Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Autor legt eine sehr persönliche Arbeit vor, welche als Roman eher einer Biographie gleicht. Er versucht, anhand persönlicher Erlebnisse etwas von der Zeit zu bewahren, welche man schlechthin als Deutsche Nachkriegszeit bezeichnet. Das Buch zeichnet den Lebenslauf eines Jungen auf, dessen Schlüsselerlebnis der Bombenangriff auf Dresden ist. Er war gerade mal 8 Jahre, als das Kriegschaos zu Ende ging und schlimme Jahre der Entbehrung und des Hungers auf ihn warteten. Ohne Vater, der im Krieg verschollen war, und dann noch von der Mutter für Tot erklärt werden musste, um eine kleine Halbwaisenrente zu ergattern, hatte es die kleine Familie besonders schwer, die schlimmen Hungerjahre zu überleben. Mit 23 Jahren, als frisch gebackener Ingenieur, beginnt eine Zeit, in der er sich in der Praxis behaupten muss. Auch die Sehnsucht nach Zweisamkeit wird immer stärker. Bis er, mit Erschrecken bemerkt, dass er anders ist als die Anderen, er steht sich selbst im Weg. Mit aller Kraft stürzt er sich in die Arbeit, er weiß, dass er nur bestehen kann, wenn er immer besser ist als die Anderen. Es kommt zu einer tiefen freundschaftlichen Beziehung zwischen einer jungen Frau, ihm und seinem befreundeten Arbeitskollegen. Ihr Schicksal ist, dass sie nie zueinander finden, da jeder den falschen Partner in der kleinen Runde liebt. So ist der Roman auch ein kleines Abbild der Sittengeschichte jener Zeit.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Halbstark
Student
Jungingenieur
Kulissenwechsel
Eindrücke
Verwirrung
Ines
Alltägliches - Soll man oder soll man nicht?
Ein Lump der schlechtes dabei denkt
Epilog
Literaturhinweis
Und keiner weiß
wie mir wirklich ist.
Wenn ich ganz allein bin,
und schäme mich,
weil ich so erbärmlich bin.
Und morgen?
Geh ich morgen wieder hin?
Volker Grillitsch
Der gesunde Mensch hat tausend Wünsche, der Kranke nur den einen, gesund zu werden.
Aus dem Krankenbett heraus erhält das Leben eine völlig neue Perspektive. Bisher gelebte Eitelkeiten erscheinen in ganz anderem Licht. Geld, Motorrad oder Auto, Mode, rote Haare oder Glatze - angesichts der Krankheit sind sie so unwesentlich wie die Tatsache, dass der Kranke jung und sportlich oder älter ist. Für alle gibt es das gleiche, hinten durchgeschlitzte, krankenhauseigene Nachthemd.
So liegen sie aufgereiht in ihren Betten, neben dem Direktor der Lehrling, der Polizist auf der Fensterseite, der Rentner neben dem Kraftfahrer. Hier, angesichts ihrer gemeinsamen schwierigen Lage entwickeln sie sofort Solidarität, es trennt sie kein Standesdünkel oder Generationsproblem mehr. Plötzlich sprechen sie wieder die gleiche Sprache und finden das, was ihnen da draußen scheinbar abhanden gekommen war, zurück. Schließlich gibt es schon bald die Spritze, für alle in den selben nackten Arsch, ohne Gnade und Unterschied. Dieses wunderbare Gefühl der Zusammengehörigkeit erlebte ich selbst nach schwerer Operation.
Mein Leben habe ich wohl der Aufmerksamkeit eines jungen Mannes zu danken, welcher die Ärzte und Schwestern alarmierte als er bemerkte, dass ich nicht mehr zu atmen schien.
Sofort begann der Countdown zu meiner Rettung, in dessen Verlauf ich das medizinische Personal mit riesigen Kuhköpfen ausgestattet in einem unheimlichen Nebel zu erkennen glaubte. Als man mit meinem Krankenbett durch die Gänge zum Fahrstuhl rannte stand dieser - fast wie ein Wunder - geöffnet auf der Etage. Hätte man dieses alte schwerfällige Gefährt erst heraufholen müssen wäre es mit mir vorbei gewesen. Aber so ging die Hektik weiter bis ich, viel später, völlig erschöpft, unfähig mich zu bewegen, auf der Wachstation zu mir kam.
Ich hatte das Gefühl, in einen endlos tiefen Brunnen gefallen zu sein, um aus diesem jetzt langsam aufzusteigen. Meine Umgebung erkannte ich nur schemenhaft.
Ich erinnere mich im Nachhinein, das täglich eine weiße Gestalt an meinem Bett stand, sie schien mir aber völlig fremd. Später jedoch, als ich zurück verlegt wurde, erkannte ich die Person. Jeden Tag zur gleichen Zeit, stand er unter meinem Fenster, schaute herauf, grüßte und ging dann, um morgen wieder pünktlich da zu sein. Ein Glück wem dies passiert. Es gibt nichts schöneres im Leben, als die Gewissheit, das es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der dich liebt und auf dich wartet.
Ich hatte das Glück, meine Jugend im Elbtal zwischen Meißen und der Sächsischen Schweiz zu verleben.
In Söbringen, an den steil abfallenden Hängen zur Elbe, ließen wir uns als Kinder hinabrollen. Wir nannten es Kullermeckel. Hier im Fluss lernte ich schwimmen. ,zwisc Auch gefischt wurde noch im Strom. Herrliche Wanderungen am Borsberg, welcher sich hinter dem Pillnitzer Schloss zum Graupaer Wald hinzieht, waren voller Erlebnisse für mich.
Auf dem Hochufer führt vom Ortseingang Söbringen zum Pillnitzer Schloss ein Fußweg direkt an der Elbe entlang. In der offenen Landschaft zeigt sich dem Wanderer das am rechten Elbufer liegende Schloss mit seinen grünen, nach chinesischem Vorbild gewölbten Dächern. Es übt einen nicht alltäglichen Reiz aus, wenn beim Näherkommen das Wasserpalais langsam aus dem Schatten der Bäume tritt. Noch wenige Schritte und man befindet sich auf den Stufen vor dem Palais, diese führen hinab zum Strom. Die Pillnitzer Insel mit ihren alten Bäumen und den Mistelzweigen im Geäst liegt gegenüber, zum Greifen nah.
Oft saß ich hier, schaute in das silbern glänzende Wasser, welches die mit barockem Schwung in den Strom tauchenden Gondeltreppen weich umspülte, und sich kräuselnd flußab entfernte. Begrenzt werden die Treppen von zwei von oben herab ebenfalls auf den Fluss träumende, steinernen Sphinxe. Dachten sie so wie ich, wie weit es wohl bis zur Elbquelle sein würde? Für ein Kind unendlich auch der Weg bis Hamburg, wo sich der Fluss, dessen Wasser im Moment noch meine Hände umspülte, sich eines Tages mit dem endlosen Meer vereinen würde. Wie gerne wäre ich mitgefahren auf einer der großen Zillen, welche lautlos an mir vorbei ihrem fernen Ziel entgegen fuhren.
Ich aber blieb zurück in einer zu Stein gewordenen Sinfonie, die sich in einen hinter dem Schloss liegenden Lustgarten schwang und gegen den Bordsberg in Richtung Graupa zog, dahin, wo Richard Wagner zu seinem Lohengrin die ersten Takte erklingen ließ. Mein Lieblingsplatz war im Lustgarten die von hohen streng geschnittenen Weißbuchenhecken umgebene rote Tritonengondel, die an ihrem Bug, in ein Muschelhorn blasende Meergottheit zeigte. Im Geist fuhr ich mit dieser farbenprächtigen, reich verzierten Staatsgondel elbabwärts. Vorbei an der Hosterwitzer Kirche "Maria am Wasser", die in der Abendsonne liegend, wohl zu den unvergessendsten Eindrücken gehört, welche man hier erleben kann.
Noch eine Schönheit von besonderem Reiz übte eine große Anziehung auf mich aus: jene 1770 aus Japan hier her gebrachte Kamelie. Sie war inzwischen zu einem stattlichen Baum, von acht Meter Höhe und 8 Meter Breite herangewachsen. Ihre Blüten, welche sie im Frühjahr mit exotischer Pracht entfaltet, ziehen immer wieder die Menschen in ihren Bann. Inzwischen wusste ich alles über diesen Baum und freute mich, dass er den Brand des ihn umgebenden Hauses im Winter 1905 überlebte. Bei minus 20 Grad Celsius gefror das Löschwasser. Der völlig vereiste Baum verlor seine Blätter und konnte, einem Wunder gleich, gerettet werden. Zusammen mit ihr kamen 1770 noch drei weitere Kamelien nach Europa nach Herrenhausen, Kew Garden und Schönbrunn. Doch nur diese in Pillnitz überlebte und blüht in jedem Jahr erneut.
Eine heile Welt damals, 1947, so möchte man glauben. Zum Schwärmen war kein Anlass gegeben mit leerem Magen. Es ging uns allen schlecht, keine Kohle, kein Holz im Keller und nichts zu beißen. Das Glück, einmal satt zu sein, war mir fremd. Statt einer Scheibe Brot gab es Kunst, welche trotz des Bombenhagels auf Dresden hier im Umfeld der Stadt noch reichlich vorhanden war. Liebe und Aufgeschlossenheit für diese Dinge stammen bei mir aus dieser doch recht trostlosen Zeit. So wie sich dann das Lebensniveau langsam aber ständig verbesserte, verschwanden die Fische fast unbemerkt aus der Elbe, das Baden darin wollte keine Freude mehr machen und die Flößer blieben eines Tages ganz weg.
Als ich 1950 das 13. Lebensjahr erreichte, zogen wir aus dem Elbtal auf den Berg hinauf nach Dohna in eine über 1000 Jahre alte Burggrafenstadt.
Raubritter hausten hier vor langer Zeit und ließen meine kindliche Phantasie davonfliegen. Erst 1953 schüttete man unterhalb des Friedhofes, rechts an der Straße, die nach Heidenau hinunter führt, einen bis dahin sichtbaren Gang zu, von dem es hieß, dass hier der Graf Wetzel unter den Feldern hindurch bis an die an der Elbe gelegene Handelsstraße geritten sei.
Das erzählten sich die alten Leute. In der Schule erfuhren wir nur, dass es ein Buch geben solle "Raben flogen um Dohna". Es war leider nicht greifbar. Demzufolge sollte die stolze Burg Dohna wegen einer schönen indischen Kaufmannstochter, die gegen den Willen ihres Vaters hier bleiben wollte, vernichtet worden sein. Heute grüßen den Wanderer vom Berg herab ins Müglitztal noch die Reste der einst so stolzen Burg.
Eine andere Geschichte berichtet über den jährlich im Rathaus zu Dresden stattfindenden Tanz des Adels. Im Jahre 1400 war zu diesem Fest auch der mächtige Dohnaer Burggraf Jeschko mit seiner wunderschönen Braut geladen. Die steinreichen Dohnas beherrschten Dresden und hatten hier die Elbbrücke gebaut. Der ebenso mächtige Markgraf zu Meißen tanzte mit der Schönen aus Dohna und gab ihr einen Kuss. Der Dohnaer, nicht verlegen, gibt dem Meißner eine Ohrfeige. Das Ende vom Lied, die Meißner erobern nach dem Fest die Burg der Dohnaer und brennen sie nieder. Der Burggraf flieht mit seiner Schönen nach Böhmen zu Kaiser Sigismund. Dieser, bekannt durch sein böses Weib, die berüchtigte Barbara, begehrte sofort was ihm nicht gehörte, die Schöne aus Dohna. Der Kaiser waltete seines Amtes: Jeschko wurde geköpft, und der Mörder hat was er begehrt, eine schöne Mätresse. Die Meißner ihrerseits belohnen den Mord mit Geld und Soldaten, die der Kaiser gegen die Husitten benötigte. Auf diese Weise kamen Dresden und ganz Sachsen unter die Herrschaft der Meißner.
Diese geschichtsträchtige, heute zu unrecht fast vergessene Fleischerstadt, bot mir was ein junges Herz begehrte. In der Giebelwand des Hauses Otto-Kretzschmar-Straße 15, in welchem ich wohnte, und über dem Eingang zum Kino steckten noch die Kanonenkugeln von Napoleons Truppen, die im Jahre 1813, im September, von der böhmisch-sächsischen Grenze kommend, nach Dresden vorrückten. Ob Napoleon den herrlichen Rundblick vom Kahlbusch, einem Steinbruch, in welchem wir Seeigel und ähnliches Getier in versteinerter Form fanden, hinab ins Elbtal genauso genossen hat wie ich, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls gewohnt hat er hier in der Nähe des Marktes, an welchem auch der Sohn Martin Luthers ein ansehnliches Anwesen einmal sein Eigen nannte. In der Weite der Landschaft rund um die kleine Stadt tobten wir Kinder uns kräftig aus, es bereitete mir auch Vergnügen, abends den Alten zuzuhören, wenn sie fast vollzählig im Hof versammelt waren. Ein kleiner Flecken, von einem Schuppenhaus, einer hohen Mauer, einem Holzhaufen und Kaninchenställen begrenzt. Eine riesige Bank bot vielen Hausbewohnern Platz. Waren es mehr, holten sie Stühle auf den kleinen Hof und saßen bis die Kälte sie ins Haus zurück trieb.
Manchmal, aber das kam selten vor, gab es eine Kostprobe vom selbstgemachten Wein. Der Spender, Paul Hieckmann, bekam dann eine knallrote Glatze und wurde immer recht zutraulich zu meiner Mutter. Das konnte er sich aber abschminken, hatte er doch vorher noch damit geprahlt, noch nie im Leben seine Zähne geputzt zu haben. Als junger Kerl trat dieser als starker Mann auf dem Rummel auf, wer wollte, konnte gegen ihn kämpfen.
Ein anderer Mann erzählte von seinen Wanderjahren, die ihn zu Fuß durch ganz Deutschland führten.
Weitere Männer wohnten in diesem großen Haus nicht mehr. Väter und Söhne waren in diesem schrecklichen und sinnlosen Krieg geblieben, keiner wusste wo oder wie sie umgekommen waren.
Gab es im Hof nichts aufzuschnappen, brauchte ich nur auf den Markt zu laufen, vor den Häusern standen die Menschen in Gruppen und erzählten. Auch die Bänke um den Fleischerbrunnen waren besetzt.
Ich war gern hier, schien es mir doch als säße ich in einer Theaterkulisse. Hinter mir die Kirche mit ihrem 56 Meter hohen Turm und den zwei vergoldeten Hämmern, welche an den Absturz von Vater und Sohn bei Dachdeckungsarbeiten erinnerten. Rechts das Rathaus, Herrenhäuser, Fleischereien. Links ein über 400 Jahre altes Haus, die Sparkasse, die frühere Sieche mit Sonnenuhr und abgestuftem Giebel. Geradeaus der Ratskeller mit seinen alten Gewölben, der Apotheke und einem Herrenhaus.
Der Fleischerbrunnen erinnerte an die Pest in Dresden, wohin die Dohnaer Fleischer ihre Ware noch lieferten als alle anderen der Zunft, ihre Dienste aus Angst vor der todbringenden Krankheit, eingestellt hatten.
Rechts neben der Kirche führt ein steiler enger Weg hinunter ins Müglitztal, die Häuser hängen wie Vogelnester am Berg. Links daneben, am Rathaus vorbei, geht der Weg zur ehemaligen Burg. Das alte Winzerhaus erinnert daran, dass hier vor langer Zeit ein Weinberg ins Tal hinab führte. Dieser ist nicht mehr vorhanden. Riesige Gipshalden von nachhaltiger Hässlichkeit werden wohl die ehrwürdigen Reste der Burg um ein Vielfaches überdauern.
Am 18. März 1951 war meine Konfirmation in der Dohnaer Kirche. Natürlich musste auch ein Foto sein. Mit der Bibel in der Hand, am Tisch sitzend, wurde ich fotografiert. So sah man nicht, dass ich die Sportschuhe meiner Mutter an den Füßen trug.
Wir waren arm und immer noch froh, wenn genug zu essen auf den Tellern lag.
Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von drei Kumpels, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Doch das lockerte sich bald, da ich in einer Fabrik in Heidenau einen Metallberuf erlernte, in einer SDAG, einem Betrieb, welcher noch zu gleichen Teilen der Sowjetunion und der DDR gehörte.
Einer der Freunde lernte Elektromaschinenbauer, der andere ging weiter zur Schule bis zum Abitur und studierte dann in Karl-Marx-Stadt, Maschinenbau. Abitur war bei mir nie in Erwägung gezogen worden.
Da wir, also meine Familie, weder eine Bäckerei, Fleischerei, Tischlerei noch einen Vater besaßen, bekam ich von unserem Klassenlehrer Märbit die linke Sitzreihe zugewiesen. Rechts hingegen saßen alle förderungswürdigen Schüler, deren elterlicher Besitz dem Lehrer von Nutzen sein konnte.
Diese Klassenkameraden waren sich ihrer Privilegien voll bewusst und nutzten sie auch dementsprechend aus. Für einen Spankorb mit verschiedenen Würsten steckte eine Lehrerin sogar die Ohrfeige eines Schülers weg.
Gar nicht auszudenken, wenn ich armes Schwein ihr eine gekracht hätte. Den Arsch hätte man mir aufgerissen. Eine Frau ohne Mann war nichts wert, deren Kinder ohne Erziehung, also Grobzeug.
Später, kurz vor dem Ende meiner dreijährigen Lehrzeit im Jahre 1953, berichteten mir einige ehemalige Mitschüler vom Tode unseres, in meinen Augen doch recht korrupten Klassenlehrers. Er hatte sich am Berg mit dem Fahrrad zu Tode gestürzt.
"Jeder bekommt im Leben seine Strafe", war meine Antwort. Ich hatte nichts mehr hinzuzufügen als ein lässiges Achselzucken.
Für meine Altersgenossen war ich auf Grund dieser Äußerung das Letzte: "Typisch Fabrikarbeiter!" Erst jetzt war für mich die Ungerechtigkeit erledigt, hinaus geschrien. Für diesen tragischen Unfall war nicht ich verantwortlich.
Immer wieder trat ich gehörig ins Fettnäpfchen.
Es war üblich, dass einige meiner Lehrlingskollegen erst gegen halb zehn Uhr, also zur großen Pause, zum Unterricht in die Berufsschule kamen. An einem Dienstag probierte ich Gleiches.
Als ich bewusst zu spät erschien, las ich zu meinem Entsetzen auf einem Schild an der Tür "Wegen Grippe-Epidemie geschlossen!"
Das besagte, alle Lehrlinge muss ten sofort in ihre Betriebe zur Arbeit gehen. Spätestens um acht Uhr würden sie dort eingetroffen sein, nur ich nicht.
Noch schaute ich ratlos auf das Schild.
"So ein Mist", entfuhr es mir.
Wie ich die Truppe kannte war es aber auch möglich, dass sie sich auf den Elbwiesen herumtrieben. Würde ich jetzt zur Arbeit gehen, hieße dies Verrat und ich konnte mich auf etwas gefasst machen. Hätte ich aber erst die Elbwiesen nach ihnen abgesucht und wäre dann im Betrieb erschienen, brachte es mich an den Rand eines Rausschmisses.
Noch nie verging die Zeit so schnell wie jetzt. Was sollte ich bloß tun?
Mir kam die rettende Idee: Der Lehrling Lämm war ein christlicher Mensch und hielt sich aus derbem Unsinn heraus. Er wäre bestimmt nicht mit zu den Elbwiesen gelaufen. Nach Hause würde er gegangen sein, um zu lesen.
Ich ging in seine Wohnung, die am Weg zur Fabrik lag, klingelte: niemand zu Hause. Also waren sie alle auf Arbeit.
Ich lief rasch in die Firma, meldete meine Magenverstimmung, welche mein spätes Erscheinen rechtfertigen sollte, sah aber weit und breit keinen Lehrling.
Was ich in den nächsten Wochen durchmachte war schlimm. Für den Meister war ich ein Arbeitsbummelant, für die Kumpels ein Verräter. Pech für mich!
Mit der Zeit war auch das vergessen, der ganze Aufstand war auch mehr Schau von den Jungs.
Ich hatte jetzt meine Freunde in der Fabrik. Es war normal, dass wir streng gescheiteltes Haar trugen, fiel es in die Stirn, reichten die längsten Haare bis zum Kinn. Als ich mir eines Tages einen kurzen Igel schneiden ließ war das der anlas dafür, dass meine Mutter fast aus dem Mieder sprang und ich vor den Lehrobermeister zitiert wurde. Für ihn verherrlichte ich die "amerikanische Unkultur". Man sah die Dinge noch recht eng. An ordentliche Kleidung war überhaupt nicht zu denken. Ich trug eine Hose, die meine Mutter aus einer alten Militärdecke genäht hatte. Ein Sexidol war ich wirklich nicht, eher glich mein Äußeres einem Requisit der Geisterbahn.
Mein Kumpel Rolf war schon moderner. Er klaute seinen Eltern ab und an Geld, sparte, fuhr nach Westberlin und kam als "Stenz" wieder: hohe Porokreppsohlen an den Schuhen, Ringelsocken an den dünnen Beinen und enge Hosen, die bis zu den Knöcheln reichten.
Er gefiel mir und ich war stolz auf ihn.
Eines Tages gab er mir zwei Kohlenkarten: "Hier, du armes Schwein, die habe ich meinen Alten geklaut, die werden schon wieder Rat schaffen".
Ich war froh darüber und sagte meiner Mutter, dass ich sie gefunden hätte.
Als ich mir endlich meinen ersten Anzug gekauft hatte, einen schicken, stahlblauen Zweireiher, ging ich mit meinem Freund Rolf tanzen, natürlich auf die Burg nach Dohna. Auch viele andere Lehrlinge wollten kommen.
An diesem Sonnabend, wir arbeiteten zu dieser Zeit noch am Wochenende, war eine tolle Stimmung im Duschraum. Das Gespräch drehte sich um die Mädchen, vor allem aber, wer wohl welche bekommt, nach Hause schafft und wer weiß noch was anstellt. Eine phantasiegeladene Stimmung. Wir spritzten und tobten unter den Duschen, dass es eine Freude war.
Langsam leerte sich der Waschraum, nur wenige Duschen plätscherten noch. Neben mir in der Kabine wurde plötzlich der kunstlederne Vorhang zugezogen. Ich hörte zwar Stimmen, konnte aber nicht ausmachen wer sich da versteckte. Ich war ganz aufgeregt und konnte meine Erregung auch nicht verbergen. Plötzlich wurde ich beiseite geschoben, der Vorhang ratschte nun auch an meiner Kabine zu: Vor mir stand nackt und gut anzusehen mein Freund Rolf, dieser Weiberheld und Angeber. Ich war wie besinnungslos, zitterte am ganzen Körper und ergab mich immer freudiger der Situation, die ich mir ja eigentlich schon immer gewünscht hatte.
Obwohl es nicht das letzte Mal geschah war es nie ein Gesprächsthema zwischen uns. Wir maßen unsere Kräfte nach Herzenslust und schossen uns im jugendlichen Übermut auf das Leben ein.
Leider beendeten wir nun bald die Lehre, was den Berufsschullehrer, der für unsere Klasse verantwortlich war, veranlasste, uns noch etwas Gutes zu tun.
"Hört mal, ihr Saulackels!" So sagte er immer, wenn er gute Laune hatte. "Ich habe einen Freund, der arbeitet in einer Messerschmiede und könnte für euch alle ein schönes Taschenmesser besorgen, das braucht doch ein junger Mann".
Da es keine zu kaufen gab waren wir von seinem Angebot scheinbar sichtlich erfreut, und bestellten beinahe dreißig solcher Messer. Unser Lehrer, Fritz John mit den kleinen Schweinsäugelein, trat dann auch bald vor uns hin, mit einer schweren Tasche, gefüllt mit Messern. Überglücklich leerte er diese und zeigte vor, was er für uns erstanden hatte.
Mein Intimus Rolf war der erste, der sich meldete und sagte: "Herr John, ich habe kein Messer bestellt", sah mich drohend an und sprach: "Du vielleicht?" Ich schüttelte sofort den Kopf.
Fritz stand wie versteinert am Pult vor seinen Messern und begann zu kochen. Plötzlich war ein Lärm in der Klasse, alles bog sich vor Lachen, keiner konnte sich erinnern, jemals ein Taschenmesser gewollt zu haben.
Er tat mir leid, der gute Fritz, als er seine Messer zusammenpackte und verschwand. Später, am Ende unserer Lehrzeit, schenkten wir ihm, zum Abschied eine geschnitzte Schreibtischgarnitur, ihm traten die Tränen in die Augen und wir schieden als Freunde.
Nach der Freisprechung in Dresden tranken wir im "Hexenhaus" zwischen den Trümmern am Fucikplatz wie echte Männer Molke-Bier, ein scheußliches Gesöff aus den Rückständen der sauren Magermilch und aßen jeder eine Bockwurst. Ein Fest für uns.
Die Wurst natürlich gegen Abgabe von Lebensmittelmarken. Reisemarken hatten wir uns besorgen müssen, diese hatten auch außerhalb des Wohnortes Gültigkeit.
Das lang ersehnte Ziel war erreicht. Wir waren nun Gesellen, erwachsen.
Aber wer ist das schon mit siebzehn Jahren? Eine gewisse Angst kam in mir manchmal hoch, welche mich darauf hinwies, dass alle Fehler, die ich ab jetzt machte, zu meinen Lasten gingen. Keiner würde sich mehr an meine Mutter wenden, wie bisher.
Vor sich und der Gesellschaft zu bestehen, eine neue Herausforderung, der man sich stellen musste. Keine leichte Aufgabe. Plötzlich sah ich das Leben der älteren Kollegen, denen man bisher doch hin und wieder und vor allem hinter ihrem Rücken, einen Vogel gezeigt hatte, in einem völlig anderen Licht.
Mit der erfolgten Freisprechung war auch der letzte Tag unseres Zusammenseins gekommen. Einige von uns gingen in die Flugzeugindustrie, andere wurden im Betrieb den Brigaden zugeteilt. Ich wurde ins Konstruktionsbüro übernommen.
Es gab auch einige, die der Verlockung des "goldenen Westens" nicht widerstehen konnten und bei Nacht und Nebel ihre Heimat für immer verließen.
Ich war Sachse, stolz darauf und sah, dass es bei uns hier genügend zu tun gab. Noch standen überall die gespenstig mahnenden Ruinen des letzten Krieges umher, was sollte ich woanders als in der Heimat? Marmeladenschnitten nahm man hin und wieder gezwungenermaßen immer noch mit auf Arbeit, aber das ging allen so.
Trotzdem verspürten wir auf allen Gebieten des Lebens einen Ruck nach vorn. Es ging uns immer besser und das war doch etwas.
In unserem Betrieb tat man für meine Begriffe das einzig Richtige, indem man gute Lehrlinge nach ihrer Ausbildung sofort weiter qualifizierte. So erhielt die Firma einen Intelligenzstamm, der von der pieke auf im Stoff stand, und nicht nur über theoretische Kenntnisse verfügte. Mancher in der Verantwortung stehende, hochgebildete Mensch unserer Zeit wird diese praktische Ausbildung schmerzlich vermissen. Es ist ein Unterschied ob man selbst im Schichtsystem als Leistungslöhner gearbeitet hat oder die Maschinen nur aus dem Technikum der Hochschule kennt.
Die Menschen lernt man am besten kennen, wenn man mit ihnen zusammenarbeitet und ihre Pausengespräche hört. Hier entwickeln sie ihre für sie reale Philosophie, die man ebenso gelebt haben muss, wie man auch ihren Dialekt sprechen sollte.
Als ich es zum Teilkonstrukteur gebracht hatte, wechselte ich den Betrieb aus ganz privaten Gründen. Von einer Schulfreundin erfuhr ich, dass in ihrem Betrieb, den Fluorwerken in Dohna, ein bildhübsches Mädchen arbeite, bei der alle abblitzten.
"Genau das richtige für mich", sagte ich zu ihr und bewarb mich in der Projektierungsabteilung.
Das alles ging derart schnell, dass ich schon beim nächsten Betriebsvergnügen dabei war: Eine riesige Faschingsfete, bei der zwei betriebseigene Schweine geschlachtet wurden.
Damals durchaus üblich, Gärtnerei und Schweinezucht unterhielt fast jede Firma, wenn sie nur die geringste Möglichkeit dazu hatte. Heute unvorstellbar, aber eine gute Sache, welche einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Hebung des Betriebsklimas leistete.
Auf diesem Ball hatte ich die erste Gelegenheit, die stolze Schöne in die Arme zu nehmen. Wir tanzten einige Male, wobei ich mir nichts anmerken ließ und sie auch am Abend nicht weiter bedrängte. Ich übte Zurückhaltung und das war gut so.
Von meinem Arbeitsplatz aus konnte ich den gesamten Werkshof übersehen und wusste es täglich einzurichten, dass wir uns begegneten, wenn sie die Proben für das Labor aus der Produktion holte. Wir grüßten uns freundlich, blieben auch schon mal stehen, um uns kurze, belanglose Dinge zu sagen.
Eines Morgens lachte sie über das ganze Gesicht und erklärte, ich solle doch schnell mal in die Natrium-Fluorid-Anlage gehen. Dort würde gerade der Deckel von einem Bottich entfernt, in welchem Herta die ganze Nacht zugebracht habe.
Neugierig geworden sah ich, wie mit einem Kranauto der Riesenbottich geöffnet wurde. Von zwei Männern gestützt konnte Herta, ein großes dickes Frauenzimmer, ihr Gefängnis verlassen. Die Ärmste war einem Monteur in den Kessel gefolgt, ließ sich dort einen Liebesdienst erweisen, kam aber nicht wieder durch das enge Mannloch, den Einstieg, zurück, durch welches sie sich hineingezwängt hatte, sie war zu gepolstert. So mußte sie zum Gaudi aller Kollegen die Nacht in dem Kessel verbringen, da erst am Morgen mit ihrer Befreiung begonnen werden konnte.
Für mich war es eine Freude, hier im neuen Betrieb zu arbeiten, traf ich doch jeden Tag meine Freundin.
Die Dinge entwickelten sich gut zwischen uns, bald waren wir unzertrennlich. Als meine Mutter davon Wind bekam wurde sie teufelswild und sagte: "Gib erst mal mehr Kostgeld, ehe du dich mit den Weibern herumtreibst!"
Dabei schaute ich einem Kerl lieber heimlich auf die enge Hose, die tolle Puppe befriedigte lediglich meine Eitelkeit. Diese Tatsache erschreckte mich.
Wir beide waren noch unschuldig, was uns natürlich keiner glaubte.
Geld hatte ich sehr wenig. In der Woche bekam ich vierzig Mark Abschlag ausgezahlt, immer donnerstags. Das war dann der Tag, an welchem wir Kollegen uns in der "Todesschänke" direkt am Friedhof mehrere Bierchen leisteten. Es war, wie man so sagt, eine reine Männerkneipe.
Hier in der "Gaststätte Erholung" sorgte ein elektrisches Klavier für Stimmung. Steckte man einen Groschen in den Schlitz, der sich in der Wand neben der Theke befand, schon klimperte der Kasten los. Oben auf dem Klavier lagen so an die fünfzig Pappschachteln, welche die Rollen mit den gelochten Papierstreifen enthielten, über die das Instrument gesteuert wurde.
Es kam vor, dass die Stimmung so hoch schlug, dass wir nach der Polizeistunde bei der Wirtin in der Küche weiter tranken und sangen. Das war gar nicht so einfach, denn wir mussten dann erst einmal die große Zinkbadewanne hinaustragen und den riesigen Wassertopf vom Herd nehmen, denn jeden Donnerstag war bei Mariechen Badetag. Böse und geil saß dann der Freund der Wirtin in der Ecke. Ihm hatten wir oftmals die Tour vermasselt. Er war schon Rentner und kam extra angeradelt zum Baden, da sie getrennt wohnten, wohl wegen der Leute.
Ich hatte also zu tun, dass ich mit meinem Geld über die Woche hinkam. Zur Spitze, der Restzahlung, welche bei 200 Mark lag, gab ich meiner Mutter 60 Mark Kostgeld. Frühstück und Mittagessen nahm ich im Betrieb ein. Große Sprünge konnte ich nicht machen, Geld war immer knapp.
Mein Chef war für mich schon alt, 31 Jahre, ich gerade 19. Natürlich waren wir per Sie. Gelernt habe ich von ihm viel, er achtete auch auf Manieren und forderte uns Kollegen auf, jederzeit Etikette zu wahren.
Mit mir im Zimmer arbeitete noch ein Konstrukteur, eine Kapazität aber schwerfällig wie ein Bär. Wir beide saßen sozusagen im Vorzimmer des Chefs, dieser musste, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen, zwangsläufig an uns vorbei.
Auf unserer Etage befanden sich noch die Investabteilung, die Lichtpauserei sowie das Fotolabor.
War unser Chef nicht im Hause, gingen wir schnell mal auf ein Schwätzchen nach nebenan. Oder wir aßen, und das war das Schlimmste für ihn, Erdnüsse. Dann sah es auf unseren Schreibtischen, und darunter schweinig aus. Überall lagen die Hülsen herum.
Für den heutigen Tag hatten wir Erdnussverbot und sollten uns nicht aus dem Zimmer wagen, da sich einige hohe Herren zu einer Beratung bei ihm angesagt hatten. Ich war beauftragt, auf seine Anweisungen hin, sofort die geforderten Projektmappen ins Zimmer zu bringen, höflich und korrekt.
Die Besucher kamen aus Leipzig, waren aber um zehn Uhr noch nicht anwesend. Ich sagte zu Alfred, dem Bären: "Wenn die nicht kommen hole ich eine Tüte, der Konsum hat noch auf".
Zehn Minuten später knackten wir fröhlich Erdnüsse und die ersten Schalen zierten schon den Fußboden. Von unserem Chef keine Spur, wahrscheinlich wartete er am Werktor. Sollten sie kommen, sahen wir sie doch rechtzeitig von hier oben durchs Fenster.
Das Telefon klingelte. "Das Fotolabor ist dran", sagte Alfred, "du kannst Passbilder machen lassen". "Prima, dass es heute schon klappt", sagte ich und verschwand. Als ich dort eintraf lachten die Mädchen: "Na hör mal, zieh doch ein Sakko an, im Hemd geht das nicht, wie du aussiehst!"
Kurz entschlossen rief ich Alfred an und der erschien mit dem Sakko unseres Chefs. Ich zog es über, Alfred blieb sitzen und poussierte mit den Mädchen.
Gerade als ich in der fremden Jacke Pose vor einer weißen Leinwand einnahm, kam unser Chef, einer Furie gleich, ins Labor gestürmt. Schnell gab ich ihm die Jacke und er verschwand. Mit langen Gesichtern sahen wir ihm nach, keiner hatte mehr an die Besucher gedacht.
Ich wusste Rat, rief Ingrid von Invest an, worauf sie unsere Nussschalen wegkehrte, Kaffee kochte, die Mappen ins Zimmer trug und so die Situation rettete. Sie war auch viel hübscher als Alfred und ich zusammen. Natürlich bekamen wir im Nachgang gehörig den Kopf gewaschen, wir nahmen es hin wie Sünder, arbeiteten sehr fleißig und waren bald wieder mit unserem Meister versöhnt.
Bei uns im Haus wohnte ein fesches Weib, Lotti. Von ihr wusste ich, dass mein Chef hier oft Trost und Zuspruch suchte. So erfuhr ich schon vorher, wenn ein Schäferstündchen angesagt war. Da er zu Hause den biederen Ehemann spielte, fielen diese Abenteuer oft in die Arbeitsstunden, das ging gut, denn Lotti war Schichtarbeiterin. Er erzählte uns dann immer von dringenden Besprechungen in anderen Betrieben, ich solle nur sehen, dass hier alles gut ablief und alle Telefonate genau notieren.
Manchmal rief er auch zwischendurch an und erkundigte sich ob alles in Ordnung sei. Ich beruhigte ihn und sagte: "Bringen sie nur ihre Geschäfte in Ruhe zu Ende, hier läuft alles bestens."
Mit der Zeit schien er an meinem Unterton etwas zu bemerken und fragte mich nach Lotti aus, die er angeblich durch seine Frau kennengelernt hatte. Ich gab mich gleichgültig und naiv, das beruhigte ihn.
Trotzdem arbeitete Lotti im Bett eine kleine Gehaltserhöhung für mich heraus. Aber das blieb immer unser Geheimnis. Wir sprachen nie darüber, wussten aber beide Bescheid.
Mein Chef setzte dafür alle Hebel in Bewegung, dass ich studieren konnte. Ich fuhr schließlich nach Bernburg an die Ingenieurschule, bestand bei einem Aufnahmegespräch und wurde vom Betrieb zum Studium delegiert. Ich war glücklich, hatte aber berechtigte Angst, da ich kein Abitur besaß. Immerhin bescheinigte man mir aber gute fachliche und gesellschaftliche Arbeit. Ob dies an der Schule zog glaube ich kaum.
Eine Aufgabe, die ich beim Aufnahmegespräch in Mathematik zu lösen hatte, lautete:
Eine auf den ersten Blick einfache Sache, aber für einen Achtklassenschüler nicht so leicht lösbar, da x unendlich ist.
Dass ich es geschafft hatte, gab mir Selbstvertrauen, ohne dem im Leben nichts läuft.
Bevor ich in meinem Betrieb die Segel strich jagte ich meinem Chef noch einen gehörigen Schrecken ein, aber nicht etwa abt-sichtlich.
Alles begann damit, dass mein Boss seit Tagen mit dem Autohaus telefonierte, um ein Moped zu ergattern und zwar den neuen Typ, das Modell mit den kleineren Rädern. Er beendete das Gespräch mit dem Lieferanten immer mit den Worten: "Inzwischen vielen Dank", oder "erst mal vielen Dank". Daraus entnahm der Verkäufer natürlich, dass ihm ein schönes Trinkgeld sicher sei. Die Verkaufsstelle bekam endlich drei der begehrten Stücke angeliefert, wobei mein Chef auch zu den bevorzugten Kunden zählte. Er gab Befehl, dass wir sofort mit seinem alten F 8 ins Autohaus fahren sollten und ich dann mit dem neuen Moped hinter ihm her nach Hause folgen sollte. An der Tankstelle, in der Nähe der Pestalozzi-Schule Heidenau würde er auf mich warten, um das Moped noch aufzutanken.
Das Gefährt wurde gekauft, der Verkäufer bekam keinen Pfennig Trinkgeld, was mir peinlich war. So gab ich ihm zwei Mark, die er verächtlich einsteckte. Darüber ärgerte ich mich nun wieder.
Mein Chef riet mir, mit dem Moped erst einmal auf der Nebenstraße einige Male hin und her zu fahren, damit ich sicher würde, dann sollte ich ihm folgen. Er fuhr schon los zur Tankstelle.
Stolz wie ein Frosch auf der Gießkanne kurvte ich auf der Straße herum und nahm mir Zeit. Plötzlich tauchte knatternd ein fürchterliches Gefährt auf, ein alter, verrosteter Drahtesel mit einem MAV-Seitenbord-Motor, wie sie vor einiger Zeit an die Fahrräder angebaut wurden. Ein scheußlicher Anblick. Aber erst der Krach, den diese lahme Ente vollführte, war entsetzlich. Der junge Kerl, welcher auf diesem Bock saß, sah neidisch zu mir herüber und versuchte, in Rennfahrerpose mit mir Schritt zu halten. Es gelang mir nicht, ihn abzuschütteln. Schließlich rief er mir zu: "Ist das dein Moped? Ich nickte stolz. "Lass mich mal fahren!"
Ich zeigte ihm einen Vogel.
Er wurde aber so aggressiv, dass er mir regelrecht in die Parade fuhr. Aus Angst vor Kratzern und Schrammen hielt ich an, er auch.
"Lass mich doch bloß mal hin und her fahren, bekommst mein Fahrrad."
"Du lieber Gott! Denkste ich setz mich auf diese alte Kiste, spinnst wohl?"
Er gab nicht auf - und ich gab seinen flehenden Augen schließlich nach: "Aber nur einmal hin und her! Verstanden?" Hatte der Augen!
Wir waren handelseinig. Er fuhr davon. Ich knatterte ihm hinterher.
Nach der zweiten Runde stieg er immer noch nicht ab, sondern wollte wissen wo ich wohne. Ich konnte ihm nur zurufen, dass er zur Tankstelle fahren solle.
Mir war hundeelend.
Schon hatte ich ihn aus den Augen verloren. Puffend und krachend erreichte ich auf dem schrecklichen Stuhl die Tankstelle. Erleichtert sah ich den Jungen mit dem Moped.
Das Gesicht meines Chefs vergesse ich nie. Dass er mir übelste Vorhaltungen machte, störte mich wenig. Vielmehr ging es unter meine Haut, dass der Junge enttäuscht sagte: "Ach, das ist gar nicht dein Moped, warum haste das nicht gleich gesagt?"
Er fuhr, mich keines Blickes mehr würdigend, knatternd davon, wir unsererseits nach Pirna, nur blieb mein Chef jetzt hinter mir.
Ich ging nach Bernburg zum Studium. Meine Freundin Gudrun schrieb mir später aus München, wohin ich nachkommen sollte, sobald ich mit dem Studium fertig sei.
Da dies für mich kein Thema war, ließ ich mir von ihr nur noch einige Bücher schicken, darunter auch "Der alte Mann und das Meer", das bei uns ebenso ungeliebt war wie die Bücher von Karl May.
Es war ja erst 1957.
Gudrun schrieb mir später, dass sie einen Rechtsanwalt geheiratet habe.
Den Verlust meiner Freundin verwand ich schnell. Eines machte mir fortan mehr zu schaffen: ich verglich jede neue Liebe mit
Zwanzig Jahre alt: Inbegriff der Jugend, noch leuchten die Augen, beim Lachen zeigt sich ein beneidenswertes, weißes Gebiss, noch federt der Körper bei jedem Schritt...
Was nützt das schon alles, wenn man wie ich, aufs Geld, das erste Stipendium wartet?
Eine Armbanduhr besaß ich ebenso wenig wie ausreichend Schuhe, Strümpfe oder Hemden. Ich bekam im Monat 160 Mark auf die Hand, davon zahlte ich 30 Mark Miete. Geraucht wurden Zigaretten zu 10 Pfennig das Stück, meist Marke: "Turf". Mit viel Glück bekam ich hier oben in Bernburg die flache "Stambul" in der gelben Zehnerpackung aus meinem geliebten Dresden.
Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, das Geld reichte nie, aber das war nicht das Problem da es fast alle betraf. Wir hungerten und borgten uns durch. Es kam schon vor, dass wir zu zweit, ganze 1,20 Mark-Ost, über das Wochenende zur Verfügung hatten.
Wir, das waren Wolf und ich. Da wir gemeinsam privat wohnten, also nicht im Internat, so wie die Anderen, deshalb wirtschafteten wir auch gemeinsam. Das war effektiver. Während Wolf ein Naturtalent war, musste ich lernen. Hinzu kam noch, dass ich kein Abitur besaß und in fast allen Fächern einen enormen Nachholbedarf aufwies.
So kam es auch, dass ich am Himmelfahrtstag allein daheim saß um die Buna- und Ammoniaksynthese auswendig zu lernen. Was für die anderen nur Wiederholung war, stellte sich mir als völlig unverständliches Neuland entgegen. Hier half selbst Fleiß nicht mehr da die Voraussetzungen fehlten. Dabei war ich von der Grundeinstellung her, eine Siegernatur und kannte meine Grenzen sehr gut. Was mich zur Raserei bringen konnte war meine grenzenlose Hilflosigkeit. Trotzdem gab ich nicht auf, verbissen kämpfte ich weiter - unter dem Lutherischen Motto: Und wenn morgen die Welt untergeht, pflanze ich heute noch einen Baum!
Einen gehörigen Hieb versetzte mir fast immer unser Mathe-Dozent. Er betrat das Klassenzimmer, legte die Arbeitshefte vor sich aufs Pult, genoss die quälende Stille im Raum und glotzte mit seinen Froschaugen durch die Reihen als wolle er jeden Moment das Evangelium verkünden. Dabei stellte ich ihn mir nackt vor und konnte ein Grinsen schwer vermeiden, was ihm natürlich nicht entging.
Und dann kam es: "Meine Herren, heute ist keine Fünf dabei."
Er nahm Platz während ein erleichterndes Aufatmen unsere Antwort war.
Kam ich dann an die Reihe wurde seine Stimme bedeutungsvoll angehoben indem er sagte: "Ihnen, mein Herr, gebe ich doch noch einmal eine Fünf, obwohl es eine Vierminus ist, zur Aufmunterung, nicht in Ihren Übungen nachzulassen."
Wie lange würde ich diese Schläge unter die Gürtellinie noch aushalten, was sollte ich tun? Mehr als Arbeiten kann der Mensch nicht und der Tag hat nun einmal nur 24 Stunden. Ich wünschte diesem Ekel die Pest an den Hals.
Aber es gibt nicht nur bösartige Lehrer, sondern nicht minder hinterhältige Mitschüler.
Dass ich auch in Russisch keine Leuchte war, ist erklärlich. So saß ich eines Abends vor einer Übersetzungsarbeit und lernte eifrig, leider mit dem Erfolg, dass nichts hängen bleiben wollte. Ich war wie leer gepumpt.
Da sich - wie so oft - bei uns auf Bude, schon wieder ein unternehmungslustiges Völkchen eingefunden hatte, gab ich ihrem Drängen nach, doch mit in die "Schwarze Johanna" zu gehen. Weil ich, wenn gut aufgelegt, durchaus eine Stimmungskanone sein konnte, versprachen sie mir, am nächsten Tag die Übersetzung zuzustecken. Ich willigte ein, wir gingen in die an der Bernburger Saale Schleuse gelegene Spelunke und tobten uns nach Herzenslust aus. Für heute waren die Sorgen vergessen, doch das böse Erwachen stand bevor.
Um mich herum raschelten die Blätter, alle schrieben, nur ich kaute am Stift und wartete auf die versprochene Übersetzung. Die Dozentin, vor welcher ich alle Hochachtung hatte da sie mehrere Sprachen perfekt beherrschte und irgendwie von englischer Vornehmheit war, sagte zu mir: "Was ist denn mit Ihnen? Es wird Zeit, Sie haben noch gar nichts auf Ihr Blatt gebracht."
"Ach", sagte ich lässig, "erst lese ich mir den Text in Ruhe durch, übersetze ihn im Kopf, hin geschrieben ist er dann schnell."
Husten und Feixen wurden in der Klasse hörbar. Die Lehrerin mahnte zur Ruhe und verließ mich mit einem ungläubigen Blick auf mein leeres Blatt Papier.
Endlich purzelte ein kleiner Papierknäuel auf meinen Platz, ich entfaltete ihn und schrieb wie ein Verrückter ab was da stand.
Als die Arbeit zurück gegeben wurde, bekam ich wieder eine Fünf: Meine Übersetzung hatte einen Besuch im Moskauer Zirkus zum Inhalt. Alle anderen hatten, und das war auch gefordert, einen Besuch in der Stadt Leningrad aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.
Die Lehrerin schien die Schweinerei mitbekommen zu haben und sagte mir freundlich: "Zur nächsten Stunde prüfe ich Sie mündlich, dann können Sie Ihre Fünfausmerzen."
Wieder einmal lernte ich wie besessen, bekam eine Zwei, war aber für die Zukunft gewarnt. Es geschah mir ja recht, weshalb war ich meinem Grundsatz nicht treu geblieben, nicht abzuschreiben?
So konnte es mit mir nicht weitergehen, ich musste mir etwas einfallen lassen, etwas tun. Mit Fleiß allein war es nicht zu schaffen. Was mir fehlte waren die Grundlagen. Helfen konnte ich nur mir selbst, aber wie?
Es gab einen Dozenten an der Schule, welcher im Ruf stand, sehr gescheit zu sein, er würde an freien Tagen, so als Hobby, schwerste Aufgaben aus der Physik lösen, dabei ging sein Ehrgeiz oft bis zur Selbstaufgabe. Tatsächlich war er nach den Feiertagen oft so überarbeitet, dass er krankheitshalber ausfiel.
Er war es, den ich mir als Retter ausgesucht hatte. Sympathisch war er mir nicht.
Ich ging nach dem Unterrichtende zu ihm. Seine schwarze Haarsträhne, welche ihm immer ins Gesicht fiel, obwohl er sie entweder mit der Hand oder ruckartiger Kopfbewegung zurück beförderte, machte mich regelrecht nervös.
Als ich ihm meine missliche Lage geschildert hatte, sagte er: "Besuchen Sie mich jeden Mittwoch ab 19 Uhr in meiner Wohnung, dann werden wir sehen", und dabei lächelte er sogar.
Ich war selig, ging zu ihm, arbeitete noch mehr. Ich verschwieg es meinen Kumpels, wohl weil ich mich damals meiner geringen Schulbildung schämte. Angeblich traf ich mich mit einem Mädchen. Da nun alle auf sie gespannt waren, hatte ich noch ein Problem am Hals. Eine Frau musste her, und das alles ohne Geld, eine fast unlösbare Aufgabe für mich. Mein Lehrer war ein Genie, er tat das einzig Richtige, er nahm mir die Angst vor endlosen mathematischen Formeln, ein-flach vor dem mir noch unbekannten. Aus einer kleinen, mir verständlichen Sache, entwickelte er mathematische Zusammenhänge und erweiterte sie, dass es ein Vergnügen wurde, zu arbeiten und zu erleben, wie eine große, fürchterliche Formel mit Leichtigkeit entstand. Einmal sagte er: "Das Integralzeichen ist in der Mathematik wie ein Gartenzaun, ein symbolisches Zeichen. Bis hierher durfte früher jeder kommen, dahinter gab man sich wissenschaftlich und tat geheimnisvoll. Bewusst trennte man mit diesem Zeichen die Menschen in zwei Lager."
Wir übersprangen diese Hürde, integrierten, differenzierten und ich merkte wie ich lockerer wurde. Hier, hinter diesem Gartenzaun, in der höheren Mathematik, wurde es erst interessant.
Ohne Angst begab ich mich zur nächsten Matheprüfung. Drei gepfefferte Aufgaben waren zu lösen. Um mich herum Nervosität, hilfesuchende Blicke nach allen Seiten, nur nicht zu mir. Im Mittelgang lief langsam, nach allen Seiten schauend, das alte Ekel, welches sich bestimmt schon wieder freute, mir "nur eine Verwarnungs-Fünf" zu verpassen.
Rechts von mir saß mein Freund Wolf, er das Naturtalent, schien auch zu schwimmen. Als die Luft rein war, schaute ich zu ihm rüber und bemerkte, dass er sich festgefahren hatte, auf dem falschen Weg war.
Ich flüsterte: "Wolf, dritte Zeile von oben ist falsch". "Ruhe!" kam es von vorn, "sonst nehme ich Ihnen die Arbeit weg".
Sollte er doch, Fünfen hatte ich ohnehin genug. Schlimmer für mich war der Blick meines Freundes. Er schaute so geringschätzig zu mir herüber, als wolle er sagen: "Du doch nicht!"
Obwohl, mir seine Überheblichkeit weh tat, schrieb ich die Lösung auf einen Zettel, welchen ich ihm mit dem Ellenbogen hinüber schob. Ohne diesen sich anzusehen, steckte er ihn in seine Hosentasche.
"Hornvieh!" sagte ich leise und gab meine Arbeit zum Erstaunen aller ab.
Mein Freund sah mich mit eingefrorenem Lächeln, spöttisch hochgezogenen Mundwinkeln, an. Der Dozent hob mit spitzen Fingern sofort meine Arbeitsblätter hoch, ich konnte seine Gedanken lesen: Wo hat dieser Kerl bloß abgeschrieben?
Als die Arbeiten zurück gegeben wurden, bekam ich als einziger in unserer Ecke eine Dreiplus.
"Zur Warnung, eigentlich wäre es ja eine Zwei", sagte dieses Mistvieh.
Die Klasse war erstaunt, Wolf hatte heute eine Vierminus. Er schämte sich jetzt, wurde blutrot und sah mich achselzuckend an.
Durch die Hilfe meines heimlichen Lehrers gelang es mir, mich in fast allen Fächern zu verbessern. Meine Durchschnittsnote lag bald bei einer guten Drei, der Eins des kleinen Mannes. Was wollte ich mehr?
Zu Hause entwickelte ich nun mit Wolf, welchen ich von meinen heimlichen Stunden erzählt hatte, eine neue Lernmethode. Wir legten uns in die Ehebetten, lasen jeweils jeder für sich ein Kapitel des Fachtextes durch und sprachen ihn dann jeder laut dem anderen vor, während der sofort korrigierte. Am Schluss stellten wir uns knifflige Fragen, bis wir total kaputt einschliefen.
Der Donnerstag war grundsätzlich arbeitsfrei. Kinotag, anschließend Kneipe, auch ohne Geld.
Sonnabend, Sonntag fuhren wir nach Calbe zu den Eltern meines Freundes. Es waren einfache Leute, welche in einer Gurkeneinlegerei schwer arbeiteten und ihre Ersparnisse dem Studium ihres Jungen opferten. "Eigentlich", so sagten sie mir einmal im Vertrauen: "sollte unser Wolf ja Bankangestellter werden, aber Ingenieur ist auch nicht schlecht."
"Seht nur zu, dass ihr es schafft, die Blamage hier im Ort wäre doch schlimm, wenn ihr von der Schule fliegt". In ihren Worten lag keine Drohung, ein Bitten war es. Hatten wir doch schon oft durchblicken lassen, dass sie auch einmal mit dieser Möglichkeit rechnen müssten. Zumal es einem recht bekannten Handballer aus dem Ort schon passiert war und gerade von dem hatte es keiner erwarte.
Wolf war zu dieser Zeit erst 18 Jahre, lang aufgeschossen, blond, mit großen, blauen Augen, herrlich großen Zähnen, welche zu seinem Ärgernis oben in der Mitte eine Lücke aufwiesen.
Seine Mutter sagte: "Der kommt in der Welt weit herum, alle mit so einer Zahnlücke tun das."
In diesem Punkt irrte sie sich gewaltig: ihr Wolfi blieb im Ort, brachte es im Beruf zu etwas und als er zwei Kinder groß gezogen hatte ging seine Ehe zu Bruch. Mit seinen Eltern hatte er sich entzweit, schuld war seine Frau.
daran war zu dieser Zeit noch nicht zu denken, noch lagen wir seinen Eltern auf der Tasche. Mich schlossen sie mit in die Familie ein, stellten sogar ein zweites Bett im Kinderzimmer auf. Auch bekam ich am Sonnabend, genauso wie Wolf und dessen Vater, fünf Mark von der Mutter ausgehändigt.
Dann zogen wir los ins "Cafe Röckchen-hoch" wie man im Volksmund sagte. Selbst eine gläserne Tanzfläche hatte eine der Gaststätten aufzuweisen, so etwas kannte ich bisher noch nicht. Hier waren wir Stammgäste.
So wie mich meines Freundes Eltern gut aufgenommen hatten, so herzlich wurde ich auch von den ehemaligen Arbeitskollegen von Wolf akzeptiert. Da sie alle schon gut verdienten waren sie auch nicht kleinlich im Ausgeben und oft kam uns der "Pfeffi" zu Mund und Nase wieder heraus.
Da ich aus der Dresdener Gegend kam, hatten alle irgendwie vor mir einen unerklärlichen Respekt. Mein Wort galt etwas, ich war in gewisser Form überlegen, einfach freigeschwommener, war schon in der Oper gewesen und hatte den Krieg hautnah mit Erleben müssen. Für sie hier eine ferne, fremde Welt, davon hatten die meisten nur gelesen. Ich war für sie "Großstädter" und bekam deshalb von der Mutter meines Freundes auch keine Dreckarbeit übertragen, ich musste zum Fleischer und Bäcker gehen während Wolf die Kohlen aus dem Keller holen musste. Eigens für mich wurde ein komplettes Essbesteck angeschafft, die ganze Familie aß jedes Gericht mit dem Löffel. Am schönsten fand ich ihre Ungezwungenheit, alle Speisen, die mir ungewohnt oder zu fett waren, konnte ich dem "Pupper", das war der Vater, auf den Teller geben, das störte keinen.
Ich fühlte mich hier wohl wie bisher nie in meinem Leben.
Während Wolf ein richtiger Weiberheld war hielt ich mich hier zurück. Er dengelte alles was ihm unter die blauen Augen kam. Das Wort "bumsen" gab es damals noch nicht.
Mir waren die Mädchen hier zu laut, ihre Stimmen waren schrill und wenn sie lachten hielten sie sich keineswegs zurück. Sie waren überhaupt nicht vornehm. Sie benahmen sich so ungezwungen als wären sie auf dem Kartoffelfeld. Witze erzählten sie wie die Kerle, je ordinärer, um so besser.
Trotzdem kam ich gut mit ihnen aus, aber zu nahe kam mir in Calbe nur eine: Ein schon älteres Kaliber, etwa um die Dreißig, so sah ich es als Zwanzigjähriger. Sie tanzte den ganzen Abend mit mir, alle lachten schon und warteten wie diese zarte Liebe wohl enden mochte. Ich selbst war unentschlossen und ließ die Sache an mich herankommen.
Sie sagte beim Tanzen: "Kleiner, heute lern ich Dir's!" Dabei war ich einen Kopf größer als sie. Schon sah ich mich in einem großen Bauernbett und die Kopfkissen über mir zusammenschlagen. Unter mir, über mir, neben mir, überall dieses wilde, schrille, wollüstige Weib, was bestimmt die ganze Nacht keine Ruhe geben würde.
Als nur noch die Notbeleuchtung in der Kneipe brannte, die Stühle schon hochgestellt wurden, gab mir das raffinierte Stück ihre Handtasche und sagte: "Hier mein Kleiner, pass schön auf sie auf, ich gehe schnell noch einmal austreten, dann gehen wir zu mir."
Lachend verließ sie mich und ich stand hilflos mit der Handtasche zwischen den Beinen im Lokal. Die letzten Gäste wünschten mir viel Spaß, schönen Abend und sparten nicht mit Anzüglichkeiten. Ich Ärmster musste hier mit der Tasche warten.
Plötzlich, ich weiß nicht wie, nahm ich die Tasche und hing sie einfach an den hinter mir stehenden Garderobenständer, hier musste sie vorbei und konnte diese nicht übersehen. Ich sah noch die Tasche am Ständer baumeln und floh aus der Gaststätte, tauchte in der Finsternis unter und hörte dann eine beleidigte angetrunkene Frau fürchterlich schimpfen. Was sie über mich in die Nacht hinaus schrie in ihrer Wut und verletzten Eitelkeit, beleidigte mich nicht. Sie tat mir auch nicht leid, ich konnte einfach nicht, bekam eine Gänsehaut und lief davon.
Als Wolf nach Hause kam wunderte er sich, dass ich schon im Bett lag. Ich erzählte ihm die Geschichte, worauf er sagte: "Also müssen wir für die nächste Zeit das Lokal wechseln", wobei er in sich hinein lachte.
"Hätte mich auch gewundert, wenn du mit ihr gegangen wärst. Als ich dich aber mit ihrer Handtasche sah, dachte ich, jetzt hat sie ihn."
Hier draußen auf dem flachen Lande, schien mir, wurde nur gearbeitet, getrunken, mit der Frau gezankt, Kinder gezeugt, gearbeitet, getrunken, mit der Frau gezankt...
Bei mir schloss sich dieser Kreis nicht, dazu musste eine Frau her.
Sie war schön und reich, fuhr einen "Wartburg" und gefiel mir auf den ersten Blick. Dass ich Student war, wertete ihr Kleinstadtimage wiederum auf. Ich wurde ausstaffiert und auf Partys herumgezeigt. Das Geld, welches ich sie kostete, war nichts gegen die neidischen Blicke ihrer Freundinnen. So tat ich mein Bestes, um sie bei guter Laune zu halten, zeigte mich von der angenehmsten Seite, auch in viel zu enger und zu kleiner Badehose. Ich lockte mit meiner zur Schau gestellten Männlichkeit nicht nur Bienen, sondern auch manche Drohne an und war's zufrieden.
Oft schlief sie mit bei uns auf der Studentenbude und verließ dann zum Ärger der Wirtin das Haus, ohne das Bett gemacht zu haben.
Das hatte ich dann am Nachmittag auszubaden: „Ihr feines Dämchen hat das Haus wie ein Schwein verlassen", war der Kommentar der Vermieterin. An solchen Tagen durfte ich dann mein Bett selbst bauen. Wohl aus ökonomischen Gründen hatte sich mein Freund Wolf nun einer Fleischertochter in Liebe zugewandt.
Unsere Damen waren sich bisher noch nie begegnet. Heute Abend, anlässlich der Feier des "Bergfestes", bot sich diese Möglichkeit. Wolf war völlig unbekümmert, ich dagegen war skeptisch, waren Beide doch zu verschieden, geradezu, Plus und Minus.
Eines hatten sie aber gemeinsam: genügend Geld, dank ihrer Väter.
Es war ausgemacht, uns auf unserer Studentenbude zu treffen, um dann gemeinsam zur Feier zu gehen. Da mein "Weib" wie immer unpünktlich war, trieb die andere zum Aufbruch und ging mit Wolf voraus. Sie wollten Plätze für uns freihalten.
Zugeschnürt mit Schlips und Kragen saß ich steif auf dem Stuhl und wartete, ich konnte vor Ärger wild werden bei Unpünktlichkeiten. Langsam bekam ich Schweißausbrüche, welche mein Unbehagen noch erhöhten.
Endlich schaute unsere Wirtin herein und vermeldete spöttisch: "Das feine Dämchen fährt vor. Wer die mal ernähren soll, na, ist mir ja auch egal. Mal sehen, ob morgen früh das Bett gemacht ist."
Ich bedeutete ihr mit scharfen Blicken, den Raum zu verlassen, was sie auch murrend tat.
"Diese Weiber", seufzte ich und ging dem Dämchen entgegen.
Ihr Anblick versöhnte mich sofort, offenbar war sie sich bewusst, dass ihre Ausstrahlung auf Studenten und Dozenten auch für mich von Wichtigkeit war. Hier in der Kleinstadt registrierte man so etwas genau.
Ich ließ ihr Zeit, ihre Fassade zu ordnen, sich neu zu schminken, wartete und konnte dann, wenn auch verspätet, so doch mit der Genugtuung, von allen gesehen zu werden, meine einer asiatischen Schönheit nahekommende Freundin auf den Platz neben Wolf und Karin begleiten.
Zum Erstaunen aller trug meine Liebe auf ihrem großzügig geschnittenen, eng anliegenden, himmelblauen Kleid echte Maiglöckchen. Ein Frühlingsgruß, welcher bei jeder Bewegung ihres schlanken Körpers die kleinen Glöckchen zum Schwingen brachte und es aussah, als schauten sie vorwitzig in ihren Ausschnitt. Während die Männer ihre glühenden Blicke schwerlich zu verbergen suchten zogen die anwesenden Damen die Mundwinkel nach unten.
Schließlich löste der Alkohol diese Verkrampfung wieder, löste aber auch die Zunge wobei sich die Fleischertochter im Orgasmus ihrer Gefühle dazu hinreißen ließ, Wolf recht hörbar ins Ohr zu flüstern: "Die hat ja etwas Nuttenhaftes an sich." Da war mein Freund ganz anderer Meinung wodurch der erste Krach des Abends schon perfekt war.
Immer wieder schaute die ständig nach Wurstfett Riechende zu uns herüber und vermied es nicht, ihren Neid oder Unmut über die andere zu unterdrücken. Schließlich sagte meine Freundin zu ihr: "Habe ich dir etwas getan", und fügte zu meinem Entsetzen hinzu, "oder habe ich Scheiße im Gesicht, dass du so kuhäugig glotzt?"
Schnell trennte ich die Streitenden indem ich mit meiner Freundin tanzte und ihr sagte, sie solle sich nicht an Kleinigkeiten hochziehen. Nach dem Tanz verbrachten wir noch einige Zeit an der Bar und kehrten dann an unseren Tisch zurück.
Wir trafen Wolf gut gelaunt, ohne Freundin an. Er hatte sie in ein Taxi gesetzt und nach Hause geschickt. Von dieser Xanthippe befreit, feierten wir bis in die späte Nacht und fielen todmüde gegen Morgen zu dritt in die Ehebetten.
Nachdem meine "Geliebte" fest schlief lag ich noch wach. Beinahe wieder nüchtern schaute ich zur Zimmerdecke, welche von der Straßenlaterne matt angeleuchtet wurde. Wolf schnarchte leise, drehte sich zu mir um und sprach wie im Traum: "Mutti." Dabei nahm er mich so fest in den Arm, dass es mir heiß und kalt den Rücken herunter lief. Ich war wie erstarrt, spürte seinen Atem auf meiner nackten Haut und ließ ihn gewähren. Kein Mensch kann nachempfinden wie ich in diesem Moment zwischen Himmel und Hölle schwebte, beide schliefen doch und trotzdem kroch mir ein Schlafender unter die Haut. Er brachte mich in die kompliziertest Situation, die ich bisher erlebt hatte. Jeden Abend hätte er dies haben oder sein lassen können, ausgerechnet heute benahm er sich wie ein Wahnsinniger.
Also stellte ich mich auch schlafend - wer schläft, sündigt nicht.
Hinterher kam ich mir vor wie nach einem Autounfall. Das Schönste an der Geschichte war, dass am Morgen unsere unverschämte und neugierige Wirtin mich mit Wolf eng umschlungen im Bett liegen sah während meine Freundin neben uns genüsslich ihren Rausch ausschlief.
Nicht einmal blöde Bemerkungen hat die Wirtin gemacht, aber irgendwann konnte sie es sich nicht verkneifen: "Wenn ihr mit dem Studium fertig seid, muss ich eine neue Liege kaufen!"
Sie wusste, dass wir nach der Schule immer gemeinsam darauf unser Mittagsschläfchen hielten, eng umschlungen nur deshalb, weil sonst einer von uns vom dem schmalen Ding abgestürzt wäre.
Eigentlich wohnten wir hier zu dritt, neben dem Wohnzimmer befand sich noch ein kleines Stübchen, so eines, welches heute als Kinderzimmer bezeichnet wird. Das große Wohnzimmer nutzten wir Studenten gemeinsam, Wolf und ich das Schlafzimmer. Daneben lag die Küche der Wirtin, deren Herd wir zum Kochen kleiner Speisen ebenfalls nutzten. Meist bestanden die hier gebrutzelten Gerichte aus Bratkartoffeln, Rührei, Bratwurst und Tee, den es zum Abendbrot regelmäßig gab.
Am Abend, wenn es der Wirtin zu langweilig wurde, saß sie bei uns auf der Ofenbank, den Rock weit nach oben zwischen die Beine geschoben und rauchte. Das tat sie gern. Auf dem Küchenofen stand eine alte Tabakskiste, in welche wir die Ascher leerten. Die Kippen waren angeblich für einen Rentner bestimmt, in Wirklichkeit rauchte sie diese selbst in der Pfeife.
So lebten wir fast wie in einer Kommune, frei und unbeschwert mit wenig Geld. Aber Geld ist nicht das Wichtigste im Leben, es verdirbt nach meiner Überzeugung tatsächlich den Charakter.
Nun zu unserm dritten Mann aus dem Kinderzimmer: er wechselte ständig. Der erste hieß Hansi, arbeitete im Soda-Werk als Transportarbeiter und war aus Bayern in die DDR übergesiedelt worden - von seinem Vater, der veranlasste, dass seine Kinder kommunistisch erzogen würden und hatte alle vier herüber geschickt. Hansi war der letzte noch hier ansässige, die anderen hatte es zurück in die Berge nach Schwäbisch-Hall gezogen. Hansi war ein ruhiger Typ, untersetzt, sprach kaum ein Wort, kniff immer die Augen zu, so als würde er in die Sonne schauen. Eines Tages zog er aus, Studenten waren wohl nicht das Richtige für ihn. Er tat mir leid, ein guter Kerl, ein Gastarbeiter im anderen Land, er fand hier keine Freunde, auch kein Mädchen, er war hier fremd, entwurzelt.
Das frei gewordene Zimmer bezog nun ein Kumpel aus unserer Klasse, er hatte reiche Eltern, welche in einer kleinen Stadt an der Saale ein gut gehendes Uhren- und Schmuckgeschäft betrieben.
Unser neuer Mann lernte wenig und ging eines Tages nicht mehr zur Schule. Er malte, große und kleine Bilder in Öl und mit dem Kohlestift. Oft, wenn ich abends todmüde ins Bett wollte, zwang er mich, mit einem Besen in der Hand für ihn als Stahlwerker Modell zu stehen. Es kotzte mich an und so gab ich ihm den Rat, doch lieber Blumenbilder zu malen, diese seien schöner und ließen sich besser verkaufen.
Gegenüber unserer Wohnung befand sich ein "Tausend-Dinges-Kramladen", in ihm wurden Jesusbilder aller Art und sonstiger Kitsch verkauft. Ihm, dem Besitzer dieses Geschäftes, bot unser dritter Mann sein letztes Werk, ein Rosenbild, an.
Von unserem Stubenfenster beobachteten wir wie er den Laden betrat. Es dauerte sehr lange, bis er ohne sein Bild zurückkam. Er hatte kein Geld dafür bekommen, den Ladeninhaber traf er beim Kartenlegen an. Dieser sagte: "Wenn das so weiter geht, bin ich morgen pleite."
Unser Neuer wurde zur Belastung. Den ganzen Tag wandelte er im Bademantel durch die Gegend und tat nichts. Kamen plötzlich seine Eltern zu Besuch herüber, mussten wir lügen und ihnen erzählen, dass ihr Sohn im Chemielabor arbeitete. Dabei hielt er sich im Keller versteckt.
Eines Tages war er fort, nach dem Westen. Was aus ihm geworden ist haben wir nie erfahren.
Nun suchten wir einen Neuen, wer könnte es wohl sein? Er war schnell gefunden: Ein großer, dicker, schwarzer Kerl, welcher immer lachte, den Weibern nachstieg und oft des Nachts nicht nach Hause kam. Ein Herr List, er haute unheimlich auf die Welle, war aber in seinen Leistungen sehr gut und arbeitete in der Parteigruppe der Schule aktiv mit.
Also, alles in Ordnung.
Wenn man ihn genauer kannte, und dazu bot sich uns ja genügend Gelegenheit, brachen die zur Schau gestellten Potemkinschen Dörfer bald zusammen. Ein Maulkommunist. Wir bekamen Wut auf ihn und überlegten, wie wir ihm eins auswischen konnten, dem Heuchler.
Ich kam auf die einmalige Idee: "Wolf, wenn der wieder besoffen nach Hause kommt, klauen wir ihm das Parteiabzeichen."
Und dies taten wir mit boshafter Regelmäßigkeit. Er jammerte dann herum und stellte beim Suchen die Bude auf den Kopf, hatte aber bald ein neues Abzeichen, welches wir wieder klauten.
"Möchte wissen bei welchen Weibern du dich herumtreibst, vielleicht klauen die dir das Ding", sagte ich zu ihm.
"Ach Quatsch", sagte er, "so etwas maust doch keiner". "Das würde ich nicht behaupten", feixten wir.
Kam seine Frau zu Besuch war er der netteste Kerl und erzählte ihr, dass wir viel arbeiten und abends zeitig ins Bett gingen da die Schule doch sehr anstrenge. Sie glaubte ihm, bis er ihr Filzläuse aufhängte.
An dieser Stelle will ich vorgreifen: Dieser Kerl schloss mit uns sein Studium ab und ging samt seiner Sippe kurz nach der Ausbildung ab nach dem Westen.
Ich möchte wissen welches Abzeichen er heute trägt, der saubere Herr List. Mehr Raum soll ihm nicht eingeräumt werden.
Wir erlebten in dieser Zeit noch ein Beispiel von Charakterlosigkeit oder Egoismus, jeder wird es anders sehen, ich fand es sehr schlimm: In Bernburg gab es damals einen Augenarzt, welcher sich alles leisten konnte, dank seiner exponierten Stellung. Jeden Morgen standen Schlangen von Patienten vor seine Praxis.
Ein Witz machte damals in der DDR die Runde: "Wisst ihr schon? Das Brandenburger Tor wird abgerissen und in Dresden wieder aufgebaut." "Wieso?" "Die Ärzte wollen es so."
Als wir eines Morgens zur Schule gingen warteten die Patienten wieder in großer Zahl vor der Praxis des Arztes. Gegen Mittag kamen wir zurück und es waren noch mehr Menschen geworden, die ausharrten da sie der Hilfe bedurften.
Unsere Wirtin erzählte uns sofort die Neuigkeit: "Der Augenarzt ist nach drüben!"
Ich konnte es nicht fassen, die Wartenden auch nicht. Sonst wären sie gegangen.
Für mich ist Arzt eine Berufung, eben nicht nur ein Beruf schlechthin, der seinen Mann ernährt, wie z. B. ein Schlosser.
Es gehört schon etwas dazu, diese Leute da stehen und warten zu lassen. Der große Westschlitten, die durchaus möglichen Reisen und andere im Moment als Traumziel erscheinenden Dinge sind doch eines Tages normal und dann kommt die Sehnsucht nach der Saale, nach der Elbe, dem Erzgebirge, ganz einfach nach der Heimat. Aber diese ist dann keine mehr, man hängt in der Luft, schließlich überall fremd. So etwas ist schlimm und wird durch nichts aufgewogen.