Das zerbrochene Haus - Horst Krüger - E-Book

Das zerbrochene Haus E-Book

Horst Krüger

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Beschreibung

"Das zerbrochene Haus" ist Horst Krügers Bilanz seiner Jugend in Berlin im nationalsozialistischen Deutschland, ein Bekenntnis und eine scharfsichtige Analyse des verführten deutschen Kleinbürgertums. Horst Krüger, der sich selbst als "typischen Sohn jener harmlosen Deutschen, die niemals Nazis waren und ohne die die Nazis ihr Werk nie hätten tun können", charakterisiert, zieht Bilanz, weil er wissen möchte, "wie das damals war unter Hitler". "Das zerbrochene Haus" ist ein zeitloses, ein gültiges Buch, das zum 100. Geburtstag wieder aufgelegt wird, versehen mit einem Nachwort von Martin Mosebach, der Horst Krüger eng verbunden war.

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Inhalt

[Cover]

Titel

Zitat

Ein Ort wie Eichkamp

Ein Requiem für Ursula

Mein Freund Wanja

Die Verhaftung

45, Stunde Null

Gerichtstag

Nachwort: Zehn Jahre später

Martin Mosebach: »Das zerbrochene Haus«

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Natürlich muß die Wahrheit im Kampf mit der Unwahrheit geschrieben werden, und sie darf nicht etwas Allgemeines, Hohes, Vieldeutiges sein. Von dieser allgemeinen, hohen, vieldeutigen Art ist ja gerade die Unwahrheit.

Bertolt Brecht

Ein Ort wie Eichkamp

Berlin ist ein endloses Häusermeer, in dem ein Strom von Flugzeugen dauernd ertrinkt. Es ist eine große graue Steinwüste, die mich immer wieder erregt, wenn ich ihr entgegenschwebe: Magdeburg, Dessau, Brandenburg, Potsdam, Zoo. Sie bauen da U-Bahn-Schnellstrecken und Stadtautobahnen, tüfteln an raffinierten Avus-Verteilern und verwegenen Fernsehtürmen. Das alles ist das neue, moderne Berlin, das technische Karussell der Inselstadt, das sich dreht, von dem spröden, lakonischen Witz der Leute drinnen und vom Kapital von draußen betrieben. Es ist schön und strahlend, dieses neue Berlin, aber erst wenn ich in der S-Bahn sitze, die jetzt ziemlich leer und DDR-schäbig durch den Westen rollt, fühle ich mich eigentlich zu Hause. Das ist mein Berlin, das dröhnende, singende Trauma meiner Kindheit, mein stehengebliebenes eisernes Spielzeug, das immer noch mit seinem hellen, hastig schlagenden Ton zu sagen scheint: Du bist da, du bist wirklich da, so war es immer, so wird es bleiben. Berlin ist eine gelbpolierte Holzbank, hart und blank, ein regenverwaschenes, schmutziges Fenster, ein Abteil, in dem es unsäglich nach Reichsbahn riecht. Das ist ein Gemisch aus stehengebliebenem Rauch, Eisen und vielen Arbeiterkörpern, die aus Spandau kommen, Margarinestullen im Leib, mit Vierzehn einmal zur Konfirmation gewesen, dann täglich die Morgenpost gelesen. Berlin ist das alles und ist ein Groschenautomat auf dem zugigen Bahnsteig, aus dem man Pfefferminztabletten ziehen kann: weiß und grün, in steifes Silberpapier gewickelt. Es ist das Zuschlagen der elektrischen Türen und der Ruf am Bahnhof Westkreuz: »Bitte zurückbleiben!« Niemanden schreckt das mehr, niemand muß hier mehr zurückbleiben, aber der Ruf ist noch da und der Mann mit der Kelle und dann das plötzliche Anrucken. Berlin ist eine schäbige gelbe Fahrkarte für fünfzig Pfennig. Für fünzig Pfennig kannst du noch heute von Spandau bis in die Hauptstadt der DDR fahren.

Ich sitze in der S-Bahn, um nach Eichkamp zu fahren. Ich weiß, Eichkamp ist nicht das, was man heute ein Reportagethema nennt. Berlin-Reports sind gesucht und gefragt: Schreiben Sie uns einen Bericht über die Mauer oder die neue Philharmonie, die Kongreßhalle oder über den Weihnachtsmarkt drüben. So etwas ist immer erwünscht. Aber Eichkamp? Was ist das? Was soll das sein? Es steht in keinem Katalog Berliner Sehenswürdigkeiten; kein schwarzer Stammesfürst und kein Amerikaner, der über den Ozean kam, um den Kurfürstendamm entzückend und die Mauer abscheulich zu finden, wird nach Eichkamp geführt. Im Grunde ist Eichkamp nichts, nur eine kleine, belanglose Siedlung zwischen Neuwestend und Grunewald, wie es in den Randzonen der großen Stadt, wo sich das Häusermeer langsam ins Grüne und Ländliche auflöst, zahllose Siedlungen gibt. Eichkamp ist eigentlich nur eine Erinnerung für mich. Es ist der Ort meiner Kindheit. Hier wuchs ich auf, spielte auf der Straße Murmeln und Hopse und Himmel und Hölle, ging zur Schule und kehrte später von der Universität zum Essen und Schlafen hierher zurück. Eichkamp ist einfach meine Heimat, die ich – ein Fremder – nach mehr als zwanzig Jahren wiedersehen will.

Ich kehre als Bundesbürger zurück. Ich habe meinen Beruf und mein Auto, meine eigene Welt heute drüben gelassen; ich kehre allein zurück, nicht weil ich das rührend und schön finde, als erwachsener Mann den Spuren der Kindheit wieder nachzuschleichen. Abscheuliche Sehnsucht alternder Männer, sich über ihre Kindheit zu beugen: Obszönität der Greise, die klopfenden Herzens auf Spielplätzen hocken, als gäbe es da heimliche Paradiese zu entdecken. Eichkamp war für mich kein Paradies und meine Kindheit kein heimlicher Traum. Eichkamp war einfach meine Jugend unter Hitler, und ich möchte es wiedersehen und möchte endlich begreifen, wie das damals war unter Hitler. Jetzt ist schon mehr als eine Generation vergangen. Alles, was damals das Dritte Reich war: der Fackelzug Unter den Linden und der Jubel im Radio und der Rausch der Erneuerung, ist vorbei, vergangen, vergessen. Auch die Brotmarken und die Bomben über Eichkamp und die Gestapo, die manchmal aus der Innenstadt mit schwarzen Autos kam, sind längst vergessen. Jetzt müßte man es doch verstehen, meine ich. Jetzt liegt fast ein Menschenleben dazwischen, Rausch und Depression sind verklungen, alles ist neu und anders geworden. Ich bin ein Bürger der Bundesrepublik, ich komme aus dem Westen, ich komme nach Eichkamp, weil mich die Frage quält, wie das eigentlich war, was wir heute alle nicht mehr begreifen können. Jetzt, meine ich, müßte man es verstehen.

Nachts führen mich manchmal meine Träume nach Eichkamp zurück. Es sind schwere, angstvolle Träume. Träume, nach denen ich morgens gegen sechs wie zerschlagen erwache. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, Zeit einer Generation, Zeit zu vergessen. Warum kann ich nicht vergessen?

Mein Traum: Ich komme nach Eichkamp, ich stehe vor unserem Haus. Lange Risse ziehen sich durch die Außenwände, unser Haus ist von Preßluftbomben beschädigt. Ein kleines, zweistöckiges Reihenhaus an der Peripherie von Berlin, billig und rasch in den zwanziger Jahren errichtet. Jetzt ist alles auf eine klägliche Weise repariert, Türen und Fenster sind wacklig, im Innern der Holzfußboden brüchig. Im Herrenzimmer sitzt meine Mutter und liest meinem Vater aus einem Buch vor. Der Raum ist klein, niedrig und auf jene unbeschreiblich dissonante Weise möbliert, die man damals bürgerlich nannte: Warenhausramsch mit Erbstücken aus der guten alten Zeit angereichert. Runder Pilztisch mit Spitzendecke, Stehlampe mit Pappschirm, billiger Kiefernschreibtisch, kantig und mit Messingnägeln beschlagen. Ein viel zu großer Kronleuchter hängt mit langen Kristallbändern tief in den Raum: Erbstück aus Buckow. Ein riesiger Eichenschrank füllt fast ein Drittel des Zimmers: Erbstück aus Stralau; »unser Barockschrank«, hieß es zu Hause. Mein Vater sitzt teilnahmslos an seinem schwarzlackierten Schreibtisch. Er hat wie immer Akten vor sich, er kratzt sich wie immer am Kopf, an seiner »Wunde«: Verdun 1916. Meine Mutter versinkt hinter dem runden Pilztisch in einem stoffbezogenen, fleckigen Sessel; »unser Klubsessel«, hieß es. Das Licht der Lampe fällt mild über das Buch. Ihre Hände sind schmal, die Finger lang und feingliedrig und huschen nervös über die Zeilen. Sie hat katholische Augen: dunkel, gläubig, basedowstark. Etwas Verkündigendes liegt in ihrer Stimme. Sie liest aus einem Buch vor, das den Titel trägt: »Mein Kampf«. Es ist Spätsommer 1933.

Nein, meine Eltern sind niemals Nazis gewesen. Das ist es, das macht mir den Fall so suspekt. Sie lasen in diesem Buch des neuen Herrn Reichskanzlers mit den großen, erstaunten Augen von Kindern. Sie lasen ängstlich und erwartungsvoll darin: Ungeheure deutsche Hoffnung mußte da stehen. Sie hatten sonst keine Bücher, nur das Adreßbuch von Groß-Berlin, die Bibel und allerdings auch das »Jettchen Gebert«. Sonst nur Paul Lincke gehört, »Frau Luna« und so, und zu Silvester die »Fledermaus« im Admiralspalast und aus dem Radio manchmal das Wunschkonzert; wenn es hoch kam, die Ouvertüre zu »Donna Diana«. Meine Eltern waren auf jene rührende Weise »unpolitisch«, wie damals fast alle Eichkamper. In den zwölf Jahren unter Hitler bin ich in Eichkamp eigentlich nie einem wirklichen Nazi begegnet. Das ist es, das zieht mich zurück. Es waren lauter brave, fleißige Bürgerfamilien, ein wenig beschränkt und borniert, Kleinbürger, mit den Schrecken des Krieges und den Ängsten der Inflation im Rücken. Nun wollte man Ruhe. Man war Anfang der zwanziger Jahre nach Eichkamp gezogen, weil das eine neue grüne Insel war. Hier standen noch Kiefern und Föhren im Garten, zum Teufelssee war es nur eine Viertelstunde. Da konnten die Kinder baden. Man wollte sein Gemüse im Garten anbauen. Am Wochenende sprengte man zufrieden den Rasen. Es roch fast nach Land. In der Stadt rollten damals die goldenen, wilden zwanziger Jahre, man tanzte Charleston und begann schon zu steppen. Brecht und Eisenstein begannen hier ihren Siegeszug. Die Zeitungen meldeten Straßenschlachten vom Wedding, Barrikadenkämpfe vor dem Gewerkschaftshaus. Das lag weit weg von uns, wie durch Jahrhunderte getrennt. Abscheuliche, unbegreifliche Fälle von Unruhestiftung. In Eichkamp lernte ich früh, daß ein anständiger Deutscher immer unpolitisch ist.

Seltsames Gefühl, als jetzt der Zug im Bahnhof Eichkamp einfährt. Erinnern, vergessen, wiedererinnern, Verwandlung der Zeiten: Was ist das? Das ist doch nicht neu, was du jetzt tust, das hast du doch schon einmal erlebt, das war doch immer so: aufstehen von der gelbpolierten Bank, deine Sachen aus dem Netz nehmen, an fremden Leuten vorbeidrängen, den Messinggriff an der Tür umfassen, oben den Daumen herum, dann langsam den Griff nach rechts ziehen, aufreißen. Ein Gefühl von Mut. Während der Zug jetzt hart an der Bahnsteigkante dahinrast, ganz vortreten, der Fahrtwind bläst dir plötzlich ins Gesicht, und dann, während der Wagen nur noch langsam rollt, diese herrliche Versuchung, abzuspringen. Ich weiß, das ist verboten, es steht über der Tür, es war schon damals unter Hitler verboten, aber jetzt spüre ich wieder diese Versuchung, die mich als Tertianer so unbändig reizte: Wenn man im richtigen Augenblick abspringt und die Fliehkraft des Körpers mit den Füßen gut aufnimmt, kommt man mit demselben Schwung noch in Eichkamp die Treppe hoch, ist als erster oben an der Sperre, ist als erster draußen auf dem grünen Vorplatz, ist als erster in dem schmalen Gartenweg, der zur Siedlung führt.

Hinter dir gehen in gemächlichem Abstand die Eichkamper. Ein paar Herren mit Aktentaschen, Inspektoren, Angestellte, Amtmänner, ältere Frauen, die in Charlottenburg oder am Zoo eingekauft haben und nun etwas erschöpft und mit watschelndem Gang in großgeblümten Kleidern irgendwelchen kleinen Häuschen zustreben, junge Mädchen, die hier eine Tante besuchen. Junge Burschen mit Fußballschuhen unter dem Arm, die gleich nach rechts abbiegen, weil dort die Sportplätze liegen. Früher trugen sie manchmal blaue Hemden. Das waren die Judenjungens, die hier in Eichkamp zum Sportplatz der Zionisten gingen.

Ja, was ist die Zeit? Was erinnern? Wie ist es möglich, daß du alles das jetzt wieder tust, so, als seist du Vierzehn? Vier Jahre Grundschule in Eichkamp, neun Jahre das Grunewald-Gymnasium besucht, neun Jahre lang täglich von der S-Bahn abgesprungen und dazwischen das Hakenkreuz über Eichkamp; erst die Skepsis und dann die frohe Stimmung, weil es nun doch wieder mit uns allen bergauf ging. Katzensteins und Schicks und Wittkowskis waren weggezogen. Man hatte es eigentlich nicht recht bemerkt. Es waren unsere guten Juden; die schlimmen wohnten rund um den Alex.

Jeder Eichkamper hatte mindestens einen guten Juden. Meine Mutter bevorzugte jüdische Ärzte. »Sie sind so sensibel«, sagte sie. Arnold Zweig wohnte damals in Eichkamp. Sein modisches Flachdach war undeutsch und mußte nach seiner Flucht gleich germanisch gegiebelt werden. Ludwig Marcuse wohnte drei Häuser neben uns und war auch 33 geflohen. Man merkte das alles nicht. Direkt neben uns wohnte Elisabeth Langgässer. Sie kam manchmal zu uns, Beromünster zu hören. Sie sagte immer, der Hitler habe in drei oder vier Monaten »abgewirtschaftet«. Das sei doch klar. Sie glaubte das zwölf Jahre lang. Und blieb bis zum Schluß.

Und dann der Tag der ersten Lebensmittelkarten. 1. September 39. Ich stehe vor dem Konsum und kann plötzlich nicht mehr kaufen, was meine Mutter wollte. Die Butter ist rationiert, das Brot auf Karten. Die Eichkamper blicken mißmutig drein. Ist das nicht wie damals, 17? Dann die ersten Flieger. Ich stehe im Garten und höre drei Engländer hoch in der Luft brummen. Die Langgässer tritt an den Zaun. Sie ist klein, untersetzt, französisch geschminkt und trägt eine dicke Hornbrille. Wenn sie durch unsere Straße geht, rufen ihr die Kinder nach: »Der Tuschkasten kommt, der Tuschkasten kommt!« Und die Langgässer sagt zu mir: »Das sind unsere Befreier, Horst, glaub es mir« und blickte dabei mit dem Zwinkern der Kurzsichtigen kritisch zum Himmel. Und später dann all die schweren Bomben über die Siedlung und dann die Russen, die hier auch schossen und auch Häuser aufbrachen und auch sagten: »Frau, komm mit!« Hatte Eichkamp das verdient? Dann kamen die Engländer und die Hungerjahre, die geflickten Häuschen, die Zeit der schönen Schwarzmarktblüte, die Währungsreform und die Blockade und wie es dann langsam mit der Stadt wieder aufwärtsging.

Merkwürdig – jetzt steht Eichkamp wieder wie früher da. Es ist, als sei kaum etwas gewesen, als wäre das Ganze nur ein böser Spuk, nur ein Alptraum, ein Versehen der Geschichte gewesen. Das Versehen ist längst repariert. Die alten Reihenhäuser, ein paar neue Bungalows schüchtern dazwischen. Die alten Häuser sind schmal und hoch, die Wände mit gelblichem Mörtel beworfen, wilder Wein rankt sich da hoch. Die Gärten, die Eichkamper Gärten – ist das noch Berlin? Der Flieder blüht hier wieder in schweren Dolden, blauviolett und weiß, ein Duft von Jasmin strömt aus den Vorgärten. Gladiolen stehen kerzengerade in Beeten und daneben Erdbeeren und Zwiebeln, Dill für die Küche, Salatköpfe, Kohlrabi, Rotkohl und Kerbel, im Hintergrund Kiefern, die märkischen Föhren mit ihren hohen, schmalen, federnden Stämmen. Auch der Funkturm ist da, und irgendwo blühen Linden. »Unsterblich duften die Linden.« Habe ich das nicht zum erstenmal in Eichkamp gelesen?

Ich bin also dabei, sentimental zu werden. Natürlich, ich bin auf dem Wege nach Hause. Und wie es immer ist, wenn man nach Jahrzehnten nach Hause kommt: Alles wird nun immer kleiner, die Häuser, die Gärten, die Straßen – wie konnte man nur hinter so winzigen Fenstern leben? Und der Fleischer Schmiedt verkauft hier noch immer seine Würstchen und sein Gehacktes, er muß uralt sein, und der Bäcker Labude, den gibt es auch noch oder doch wenigstens sein Geschäft, die haben auch überstanden. Da ging ich immer für fünf Pfennig Schnecken kaufen, das waren kleine, runde, spiralenförmige Zuckerbrötchen, und am Wochenende durfte ich Bienenstich kaufen: vier Stück à zehn Pfennig. Das war unser Sonntagskaffee.

Ich gehe wieder wie damals: Fliederweg, Lärchenweg, Buchenweg, Kiefernweg, Vogelherd, Im Eichkamp – alles schmale, zierliche Sträßchen, noch heute ohne Bürgersteig, noch heute mit Gaslaternen, winzige Häuschen mit schmalen Vorgärten, grüne Läden an den altmodischen Fenstern und dahinter lauter brave, biedere Leute, die ihr Handwerk, ihr Geschäft, ihre Amtsstube gut verwalten. Eichkamp war die Welt der guten Deutschen. Ihr Horizont reichte noch bis Zoo und Grunewald, bis Spandau und Teufelssee – aber nicht weiter. Eichkamp war ein kleiner grüner Kosmos. Was wollte Hitler hier eigentlich? Hier wählte man nur Hindenburg und Hugenberg.

Und dann bin ich plötzlich da. Aber da ist nichts. Da ist nur ein Loch: Geröll, vermodertes Holz, zerbrochene Steine, viel Sand und Grün wieder darüber, ein zerbeulter Koffer liegt unten im Kellergeschoß. Ein Keller, verwachsen, verwildert, vergessen – übriggeblieben aus dem großen Krieg, ruinöser Rest aus der Schlacht um Berlin, Hausruine, wie man sie neben den strahlenden, sachlichen Neubauten finden kann. Überall gibt es noch solche leeren Stellen, solche weißen Flecken auf dem Atlas unseres neudeutschen Wohlstandes. Die Besitzer sind tot oder vermißt, leben im Ausland, haben die Welt von damals vergessen, wollen daran nicht mehr erinnert werden. Und ich stehe da und denke: Das also ist deine Vergangenheit, das ist dein Erbe, das haben sie dir hinterlassen. Hier bist du aufgewachsen. Das war deine Welt. Es sind kaum dreißig Quadratmeter im Grundriß, hier stand einmal unser Haus, zwei Stockwerke hoch und oben noch eine ärmliche Kammer fürs Dienstmädchen. Und auf diese dreißig Quadratmeter wurdest du 1923 als Dreijähriger geführt, und als du dieses Haus zum letztenmal betratest, warst du Vierundzwanzig und warst ein deutscher Obergefreiter im Jahr 44. Du kamst von der Front in Italien. Du hattest einen Benzintank bei dir: zwanzig Liter. Du brachtest zwanzig Liter Olivenöl aus dem Kriege mit, und als wir die Bratkartoffeln gegessen hatten, die dieses kostbare Öl wieder ermöglichte, wurde uns allen schlecht. Wir erbrachen uns. Das Fett war zuviel. Wir mußten einfach kotzen. Wir – das hieß damals: meine Eltern und ich. Meine Schwester hatte sich schon vorher getötet: 38.

Ich bin also wieder zu Hause. Ich bin in Eichkamp. Ich stehe vor unserem Grundstück, es blühen wieder die Linden, und ich meine, wenn ich das alles jetzt verstünde, was sich in diesem Haus zutrug, so wüßte ich, wie das damals war – das mit Hitler und den Deutschen. Irgendwo hier in Charlottenburg wird es doch ein Katasteramt geben, da mußt du im Grundbuch drinstehen. Es ist unbestreitbar. Du besitzt noch eine Ruine, dieses Kellergeschoß, und wenn du dich erinnern könntest, müßte das Haus wieder stehen: dieses farblose, öde, schreckliche Kleinbürgerhaus, dessen Sohn du bist. Ich schäme mich etwas, aus diesem engen, verwaschenen Kleinbürgerhaus zu stammen; ich wäre gern der Sohn eines Gelehrten oder der eines kleinen Arbeiters, ich wäre gern Thälmanns Sohn oder der von Thomas Mann, das wären doch Fronten, aber ich stamme nur aus dem Eichkamp. Ich bin ein typischer Sohn jener harmlosen Deutschen, die niemals Nazis waren und ohne die die Nazis doch niemals ihr Werk hätten tun können. Das eben ist es.

Erinnern, erinnern, wie soll man sich an alles erinnern? Meine früheste Erinnerung an Hitler ist Jubel. Ich bedaure das, weil es die Historiker doch heute anders wissen, aber ich hörte zuerst nur Jubel. Er kam nicht aus Eichkamp. Er kam aus dem Radio. Er kam aus der fernen, fremden Stadt Berlin, er kam von den Linden und vom Brandenburger Tor, zu dem man von Eichkamp mit der S-Bahn zwanzig Minuten brauchte. So weit weg war das.

Es war eine kalte Januarnacht, es war ein Fackelzug, und der Sprecher im Radio, der in lauten Tönen eigentlich mehr sang und schluchzte als berichtete, mußte Ungeheures erleben; es mußte da ein unbeschreiblicher Jubel auf der Prachtstraße der Reichshauptstadt sein, und alle gutwilligen, alle echten und jungen Deutschen mußten zusammengeströmt sein, um, wie ich vernahm, dem greisen Marschall und seinem jungen Kanzler zu huldigen. Die standen beide am Fenster. Es muß wohl so etwas wie ein Halleluja der Erlösten gewesen sein: Berlin, ein Freudenfest, Berlin, ein Frühlingsmärchen der Nation. Ein Singen und Marschieren und Rufen und Brausen und dann wieder die schluchzende Stimme im Radio, die etwas von Deutschlands Erwachen sang und wie in einem Refrain immer hinzufügte, daß sich nun alles, alles wenden werde.

Die Eichkamper waren skeptisch. Meine Eltern hörten das mit erstaunten und etwas verängstigten Ohren. Irgendwie paßte ja so viel Glück und Größe nicht in unsere engen Stuben, in diese von allerlei Ramsch und altem Zierat vollgestellten Zimmer. Bald nach elf drehte mein Vater ab und ging etwas ratlos schlafen. Was brach da auf? Welche Welten gab es da draußen? Aber der greise Marschall und sein junger Kanzler, der letztere jetzt öfters im Frack, und das, was sich nun fortan das Kabinett der nationalen Konzentration nannte, zogen später auch über Eichkamp wie eine Hoffnung auf. Die Skeptiker wurden ruhiger, die Lauen nachdenklich, die kleinen Geschäftsleute hoffnungsfroh. Plötzlich war in diese kleine, grüne Oase der Unpolitischen der Sturm der großen Welt hereingebrochen, kein Sturm der Politik, eher ein Frühlingssturm, ein Sturm der deutschen Verjüngung. Wer wollte in ihm nicht seine Segel setzen?

Zu den schwarz-weiß-roten Fahnen, die die Eichkamper schon immer lieber als die schwarz-rot-goldenen herausgeholt hatten, kamen jetzt Hakenkreuzfahnen, viele kleine und große, oft selbstgeschneiderte Fahnen mit einem schwarzen Hakenkreuz auf weißem Grund; einige hatten in der Eile die Hakenkreuze verkehrt herum aufgenäht, aber man sah doch den guten Willen. Es war die Zeit der Erneuerung, und eines Tages kam meine Mutter mit einem kleinen dreieckigen Wimpel nach Hause und sagte: »Das ist für dein Rad. Alle Jungens hier in Eichkamp haben jetzt an ihren Rädern solche hübschen Wimpel.« Sie meinte das, wie alles, was sie tat, natürlich ganz unpolitisch. Es war einfach jetzt so erhebend und feierlich. In Potsdam hatten der greise Marschall und sein junger Kanzler einen historischen Händedruck getauscht: Garnisonkirche, Hohenzollern, die alten Fahnen und Standarten der preußischen Regimenter, alles war so fromm, und hinterher so getragen-erhebend das Lied vom guten Kameraden, er ging an meiner Seite – da ging meine Mutter zu Hermann Tietz, der war noch jüdisch, und kaufte den ersten Hakenkreuzwimpel.

Die Nazis hatten einen untrüglichen Sinn für provinzielle Theatereffekte. Sie hatten alles Zeug, um in einer Vorstadt eine Wagneroper mit all dem falschen Zauber von Weltesche und Götterdämmerung so zu inszenieren, daß dieselben Leute, die sonst »Frau Luna« oder die »Fledermaus« hörten, verklärt und ergriffen waren. Rausch und Verklärung sind die Schlüsselworte für den Faschismus, für seine Vorderseite, wie für seine Rückseite Terror und Tod die Schlüsselworte sind, und ich glaube, daß auch die Eichkamper sich gerne berauschen und verklären ließen. Das war der Punkt ihrer Anfälligkeit. Hier waren sie waffenlos. Man war plötzlich wer. Man war etwas Besseres, etwas Höheres: ein Deutscher. Weihe lag über dem deutschen Land.

So kam es, daß meine Mutter im Herbst das Buch des neuen Herrn Reichskanzlers zu lesen begann. Sie hatte schon immer diesen Drang zum Höheren in sich gespürt. Das lag ihr im Blut. Sie stammte aus einer alten schlesischen Familie, die, etwas verlottert und immer verschuldet, so langsam aus Böhmen ins Preußische gewandert war. Meine Mutter war wie Hitler »musisch« und »irgendwie katholisch«. Sie huldigte einem unsäglichen Privatkatholizismus: spirituell, sehnsüchtig, verworren. Sie schwärmte für Rom und den rheinischen Karneval, betete, wenn sie ihre Schlüssel verlegt hatte, zuversichtlich zum heiligen Antonius und ließ uns Kindern gegenüber gelegentlich durchblicken, daß sie von Haus aus zu Höherem bestimmt war: Ordensfrau bei den Ursulinen. Es war nie zu klären, warum diese nervöse und zarte Frau, die sich gelegentlich sehr ernst mit Anthroposophie und dem Vegetarismus beschäftigen konnte, diesen gutmütigen Handwerkersohn aus Berlin-Stralau geheiratet hatte. Eigentlich war er nicht standesgemäß und überdies auf jene ruppige Berliner Weise evangelisch, deren Gläubigkeit sich bis heute nur in einem rabiaten und höhnischen Antikatholizismus äußert.

In der Schule hatte es mein Vater nicht weit gebracht. ein Glücksfall war, wie für so viele deutsche Männer damals, der Krieg. Nein, mein Vater ist kein Militarist gewesen, er war ein friedlicher und gutmütiger Mensch, aber im Kriege wurde mit einem Male alles so klar und einfach. Er muß brav und tapfer gewesen sein und wurde schon 1916 vor Verdun schwer verwundet, und seitdem ging es eigentlich mit seiner bescheidenen Beamtenlaufbahn dauernd aufwärts. Erst der Kopfschuß, das war wie ein Glücksfall, dann das Eiserne Kreuz, dann Unteroffizier, dann Feldwebel, und zum Schluß muß er wohl so etwas wie ein Vizeleutnant gewesen sein; er brachte jedenfalls 1918 einen Offizierssäbel mit aus dem Krieg und irgendein Papier, das ihn berechtigte, nun noch einmal ganz von unten eine »Staatslaufbahn« zu beginnen. Eine Weile trug er Akten, zog später einen Karren durch die langen Gänge des Preußischen Kultusministeriums, wurde dann später Hilfsassistent, Assistent, Bürovorsteher und schließlich gar Inspektor.

Der Aufstieg meines Vaters war damit nicht beendet. Damals, als wir nach Eichkamp zogen, muß er wohl schon Oberinspektor gewesen sein, er war nun Beamter auf Lebenszeit, konnte sich ein eigenes Häuschen leisten, bezog eine Ministerialzulage und schaffte es unter Brüning noch bis zum Amtmann. Für ihn war das ein Gipfel, ein atemberaubender Höhepunkt, für den man dem Staat lebenslänglich Treue und Unterwerfung schuldete. Ein Leben lang fuhr er morgens acht Uhr dreiundzwanzig ins Ministerium, er fuhr Polsterklasse, las zu Hause die DAZ und den Lokalanzeiger, trat nie in die Partei ein, wußte nie etwas von Auschwitz, abonnierte nie den Völkischen Beobachter, der war ihm zu laut und kämpferisch, aber acht Uhr zwanzig, wenn er den Zeitungskiosk am Bahnhof Eichkamp passierte, dann kaufte er sich den Völkischen Beobachter und hielt ihn sich zwanzig Minuten bis zum Bahnhof Friedrichstraße vor die Nase, damit die anderen auch seine Loyalität dem neuen, völkischen Staat gegenüber erkennen konnten. In Friedrichstraße ließ er das Blatt liegen. Im Ministerium muckte er manchmal gegen grobe Rechtsverstöße der neuen Herren im kleinsten Kreis auf; auch waren politische Witze gestattet; er liebte besonders die, die mit »Hermann« anfingen.

Ein Leben lang kam er sechzehn Uhr einundzwanzig nach Hause, immer mit demselben Zug, immer im selben Abteil zweiter Klasse, wenn Platz war, immer am selben Eckfenster, immer mit einer Aktentasche voll Arbeit in der rechten Hand, mit der linken zeigte er seine Monatskarte im hellen Blechetui vor – er sprang niemals vom fahrenden Zug ab. Er hatte sein Ziel erreicht, er war ein deutscher Staatsbeamter, und ob das nun Noske oder Ebert, Scheidemann oder Brüning, Papen oder Hitler hieß, er war immer zu Treue und Loyalität verpflichtet. Sein Amt war seine Welt und sein Himmel seine Frau. Die las damals »Mein Kampf«, war »irgendwie katholisch« und wurde nur für kurze Zeit »politisch«.

Ich weiß nicht, wie es damals vor Hitler in all diesen kleinen, verwinkelten Siedlungshäuschen eigentlich zuging – ich vermute, es war nicht sehr viel anders als bei uns zu Hause. Aufstehen um halb sieben, sich waschen, frühstücken und eine freundliche Miene zeigen, in die Schule gehen, nach Hause kommen, das Essen im Ofen, dann oben die Schularbeit, das offene Fenster, da lockte das Leben, aber dann wieder das Schulbuch, dann das Kommen meines Vaters so gegen halb fünf, geringe Hoffnung, nun würde etwas passieren, er würde etwas Ungewöhnliches mitbringen aus der Stadt, aber es passierte nie etwas bei uns, alles war normal, geregelt, in Ordnung. Wenn nicht die Krankheiten meiner Mutter gewesen wären, diese herrlichen, abenteuerlichen Krankheiten einer Frau voll Phantasie – so wäre meine Jugend hier in Eichkamp ein einziger Tag gewesen, der fünfzehn Jahre dauerte, fünfzehn Jahre nichts, einfach nichts, was Höhen oder Tiefen, Schrecken oder Freuden gewesen wären: fünfzehn Jahre lang Zwang, mörderische Zwangsneurose einer braven Beamtengestalt.

Das Schlimmste waren natürlich immer die Sonntage. Da mußte lange geschlafen werden, weil doch Sonntag war. Sonntag 1931 in Eichkamp: Das Frühstück unten wurde unendlich ausgedehnt, feierliche, starre Gesichter meiner Eltern, weil doch Sonntag war. Einsilbiger Wortwechsel über den Zustand der Eier, die als zu hart oder zu weich befunden wurden. Versuche, freundlich, sonntäglich zueinander zu sein, Versuche, über das Wetter zu sprechen, Worte, die mißverstanden wurden, erste Anfänge von Streit, dann wieder Schweigen. In das Schweigen hinein die sinnlose, irgendwie bösartige Frage, ob jemand noch Kaffee nachgeschenkt haben wolle. Wir trugen Sonntagsstaat, und beim Nachschenken mußte man natürlich höllisch aufpassen.

Ich hatte mir schon früh angewöhnt, in solchen Situationen auf eine verbissene, starre Weise zum Fenster hinauszublicken. Ich meinte immer, ich säße gar nicht an diesem Familientisch, sondern irgendwo draußen im Garten, ganz allein im Grünen frühstückend, herrliches Fest der Einsamkeit. Es muß wohl eine böse und höhnische Art gewesen sein, die anderen zu übersehen. Schon mit Dreizehn konnte ich fünf Minuten wie abwesend in meiner Kaffeetasse rühren und draußen eine Kiefer im Wind interessiert betrachten, während meine Eltern einsilbige Versuche über den Bienenstich, das Dienstmädchen oder den Zustand unseres Barockschranks von sich gaben. Aber auch diese meine demonstrative Abwesenheit wurde hier nicht bemerkt. Bei uns wurde überhaupt nichts bemerkt. Wir saßen alle wie Marionetten da, die nicht zueinander konnten. Wir hingen an hohen Fäden.