiten her. Inzwischen waren sie mehr wie Bruder und Schwester. Obwohl, nein, das stimmte auch nicht, und auch deswegen lag sie hier und grübelte. Es war ihr schon immer schwergefallen, mit Rekke über Liebschaften zu reden. Sie wollte nicht ersticken, was seit ihrer allerersten Begegnung damals in Djursholm unter der Oberfläche blubberte, aber dieses Mal mit Caspar ging es um mehr als nur einen Flirt.
Caspar Amiri war Ingenieur bei Ericsson und hatte ihnen bei der Polizei mit den Jobhandys geholfen. Sie hatte sich über ihn geärgert. Er war so ein Macho und ein aufgeblasener Typ und hatte sie viel zu offensiv angestarrt. Am Abend hatte er angerufen. Sie hatte gemeint, er wolle kontrollieren, ob alles funktionierte. Aber er lud sie ein, und sie sagte Nein, keine Chance, und das war’s, dachte sie, aber er gab nicht auf und rief immer wieder an, und an irgendeinem Abend sagte sie okay, »nur ein schnelles Bier«.
Sie trafen sich im Tudor Arms, direkt bei ihr um die Ecke in der Grevgatan. Caspar tauchte in grauem Jackett und frisch gebügeltem Hemd auf und gab überhaupt nicht mehr den Macho. Im Gegenteil, jetzt war er nervös und erzählte, dass er aus dem Iran komme und eigentlich hätte Arzt werden wollen, aber kein Blut sehen könne, und deshalb habe er stattdessen auf der Technischen Hochschule angefangen.
»Kommst du mit Maschinen besser klar als mit Menschen?«, fragte sie.
»Schwierige Frage«, antwortete er und lächelte bezaubernd und schien zum ersten Mal ziemlich nett und ehrlich interessiert. Wie sich herausstellte, hatten sie viel gemeinsam.
Ihre Familien waren beide aus Diktaturen geflohen, und sie hatten beide Geschwister, die einen an der Waffel hatten, und Väter, die so lange tot waren, dass sie alle Zeit der Welt gehabt hatten, sie zu idealisieren.
Es gab einen gemeinsamen Grund, und er hatte schöne Arme.
»Warum habe ich mich so über dich geärgert?«, fragte Micaela.
»Weil ich den Macho gegeben habe. Hat das nicht funktioniert?«
»Keinen Moment.«
»Was soll ich denn dann machen?«
»Dass du kein Blut sehen kannst, das ist süß. In der Richtung kannst du weitermachen.«
»Meine gefühlvolle Seite zeigen?«, fragte er.
»Aber wenn ich mal blute, und du kümmerst dich nicht um mich, dann schlage ich dich tot.«
Danach küsste sie ihn, total irrational, und dachte, dass das höchstens eine Ausnahme sein würde. Aber Caspar erstaunte sie immer weiter, und im Gegensatz zu Rekke konnte er kochen und Gott sei Dank auch andere Musik als nur klassische spielen, und sie musste auch nicht die ganze Zeit begabt sein. Sie konnte einfach drauflosreden, und auch wenn er manchmal reizbar und misstrauisch war, fühlte sie sich doch ständig zu ihm hingezogen. Wenn nur … sie hatte Rekke noch kein Wort von Caspar erzählt, und je länger sie schwieg, desto charmanter und attraktiver wurde Rekke, vermutlich einfach nur, um sie zu ärgern.
Aber bald würde sie es ihm erzählen, nur nicht ausgerechnet heute, da ein schwarzer Mann Präsident der USA geworden war und ein Gefühl der Hoffnung sich in ihr breitmachte und die Stimme da draußen mit einem plötzlichen Zittern auf dem Stimmband redete, als ob jemand einen schrecklichen Tod gestorben wäre.
Sie beschloss, einfach noch mal einzuschlafen.
Señor Corales redete dreieinhalb Stunden am Stück, aber jetzt war er endlich gegangen, und Rekke atmete auf. Er setzte sich mit der Voruntersuchung hin, die der Polizeimeister in großen Stapeln auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte. Doch er kam nicht weit. Micaela erschien in der Küche, immer noch in seinem Morgenmantel, der über den Boden schleifte.
»Worum ging es?«, fragte sie und ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Ein zwanzig Jahre alter unaufgeklärter Mord«, sagte er.
Sie machte eine abweisende Geste.
»Ich meinte mehr, was du gerade über die Finger deines Besuchers gesagt hast. Das klang wie ein klassischer Rekke«, fuhr Micaela fort.
Er zuckte mit den Schultern.
»Ach was«, antwortete er. »Señor Corales hat sich nur ein bisschen echauffiert und so furchtbar mit seinen Fingern getrommelt, dass es mich zum Wahnsinn getrieben hat.«
»Und hast du aus dem Klopfen etwas rausgehört?«
»Konnte nicht umhin. Die Fingerspitzen klangen ledrig, und da er so eine rockige, unzeitgemäße Frisur hatte, riet ich, dass er Gitarre spielt und Jimi Hendrix liebt. Und da war er baff.«
»Du hattest also recht.«
»So ziemlich. Er hat seit Kindertagen Gitarre gespielt, bis die Fingerkuppen so hart geworden sind.«
Micaela lachte.
»Das war ziemlich elementar«, fuhr Rekke fort. »Aber ich glaube, dass dich diese Geschichte interessieren könnte, und in jedem Fall brauche ich Hilfe mit dem Spanischen.«
Er zeigte auf die Papierstapel.
»Keine Lust«, seufzte sie.
»Ich eigentlich auch nicht«, sagte er. »Aber ich kann nicht anders, als die Sache interessant zu finden.«
»Ich gehe eine Runde raus. Und muss mich vorher noch anständig anziehen«, sagte Micaela ausweichend.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte er. »Mein Morgenmantel funktioniert in allen sozialen Zusammenhängen.«
»Sehr witzig.«
»Aber kuck doch mal hier.«
Er schob ein Foto aus der Ermittlung über den Tisch, Micaela beugte sich vor und betrachtete es.
»Was ist das?«, maulte sie.
»Eine große Eiche, die sich auf einem Abhang oberhalb von Santander in Spanien erhebt, und genau da …«
»Du versuchst also, mich mit einem Baum zu locken?«
Er grinste schief.
»Irgendwie schon«, sagte er. »Der Baum ist der Tatort und das große Rätsel in der Ermittlung. Man könnte sagen, dass es ihn in zwei Exemplaren gibt – einmal im literarischen Universum und dann mehr physisch hier auf dem Berg.«
Micaela sah ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.
»Aber wenn ich mein Publikum noch mehr begeistern muss, dann kann ich sagen, meiner Ansicht nach suchen wir hier einen Serienmörder«, fuhr er fort.
Sie ließ den Blick über die Stapel mit Ermittlungsunterlagen auf dem Tisch wandern.
»Das klingt schon besser«, sagte sie. »Warum glaubst du das?«
Rekke sah zum Fenster.
»Ich erkenne es an den Verletzungen auf dem Körper, und dann ist da so eine Markierung auf der Schulter, die mir bekannt vorkommt«, erklärte er.
»Solltest du dann nicht sofort deine Tasche packen und nach Santander verschwinden?«, fragte Micaela.
»Mein unheilbarer Hochmut sagt mir, dass ich den Fall von meiner Kammer aus lösen kann.«
»Nach zwanzig Jahren?«
Rekke lachte.
»Ja, tatsächlich. Es sind neue Umstände aufgetaucht, und mich hat eben die Ahnung angeflogen, der Täter könnte vielleicht Schwede sein, und … sehr literarisch.«
Micaela sah ihn an, als würde sie widerwillig kapitulieren.
»Dann lass mal hören, Professor«, sagte sie.
Santander, 12. Juli 1988
Sie war überhaupt nicht gut darin, ihre Unsicherheit zu verbergen. Ihr Blick flackerte zu sehr, und sie wurde viel zu schnell rot, und das war jetzt sicher auch der Fall, als die jungen Männer das Restaurant betraten.
Sie wurde auffällig nervös und konnte die beiden erst kaum auseinanderhalten. Sie flossen zusammen wie zwei Exemplare derselben Art, beide weltgewandt und elegant mit karierten Hemden und Büchern in den Händen. Aber als sie näher kamen, erkannte sie die Unterschiede, als würden sie mehr wie ihr jeweiliger Gegensatz zusammengehören.
»Wir haben noch nicht auf«, sagte Roberto.
»Kein Problem. Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«, entgegnete sie und bekam wieder einen Tritt ans Bein.
Das war ihr egal, aber es störte sie, dass der blonde Mann nicht dankbar über die Freundlichkeit zu sein schien, sondern nur wütend auf den Tresen starrte.
»Ein großes Bier und einen Fernet«, blaffte er.
»Für mich nur einen Kaffee«, stellte der dunkelhaarige Mann fest und fügte ein »Please« an, das offenbar für beide gelten sollte.
Objektiv gesehen war er der Hübschere von beiden mit runderen und harmonischen Gesichtszügen, und sein Blick war ebenso freundlich, wie die Augen seines Freundes kalt waren. Doch der sublime Zorn des Freundes berührte sie.
»Natürlich«, sagte sie. »Setzen Sie sich, ich komme gleich.«
»Ich trinke hier«, entgegnete der blonde Mann.
»Ein nettes Lokal«, sagte sein Freund im offensichtlichen Versuch, freundlich zu sein.
Sie nickte, drehte sich um, holte eine Flasche Fernet und ein Glas raus und zapfte einen halben Liter Bier in einen Krug, erleichtert, dass Roberto in Richtung Küche verschwand, aber angestrengt, weil der blonde Mann jetzt noch verbissener wirkte. Nervös wandte sie sich an seinen Begleiter. In dessen Wesen gab es einen sanften, traurigen Zug, der von der Kälte seines Freundes nur noch verstärkt wurde.
»Danke«, antwortete sie. »Aber nachher wird es hier rundgehen. Wie Sie vielleicht wissen, fängt heute die Fiesta an.«
»Ja, doch, das wissen wir.«
Sie schob dem blonden Typen die Getränke rüber, traute sich aber nicht, ihm dabei in die Augen zu sehen. Dann geschah etwas Seltsames. Die Typ schüttete den Inhalt der Gläser binnen nur wenigen Momenten in sich hinein, und danach breitete sich auf seinem Gesicht ein aus dem Nichts kommendes wunderbares Lächeln aus, sodass es sie schauderte. Was für eine Verwandlung.
»War das gut?«, fragte sie.
»Herrlich«, erwiderte er, und jetzt war sein Blick nicht mehr kalt. »Ich nehme dasselbe noch mal. Wir setzen uns auf die Terrasse. Sie haben so ein schönes Lächeln.«
Sie auch, wollte sie sagen, murmelte aber nur »gerne«, zapfte ein neues Bier und schenkte einen weiteren Fernet ein, während die Männer rausgingen und ihre Bücher lässig auf einen Tisch warfen. Mehr konnte sie nicht beobachten. Aus der Küche näherten sich wütende Schritte, und erschrocken fuhr sie zusammen, aus Angst, einen neuerlichen Tritt gegen das Bein zu bekommen.
»Schwuchtel«, zischte Roberto und starrte die Männer an. »Und du hör auf, mit den Gästen zu flirten.«
»Ich flirte nicht«, sagte sie und trat ein paar Schritte beiseite aus Angst, dass er sie dazu bringen würde, die Gläser auszuschütten, oder dass er sie auf die Schulter schlagen würde, wo sie von gestern noch Blutergüsse hatte.
Dann holte sie tief Luft und ging an ihm vorbei, und ihr fiel ein, dass sie den Kaffee für den anderen jungen Mann vergessen hatte. Trotzdem machte sie nicht kehrt, wahrscheinlich war der Kaffee erst mal nicht so wichtig. Sie konzentrierte sich darauf, den Kopf erhoben zu halten und nicht zu viel ans Lächeln zu denken, denn dann würde es sicherlich steif und angestrengt aussehen.
Als sie näher kam, hörte sie die Stimmen der Männer. Ihr kam es wie eine skandinavische Sprache vor, sie wusste aber nicht welche, und sah diskret den blonden Mann an. Er hatte einen hohen Haaransatz und schöne Wangenknochen. Seine magere Gestalt hatte etwas Elegantes.
»Bitte schön«, sagte sie. »Der Kaffee kommt auch gleich.«
»Danke«, sagte der Dunkle der beiden, der nichts bekommen hatte, während der Blonde, der ihr eben noch ein Kompliment gemacht hatte, wieder völlig in sich selbst versunken war. Sie vermied seinen Blick und sah stattdessen sein Buch auf dem Tisch.
Louis-Ferdinand Céline stand auf dem Umschlag und darunter ein Titel in einer Sprache, die sie nicht beherrschte. Die Reise ans Ende der Nacht, dachte sie und spürte, wie ihr Herz klopfte. Sie hatte es gelesen und wollte das gern erzählen. Aber sie traute sich nicht. Der Typ griff nach dem Schnapsglas, und die Stimmung wurde wieder angespannt. Da musste es eine Vorgeschichte geben, etwas Unausgesprochenes, was sie nicht verstand. Deshalb verließ sie die Männer mit einem Nicken und hielt sich stattdessen in der Nähe, indem sie die Tische abwischte und die Stühle zurechtrückte.
Es fühlte sich waghalsig an, so zu spionieren, und außerdem wusste sie, dass es Roberto furchtbar wütend machen würde. Obwohl sie schon so oft Schluss gemacht hatten, blieb er doch hoffnungslos eifersüchtig, dachte sie und beobachtete die Männer.
Der blonde Mann sprach jetzt engagiert, und sie horchte, so gut es ging, ohne doch ein Wort zu verstehen. Manchmal sah er sie an, ein wenig lüstern, sie wagte sich näher, und in dem Moment stellte er eine Frage auf Englisch.
»How lonely does it get?«, fragte er und fügte noch eine Phrase hinzu, doch die hörte sie nicht.
Sie schlich weg, ohne Robertos empörtes Kopfschütteln zu bemerken. Wie einsam wird es sein?, murmelte sie nur und dachte wieder an den Windhund, über den sie schrieb, und in dem Moment stellte sie sich vor, dass es der Hund war, der die Frage gestellt hatte. Wie einsam wird es sein?
Dann schließlich schenkte sie den Kaffee ein und kehrte zum Tisch zurück, fest entschlossen zu erzählen, dass auch sie Céline gelesen hatte.
Micaela schaute Rekke an. Irgendwas war anders an ihm, keineswegs deutlich erkennbar, nur die Augen sahen ungewöhnlich besorgt aus.
»Wer war das Opfer?«, fragte sie.
»Ein junges Mädchen, erst zwanzig Jahre alt, literarisch begabt«, antwortete er. »Sie hieß Sandra Ramirez und ist bei der alten Eiche gefunden worden, ihr Kopf in einen Spalt im Stamm gezogen. Der Körper war schwer misshandelt, vor allem von der linken Seite, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen.«
»Klingt wie ein Wutanfall«, sagte sie.
»Ohne Zweifel, aber widersprüchlich. Die Finger waren mit einer gewissen Präzision gebrochen, entlang des Karpaltunnels, und außerdem haben wir eine Kennzeichnung auf der Schulter, darauf komme ich später noch zurück. Das Ganze hat etwas Gruseliges. Und ich meine sogar Anzeichen für zwei Täter zu erkennen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Das wäre ungewöhnlich.«
»Ja«, stimmte Rekke zu, »und sicherlich bin ich zu schnell mit meinen Schlüssen.« Er umfasste seine eigenen langen Finger. »Aber interessant ist doch die Frage, warum die junge Frau oben bei der alten Eiche gelandet ist, während in der Stadt die große Fiesta lief.«
Micaela schaute noch einmal das Bild an. Die Eiche hatte die meisten ihrer Blätter verloren. Sie sah mächtig und etwas gespenstisch aus.
»Warum ist das so ungewöhnlich? Dieses Ungetüm könnte doch Interesse auf sich ziehen.«
Rekke zog eine Zeitung aus den Stapeln auf dem Tisch. London Review of Books stand darauf.
»Am selben Tag, als sie ermordet wurde, schrieb das Mädchen eine Novelle über einen Jagdhund, einen Galgo«, sagte er. »Weißt du, was ein Galgo ist?«
Micaela schüttelte den Kopf.
»Das ist ein Windhund, erinnert ein wenig an Greyhounds«, fuhr er fort. »In Spanien werden sie in großen Zahlen gezüchtet, damit sie dann schnell um die Wette hinter dem Wild her im Wald rennen. Doch nach der Jagdsaison werden sie oft aussortiert und gequält. Am schlimmsten ergeht es denen, die beim Rennen nicht so gut abgeschnitten haben. Sie werden in Brunnen geworfen oder in Bäumen aufgehängt, damit sie langsam ersticken.«
»Hat das Mädchen darüber geschrieben?«
»In gewisser Weise. Aber nicht von außen betrachtet. Sie war der Galgo. Sie sah die Welt durch die Augen des Hundes und folgte ihm in den Tod«, erzählte Rekke.
»Und?«, fragte Micaela.
»Der Galgo stirbt an derselben alten Eiche wie sie auch. Oder nicht an exakt derselben, wenn wir nun mal die Literatur als eigenständige Domäne betrachten wollen.«
»Okay«, sagte sie nachdenklich. »Das Mädchen schrieb also über einen Hund, der zu einem Baum geht und stirbt, und dann wird sie selbst am selben Ort zu Tode gequält.«
Rekke nickte.
»Und diese Novelle ist auch noch auf eine andere Weise spannend«, sagte er. »Sie ist nämlich viel später in einem bedeutenden Magazin veröffentlicht worden.« Er zeigte wieder auf die Zeitung. »Und ich glaube, dass die Novelle mehr erzählt, als die Polizei damals begriffen hat. Ars revelat veritatem.«
Micaela sah Rekke an, das Überkultivierte in seiner nervösen Gestalt, und fragte sich, ob sie wirklich von ihm wegziehen sollte. Aber wahrscheinlich war es unvermeidlich.
»Du hast von einem schwedischen Täter gesprochen«, sagte sie.
Er blätterte durch den Stapel mit Ermittlungsunterlagen.
»Genau«, sagte er. »Das ist nicht die einzige Spur, aber sie ist es wert, verfolgt zu werden. Jedenfalls habe ich versprochen, mir das anzusehen.«
»Wer soll dieser Schwede sein?«
»Eigentlich sind es zwei. Zwei junge Männer, die am Vormittag des 12. Juli 1988 im Restaurant Cervantes in Santander aufgetaucht sind, wo Sandra Ramirez öfters arbeitete. Gut aussehende Jungs offenbar. Der eine blond und mager. Der andere dunkler und größer. Beide hatten Bücher dabei. Hemingway, meinte jemand.«
»Was macht sie interessant?«, fragte sie.
Rekke lachte ein wenig unmotiviert.
»Nicht übertrieben viel«, sagte er. »Trotzdem machen sie mich neugierig. Niemand hat ihre Namen herausbekommen, die Spur ist viel zu spät in der Ermittlung aufgetaucht. Aber laut Zeugenaussagen waren beide Journalisten und wollten Schriftsteller werden. Und dann gab es ein Auto.«
Micaela lächelte wohlwollend.
»Autos sind immer gut in Mordermittlungen.«
»Dieses nicht, fürchte ich«, sagte er. »Aber die Informationen bestärken den Verdacht, dass die Schweden – oder einer von ihnen – etwas mit dem Mord zu tun haben.«
Sie bemerkte, dass Rekke sie betrachtete, als hätte er etwas Besorgniserregendes entdeckt.
»Was war denn mit dem Auto?«, fragte sie.
»Ein junger Mann, der stark betrunken war, stieg aus dem Wagen aus. Er hinkte und torkelte und hielt sich die eine Hand. Es sah aus, als wäre er in eine schlimme Schlägerei geraten. Seine Hosen waren schmutzig.«
»Wo ist das passiert?«
»In Laredo, knapp fünfzig Kilometer von Santander entfernt. Aber das ist noch nicht das Spannendste an der Geschichte. Es gibt einen Cliffhanger, wenn wir uns nun mal an den literarischen Sprachgebrauch halten wollen.«
Santander, Juli 1988
Sie stellte ein Kännchen Milch, eine Schale Zucker und eine Tasse Kaffee auf ein Tablett und ging zu den Männern auf der Terrasse hinaus. Jetzt am Vormittag war es noch nicht so heiß. Ein kühlender Wind zog vom Meer herein. Ihr Mund war trocken, sie war wieder nervös und bemerkte, dass eine Gruppe Jugendlicher mit Rucksäcken in das Restaurant kam und dass hinter ihnen noch mehr warteten. Trotzdem konzentrierte sie sich auf die beiden Männer.
Der Dunkelhaarige sah sie fast hilflos an, während sein Freund weiterredete. Als sie sich näherte, hörte sie den Namen Shakespeare.
»Hier kommt der Kaffee, Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie.
»Kein Problem«, antwortete er und lächelte verlegen.
Sein blonder Freund unterdrückte eine Grimasse, und sie fragte sich, ob sie wohl gleich wieder weggehen sollte. Aber sie wollte gern noch ein paar Worte über das Buch von Céline sagen.
»Entschuldigung«, sagte sie und zeigte darauf. »Wie läuft’s für Bardamu?«
Der blonde Mann sah auf und ließ seinen Blick über ihren Körper wandern.
»Ach so«, erwiderte er. »Nun, er hat in Afrika Fieber gehabt und ist wieder gesund geworden. Aber er findet das Leben so bei 37 Grad Celsius banal, und ich kann ihn verstehen.«
Er lachte ein bisschen unwiderstehlich, und sie hätte alles für ein paar witzige Sätze gegeben. Aber es fiel ihr nicht mehr ein, als dass sie das Buch mochte.
»Es ist mit so viel Tempo geschrieben«, sagte sie.
»Da verzeiht man ihm fast, dass er Faschist geworden ist«, flocht der Mann ein, und darauf antwortete sie nicht.
Der Faschismus war ein so heikles Thema bei ihr zu Hause – zwei ihrer Onkel hatten für das Franco-Regime gearbeitet –, dass sie darüber nicht scherzen konnte. Sie wandte sich an den dunkelhaarigen Mann.
»Und was liest du?«
»Also …«, begann er, und wieder fiel ihr auf, was für ein schönes Gesicht er hatte.
Er strahlte Furcht aus und etwas Schwaches, nun sogar noch mehr, da sie seinen hilflosen Blick sah. Trotzdem musste sie sich bemühen, ihn anzusehen. Der blonde Freund war es, der sie anzog.
»Dag schämt sich ein wenig«, sagte er.
»Schämen ist vielleicht zu viel, aber es ist ein bisschen ein Touristenklischee«, erwiderte er, der offensichtlich Dag hieß, und drehte das Buch um.
Sie lächelte. Fiesta. Ein Klischee nicht unbedingt, aber tatsächlich hatte sie schon andere Touristen es lesen sehen.
»Aber das ist doch gut, oder?«, fragte sie.
»Ich bin Hemingway langsam leid.«
»Dag findet, der trinkt zu viel und ist gemein zu Stieren.«
»Hör schon auf«, antwortete Dag, und sie beschloss, das Thema zu wechseln und mutiger zu werden.
»Vorhin habe ich versehentlich gelauscht«, gestand sie.
In den Augen des blonden Mannes funkelte es.
»Wunderbar«, sagte er. »Gerade habe ich hier gesessen und mich nach einem Publikum gesehnt. Das kann nicht ganz leicht gewesen sein mit dem Schwedisch.«
Sie fingerte an ihrem Haar.
»Nein«, fuhr sie fort. »Aber du hast auch was auf Englisch gesagt. Du hast eine Frage gestellt. How lonely does it get? Oder?«
Der Mann warf seinem Freund, der Dag hieß, einen schwer zu lesenden, triumphalen Blick zu.
»Exakt«, sagte er.
Er schien eine Erklärung bewusst zurückzuhalten.
»War das ein Zitat?«, fragte sie.
»Ein Zitat und eine existenzielle Frage.«
»Von wem?«
»Was denkst du selbst? Wie einsam wird es sein?«
Sein Blick hatte immer noch dieses erregende Glitzern, und sie spürte ihren Puls, auch weil sie wieder an die Windhunde denken musste und an das, was sie zu schreiben begonnen hatte.
»So einsam wie es nur geht«, antwortete sie. »Es gibt keine Grenze. Einsamkeit ist unendlich …« Wie das Universum, wollte sie eigentlich sagen, fand das aber zu prätentiös und verstummte. Dennoch spürte sie, dass ihre Worte Wirkung hatten.
Der blonde Mann schürzte die Lippen.
»Wow«, sagte er. »Sicherlich wahr. Die Einsamkeit ist bodenlos.«
»Möglich.«
»Aber da muss man Trost suchen, oder?«, fuhr der Mann fort und zeigte auf sein Glas. »Hier. Oder …«, er fasste sich auf die Brust. »Oder in irgendeinem Schoß.«
Sie war peinlich berührt.
»Oder in Temperaturen über 37 Grad Celsius«, erwiderte sie, stolz auf sich selbst.
Beide Männer lachten, und sie spürte, mein Gott, so wollte sie es immer haben. Allein schon diese wenigen Sätze ließen sie begreifen, wie armselig an Geist ihre übliche Umgebung war.
»Genau«, sagte der blonde Mann und trank noch ein wenig. »Wir müssen uns betrinken – mit Wein, Poesie oder mit Fieber, wie es behagt.«
»Baudelaire, oder?«
»Exakt, eine Travestie der alten Syphilitiker.«
Er holte Luft und fragte:
»Von wem war das Zitat, das über die Einsamkeit?«
Der Blonde grinste breit, ansteckend.
»Leonard Cohen«, sagte er.
»Von wem?«
»Oh, ach, du Barbarin, er ist ein Genie. Das ist von seiner neuen Platte I’m Your Man. How lonely does it get, singt er. Und antwortet: Hank Williams hasn’t answered yet.«
»Okay«, sagte sie.
Sie wusste auch nicht, wer Hank Williams war.
»Liest du Lyrik?«, fragte der Dunkelhaarige freundlich, und natürlich hätte sie dankbar für diese Frage sein sollen, aber sie fand sie langweilig, viel zu erwachsen.
Sie wollte ein Wortgefecht mit seinem Freund.
»Ja«, sagte sie höflich. »Unentwegt.«
»Lorca vielleicht?«, fragte der blonde Mann in ganz anderem, mehr herausforderndem Tonfall.
»Ich liebe ihn«, gestand sie.
»Cohen hat auf seiner neuen Platte ein Lorca-Gedicht vertont. Take This Waltz heißt der Song. Hör dir das mal an, und dann können wir uns später noch mal treffen und bei einem Drink darüber diskutieren«, fuhr er fort.
»Bleibt ihr zur Fiesta?«, fragte sie, unsicher, ob er ihr gerade ein Date vorgeschlagen hatte.
»Habe vor, mich durchzukämpfen«, fuhr der blonde Mann fort und grinste fröhlich. »Aber dazu brauche ich noch ein Bier.«
Da war es wieder, das erregte Glitzern.
»Selbstverständlich«, murmelte sie und hoffte, dass sie nicht rot wurde.
Danach verschwand sie und ignorierte einfach die vielen Leute, die erstaunlicherweise in so kurzer Zeit gekommen waren.
Sie dachte nur, dass sie diesen Lorca-Song finden musste und dann noch etwas Interessantes, was sie darüber würde sagen können.
Rekke bemerkte einen angespannten Zug um Micaelas Augenbrauen. Irgendwas quält sie, dachte er und hörte, wie der Wind an den Fensterscheiben rüttelte. Vielleicht würde es wirklich, wie Señor Corales prophezeit hatte, einen Schneesturm geben.
»Was für einen Cliffhanger hast du denn zu bieten?«, fragte Micaela. »Ich muss gleich mal weg.«
»Unter was für einen Druck du den armen Erzähler setzt«, jammerte Rekke. »Aber ich habe es wohl nicht besser verdient. Der Mann, der in Laredo aus dem Auto stieg, war wahrscheinlich dieselbe Person, die tags zuvor das Restaurant in Santander besucht und Fernet Branca getrunken hatte. Er war blond und mager und trug ein kariertes aufgeknöpftes Hemd. Es war zwei oder drei Uhr morgens, und laut Zeugenaussage hinkte er. Jedenfalls schien er Schmerzen zu haben, und sein rechter Schuh war kaputt. Auf der anderen Seite …«
Rekke lächelte sicherheitshalber ein wenig genant.
»Ja?«
»… kann das natürlich auch eine falsche Fährte sein, und in dieser Ermittlung mangelt es wirklich nicht an Verdächtigen. Aber interessant ist, dass die Polizei daraufhin in Laredo von Tür zu Tür ging und dabei auf Señora Castro oder, besser gesagt, ihre Schwester traf. Willst du nicht lieber eine Schmerztablette nehmen und dich wieder hinlegen?«
Micaela sah ihn verärgert an.
»Was? Nein, warum sollte ich? Wann tauchten diese Informationen auf?«
»Ungefähr zwei Jahre nach dem Mord«, erklärte er, »und deshalb ging das alles ziemlich zäh voran. Señora Castro war an einem Herzinfarkt gestorben und da schon ein halbes Jahr tot, aber ihre Schwester erzählte, dass die Familie während der Sommermonate das Dachzimmer in ihrem Haus am Marktplatz vermietet hatte. Es wurde darüber nicht Buch geführt, und die Pässe der Gäste wurden auch nicht fotokopiert. Aber Señora Castro hatte ihrer Schwester von zwei Schweden erzählt, die im Juli 1988 in einem ihrer Zimmer gewohnt hätten. Sie seien frisch ausgebildete Journalisten gewesen, hatte sie gesagt. Einer von beiden sei der netteste junge Mann gewesen, den man sich vorstellen könnte. Der andere sei sehr arrogant gewesen. An den habe sie später noch mal gedacht. Der habe einen bösen Blick gehabt, hatte sie gesagt.«
»Ah so«, sagte Micaela ungeduldig.
»Und in dieser Nacht – oder wahrscheinlich in dieser Nacht, sollte ich wohl sagen – wurde sie von einem lauten Streit geweckt, der sich im Zimmer der beiden Schweden abspielte. Sie wollte raufgehen und mit den beiden schimpfen, aber die Stimmen machten ihr Angst. Am Morgen waren die jungen Männer verschwunden, und eine Nachttischlampe und zwei Blumentöpfe waren zerschlagen. Auf dem Fußboden waren braune Flecken, die sie wegwischte.«
»Die beiden Männer müssen aber ja noch von mehr Menschen in der Stadt gesehen worden sein«, gab Micaela zu bedenken.
»Von erstaunlich wenigen, und soweit man weiß, ist nichts auf einer Kamera festgehalten. Doch am Abend zuvor ist in Santander noch eine Kleinigkeit geschehen«, fuhr er fort und betrachtete dabei Micaela und den angestrengten Zug in ihrem Gesicht.
»Lass hören«, sagte sie.
»Damit ist es auch nicht weit her«, gab Rekke zu. »Aber es ist zumindest schon in die anfänglichen Ermittlungsarbeiten eingeflossen, als die Erinnerungsbilder der Zeugen noch frischer waren. Da geht es um einen betrunkenen blonden Mann, der auf dem Bürgersteig vor einem Restaurant namens La Mar in der Stadt saß und eine Zigarette ohne Filter rauchte, möglicherweise eine Gauloise. Er soll ein wenig an den jungen Mick Jagger erinnert haben, graziös und mit sinnlichen Lippen. Die Wangen waren eingesunken und das Haar schütter und etwas dünn.«
»Ziemlich schlimm für einen Jagger.«
Rekke lächelte.
»Der Mann wurde von einer jungen Frau aus Castro Urdiales angesprochen, die ihn fragte, wer er sei.«
»Das klingt doch vielversprechend«, sagte Micaela.
»Der Mann antwortete: Sisyphos.«
»Sisyphos?«
»Genau. Er sagte, er würde jeden Tag seinen Stein den Berg hinaufrollen und hoffe auf eine Belohnung am Abend. Dann nahm er wohl einen Flachmann aus der Hosentasche und trank, als sei Alkohol die Belohnung, auf die er es abgesehen hätte. Dann fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu: Man müsse sich also vorstellen, dass er glücklich sei.«
»Dann hat er also Camus gelesen. Und sonst?«, fragte Micaela.
»Eigentlich nichts. Aber interessant ist, dass Sandra Ramirez ein paar Stunden zuvor vor diesem Restaurant gewesen war und nach jemandem gesucht hatte.«
»Verstehe.«
»Und auch wenn nichts in Stein gemeißelt ist und die gesamte Ermittlung …«, Rekke hob einen der Papierstapel auf dem Tisch hoch, »… ein Dickicht ist, scheint es doch derselbe junge Mann zu sein, der am Vormittag im Restaurant angetroffen wurde und in den frühen Morgenstunden beim Auto in Laredo.«
Micaela sah ihn spöttisch an.
»Das also ist dein Auftrag: Diesen literarisch angehauchten Trunkenbold zwanzig Jahre später ausfindig zu machen.«
Rekke machte eine ergebene Geste.
»Im Großen und Ganzen, ja.«
»Und kein Phantombild, keine Zusammenstellung von charakteristischen Merkmalen, keine Narben, keine Tätowierungen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Man meinte, es sei zu viel Zeit vergangen, um noch einen Zeichner zu bemühen.«
Micaela erhob sich, und Rekke überlegte, ob er etwas für sie tun sollte – ein Mittagessen machen oder sie wieder ins Bett bringen. Doch als er auch aufstand, machte sie eine abwehrende Bewegung.
»Was du hast«, sagte sie dann, »ist also ein Mann, der heute um die vierzig ist, aber einmal hübsch und schlank war und der möglicherweise Journalismus studiert hat und literarisch bewandert ist. Kann sein, dass er ein Alkoholproblem hat und nicht sonderlich sympathisch ist. Auf der anderen Seite muss sein Verhalten von damals heute nicht mehr unbedingt signifikant für ihn sein. Vielleicht hat es sich ausgewachsen, und er ist dick und kahlköpfig geworden.«
»Eine sehr gute Zusammenfassung«, sagte Rekke. »Und außerdem können wir noch hinzufügen, dass er vielleicht Gauloises geraucht und Camus gelesen hat. Was allerdings in den Achtzigern so was wie eine Epidemie war, an jeder Ecke gab es Leute, die französische Existenzialisten werden wollten. Trotzdem ist das mal ein Anfang, finde ich, und dann haben wir ja noch deine Datenbanken bei der Arbeit und das neue Weltwunder namens Facebook, auf dem du manchmal unterwegs bist. Da kann man doch alle möglichen Sachen suchen, oder?«
»Machst du Witze?«, fragte sie.
Er öffnete den Kühlschrank, um nachzusehen, ob er irgendetwas für sie zu essen fand.
»Ein wenig vielleicht«, antwortete er und holte Zaziki vom Vortag heraus und aus dem Brotkorb auf der Spüle ein halbes Baguette. »Aber ich meine es auch ernst«, fuhr er fort. »Ich möchte, dass du dir die Bilder von der Leiche ansiehst. Dann wirst du verstehen, warum.«
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie. »Außerdem schaue ich mir am liebsten erst mal das Opfer an, wie es aussah, als es noch lebte.«
Rekke bat Micaela, sich wieder zu setzen, und stellte die Brotstücke und den Zaziki auf den Küchentisch, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
»Sehr klug«, sagte er.
Dann zog er die London Review of Books heraus und blätterte zu dem Foto vor, das neben der Novelle von Sandra Ramirez abgedruckt worden war.
Santander, Juli 1988
Als Sandra aus der Küche kam, stieg ihr bereits Robertos Geruch in die Nase, nicht die gewöhnliche Mischung aus Eau de Cologne und Schweiß, sondern der scharfe, aufdringliche Gestank, der seinen Ausbrüchen immer vorausging, und sie ahnte sofort Gefahr.
Diesen Geruch hatte sie schon bei ihrem zweiten Date verspürt, zu der Zeit, als sie immer noch wie geblendet von Roberto gewesen war und nicht begriffen hatte, wie gefährlich er war. Inzwischen wusste sie nur zu gut, dass der Gestank ein Omen war, ein Warnzeichen, und sie zitterte. Im nächsten Moment wurde sie nach vorn geschleudert und knallte mit dem Kopf an den Türrahmen.
»Wie zum Teufel kannst du da stehen und rumhuren, wenn jede Menge Gäste kommen?«, zischte er.
»Ich hure nicht rum«, stammelte sie, außer sich vor Wut und Demütigung.
Doch zu ihrem Erstaunen reagierte sie nicht so stark, wie sie angenommen hatte. Die Empörung zog einfach vorüber, und das lag natürlich an dem blonden Typen. Sein Versprechen, dass sie sich wiedersehen würden, wirkte wie ein Panzer, und sie richtete sich auf, fast lächelnd, und ging auf die Toilette, um sich wieder hübsch zu machen, und als sie in den Spiegel schaute, wurde ihr klar, dass es nicht nur der Blonde war, der sie stark machte.
Es gab auch noch etwas anderes, was schon den ganzen Morgen dagewesen war: die pulsierende Lust zu schreiben. Die und der blonde Typ ließen alles andere armselig aussehen, und als sie die Haare geglättet und die Augen abgewischt hatte, ging sie in die Bar hinaus.
Im Restaurant wimmelte es von Leuten, und sie fasste sich mit der Hand an die Schläfe. Hoffentlich wird das kein Bluterguss, dachte sie, als gäbe es sonst kein Problem mit diesem brutalen Akt. Dann zapfte sie Bier und schaute über die Terrasse und all die neuen Gäste, und in diesem Moment passierte noch etwas, was die Spannung in ihrem Körper verstärkte. Sie erkannte, was sie aus ihrer Erzählung machen würde.