Das zweite Leben - Nina Pilckmann - E-Book

Das zweite Leben E-Book

Nina Pilckmann

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Beschreibung

Venedig 1968: Die junge Journalistin Ava schwelgt im Glück, als sie die Stadt erkundet und den Einheimischen Toma kennenlernt. Doch Faszination und Liebe passen nicht in ihre Welt, denn Ava hat sich der Aufklärung über Deutschlands dunkelste Vergangenheit verschrieben. Daheim in München erzählt Rachel, die Überlebende des Vernichtungslagers Birkenau, von ihren Erlebnissen. Als sich dabei herausstellt, dass es eine Verbindung zwischen Venedig und Birkenau gibt, steht Ava endgültig vor der Frage, welchen Weg sie wählen möchte: den der belastenden Aufklärung, oder den des eigenen Glücks.

Ein Roman über den Dualismus zwischen Gut und Böse, Freud und Leid und unsere innere Zerrissenheit in der Welt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Begegnungen
Gespaltene Welten
Zweifel
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Flucht aus Birkenau
Die Vermittlerin
Abschied
Hoffnung
Am Ende des Weges
Der letzte Brief

 

 

Nina Pilckmann

 

 

 

Das zweite Leben

 

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

 

Venedig, 1968: Die junge Journalistin Ava, Tochter ehemaliger Widerständler gegen das Nazi-Regime, trifft bei ihren Recherchen über den italienischen Faschismus auf den jungen Einheimischen Toma, mit dem sie sich augenblicklich verbunden fühlt. Auch Venedig selbst scheint die junge Frau magisch in ihren Bann zu ziehen. Doch Ava will ihre Gefühle nicht zulassen und verbeißt sich stattdessen in ihr Projekt. Schließlich haben die Eltern ihr beigebracht, dass sie die Verantwortung für die Aufklärung über Faschismus geerbt hat. Allerdings drängen die sie auch, nicht zu tief in der Vergangenheit zu graben: durch Nachforschungen über die Geschehnisse in den KZs belaste man die Opfer nur unnötig. Doch dann lernt Ava Rachel kennen, die Birkenau überlebt hat und die Schrecken der Shoah nicht ignorieren kann. Trotz der enormen emotionalen Belastung ignoriert sie die Warnung der Eltern und stürzt sich in ihre selbst erwählte Aufgabe, über Deutschlands dunkelste Vergangenheit aufzuklären. Gleichzeitig erwächst aus ihrer Freundschaft zu Toma und zu Venedig eine tiefe Liebe. Und schließlich steht sie vor der Frage, welchen Weg sie wählen möchte: den der belastenden Aufklärung, oder den des eigenen Glücks.

 

 

 

 

 

 

Nina Pilckmann wurde am 01.06.1982 im Ruhrgebiet in Deutschland geboren und arbeitet hauptberuflich als Psychotherapeutin. Ihr Fokus liegt auf der Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur, Philosophie und antagonistischen Kräften. Seit 2007 verfasst sie vorwiegend Entwicklungsromane und Kinderbücher. 2025 kam es zur ersten Veröffentlichung. Sie lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann in Duisburg.

 

 

 

 

Nina Pilckmann

 

 

 

 

Das zweite Leben

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

[email protected]

www.ninapilckmann.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, veröffentlicht 2025.

© 2022 Nina Pilckmann – alle Rechte vorbehalten.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

 

Impressum: Nina Pilckmann, Oberstraße 40, 47829 Krefeld

 

Cover: Thomas&Nina Pilckmann

 

 

Paperback-ISBN: 978-3-8482-1123-4

 

[email protected]

www.ninapilckmann.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Dita

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Venedig

 

Ava und Toma begegneten sich zum ersten Mal auf einer Ausstellung in Venedig. Ava würde sich in den folgenden Jahren immer wieder fragen, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte er seinerzeit nicht im selben Moment vor diesem einen Bild gestanden, das sie so gefesselt hatte. In jener mystischen Stadt. In der Situation, in der sie sich fanden und die ihr Dasein in zwei Teile spalten würde. Ihre zufällige Begegnung und deren Folgen würden Ava bis ans Ende ihrer Tage grübelnd zurücklassen …

 

Als Ava im Spätsommer 1968 aus dem Bahnhof Santa Lucia hinaustrat, hatte sie jüngst ihren zwanzigsten Geburtstag hinter sich gelassen. Tatendrang lag in jedem ihrer Schritte. Das Lächeln voll Zuversicht, ihrer Aufgabe mit jenem Engagement entgegenzutreten, das sie gewohnt erfolgreich ans Ziel führen würde: an die Informationen, derentwegen sie hierhergereist war. Die sie benötigte, um den nächsten Artikel zu verfassen. Sie würde ihn in vertrauter Manier erstellen. Bis ins Detail in Perfektion gegossen. Als nachdrückliche Mahnung. Zwischen den Buchstaben würde sich ihre Leidenschaft abzeichnen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Ihren Beitrag zu leisten, dass es kein zweites Mal eine Machtübernahme des Faschismus in ihrem Heimatland geben würde. Sie würde über die Ausstellung des venezianischen Fotografen Giuliano Linessi schreiben. Eine weitere Aufklärungsarbeit, um die Welt ein Stück zusammenzusetzen.

Daheim in München war ihr Leben geprägt von Disziplin, Struktur und Ordnung. Es gab ihr Sicherheit und innere Ruhe, sich an den offenen und unausgesprochenen Regeln der Eltern zu orientieren. Im Altvertrauten lag die Gewissheit auf Anerkennung und Lob, wenn sie ihrer Aufgabe nachkam, die Arbeit von Vater und Mutter fortzuführen. Ava hatte in den vergangenen Jahren einen wachsenden Teil ihrer Jugend damit verbracht, sich mit dem Schreckgespenst des jüngst zurückliegenden deutschen Faschismus auseinanderzusetzen. Mutter und Vater hatten im Nationalsozialismus zu jenen gehört, die anfangs laut, später meist im Stillen, mit deutlichem Risiko für Leib und Leben, dem Regime Adolf Hitlers Widerstand zu leisten versucht hatten. Ava war 1948 geboren worden, drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie selbst hatte nichts von dem Entsetzen der Bombardierungen mitbekommen, von den Gräueltaten der Nazis, von der Furcht der Bevölkerung vor den Besatzern. Doch die Verbrechen lagen zu dieser Zeit keine fünfundzwanzig Jahre zurück. Wenn die Eltern ihre Andeutungen ein ums andere Mal aus ihrem Inneren hinaus in die Lebenswirklichkeit schickten, schien sich die Vergangenheit wie ein Wirbel um Ava herum zu erheben. Als machte sie sich auf ihrer Epidermis gleich einem Hagel aus millimeterdünnen Pfeilen bemerkbar, die sie daran erinnerten, dass ihre Generation die Verantwortung zu tragen hatte, wider das Vergessen nach Antworten zu suchen. Antworten auf Fragen, die oft im Dunst des Schweigens lagen. Doch als junges Mädchen mit wachem Blick und kinnlangem Haar hatte sie bereits eine Zeit lang in der Schule erprobt, ihre Texte über die Herrschaft der Nazis zu präsentieren. Die meisten Lehrer hatten ihren Eifer wohlwollend, beizeiten sogar anspornend aufgegriffen, einige hatten beschämt reagiert, als erzähle sie die Geschichte einer biblischen Sünde unter den Laken ihrer Vorfahren. Ava hatte es verstanden, der Scham zu trotzen, die sich wie ein Schleier unverhohlener Fäulnis über ihre Fratzen legte – ja, die sie beinah riechen konnte wie ein Eitergeschwür, das sich jeglicher Behandlung entzieht. Es hatte Ava beflügelt, ihre Ausführungen zu vertiefen, auszudehnen, die Meider zu zwingen, ihr zuzuhören …

 

Dies alles glitt Ava durch die Gedanken, als sie die Stufen des venezianischen Bahnhofvorplatzes hinabstieg. Eben noch auf ihre Aufgabe fokussiert, umfing sie jäh ein Gefühl, das ihre Füße stillstehen ließ. Wie aus lauter Ehrfurcht vor dem dargebotenen Schauspiel, das die junge Journalistin kaum hätte in Worte fassen können. Sie war eingetaucht in eine Theaterkulisse überladenden Ausmaßes. Gleich einem wispernden Echo lag der Silberhall hunderter Schritte über der Szenerie. Umschmeichelt vom Plätschern der Wellen, das aus einem Band türkis-grünlichen Wassers emporstieg und sich mit dem Widerklang des Stimmengewirrs fremder Worte verband. Ava schirmte das Gesicht mit ihrem Handrücken ab und kräuselte die Stirn. Ihr Blick glitt nach oben, um nach dem reflektierenden Schimmer einer Kuppel Ausschau zu halten, so wie eine Käseglocke, die über dem Schauplatz hängen musste. Wie sonst wäre die fremdartige Akustik zu erklären? Der Lauteffekt all der feinen Geräusche, die sich hier vermengten. Doch da war nichts als hellblauer Himmel und vereinzelte zarte Wolken. Ava strich sich eine dunkelblonde Strähne aus der Stirn und ordnete ihr Kleid gegen den Wind. Ihre Augen verengten sich, als wollten sie die Umgebung scharfzeichnen. Während die Füße aus ihrer Starre erwachten und voraus drängten, erfasste Avas Blick die Glanzlichteffekte, die am gegenüberliegenden Ufer auf Gebäudefassaden tanzten. Wie prunkvolle Paläste einer längst vergessenen Zeit ragten sie aus dem Pastellwasser empor. Geschmückt durch Reliefs, die sich um die gebogenen Fensterrahmen schwangen. Kleine Balkone, die wie Zierpflanzen aus dem Gemäuer wuchsen. Hier gab es keine Wege. Die Eingangstüren schienen ins Wasser zu führen, zum Canal Grande, dem Hauptkanal Venedigs, wie Ava in ihrem Reiseführer gelesen hatte. Mit großen Augen bemerkte sie, wie wenig sie sich vorab mit der Stadt auseinandergesetzt hatte. Sie tauchte so intensiv in die Atmosphäre ein, dass es ihr den Atem raubte. Was war dieses befremdliche Gefühl, das in ihr emporstieg?

Mit spöttischem Trotz schien die Stadt sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihre Erhabenheit zu präsentieren, Ava von ihren Verpflichtungen abzulenken. Auf dem Kanal fuhren unablässig Boote entlang. Ihre Motorgeräusche waren durchsetzt von geschäftigen Rufen. Viele waren Fischerboote, manche schienen schlicht als Transportmittel für alles Mögliche zu dienen. Daneben gab es Wasserfahrzeuge in der Größe kleinerer Schiffe, auf denen sicher an die hundert Personen, meist stehend, Platz fanden. Sie legten an einer Haltestelle an, die direkt vor dem Bahnhofsplatz in Form eines Pontons auf dem Wasser schwamm, fest vertäut mit dem gepflasterten Ufer. Waren dies die venezianischen Busse? Kleine Schiffe statt Autos? Ava runzelte die Stirn und blickte sich weiter um. Da war die Bahnhofshalle, durch die sie eben hinausgetreten war. Oder hinein. Mitten in diese Fremdwelt. Fast drängte es sie, erneut das Gebäude zu betreten, ein Viadukt zwischen Realität und Fiktion, nur um sicherzugehen, dass der Wandel, der zwischen Aus- und Eingang vollzogen wurde, real war. Ava lief am Kanal entlang, vorbei an der Wasserhaltestelle Ferrovia, wie einem Schild mit schwarzer Aufschrift zu entnehmen war. Rechts von ihr erhob sich eine Brücke im Neorenaissancestil, die Stufen in verschwenderisch hoher Zahl, zum Ende hin ausgedehnt, als wäre die Konstruktion im Fluss seines Gusses erstarrt. Elfenbeinlava. Linksseitig öffnete sich zwischen Hauswänden mit samtroten Vorhängen und dunkelgrünen Fensterläden eine kleine Dämmergasse. Im Inneren ging es noch geschäftiger zu als vor Santa Lucia. Wie Ameisen strömten die Menschen entlang der halb verfallenen Mauern, die einen Geruch absonderten, der sich immer mehr intensivierte, je tiefer Ava in die Gasse vordrang. Ein Bouquet aus feuchtem Putz, warmem Holz, Meer und schwerem Stoff, der in der Hitze der Sonne verwitterte. Ein Duft, der ins Fundament ihrer Sinne eindrang, als wollte er die Geschichte einer alten Dynastie offenlegen. Seitlich der Gasse öffneten Ladenbesitzer ihre Pforten: Gelati - ein Eisladen - Schmuck, venezianische Masken, Pasticcini/Dolci – Zuckergebäck und Süßigkeiten, Handtaschen, Bücher und Schreibwaren, Malereien, verschiedenste Handwerke, kleine Bars ... Alles in einer atmosphärischen Dichte, wie Ava es selbst in den schönsten Vierteln ihrer Heimatstadt München nicht ansatzweise erlebt hatte.

Vor manchen Restaurants standen Holztische, gedeckt mit Stofftüchern, Weingläsern, einem Korb mit schmalen Teigstangen. Zum bisherigen Geruch mischte sich der Duft frisch gebackenen Weißbrotes und Kaffee. Erst jetzt bemerkte Ava, dass ihr Magen knurrte. Doch sie wollte zunächst warten, bis sie sich ein kleines Apartment gesucht hätte. Der Rucksack wurde ihr allmählich schwer, aber so kribbelnd glitt die Faszination durch ihre Adern, dass sie ihre Füße unbeirrt forttrugen. Immer tiefer in das Geheimnis der fremden Stadt. So wie sie für gewöhnlich in die Details ihrer Recherchen eindrang. Ihre Neugierde vollzog wilde Sprünge, trieb sie an, rascher zu laufen. Weiter und weiter über zahllose kleine Brücken, vorbei an Palästen, einfacheren, aber nicht minder erhabenen Gebäuden, zweifarbig gestrichenen Pfählen, die aus dem Wasser ragten. Über eine Vielzahl schmaler Kanäle hinweg eilte sie, allesamt angefüllt mit Grünschimmer. Alte, vertäute Boote ruhten seitlich der Häuserwände, die am Saum ihres Eingangs Teile an das Lagunenwasser verloren hatten.

 

In einer abgedunkelten Gasse erblickte Ava ein Schild, auf dem CAMERE LIBERE stand, darunter das Symbol eines Betts. Nonna Daria las sie in schnörkeliger Schrift an der Hauswand. Bedeutete Nonna nicht Großmutter? Die Fensterläden waren verschlossen, doch die Tür stand offen. Ava überschritt die schmale Schwelle durch einen Vorhang aus abgenutzten Perlen. Innen gewöhnten sich ihre Augen nur langsam an das Dämmerlicht. Hier schien eine einzige kleine Lampe. Die Umrisse eines Schränkchens und einer schmalen Treppe waren zu erkennen. Es roch nach Rauch, Kohl und Feuchtigkeit. Aus der hintersten Ecke des Raumes war ein Schnaufen zu vernehmen. Auf einer Art Kanapee lag eine alte Frau. Ava trat einige Schritte in die Stube hinein, um ihr Gegenüber besser zu erfassen. Alle viere von sich gestreckt erinnerte die Greisin ein wenig an einen vollgefressenen Bären, dessen Körper sich gemächlich erhob und Ava entgegenschlurfte. Zerschlissene Filzpantoletten rieben auf Teppichboden. Die Nonna schenkte Ava ein zahnloses Lächeln. Ihre Haut zeichnete einen trockenen Faltenwurf. Sie war weniger gebräunt, als Ava es erwartet hätte. Die Greisin schien sich selten an der frischen Luft aufzuhalten. Die silbrig durchsetzten, früher wohl schwarzen Haare, waren zu einem unachtsam drapierten Dutt zusammengesteckt. Sie trug ein blaugeblümtes Kleid, das abgetragen wirkte. So wie die Figur selbst den Eindruck erweckte, ein abgegriffenes Leben mit sich zu ziehen.

„Ciao, cosa posso fare per te ragazza?”, wandte sich die Alte mit verwitterter Stimme an sie. Ava, die nur erahnte, dass die Venezianerin erfahren wollte, was sie zu ihr führte, legte ihr dar, dass sie auf der Suche nach einem Zimmer sei. Da sie der italienischen Sprache nicht mächtig war, erklärte sie sich auf Englisch. Nahezu fließend. Dies stellte gegenüber Nonna Daria jedoch offenbar keinen Gewinn dar, denn diese lachte heiser und sprach rasend schnell in ihrer Muttersprache weiter, völlig unbeeindruckt davon, dass die zwei sich nicht verständigen konnten. Doch schien sie erfasst zu haben, was ihr junger Gast wünschte, bedeutete ihr, ihr zu folgen, und bestieg die Treppe, deren Stufen unter dem Gewicht ächzten und klagten. Zwei Stockwerke weiter oben öffnete sie die Tür zu einem kleinen Zimmer. Darin befanden sich ein Bett, ein Tisch mit Stuhl und eine Tür, die zum Badezimmer führte. - Oder zu dem, was Nonna Daria vermutlich als solches bezeichnet hätte. Der Raum mochte etwa zwei bis drei Quadratmeter groß sein, beherbergte ein Miniaturwaschbecken mit halb blindem Spiegel und eine Toilette, über der ein Duschkopf hing. Wohl aus Platzmangel. Nonna Daria musste Avas Lächeln bemerkt haben, denn sie trat dicht heran, sodass ihre Runzelwange beinahe die Schulter der jungen Frau berührte, und schien sich versichern zu wollen, ob es ihr gefalle. „Si? Si? - Si?“. Auch wenn Ava die Sprache nicht beherrschte, so waren ihr doch Begriffe wie das italienische Ja oder Nein sowie ein paar Basisfloskeln bekannt. Sie vollzog einige Handbewegungen, um Nonna Daria anzudeuten, was das Zimmer kosten solle. Die lachte erneut, machte eine wegwerfende Gebärde und schnatterte fort, während sie ihren Gast zurück nach unten geleitete. Dort gab sie Ava Zettel und Stift und wies sie wild gestikulierend an, ihren Namen und weitere Angaben zu vermerken. Schließlich gelang die Kommunikation so, dass Nonna Daria zufrieden schien und die Kosten für das Apartment niederkritzelte. Mit kurzem Umrechnen von italienischen Lire in Deutsche Mark war Ava rasch klar, dass das Zimmer zu einem Spottpreis vermietet wurde. Sie nickte. Nonna Daria strahlte und tätschelte ihr die Wange. - Eine Geste, die Ava zwar als distanzlos empfand, in der Atmosphäre, die über allem lag, jedoch mit einem Lächeln hinnahm. Sie erhielt einen Schlüssel von Nonna Daria und schloss aus deren ausschweifenden Schilderungen, dass sie ohnehin tags und nachts an der Tür wachte. Nachdem der Redefluss ihres Gegenübers verebbt war, begab sie sich zurück nach oben und packte die wenigen Sachen aus ihrem Rucksack, sodass die Kleidungsstücke darin keine weiteren Falten warfen. Dann erst besann sie sich, den Vorhang beiseitezuschieben, der schwermütig und träge von der Decke hing, und erlebte abermals an diesem Tag eine Überraschung.  Nicht nur wandelte das einfallende Licht das Dusterzimmer in eine Sommeratmosphäre. Der Blick nach draußen offenbarte etwas völlig anderes, als Ava es erwartet hatte.  Die von ihr als Fenster gewähnte Öffnung entpuppte sich als Tür zu einem kleinen Balkon, der über einer der schmalen Gassen zu schweben schienen. Oben Licht, unten Schatten.  Ava bot sich der Weitblick auf Straßen und Häuserdächer. Andächtig betrachtete sie die Umgebung, die sich vor ihr ausbreitete. Sie atmete den Duft der Stadt ein und lauschte den gedämpften Geräuschen. Erneut huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Das hatte sie nicht erwartet. Einen Moment lang hatte sie abermals vergessen, weshalb sie hergekommen war. Wie schaffte es eine Stadt, ausgerechnet sie so in ihren Bann zu ziehen? Sie, mit ihrem analytischen Blick und dem streng geleiteten Kalkül, mit dem sie ihre Recherchen betrieb und ihre Texte verfasste. Die Umgarnung Venedigs setzte Ströme in ihrem Brustkorb frei, wie Ava es höchstens Menschen zugetraut hätte, die in einer besonders gefühlvollen Zartheit Empfindungen zelebrierten. Empfindungen gegenüber einem Objekt ohne Fleisch und Blut. Gegenüber einer Stadt, die doch kein Lebewesen war, die aus einer Ansammlung von Gebäuden und Straßen bestand. Legte Venedig eine tiefe Sehnsucht in ihr offen? Die Sehnsucht, loszulassen? Ihre Disziplin abzulegen? In dieser Stadt lag ein Zauber, der sein Geheimnis vor ihr verbarg. Doch sie würde versuchen, dahinter zu kommen …

Ava besann sich auf ihr Vorhaben. Morgen würde im Stadtteil Dorsoduro Linessis Ausstellung der Bilder über die Resistenza eröffnen. Über die Widerstandsbewegung gegen den italienischen Faschismus und die deutschen Besatzer. Sie lächelte bei der Vorstellung, den Stolz in den Gesichtern ihrer Eltern zu sehen. Daheim organisierten ehemalige Kommilitonen Proteste gegen den Vietnamkrieg, in den USA war vor wenigen Wochen Martin Luther King erschossen worden. Die Studentenbewegung formierte sich weiter im Kampf gegen die deutschen Notstandsgesetze, gegen den Einfluss des Springer Verlages und für ihre Ziele der sexuellen Selbstbestimmung, der antiautoritären Erziehung und einer Hochschul- und Bildungsreform. Die darüber hinaus angestrebte Entnazifizierung der westdeutschen Gesellschaft und die Aufklärung über die jüngste Vergangenheit, gingen Ava und ihren Eltern nicht weit genug. Sie verstanden die Notwendigkeit der Aufklärungsarbeit als eine Bestätigung, dass die Menschheit immer noch nicht ausreichend informiert war, um die Gefahr und Abscheulichkeit des Krieges zu erkennen. - Die Folgen der Intoleranz, des Fremdenhasses. Antifaschismus zu fordern, bedeutete das Eingeständnis, dass die westdeutsche Gesellschaft fortwährend versagte. Aus Avas Sicht hatte dies mit einem Mangel an Bewältigung der Geschichte zu tun, der nicht nur ihr Heimatland, sondern die ganze Welt betraf. Während also überall auf dem Globus vor allem Menschen ihrer Generation für eine bessere Zukunft auf die Straße gingen, verstärkte Ava ihre bisherigen Bemühungen der Aufarbeitung vergangener Schande. Sie hatte ihre Kreise nach und nach immer weiter gesteckt, wie die Ringe, die ein Stein auf der Wasseroberfläche eines Sees um sich zieht. Sie hatte nach Geschichten von Courage und Menschenliebe gesucht, immer im Bestreben, möglichst viele Hinweise aufzudecken, die die Aussicht nährten, dass es für einen Teil ihres Heimatlandes Hoffnung gab. Hoffnung auf Menschlichkeit. Schließlich hatte sie begonnen, über die Grenzen Westdeutschlands hinaus zu forschen, im Bestreben, das Phänomen des Faschismus als globale Gefahr zu begreifen. Als einen Teufel, der kein bloßes Kuriosum ihres eigenen Landes war, sondern womöglich jeder Kultur dieser Welt. So war sie in der logischen Konsequenz als Erstes auf die Rolle Italiens gestoßen. Sie hatte sich darüber hinaus, was allgemein bekannt war, über die Herrschaft Mussolinis und die Resistenza informiert, sich mit dem Partisanenaufstand in den unterschiedlichen Regionen des Landes auseinandergesetzt. Dort, wo die Deutschen ihre inhumanen Praktiken ebenfalls vollzogen hatten. Doch sie betrachtete auch die andere Seite. Die Seite der faschistischen Italiener, die das Regime Mussolinis ähnlich gestützt hatten wie die Deutschen das Adolf Hitlers. Den damaligen Umschwung mit dem jähen Ende der faschistischen Herrschaft verstand Ava als Chance der Italiener, den Bogen zu einem verzweifelten Versuch zu schlagen, sich von einem Teil ihrer Sünden freizusprechen und doch das Richtige zu tun ...

 

Ava beschloss, den Nachmittag des Tages dafür zu nutzen, ihre bisherigen Notizen ein weiteres Mal durchzugehen, sich die Fragen über die Resistenza in Erinnerung zu rufen, die zu beantworten sie sich erhoffte. - Noch einmal tiefer und professionell in das Thema einzutauchen und sich ab spätestens morgen früh nicht mehr von der Schönheit der Stadt ablenken zu lassen. Ihr Fokus sollte sich wie ein Lupenglas auf den italienischen Widerstand richten, auf Berichte und Fotos, die sie noch nicht kannte. Sie würde weitere Details für ihre Arbeiten erhalten und vielleicht die ein oder andere Stelle besuchen, um am Ort historischer Ereignisse in die Geschichte einzutauchen. Ihren Artikel würde sie entweder an eines der Magazine verkaufen, für die sie bisweilen schrieb, oder versuchen, ein Buch daraus zu erzeugen. Sie hegte die Hoffnung, irgendwann so viele Einzelheiten zusammengetragen zu haben, dass es ihr möglich sein würde, einen Verlag davon zu überzeugen, zu veröffentlichen, was es über den Faschismus in Europa zu berichten gab. Zunächst aber wollte sie etwas essen.

Sie schwang eine Tasche über ihre Schulter, setzte ihre Sonnenbrille auf und lief nach unten. Sie grüßte Nonna Daria flüchtig („Ciao, Bella!“, krächzte die zurück), und betrat die Gasse. Dieselbe Atmosphäre umschmeichelte sie, die sie oben auf dem Balkon abzuschütteln versucht hatte. Alte Charmeurin, dachte Ava, als würden Venedig und sie sich schon seit Jahren kennen. Eine Weile ließ sie sich vom Strom der Besucher treiben.

An einer Pasticceria, einer kleinen Konditorei, kaufte sie eine von Blätterteig ummantelte Schokoladencreme und ein schweres Mandelgebäck, die ihre Mundwinkel erneut nach oben lenkten. Während sie aß, schlenderte Ava entlang belebter Gassen und Brücken. Ponte dei Ferali, Ponte de le Pignate und Ponte de le Ballotte hießen sie hier. Manches Mal blieb sie stehen und schaute den Gondoliere zu, die ihre langen, dunklen Barken über die Oberfläche der spiegelnden Kanäle schoben. Einige sangen dabei – nicht schlecht, wie Ava fand. Mit ihren gestreiften Oberteilen und den Strohhüten sahen sie aus wie aus der Zeit gefallen, obgleich Ava annahm, dass es eher einer touristischen Attraktion gleichkam als der Hommage an eine stolze Kultur. Ein ums andere Mal führte sie ihr zielloser Weg vorbei an irrwitzig schmalen Gassen, die wie durch einen kuriosen Zauber von kaum jemandem zur Kenntnis genommen wurden. Als könnte nur Ava sie sehen. Erneut mühte sie sich, ihre Gedanken zu bündeln, dem Sog der Atmosphäre zu widerstehen. Schließlich jedoch hielt sie an einer Häuserecke an, überlegte kurz, und verließ die Hauptstraße. Augenblicklich waren die geschäftigen Geräusche, die Masse eiliger Schritte, kaum mehr zu hören. Wie eine mattierende Stille umfing sie die Enge des abgedunkelten Pfades mit seinen hohen, bröckligen Wänden, einer angenehmen Kühle, die von ihnen ausging. Ihr Tempo verringerte sich. In jeden ihrer Schritte floss Ehrfurcht. Behutsam, als habe sie Sorge, den Boden unter ihr zu beschädigen, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Horchend auf den Klang ihres Gangs, wie er eine Melodie im Zusammenspiel mit dem alten Pflaster erschuf. Sie durchwandelte Unterführungen, die sich wie Tunnel durch die rissigen Häuserschluchten bohrten. Als Sotoportego wurde jeder dieser schmalen Gänge benannt. Gleich einem unermüdlichen Labyrinth engster Pfade, die jäh einen rechten Winkel vollzogen und über Miniaturplätze zum nächsten dunklen Flur führten, navigierten sie Ava durch das Herz Venedigs. Corte Del Banchetto, las sie auf den aufgemalten Schildern der Häuserwände. Sotoportego F. Calle Balbi, Sotoportego Primo Lucatello, Sotoportego Dolfin ... Gedankenverloren legte sie im Vorbeigleiten ihre Finger auf die Haut der alten Wände. Sandig und nachgiebig rieb sich der Rauputz an ihnen, als wollte er in seiner Gutmütigkeit und seinem Altruismus einen Teil von sich an sie abtreten. Hier, in der dämmervollen, namenlosen Gasse, war der allgegenwärtige Geruch noch intensiver. Ab und zu strich ein Hauch gespenstischer Kellerfeuchte durch ein geöffnetes Fenster an Avas Gesicht vorbei. Das Gemäuer atmete seinen jahrhundertealten Dunst in die Gasse hinein. Von oben fiel das Licht wie ein Bote der modernen Zeit auf die Szenerie. Unterwelt und Himmel, die miteinander in Kontakt traten. Sie bog ein paarmal ab und überquerte stille Plätze, deren Bänke zu flüstern schienen, tauchte ungeplant in Straßenzüge ein, die sie daran erinnerten, wie lebendig die Stadt jenseits der unbekannten Pfade war, bevor sie erneut in das Schweigen der schmalen Gassen eintrat. Nach einer Weile fand sie sich eingekesselt von gealterten Bauten, die schmucklos und vergessen wirkten. Das Ende des Weges wies ein helles Licht auf. Einer der Kanäle warf seine Spiegelungen in Avas Richtung. Dort angekommen stellte sie fest, dass es hier kein Weiterkommen gab. Vor ihr lag ein Anleger. Ein paar ausgewaschene Stufen, von Algen überwachsen, tauchten ins Wasser, das so knapp unterhalb des Straßenpflasters lag, dass Ava sich unweigerlich fragte, ob sie jemals jemand hatte benutzen müssen. Oder war dies ein Hinweis auf den Verfall der Stadt? Wurde sie unaufhaltsam verschluckt? Holte sich das Meer, was es liebte? Die nagenden Ausläufer des salzigen Nasses schwappten auch hier an den Wänden entlang. Klar erkennbar die jahrhundertelange Beharrlichkeit, mit der dies geschah. Unten war das Gebäude, das Ava auf der anderen Seite des Kanals gegenüberstand, wie ausgehöhlt: die Fassade teils abgetragen, die Backsteine freigelegt wie ein angefressener Zahnhals. Selbst die darüberliegenden Stockwerke schienen etwas von der maurischen Ästhetik eingebüßt zu haben. Das Bauwerk trotzte dennoch dem Versuch, zerfressen zu werden. Weiter oben schmückten die Balkone bunte Blumen. Eine Gondel plätscherte an Ava vorbei. Der Gondoliere, zwei ehrfürchtig dreinblickende Touristen im Gepäck, schickte ihr einen stummen Gruß, ein Augenzwinkern, dann war der Moment schon wieder vergangen und Ava war erneut allein mit der Umgebung. Erst jetzt bemerkte sie die Geisterstille, die über allem lag. Auch die umstehenden Häuser, deren Wurzeln nicht im Wasser standen, schienen angegriffen. Sie waren karger gehalten als die, die Ava bisher bestaunt hatte. Manche Ecken kamen ihr verwaist vor. Es gab nur wenige Hinweise darauf, dass hinter den geschlossenen Fensterläden Menschen wohnten. Ava passierte schmucklose Häuser, vor denen Miniaturgrünflächen lagen, sich Wäscheleinen spannten. Die einzige Anspielung auf Leben an diesem Ort. Erst nach einer ganzen Weile stieß sie auf vereinzelte Menschen - Einheimische, so vermutete sie. Kam sie ihnen entgegen, grüßten sie knapp und liefen stoisch weiter. In einigen Gassen erfassten ihre Blicke hebräische Schriftzeichen und Davidsterne. Es schien, als habe sie eine Zeitreise unternommen, anders jedoch als im übrigen Teil Venedigs, das mit der Historie tausender Jahre spielte. Hier schien der Rückblick bloß zwanzig Jahre zu umfassen. Ava fröstelte, obgleich sie nicht hätte benennen können, woran dies lag. Sie mochte ihren eigenen Gedanken nicht lauschen, konnte aber nicht verhindert, dass sie sich fragte, ob dieser Teil der Stadt früher belebter gewesen war. Vor dem, was während des Zweiten Weltkrieges geschehen war. Ava fiel erst jetzt auf, dass sie sich vor lauter Engagement, die Hintergründe des Faschismus zu ergründen, bisher zu wenig mit seinen Auswirkungen beschäftigt hatte. Sie hatte in ihrem Mahnen zwar auf die abscheulichen Massenmorde der Nazis verwiesen. Man kannte das: das schlimmste Kapitel in der Geschichte ihres Landes. Jeder wusste es – und wenige sprachen darüber. Und sie, Ava, hatte immer zu denen gehört, die darauf deuteten, dass dies die Auswüchse des Faschismus waren. Aber ins Detail gegangen war sie dabei nicht. Niemand in ihrer Umgebung. Und bislang hatte sie sich nie gefragt, ob es nötig wäre, genauer hinzuschauen, denn dass es unbegreiflich schlimm war, was Millionen von Menschen angetan worden war, stand außer Frage. Nun aber, da sie sich an einem Ort befand, der ihr von allen Seiten zuflüsterte, dass von hier aus Leben in Tode verwandelt worden waren, begann es in ihrem Kopf zu schwirren. Sie wurde durchdrungen von einem Gefühl, das irgendwo zwischen Angst, Panik und tiefer Traurigkeit seine Heimat hatte. In Beklommenheit eilte sie die zynisch sonnenbeschienenen Straßen entlang des Wassers hinunter, bis sie sich wieder in belebterem Gebiet befand. Zum ersten Mal an diesem Tag empfand sie Erleichterung über die hohe Anzahl von Menschen, die nichts davon ahnten, was ihr Herz gerade bewegte.

Die Resistenza

 

Ava erwachte früh am nächsten Morgen. Die Sonne schien durch das offene Fenster. Nach einem Moment der Orientierungslosigkeit besann sie sich, wo sie war. Als die Erinnerung den Schleier der Nacht verjagt hatte, schwankte das Gefühl in ihrer Brust zwischen Freude und leichter Beklommenheit. Heute begann die Ausstellung, derentwegen sie nach Venedig gekommen war. Und ihr gestriges Erlebnis in dem sonderbaren Stadtteil hatte den Fokus ihres Aufenthaltes derart verstärkt, dass sie sich nicht sicher war, wie es ihre Wahrnehmung der Fotodokumentation verändern würde. Sie machte sich kurz auf dem Duschklo zurecht, streifte sich ein leichtes Sommerkleid über und lief mit nassem Haar die schmalen Stufen des Gasthauses hinunter. Den enthusiastischen Morgengruß Nonna Darias in den Ohren trat sie auf das vertraute Pflaster. Da der Tag jung war, liefen erst wenige Menschen über die Straßen. Die wimmelnde Geschäftigkeit, die sie am gestrigen Tag erlebt hatte, war verschwunden. An ihre Stelle war der Zauber der kleinen Gassen getreten. Ava war nach dem langen Fußmarsch gestern zu müde gewesen, um Venedig am Abend zu erkunden. Sie hatte den Eindruck, die Magie der Stadt ziehe sich tagsüber in die schmalen Pfade zurück. In der Morgendämmerung kehre sie wieder. Ihre Neugier, diesen Wechsel in der Nacht zu erleben, wuchs. Jene Menschen, die bereits unterwegs waren, verschmolzen mit den Häuserwänden, anstatt wie Kratzer oder Staubpartikel auf dem Bildnis eines namhaften Gemäldes ins Auge zu fallen. Die Schritte der Venezianer klangen sanfter als die der Touristen. Sie schienen im Takt des Pulses ihrer Stadt zu schwingen. Es waren nur wenige Minuten bis zur Haltestelle San Marco – San Zaccaria, die in unmittelbarer Nähe des berühmten Markusplatzes lag. Durch einen Arkadengang mit hochgeschwungenen Bögen, Ballonleuchtern und Vorhängen trat Ava zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Piazza San Marco, an deren Ende ein goldener Palast stand. Der Markusdom. Ihr entfuhr ein Lachen, so üppig waren sein Prunk, die Figuren, die Zeichnungen, das Filigran des Gemäuers in byzantinischem und gotischem Stil. Vor ihm liefen gleich einem verzerrten Abbild der Handelsgeschäftigkeit aus alten Zeiten Menschen unterschiedlichster Herkunft umher, redeten, schauten, fotografierten. Durchmischt von einer Masse an Tauben, die sich unter die Personen mengten, Futter erbeuteten, umherflogen. Hier also fanden sich die Touristen. Gleich einem versteinerten Phallus reckte sich der Campanile, der Glockenturm des Markusplatzes, dem Himmel entgegen. Avas Weg führte sie entlang der goldenen Mauern der Basilica, wo sich in direkter Berührung der Palazzo Ducale (der Dogenpalast) anschmiegte. Am Ende seiner Pracht ragten zwei Monolithen aus dem Boden empor. Durch ihre unsichtbare Pforte hindurch eröffnete sich der Blick auf eine schimmernde Fläche, an deren Horizont sich zwischen ferner Nähe und naher Ferne der Scherenschnitt einiger Kuppeln und Hausdächer abzeichnete. Vor Ava lag das Becken der Lagune. Ihr war, als habe sie soeben das Tor zur Adria durchschritten. Gondeln reihten sich wie Glieder einer endlosen Kette aneinander. Schwarz lackiert, die Sitze mit rotem Samt verkleidet, tanzten sie im Einklang mit den sanften Wellen, die am Rande des Ufers jäh in ihrem Fluss unterbrochen wurden. Eine Vielzahl schmaler Holzpfähle ragte zwischen ihnen empor. Entgegen dem Bild der Kanäle, die eher der Kostbarkeit eines grünen Amethysten gleichkamen, schien hier, weniger trüb als in der Altstadt, ein blauer Topas versenkt worden zu sein. In unmittelbarer Nähe fand Ava die Haltestelle der Wasserbusse.

Als das kleine Boot ablegte, wehte der Geruch von Algen, Seegras, Schalentieren und Salz um ihre Nase. Ab und zu spritzte ihr die Gischt der Wellen ins Gesicht. Von der nächsten Station aus fuhren sie direkt in die Öffnung des Canal Grandes hinein, der hier gleich dem trichterförmigen Schoß einer zerfließenden Madonnenfigur seinen Anfang nahm. Die dritte Haltestelle auf der gegenüberliegenden Seite hieß Salute. Der beschwingte Name enthüllte auf Avas Stadtplan seine Herkunft. Er bezeichnete eine barocke Kirche mit lichtheller Rundkuppel: die Santa Maria della Salute. Ava musste an der nächsten Station aussteigen, um zum Atelier zu gelangen. Zumindest ließ dies die Karte vermuten. „Accademia!“, rief der Schaffner, der jedes Mal, wenn das Boot anlegte, ein dickes Tau auswarf, es leichthändig über einen Kreuzpoller des Anlegers zog und damit den Wasserbus fixierte. „Permesso!“, oszillierte seine Stimme durch die Luft, während er sich nach allen Seiten hin Platz für seine ausladenden Bewegungen verschaffte. Vor allem das E wurde durch die gedehnte Betonung hervorgehoben, als stimmte er eine Operette an. In seiner Modulation lag das Temperament eines tollkühnen Helden, der mit eisernem Willen, Wind und Wetter zum Trotze, seinen Weg durch die hohen Wellen fand, oder - wie in diesem Falle - durch den Strom der Menschen. Fest vertäut am Ponton der Station war das Boot schließlich gebändigt und lag in stabiler Position zum Austausch weiterer Fahrgäste. Dennoch schwankte der Boden unter Avas Füßen beträchtlich. Mit wachsender Faszination beobachtete sie die Einheimischen, die gelassen an Deck standen, ohne sich festzuhalten, die Beugung der Knie leicht veränderten, um die Bewegungen der Wellen, die sich auf das Boot übertrugen, mit spielerischer Leichtigkeit auszugleichen. Der erste Schritt zurück an Land fühlte sich irritierend an. Links der Haltestelle spannte sich eine hölzerne Brücke über den Kanal. Bisher hatte Ava steinerne Exemplare gesichtet. Diese hier sah aus, als wäre sie ein Provisorium. Allerdings erweckte das splitternde Holz nicht den Eindruck, als verbände die Konstruktion die beiden Ufer erst seit Kurzem miteinander. Ava schaute auf den Plan in ihren Händen und lief langsam durch die geschwungenen Straßenzüge, vorbei an Innenhöfen hinter hohen Metallgittertoren. Die Blumen, die hier vor neugierigen Blicken halb versteckt in üppiger Pracht wuchsen, verströmten eine Prunksüße, die sich zu Venedigs Eigengeruch gesellte. Das Pflaster klang in gewohnter Akustik in Avas Ohren. Heute weniger gespenstisch, denn das Viertel, durch das sie lief, füllte sich mittlerweile mit Menschen und lag in den Schein der Morgensonne getaucht. Ein steinerner Irrgarten breitete sich immer weiter vor Ava aus. Die Palazzi am Rande der Kanäle glänzten in nun vertrauter Anmut: zartes Rosé, gealtertes Rostrot, Beige- und Orangetöne, verziert mit weißer Stuckatur. Dazu Balkone und Fensterfronten, Blumen und Miniaturmarkisen, die einem Märchen aus tausend und einer Nacht entsprungen schienen. Manchmal überquerte Ava winzige Plätze, die als Piazzette ausgewiesen wurden, an deren Rand nicht selten ein deutlich abgelebtes Gebäude stand, aus dessen Gemäuer Pflanzen wuchsen. Entlang der Kanäle war eine Vielzahl schlummernder Boote vertäut. Durch einen Sotoportego hindurch, vorbei an einem weiteren Innenhof, gelangte Ava auf einen etwas großzügigeren Platz mit weißer Kirche (wie viele mochte es davon geben?), der auf ihrer Karte als Campo San Barnaba benannt war. Von hier aus schienen es nur wenige Schritte bis zum Atelier zu sein. In einer kleinen Gasse, zwischen Bistros und verträumten Läden, fand sie die Hausnummer, die in der Ausstellungsankündigung ausgewiesen war.

LO STUDIO DI GIULIANO LINESSI. Ein kleines Plakat an der gläsernen Front zeigte das Titelbild der Ausstellung: drei junge Menschen mit italienischen Flaggen, die vor der Basilica di San Marco lachend mit Gewehr unterm Arm posierten.

La Resistenza contro Mussolini - una raccolta di immagini di Giuliano Linessi - The resistance against Mussolini - a collection of pictures by Giuliano Linessi. Der Widerstand gegen Mussolini – eine Bildersammlung von Giuliano Linessi.

Ava trat durch die in Holz eingefasste Glastür. Der kleine Raum war gefüllt mit Menschen, die sich leise unterhielten. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien. Erst dachte sie, die Ankündigung dieser Präsentation missverstanden zu haben, denn die Darstellungen schienen ihr von zu geringer Anzahl, als dass sie als Ausstellung hätten bezeichnet werden können. Doch dann erblickte Ava eine zweite Tür, durch die weitere Personen ein- und aus gingen. Über ihre Schwelle gelangte man in einen Innenhof, der sich nach hinten hinaus zu einer Art offenen, überdachten Werkstatt öffnete. Hier war es geräumiger. Eine deutlich größere Menge von Bildern hing an den Wänden. Daneben schloss sich ein weiteres Zimmer an, welches wie eine Art Rundgang zum Eingangsbereich zurückführte. Sie umschlich die farblosen Abzüge, von denen manche beinahe eine halbe Wand einnahmen. Ihre Bewegungen verlangsamten sich. Man hätte meinen können, sie unternehme den Versuch, sich unsichtbar zu machen. Sie hielt stets einen deutlichen Abstand zu den Bildern, an denen sie vorüberglitt. In ihrem Kopf sortierten sie sich in die imaginären Kästchen, die sie über all die Jahre angelegt hatte. Sie archivierte die Orte und Gegebenheiten gewissenhaft. Nach all der Zeit benötigte sie oft nur flüchtige Blicke, um zu erfassen, welcher Kontext in den Aufnahmen dargestellt wurde, was der Kern ihrer Aussage war – fernab vom Offensichtlichen. Vor einer Fotografie, die etwa einen mal anderthalb Meter maß, blieb sie stehen. Sie verharrte dort mit jenem ehrfürchtigen Abstand, der so typisch für ihre Annäherung an Bilder dieser Art war. Jedem der vorherigen Werke hatte sie so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie es minimal notwendig war, um sich der Wahrheit nicht zu entziehen. Um nicht doch Gefahr zu laufen, die Augen zu verschließen, nicht wenigstens derer zu gedenken, die so viel Leid hatten ertragen müssen. Dennoch blieb ihr Blick an diesem Morgen 1968 an jenem Bild haften. Länger als an den anderen. Sie trat drei weitere Schritte zurück, um seine Gesamtheit zu betrachten. Die Ablichtung zeigte zwei junge Frauen und einen jungen Mann, die vor einem Gebäude standen, das, obgleich es nicht zerbombt worden war, den Eindruck von Leid erweckte. Als blicke man auf das Skelett eines Hauses. Türen und Fensterläden waren weit aufgesperrt. Davor pflasterten Kleidungsstücke den Boden, zwei halb geöffnete Koffer, eine kleine Puppe mit vorwurfsvoller Miene. Die Ausdruckskraft dieses Bildes ließ Ava grübeln, ob es nachträglich hätte erstellt sein können. Als Mahnmal dafür, worauf es hinwies. Casa abbandonata dopo l'espulsione degli ebrei. Venezia, Cannaregio, 1944, stand darunter. Daneben die englische Übersetzung, deren Bedeutung Ava rasch erschloss: Verwaistes Haus nach der Vertreibung der Juden. Venedig, Cannaregio, 1944. Die Menschen vor dem Gebäude trugen Waffen um die Schultern. Partisanenkämpfer. Mitglieder der Resistenza in Venedig. Die Venezianer, das hatte Ava recherchiert, hatten damals größere Probleme gehabt, einen Widerstand zu errichten, als es in anderen Städten der Fall gewesen war. Die Begrenzung durch das Wasser verhinderte es, einen sicheren Rückzugsort am Stadtrand zu etablieren. Die Brücke zum Festland als einziger Fluchtweg an Land war von den Deutschen intensiv bewacht. Ein Entkommen durch die Lagune bedeutete ein vergebenes Unterfangen, da die Gewässer ebenfalls leicht zu kontrollieren waren. Hinzu kam, dass Venedig zu jener Zeit fast die doppelte Anzahl an Menschen beherbergte wie in den Jahren zuvor, da viele hierhin flohen, in der Hoffnung, die Alliierten würden die Stadt wegen ihrer Kulturgüter nicht bombardieren. Dadurch waren auch die Deutschen in hoher Anzahl präsent und die städtischen Angestellten waren eng mit dem faschistischen Regime verbunden. Der Aufbau einer Widerstandsgruppe war daher äußerst schwierig und riskant gewesen.

Der junge Mann und eine der beiden Frauen auf dem Foto hatten ihr Gesicht dem verlassenen Haus zugewandt. Was in ihrer Mimik zu lesen war, konnte man nur erahnen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, befand Ava. Es konnte nur ein einziger Ausdruck darin liegen. Jener, den sie in Tausenden von Gesichtern auf alten Fotos gesehen hatte: eine Mischung aus Schrecken, Abscheu und Traurigkeit. Die zweite junge Frau hingegen hatte sich ein Stück der Kamera entgegengeneigt, so als sei ihr soeben erst aufgefallen, dass sich ein vierter Mensch an diesem Ort befand. Den Mund halb geöffnet wirkte sie überrascht und unvorbereitet. Und in jener Überraschung war ein Teil ihrer Versunkenheit in den vorliegenden Gräuel aufgebrochen. Ava glaubte, in ihren Augen zu erkennen, dass darin noch etwas anderes lag. Eine Art Tatendrang, ein Keimling, der aus all der Fassungslosigkeit emporkroch, wie der Stiel eines Frühblühers durch die Schneedecke des deutschen Winters. Diese Frau war entschlossen gewesen, ihr eigenes Leben einzusetzen, um mit allem, was sie hatte, wer sie war und was sie jemals sein würde, Nein zu sagen. Dagegen aufzustehen, was in ihrem Land geschah. Ava trat zwei weitere Schritte zurück, um die Gesamtheit des Bildes mit veränderter Perspektive begutachten zu können, seine Wirkung auf den Betrachter, die Atmosphäre, die es speziell in ihrem Inneren auszulösen vermochte. In diesem Moment, da sie ihren letzten gezielten Schritt ausführte, stieß sie an einen fremden Körper. Ava erschrak und fuhr herum. Sie blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Er war etwa in ihrem Altern, höchstens wenige Jahre älter. Hochgewachsen, schmal, das schwarze, verwirbelte Haar fiel ungezähmt in die Stirn. Seine Augen waren groß und dunkel. In ihnen lag etwas, das Ava augenblicklich den Eindruck vermittelte, dass er mit ähnlich analytischem Blick, mit derselben Versunkenheit und Weitsicht die Szenerie des Bildes betrachtet hatte. Er sagte nichts, schaute sie nur freundlich an. Sie lächelte verlegen. „Entschuldigung“, raunte sie.

„Non male.“

Ob er Italiener sei, flüsterte Ava auf Englisch. Er bejahte. Sie entfernten sich wenige Schritte von jenem Punkt, an dem sie zusammengestoßen waren. Der junge Mann, der sich als Toma vorstellte, erzählte, er sei Student aus Venedig, der für eine Arbeit an der Universität gemeinsam mit seinem Freund an der Recherche zu ein paar der ausgestellten Bilder mitgewirkt hatte. Dem gehöre das Atelier. Ob die Ausstellung Ava gefalle. Natürlich! Was er studiere, wollte Ava wissen. Er wolle Lehrer werden, Geschichte, Politik und Kunst unterrichten. Außerdem studiere er zusätzlich Philosophie. Es sei sein letztes Semester. Danach sei er fertig. Während Toma ihr von sich und den Hintergründen der Bildersammlung erzählte, hatte Ava den Eindruck, von seiner Stimme auf eine Weise berührt zu werden, die ihr fremd war. Ihr schien, als könne sie seine Worte als Schwingungen auf ihrer Haut wahrnehmen, als Liebkosungen einer vorgelagerten Membran, die auf derselben Frequenz vibrierte. Etwas an seiner Art zu reden, womöglich am Stil, wie er sprach, an seiner Mimik, erschuf die Eingebung, diesen Menschen schon ewig zu kennen. Ein gleichwohl beängstigendes wie beglückendes Gefühl erfüllte ihren Brustkorb und ließ ihr Herz ein wenig schneller schlagen. Sie nahm sich vor, im Nachgang des Gesprächs die Hintergründe ausgiebig zu reflektieren. Sie war sich sicher, eine logische Erklärung dafür finden zu können. Ähnlich wie für die eigenartige Wirkung, die die Stadt auf sie hatte. Vermutlich, so überlegte sie, überlagerte diese fremdartige venezianische Atmosphäre ihre Begegnung. Demnach, so schloss sie rasch, musste sie sich in diesem Moment nicht länger beunruhigen. So lauschte sie weiter seinen Worten und versuchte sich einzig auf die Freude zu konzentrieren, jemandem ihres Alters begegnet zu sein, der sich mit ähnlichem Engagement mit den Themen auseinandersetzte, die sie seit jeher als Teil ihrer Lebensaufgabe verstand.

Ihr Austausch fand auf hohem Niveau statt. Toma kannte sich bestens aus, und die Sprachbarriere, die zwischen den beiden jungen Menschen hätte bestehen können, löste sich größtenteils auf, dadurch, dass er die englische Sprache ebenso beherrschte wie Ava. Was Schwierigkeiten bereitete, wurde umschrieben oder einfacher formuliert. Seinen Akzent empfand Ava als authentischen Blick auf seine Herkunft und die enge Verbundenheit mit dem Thema der Ausstellung. Manchmal ließ er ein paar einzelne italienische Wörter einfließen, deren Bedeutung sich Ava aus dem Kontext heraus erschlossen.

„Giuliano hält an der Università Vorträge. Er fotografiert nicht nur selbst, sondern bereitet häufig ähnliche Ausstellungen wie diese hier vor, in denen er alte Fotografien eines Ortes aktuellen Bildern gegenüberstellt, die zeigen, wie es dort heute aussieht. So verbindet er Geschichte mit Kunst. Ich zumindest finde seine Fotografien äußerst kunstvoll. Sie gehen in die Tiefe. Man hat das Gefühl, dass jede einzelne von ihnen eine ausführlichere Geschichte erzählt, als es bei anderen Immagini den Anschein macht. Übrigens nicht nur dadurch, dass sie neben den ursprünglichen Aufnahmen stehen. Ich finde, dass die Bilder auch ohne diesen Kontext ihre eigene Sprache sprechen. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine …“

Ava nickte. „Doch, genau das empfinde ich auch. Deswegen fesselt mich diese Ausstellung auch so.“

„Wie hast du überhaupt davon erfahren?“, wollte Toma wissen. „Eine kleine Ausstellung in Venezia, nicht in deinem Heimatland, nicht ausgeschrieben ...“ Er lachte. „Du bist wahrscheinlich die einzige Besucherin hier, die aus dem Ausland kommt.“

Ava erzählte, dass ein Kollege ihr diesen Tipp gegeben hatte. Ein Journalist, mit dem sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte, der Reiseführer schrieb, als Auslandskorrespondent tätig war …

„Ah, Beziehungen. Le informazioni segrete.“ Wieder lachte Toma.

„Was meinst du?“

„Insider Informationen“, versuchte er zu erklären.

„Ach so, ich verstehe. Ja, er ist schon seit zwanzig Jahren in dem Beruf und arbeitet fast ausschließlich in Italien.“

„Und ihr seid bei derselben Zeitung? Oder Fernsehen? Wie genau arbeitest du?“

Ava erzählte von ihrer Tätigkeit als freiberufliche Journalistin, von den unterschiedlichen Themen, den Verschiedenheiten der Redaktionen, der sich immer wieder ändernden Auftragslage.

„Das stelle ich mir schwierig vor“, überlegte Toma.

„Stimmt“, gab Ava zu. „Aber es gibt mir auch die Freiheit zu solchen Reisen wie dieser. Ich habe recht gute Verbindungen, das ging zum Glück vergleichsweise schnell, bereits während des Studiums. Ich habe aber auch den Vorteil, einen Vater zu haben, der in diesem Bereich arbeitet.“

Toma nickte. „Ah, capisco. Das macht das Ganze natürlich leichter.“

„Außerdem habe ich eine kleine Dozentenstelle an einer der Universitäten in München, meiner Heimatstadt. Dabei geht es auch im Fokus um Geschichte. Damit haben wir zwei eine Gemeinsamkeit. Dazu gehören zudem ein paar Stunden wissenschaftlicher Mitarbeit. Und auch dabei genieße ich hohe Flexibilität. Mein Vorgesetzter ist sehr entspannt. Er schätzt meine Expertise und lässt mir daher viel Spielraum für weitere Forschung. Zum Beispiel zu Themen wie diesem.“

„Aber wie kommst du ausgerechnet auf so ein Thema? Auf die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus.“ Avas Frage vorwegnehmend, erklärte er, bei ihm selbst sei dies naheliegender, da die Beschäftigung mit der Vergangenheit des eigenen Landes einem Menschen gewissermaßen als Erbe in die Wiege gelegt würde, anders als die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines fremden Landes.

„Ich glaube, es kam dadurch zustande“, erklärte Ava, „dass ich bereits von klein auf sehr intensiv mit dem Thema des deutschen Faschismus in Kontakt gekommen bin. Ich habe somit irgendwann automatisch über die Grenzen Deutschlands hinaus gedacht. Die Schnittstelle ist für mich natürlich immer der Zweite Weltkrieg gewesen. Ich nehme an, dass du ähnlich aufgewachsen bist? Dass du von deinen Eltern viel erzählt bekommen hast? Daraus ergeben sich natürlich automatisch Fragen.“

Toma deutete mit einer leichten Kopfbewegung an, etwas entgegnen zu wollen, ließ sie jedoch weitersprechen. Ava fuhr fort: „Es fing im Grunde damit an, dass ich bereits seit meiner Kindheit begonnen hatte, zu hinterfragen, wie dieser Hass auf andere Menschen entstanden ist. Wie es überhaupt zum Krieg kommen konnte. Irgendwann landete ich geschichtlich dabei, wie es Adolf Hitler möglich gewesen war, die Macht zu ergreifen. So etwas erschließt sich durch das Studieren von Geschichtsbüchern, in den Archiven unterschiedlicher Zeitungen. Ich hatte noch dazu das Glück, dass meine Eltern recht engagiert im Widerstand gegen das Nazi-Regime waren.“

„Oh, das ist interessant“, horchte Toma auf.  „Du hast gerade gesagt, dass deine Eltern dich früh mit dem Thema konfrontiert haben. Wie kann ich mir das vorstellen? Ein Kind mit den Schrecken der Vergangenheit zu konfrontieren, kommt mir eigenartig vor.“

Ava sah ihn erstaunt an. So etwas hatte ihr noch nie jemand gesagt. Sie war sich nicht sicher, welchem ihrer spontanen Empfindungen sie eher nachgehen sollte: der Bewunderung, die mit seiner Ehrlichkeit einherging, oder der Entrüstung darüber, dass dieser Fremde sich anmaßte, über ihre Eltern zu urteilen. Toma mochte ihre Irritation bemerkt haben, denn - als könnte er ihre Gedanken lesen - setzte er nach: „Natürlich kenne ich deine Eltern nicht, und ich möchte nicht vorschnell über sie urteilen. Aber ich hoffe, du erlaubst mir, diese Frage zu stellen. Ich bin neugierig, was die Beiden dazu bewogen hat, denn ich selbst könnte mir nicht vorstellen, meine zukünftigen Kinder so früh damit zu konfrontieren.  Hat es etwas mit der Art zu tun, wie deutsche Eltern ihre Kinder großziehen?“

Ava überlegte. „Ich denke nicht, dass dies in einem kulturellen Unterschied begründet liegt. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass sie selbst so engagiert waren. Engagiert dafür, sich an Menschenliebe und Toleranz zu orientieren, anstatt an Fremdenhass und Schuldzuweisungen, Ungerechtigkeiten und Krieg.“

„Ehrbare, moralische Ziele“, kommentierte Toma.

„Ja genau“, bekräftigte Ava, hoffend, damit ein Argument gegen die Annahme gefunden zu haben, ihre Eltern hätten nicht richtig gehandelt. „Ich glaube, es war ihnen wichtig, vor allem beim eigenen Kind dafür zu sorgen, dass ihre Überzeugungen auch weiter in die Welt hinausgetragen würden. Vielleicht taten sie es aus Vorsicht. Vorbeugend für den Fall, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Ich wäre andernfalls schließlich nicht ausreichend informiert gewesen.“

Tomas Gestik, den Kopf ein wenig von der einen zur anderen Seite zu wiegen, vermittelte ihr den Eindruck, er sei nicht recht überzeugt. „Gut möglich, dass es auch etwas damit zu tun hat, wie ihr Deutschen nach der Befreiung von den Nazis in der Welt dasteht. Ihr tragt gefühlt die ganze Schuld für das größte Unglück dieses Jahrhunderts. Wir Italiener haben es uns leichter gemacht: Auch wir hatten ein faschistisches Regime. Auch hier sind schlimme Dinge passiert, aber reden tun alle über die Nazis. Über die Befreiung von der deutschen Wehrmacht und der SS. Es ist angenehmer, sich als Volk der Resistenza zu verstehen. Aber es war nicht das ganze Volk, das Widerstand leistete. Im Gegenteil: Ein unangenehm großer Teil der Bevölkerung sprach dem Faschismus zu. Der Sinneswandel hatte seinen Ursprung eher im ausbleibenden Kriegserfolg und Versorgungsnöten denn in Nächstenliebe und demokratischem Denken. Ganz zum Schluss haben wir noch die Kurve gekriegt und uns einfügen können in die Reihen derer, die von sich behaupten, auf der richtigen Seite gestanden zu haben, aber die glorreiche Selbstbefreiung gab es auch bei uns nicht.“

„Eine interessante Überlegung. Wie haben es denn deine Eltern mit der Aufklärung über das Kriegsgeschehen gehalten?“, wollte Ava wissen. „Molto diverso. Anders“, sagte er und lächelte. „Ihre Philosophie der Erziehung bestand darin, zu warten, bis ich selbst Fragen stellte. Meine Eltern waren sehr gläubig. Und sie haben es im Glauben ebenso gehalten wie in Bezug auf die Aufklärung über die Vergangenheit. Ich bin als Kind immer von selbst auf Fragen und Themen gestoßen. Und konnte ich diese fassen, so bin ich damit an meine Eltern herangetreten. Dann haben sie meinen Wissensdurst gestillt. Und ich bin der Meinung, dass sie dies in einer Tiefe getan haben, wie es in den entsprechenden Momenten angemessen war.  Reichte es mir, so haben sie nicht mehr erklärt als ich erbeten hatte. Fragte ich weiter nach, erfuhr ich mehr.“

„Und würdest du sagen“, erkundigte sich Ava, „dass du so genug erfahren hast, um zu wissen, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist? Oder denkst du, dass du erst durch Schule und Studium einen tieferen Einblick erhalten konntest?“

„Naturalmente. Tiefer war der Einblick später im Erwachsenenalter sicherlich“, gab Toma zu. „Doch das, wovon du sagst, dass es deinen Eltern wichtig gewesen sei, ist auch an mich transportiert worden. Mit dem Unterschied, dass die Bürde, die unser Land trägt, deutlich geringer ist als die, mit der ihr in ganz Deutschland leben müsst.“

„Vielleicht liegt darin der ausschlaggebende Unterschied.“ Ava verspürte Erleichterung. Hatte er ihr doch einen Ausweg geboten, ihre Eltern als die dastehen zu lassen, die sie immer gewesen waren: engagierte, verantwortungsvolle Bürger, die ihre Tochter früh in die notwendige Verantwortung gezogen hatten.

„Auf welche Art haben deine Eltern damals im Zweiten Weltkrieg Widerstand geleistet?“, wollte Toma wissen.

„Oh, auf ganz unterschiedliche Weise: Zuerst begann es damit, Mitte der Dreißigerjahre, deutlich vor Kriegsbeginn, dass sie sich mit einer kleinen Gruppe zusammenschlossen, um Flugblätter zu verteilen. Sie riefen darin zur Auflehnung gegen die Regierung auf. Im Laufe der Jahre wurden sie vorsichtiger und wählten vor allem Aktionen indirekter Gegenwehr. Sie fertigten gefälschte Pässe für jüdische Bürger an und verbreiteten BBC-Nachrichten. Auch sympathisierten sie stark mit einer sehr bekannt gewordenen Gruppierung, der sogenannten Weißen Rose aus München. Meine Eltern schlossen sich ihr jedoch nicht an, da die Offenheit ihres Widerstandes ihnen zu riskant erschien. Wie viele operierten sie also nicht großflächig vernetzt, sondern im Stillen für sich. Das Engagement meiner Mutter mündete schließlich darin, dass sie zwischen 1942 und 1945 etwa dreißig jüdische Verfolgte aus der Umgebung bei sich versteckte.“

„Was sicherlich sehr gefährlich war“, überlegt Toma.

„Ja, das war es. Zumal sie damals auf sich allein gestellt war. Es gab seinerzeit einen Keller, in dessen hinterem Teil die Kohle für die Öfen gelagert wurde. Dort gab es kein Licht; man musste sich mit Taschenlampen zurechtfinden. So konnte man leicht übersehen, dass es eine Nische zwischen Wand und Kohleberg gab, durch die man sich hindurchquetschen und bis hinter die Kohle gelangen konnte. Dorthin führte meine Mutter ihre Gäste, wenn es zu Hausdurchsuchungen kam.“

„Das ist ehrenhaft und mutig von deinen Eltern gewesen“, gab Toma zu. „Dein Vater war in der Zeit wohl im Krieg?“

„Er kämpfte in Nordfrankreich. Später war er in Kriegsgefangenschaft.“

„Haben deine Eltern dir je genauer von diesen Erlebnissen erzählt? Von den Kriegstraumata, oder davon, was mit den anderen Juden passierte, die deine Mutter nicht versteckt hielt?“

„Nein“, antwortete Ava wahrheitsgemäß. „Das ist tatsächlich etwas, worüber wir nicht sprechen.“ Sie wurde nachdenklich. In solchen Kategorien hatte sie nie gedacht, das wurde ihr in diesem Moment zum ersten Mal klar. Jetzt, da sie mit dem fremden Italiener hier in Venedig im Stadtteil Dorsoduro in der Ausstellung stand. Sie hatte noch nie Anstoß daran genommen, dass selbst ihre eigenen Eltern über gewisse Dinge nicht sprachen. Und dabei war sie doch stets der Überzeugung gewesen, die beiden würden es mit der Offenheit so viel besser halten als diejenigen, die hofften, dass die Stille die Vergangenheit ausradieren könnte. Sie hatte ihre Eltern immer für Menschen gehalten, die genau dagegen ankämpften: gegen das Vergessen. Doch nun wurde ihr gewahr, wie absurd diese Haltung wirkte, wenn der vielleicht wichtigste Teil auch von ihnen nicht angesprochen wurde. Das, was ihr Vater im Krieg erlebt hatte, das, was seit jeher zwischen den Zeilen der Erzählungen ihrer Mutter geschwebt hatte und das, was Toma im nächsten Moment aussprach.

„Hat deine Mutter alle Juden retten können, die sie bei sich versteckt hielt? Und falls nicht: Weiß sie, was mit ihnen geschehen ist?“

Ava wusste nicht, welches Gefühl sie in diesem Moment mehr verwirren sollte. Die Fassungslosigkeit darüber, zu spät darauf zu stoßen, was immer so offensichtlich vor ihr ausgebreitet gelegen hatte? Der Verrat an der Wirklichkeit, den ihre Eltern begangen hatten und fortwährend begingen? Oder die Sprachlosigkeit darüber, dass Toma eine Frage formulierte, die genau dazu passte, was sie in jenem Augenblick dachte. Wie konnte es sein, dass ein Mensch, dem sie soeben erst begegnet war, sie so gut zu kennen schien? Ihr war das Gefühl des Zusammenhaltes bekannt, die Wohltat, sich mit engen Freunden über ein Thema auszutauschen, über das Einigkeit bestand. Verstanden zu werden. Die vertrauteste aller Freundinnen, Elisabeth, kurz Elli genannt, eine junge Frau mit rotem, langem Haar und einem stets breiten Lächeln zwischen ihren Grübchen, war wie ein Familienmitglied für Ava. Mit ihr war sie seit der Grundschulzeit eng befreundet. Sie lachten oft darüber, in ähnlichen Situationen das Gleiche zu denken, verwandte Worte zu verwenden, sodass sich die aktiven Anteile ihrer Konversationen zum Teil überschnitten. Ellis fröhliche Natur hatte schon früher einen Ausgleich für Ava bedeutet. Eine Ablenkung von den schweren Themen, mit denen sie sich beschäftigte. Sie bewunderte ihre Freundin dafür, sich auf die Seiten des Lebens zu konzentrieren, die Freude und Leichtmut verhießen. Dennoch hatte Ava nie das Gefühl gehabt, Elli zu denen zählen zu müssen, die sich zu wenig mit der Vergangenheit auseinandersetzten. Im Gegenteil: Sie hörte Ava zu, unterstützte sie bei ihren Nachforschungen, half manches Mal sogar, etwas geradezurücken, was Ava verfälscht wahrnahm, wenn sie sich zu sehr in Details ihrer Recherchen verfing, Gefahr lief, den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Ava fragte sich, wie es jetzt in diesem Moment gewesen wäre, Elisabeth an ihrer Seite zu haben. Vielleicht hätte sie ihr zugeflüstert, sich zu besinnen, weshalb sie hier war. Sie hätte sie womöglich daran erinnert, dass sie in Giuliano Linessis Ausstellung weitere Informationen einholen wollte, über die Tätigkeiten der Resistenza, über die Orte, an denen sie gewirkt hatte. Gleichzeitig war Ava sich nicht sicher, ob Elisabeth in einem solchen Moment nicht eher ihre Frohnatur in den Vordergrund gestellt hätte und Freude daran gefunden hätte, sich ebenfalls mit Toma zu unterhalten. Sie hätten sich verstanden. Für eine Romanze wäre er allerdings sicher nicht infrage gekommen. Dafür waren seine Überlegung denen Avas zu ähnlich. Auch wenn Elisabeth durchaus nicht oberflächlich war, so mochte sie es nicht, sich mit Menschen zu umgeben, die ausschweifend trüben Gedanken nachhingen, sich allzu sehr mit Negativem befassten und für ihr Dafürhalten zu wenig in die Zukunft blickten. Ava war dabei die Ausnahme. Wie eine große Schwester, die auf das jüngere Kind Acht gibt, hatte Elisabeth ihre Rolle darin gefunden, Ava stets an die positiven Seiten des Lebens zu erinnern. Was ihre Einstellungen betraf, so schien sie zwei entgegengesetzte Pole desselben Feldes zu sein. Ellis Blick auf die Szene der Ausstellung wäre ein anderer als der Avas gewesen. Sie hätte ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet, Bekanntschaften zu machen, Toma über die besten Restaurants und Sehenswürdigkeiten Venedig auszufragen, schnatternd zu drängen, Giuliano Linessi vorgestellt zu werden. Vielleicht wäre es sogar darauf hinausgelaufen, dass die beiden Frauen mit den Venezianern den Rest des Tages verbracht hätten. Oder dass ihre Freundin mit dem Fotografen in einem Hinterzimmer verschwunden wäre. Elisabeth hatte ein Händchen für solche Entwicklungen. Sie hatte es stets verstanden, Jungen (später die Männer) um den Finger zu wickeln. Ava bewunderte sie dafür. Mit spielerischer Leichtigkeit, die ihrer Unbefangenheit geschuldet war, war sie stets diejenige gewesen, die neue Bekanntschaften machte. Und das in einer Frequenz, bei der einem schwindelig werden konnte. So, als geschähe all dies ohne ihr Zutun. Es war immer Elisabeth gewesen, die seit dem späten Jugendalter Partnerschaften hatte. Und davon nicht wenige. Sie war mit allem, was zu ihr gehörte, ein Kind der sozialen Revolution. In gewisser Weise setzte sie sich ebenso intensiv mit der geschichtlichen Entwicklung auseinander wie Ava. Ihr Fokus lag auf dem Widerstreit der Generationen. Sie grenzte sich, wie so viele in ihrem Alter, laut und provokant von der Elterngeneration ab. Anders als Ava. Weniger mahnend, weniger mit der Vergangenheit hadernd. Sie war in ihrer Verarbeitung exzentrischer, aktiver. Renitenter. Schlugen die Eltern ihre Hände über dem Kopf zusammen, wenn Elisabeth die dritte Woche in Folge einen neuen Mann nach Hause brachte, so ließ sie es sich doch nicht nehmen, laut zu verkünden, dass sie entschieden habe, einer Kommune beizutreten. Was sie schließlich tat. Mit ihrer Sexualität war sie immer schon bemerkenswert offen umgegangen. So offen, dass es Ava häufig die Schamesröte ins Gesicht trieb. „Du musst lockerer werden“, hatte Elli ein ums andere Mal gesagt. „Du verpasst so viel!“

„Irgendwann wird schon der Richtige kommen“, hatte Ava erwidert. „Ach was“, hatte Elisabeth abgewunken. „Es gibt nicht den Richtigen. Du machst einen Fehler, wenn du auf einen einzigen Kerl wartest. Sie sind so unterschiedlich und dennoch so gleich. Dir entgeht etwas, wenn du nicht die Chance nutzt, so viele Menschen wie möglich auszuprobieren. Es ist fast wie mit einem guten Essen. Du musst erst mehrere Geschmacksrichtungen kennengelernt haben, um deine Lieblingssorte herauszufinden.“ Beim Anblick von Avas Mienenspiel hatte sie schallend zu gelacht und ihre Freundin in eine herzliche Umarmung gezogen. „Was mache ich nur mit dir? Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.“  Aber Ava hatte sich auf niemanden eingelassen. Auf den zahlreichen Partys, zu denen Elisabeth sie mitschleppte, war sie eher eine Randerscheinung. Zu wenig schillernd, zu wenig experimentierfreudig. Alkohol? In Maßen. Zigaretten? Kratzten im Hals und stanken. Andere Drogen? Nein. „Ich mag es nicht, die Kontrolle abzugeben, das weißt du“, erklärte sie Elli immer wieder. „Du verpasst etwas“, kam der typische Kommentar. Ava liebte ihre Freundin dennoch. Und trotz ihrer Unterschiede waren es die stillen Momente, in denen ihr Elisabeth besonders nah war. Die Momente, in denen beiden Frauen klar vor Augen lag, dass sie ein entscheidendes Ziel teilten: die Haltung der vorherigen Generation nicht mehr mitzutragen. Ava durch die Aufklärung, in die sie bisher Mutter und Vater gedanklich eingerechnet hatte. Elli auf ihre eigene Weise. Sie hatte nie die Haltung von Avas Eltern infrage gestellt. Zumindest nicht mehr, als sie es üblicherweise gegenüber den älteren Generationen tat.  „Alles verstaubt und verkrustet. Die Erziehung, der Umgang mit der Vergangenheit, der Demokratiegedanke ... Das alles muss weg. Erneuert werden muss es!“ Sie unterschied nicht zwischen einzelnen Personen, hatte aber niemals direkt benannt, dass sie Avas Eltern hinzuzählte. Toma hatte es damit anders gehalten. Er hatte einen Anstoß gegeben, durch den Ava sich nun fragte, in welchem Licht sie die beiden zu sehen hatte. Und er hatte mehr als einmal in diesem kurzen Gespräch, im Wimpernschlag der Zeit, die sie sich kannten, bewiesen, dass sie auf einer Wellenlänge schwangen. Jenes Schwingen war durchaus vergleichbar mit der Beziehung zwischen Elisabeth und ihr, so intensiv ihre Verbindung auch war. Abgesehen von Avas unterschwelligem Schwermut waren Elli und sie sich nicht unähnlich. Sie verband viel. Und doch hatte Ava selbst mit ihr nie ein solches Erlebnis gehabt wie in diesem Moment in Venedig. Unbekannt war das Gefühl, einem Teil ihres Ichs gegenüberzustehen. Es war nicht nur eine feine Nuance, in der ihr inneres Band lag. Es fühle sich an wie eine eigene Welt. Als hätte sich parallel zur Realität ein zweiter Raum geöffnet, der Toma und sie umgab. Ein Raum, der unabhängig von der laufenden Zeit um sie herum existierte.

So anders dieser Mensch sein mochte, so abweichend seine Gestik von der ihren war, seine Mimik, seine Optik, die Sprache, die Umgebung, in der er wohnte, ja die Gestaltung seines gesamten Lebens und wohl weite Teile seiner Weltanschauung: Diese Begegnung vermittelte ihr das Gefühl, ein verlorenes Fragment ihrer selbst zu erkennen, das sie niemals gesucht hatte. Nun, vor ihm stehend, lag jenes unerklärliche Wissen in ihrem Inneren: dass dieses Bruchstück ihres Daseins immer schon gefehlt hatte. Das daraus erwachsende Gefühl beengte Ava zutiefst.