Die Menschenfängerin - Nina Pilckmann - E-Book

Die Menschenfängerin E-Book

Nina Pilckmann

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Beschreibung

Das Leben der 28-jährigen Ilaria steht kopf, als sie in Italien die alten Tagebücher ihrer verstorbenen Nonna findet.
Sie entschlüsseln, dass Oma und Enkelin eine eigentümliche Gabe teilten: das Verhalten anderer vorherzusagen und Menschen ungewollt in ihren Bann zu ziehen.
Was steckt dahinter? Und wieso scheint ausgerechnet der charmante Hendrik dagegen immun zu sein?
Nils, ihr bester Freund, warnt Ilaria zur Vorsicht, doch ehe sie sich versieht, steckt sie inmitten eines Strudels aus alten Familiengeheimnissen und der Wahrheit über ihre Herkunft.

Ein Roman über eine ungewöhnliche Gabe, ein wohlgehütetes Familiengeheimnis und den Weg zur wahren Liebe.

HINWEIS ZUR SEITENZAHL: Die Printversion umfasst 292 Seiten; die hier angebenene Seitenzahl von 209 bezieht sich lediglich auf eine automatische Berechnung im Zuge der Umwandlung in ein E-Book und bedeutete keinerlei Kürzungen des Inhaltes.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nina Pilckmann

 

 

Die Menschenfängerin

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

 

Nie hat Nonna Clelia ihrer Enkelin Ilaria Liebe und aufrichtige Wertschätzung entgegengebracht, ganz anders als Nonno Giuseppe. Nach dem Tod der italienischen Großmutter sitzt Ilaria auf dem Dachboden des gealterten Hauses in Valle dei Fiori, dem Tal der Blüten, und hält deren Tagebücher in Händen. Ob sie enthüllen, weshalb ihre Beziehung so schwierig war? Sind sie der Schlüssel zum Geheimnis ihrer mysteriösen Gabe, die Zukunft vorhersehen zu können? Und die Antwort darauf, weshalb Ilaria Menschen magisch in ihren Bann zu ziehen scheint?

Und was hat es mit Hendrik auf sich, dem einzigen Mann, dem Ilaria ihrerseits verfällt und der offenbar immun gegen ihre Aura ist? Nils, ihr bester Freund, warnt Ilaria zur Vorsicht, doch ehe sie sich versieht, steckt sie inmitten eines Strudels aus alten Familiengeheimnissen und der Wahrheit über ihre Herkunft. Schließlich läuft sie Gefahr, die Chance auf die wahre Liebe zu verpassen. Dabei hängen die Kirschblüten des Lebens längst in greifbarer Nähe. Sie muss diese nur noch zu greifen wissen!

 

 

 

 

 

 

Über die Autorin:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nina Pilckmannwurde am 01.06.1982 im Ruhrgebiet in Deutschland geboren und arbeitet hauptberuflich als Psychotherapeutin. Ihr Fokus liegt auf der Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur, Philosophie und antagonistischen Kräften. Seit 2007 verfasst sie vorwiegend Entwicklungsromane und Kinderbücher. 2025 kam es zur ersten Veröffentlichung. Sie lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann in Duisburg.

 

 

Nina Pilckmann

 

 

Die Menschenfängerin

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

[email protected]

www.ninapilckmann.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, veröffentlicht 2025.

© 2021 Nina Pilckmann – alle Rechte vorbehalten.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

 

Cover: Thomas&Nina Pilckmann

 

Impressum: Nina Pilckmann, Oberstraße 40, 47829 Krefeld

 

 

Taschenbuch-ISBN: 978-3-7693-6739-3

 

[email protected]

www.ninapilckmann.de

Für Sara

1

Es war der Sommer des Jahres 1995, als ich die Tagebücher meiner Nonna fand, meiner kurz zuvor verstorbenen Oma. Wir waren uns selten begegnet, zwei Dutzend Male vielleicht. Im Frühjahr war ich oft mit meinen Eltern nach Norditalien gefahren, zur Familie meiner Mutter, die in einem kleinen, verschlafenen Dorf am Rande der Dolomiten lebte. Ich hatte dort, neben Nonna Clelia, Cousinen und Cousins, drei Onkel mit ihren Ehefrauen und außerdem Nonno Giuseppe. In meiner Erinnerung war die Luft im Valle dei Fiori, dem Tal der Blüten, wie ich es im Stillen für mich nannte, stets erfüllt vom unerschöpflichen Duft der Kirschknospen, die nach dem Öffnen ihre weißen und rosigen Blätter über die Straßen des Städtchens wehten, als wären sie Schneeflocken, die in ihrem Tanz lachend den Strahlen der warmen Frühlingssonne trotzten. Im Garten des steinernen Hauses meiner Großeltern wuchs wilder Wein und auch die alten Molinara-Reben, die der Großvater meiner Nonna dort gepflanzt hatte. Im Herbst hingen sie erst purpurn, dann bläulich-schwarz, schwer und fruchtbar an den Weinstöcken. Der Saft floss tiefrot aus den prallen Trauben, gleich den Lippen einer Geliebten nach dem Liebesspiel. Die alte Holzbrücke stammte aus dem 16. Jahrhundert. Sie führte über den kleinen Fluss „il Nastro“. Noch so ein Name, der meiner Innenwelt entstammte. Das blaue Band trennte die eine Seite des Städtchens von der anderen. Die Brücke jedoch verband beide Stadtteile wie zwei Menschen, die durch diese eine, einzige Verbindung in Vollkommenheit zueinanderfanden. Eine Verbindung, so rätselhaft und doch folgerichtig, unumstößlich und allen Widrigkeiten zum Trotze. Ohne sie hätte die eine Seite nicht zur anderen gehört, und der Lauf der Geschichte wäre verwandelt worden. Folglich nannte ich sie stets il Ponte dell’Amore - die Brücke der Liebe. Ich hatte früher oft auf ihr gerastet und dem Wasser unter mir zugeschaut, wie es unermüdlich und beharrlich seinen Weg nahm. Aus den Alpen kommend, bald ins Mittelmeer mündend, Salz- mit klarem Süßwasser bereichernd, zu einer neuen Symbiose findend. Schon damals war ich fasziniert gewesen von der Vorstellung, dass es auf der Welt zu jedem Geschöpf, jedem Ding ein passendes Gegenstück geben musste, so wie der westliche Stadtteil zum östlichen, das Süßwasser zum Salzwasser, Nonna zu Nonno, meine Mutter zu meinem Vater. 

 

Nonna Clelia und ich hatten kein sonderlich inniges Verhältnis gehabt, obgleich ich sie gerne mochte. Mich hatte zeit meines Lebens das Gefühl begleitet, dass sie meine Mutter, auch als diese schon lange erwachsen war, ihrer Enkelin so deutlich vorzog, dass für mich in ihrem Herzen kein Platz war. Ich erinnere mich besonders an einen Abend, an dem ich nach einem leichten Frühlingsregen die nassen Sachen auszog, mich in eine Decke hüllte und zu meiner Nonna auf die Couch gesellte, um mich an sie zu schmiegen. Sie blieb, wie so oft, regungslos sitzen und schaute stumm auf mich hinab. Zwar mit einem zarten Lächeln, aber doch so, dass ich die Anstrengung bemerkte, einen diffusen inneren Abstand zu mir zu wahren. Als meine Mutter kurze Zeit später den Raum betrat und sich auf der anderen Seite niederließ, wurde sie liebevoll in den Arm genommen. Sie legte den Kopf an die Schulter meiner Nonna. Die strich ihr gedankenverloren über den dunklen Schopf, der dem ihren so ähnlich war. In unserer Familie haben wir Frauen alle dieses ebenhölzerne, volle Haar meiner Nonna Clelia. Es ist fast schwarz und bekommt in der Sonne einen mal rötlichen, mal goldschimmernden Glanz. Die schwarzbraunen Augen habe ich ebenfalls von Nonna Clelia geerbt, so wie beinahe alles ihres Äußeren; meine Mutter hingegen hat grüne Augen, die sie in unserer Familie zu etwas Besonderem machen.  Auch die ovale Gesichtskontur Nonnas, ihre, für italienische Verhältnisse, eher kleine Nase und die vollen Lippen, hat meine Mutter nicht von ihr geerbt. Ich aber bin wie eine Kopie meiner Großmutter, betrachtet man die wenigen Fotos aus jungen Jahren, die es von ihr gibt. Als Jugendliche dachte ich oft, sie möge mich nicht so gerne aus Enttäuschung, dass ich nicht die grünen Augen ihrer Tochter habe, oder ihr eckiges Gesicht, ihre kurvige Figur ...  Wenn ich alte Bilder von Nonna Clelia begutachtete, dann sah ich lange Zeit eine Frau, die ernst und mit schwerem Blick auf die Welt hinter der Kamera schaute – oder in die Ferne, als versuche sie, ihrem Leben zu entfliehen. Die hingebungsvolle Liebe zu meiner Mutter, die so anders war als die zu meinen drei Onkeln, findet sich nur auf ein paar wenigen Fotos, die in Momenten entstanden, in denen sie sich wohl unbeobachtet fühlte. Auf diesen Bildern wirkt sie fröhlich, beinahe kindlich. Sie strahlt etwas aus, das sich mit Worten schwer beschreiben lässt. Eine Art von Vollkommenheit, wie sie die beiden Stadtteile durch die alte Ponte dell’Amore erlangen, die Vollkommenheit, die Fluss und Meer eint, oder die Kirschblütenblätter, wenn sie sachte und lautlos im Valle dei Fiori zu Boden sinken, um diesen in einem Moment unendlicher Zärtlichkeit zu bedecken. 

 

Ich weiß nicht, wie alt ich war, als mir zum ersten Mal gewahr wurde, dass Nonna Clelia ein Zauber umgab, den ich damals schwer greifen konnte.  Erst nach ihrem Tod sollte ich verstehen, was es damit auf sich hatte – und dass es mehr mit mir zu tun hatte, als ich jemals zu glauben gewagt hatte.

2

Als ich vom Tode Nonna Clelias erfuhr, befand ich mich auf dem Heimweg von einem Treffen, das beruflich alles veränderte. Es war einer dieser milden Sommerabende, an denen die Luft noch vom Tag erwärmt war und sich das Leben schwerelos anfühlte – und doch hatte zuvor eine Schwere in mir gelegen, die ich nicht ganz greifen konnte.

An jenem Abend war mir mit 28 Jahren die Leitung eines Großprojekts übertragen worden – eine Aufgabe, die nicht nur herausfordernd, sondern auch prestigeträchtig war: eines der bedeutendsten Kooperationsvorhaben, das mein Arbeitgeber je angenommen hatte.

Seit knapp fünf Jahren arbeitete ich bei Ziltou, einem der führenden Unternehmen im Ingenieurbereich. Und obwohl ich nie eine steile Karriere angestrebt hatte, war sie mir in rasantem Tempo widerfahren – als hätte die Außenwelt die Richtung bestimmt.

Eigentlich hatte ich andere Pläne gehabt: das Studium verlängern, ein paar Praktika machen, reisen, auf jeden Fall mehr Zeit für mich haben, und für Freunde. Vor allem für Nils, den ich seit dem zweiten Semester kannte, und der mir mittlerweile ans Herz gewachsen war wie ein Zwillingsbruder. Er konnte mich lesen wie ein offenes Buch – und ich ihn. Unsere erste Begegnung war typisch für uns: eine Launenhaftigkeit des Lebens. Ein wenig absurd, aber genau zur rechten Zeit.

Es war an einem dieser Tage gewesen, da die Frühjahrsstürme Äste und Zweige von den Bäumen jagen, an denen verwaiste Plastiktüten durch die Luft fliegen. Die Menschen hielten ihre Schirme erst gar nicht hoch in den Prasselregen – zu groß die Wahrscheinlichkeit, dass der Sturm sie binnen Sekunden zerstören würde.

Auch ich war an jenem Morgen zum Spielball der launischen Natur geworden. Durchnässt und zerzaust erreichte ich den Campus, kämpfte mich ins Trockene und hetzte Richtung Hörsaal. Es war Semesterbeginn und die erste Woche. Die Veranstaltung hatte bereits begonnen, aber die Tür stand noch offen. Ich glitt in den Raum, bahnte mir einen Weg durch die Reihen, vorbei an aufgeklappten Tischen und dicht gedrängten Studierenden. Ich murmelte Entschuldigungen, bis ich endlich einen freien Platz fand. Seufzend ließ ich mich auf den Klappstuhl sinken und hielt inne, um zu Atem zu kommen. Dann richtete ich mein Haar und kämpfte mich aus der nassen Jacke.

Nach einer Weile bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass mein Sitznachbar mich interessiert beäugte. Ich wandte den Kopf und blickte in das amüsierte Minenspiel eines jungen Mannes. Braune, große Augen, dunkelblonde Haare. Ein verschmitztes Grinsen umspielte seine Lippen. 

„Auch Opfer des Sturms geworden?“, grinste er.

„Kann man so sagen. Eine ungünstige Verkettung von Ereignissen, inklusive Bahnausfall.“

Er lachte. Ich mochte ihn auf Anhieb. Wir flüsterten, während die Vorlesung begann. Er erzählte mir, dass er Ende des vergangenen Semesters den Studienort gewechselt habe. „Ich musste mal raus. Raus aus dem Dunstkreis meiner Eltern und meiner Ex-Freundin.“

Wir stellten fest, dass wir viel gemeinsam hatten. Ähnliche Interessen, ähnliche Weltanschauungen, partnerschaftlich nicht ganz unerfahren, aber auch nicht besonders erfolgreich. Er hatte immerhin vier Jahre innig geliebt. Der Ausgang war schmerzhaft gewesen, schmerzhafter als meine bisherigen Erfahrungen. Er war daher „mit Frauen fertig“, wie er es formulierte. Ich war ohnehin nicht auf der Suche. Umso mehr freuten wir uns über das, was sich zwischen uns entwickelte: ein müheloser, platonischer Gleichklang. Freundschaft zwischen Männern und Frauen sei nicht möglich? Wer so etwas behauptete, war entweder verkrampft oder pessimistisch.

Unser Gespräch dauerte an, bis mir von rechts ein Stapel Blätter in die Hand gedrückt wurde: das Manuskript zur Vorlesung. Als ich den Berg an Nils weiterreichte, erfassten meine Augen den Titel des Deckblattes: Grundzüge der Konjunktur- und Wachstumspolitik. Ich lachte laut auf – und erntete missbilligende Blicke. Wir saßen in der falschen Veranstaltung. Mit der ausreichenden Portion Aberglaube hätten wir sicherlich am Abend darauf angestoßen, dass aus der Vorlesung Vorsehung geworden war. Wir hielten es für einen wundervollen Zufall und lachten noch Jahre später darüber, wie wir zueinandergefunden hatten.

Nils und ich waren von diesem Tag an unzertrennlich. Er, der für mich der Bruder geworden war, den ich nie hatte, komplettierte mich so, wie die Ponte dell’Amore im Valle dei Fiori die beiden Stadtteile zueinander führte. Wir verbrachten fünf Tage pro Woche miteinander. Während des Studiums lernten wir stets gemeinsam, mal Seite an Seite, mal Rücken an Rücken jeder für sich, aber immer im sanften Schatten des anderen. Wir durchwachten die Nächte, wenn einer von uns Kummer hatte oder wenn uns das Gefühl umfing, das Leben so intensiv einsaugen zu wollen, wie man es nur in einer dieser lauen Sommernächte vermag, in denen die Luft schwer von warmen Gerüchen südlicher Gefilde ist. In denen der Wind eine Brise mediterraner Düfte hunderte Kilometer weit in genau jenen Moment hineinträgt, in dem man zu zweit mit einem Glas Wein am offenen Fenster sitzt, oder auf der Dachterrasse des Studentenwohnheims. Sonnenuntergänge kamen und gingen, Sturzbäche von Regen bedeckten uns, Schneeflocken legten sich milliardenfach auf unsere Gesichter. In all der Zeit wuchsen wir zusammen wie zwei junge Bäume, die so eng stehen, dass sie sich, ineinanderschlingend, schließlich einen Stamm teilen.

Ich denke, es war das erste Mal, dass ich mich bei einem Menschen, der nicht zur Familie gehörte, zu Hause fühlte, dass ich einem Wesen begegnete, dem gegenüber ich mich ganz fallen lassen konnte. Von dem ich wusste, dass er mich verstand und dass die Art, wie er mein Innerstes erfasste, der Manier, wie ich selbst andere las, in nichts nachstand.

Ähnlich innig wie unsere Freundschaft gewachsen war, war das Band zwischen Nonno Giuseppe und mir. Der Unterschied zu Nils war, dass er als ein Mensch meiner Generation meinen alltäglichen Freuden und Zweifeln näherstand. Mit Nonno Giuseppe teilte ich vor allem die Vergangenheit. Nils bedeutete ein Versprechen der Zukunft.

Rückblickend hätte ich die Tagebücher, die ich von Nonna Clelia fand, niemals so gut erfassen und verarbeiten können, wenn ich Nils nicht an meiner Seite gewusst hätte. Er war die Konstante, die ich brauchte, um zu verstehen. 

 

Ich war ab dem sechsten Semester neben dem Studium beim Unternehmen Ziltou eingestiegen. Meine Professorin für praktische Informatik hatte mich seinerzeit völlig unverhofft zu protegieren begonnen, nachdem ich eine Hausarbeit über die Sicherheit von Netzwerkprotokollen bei der Integration von Software in Industrieanlagen verfasst hatte. Sie hatte mir den Weg geebnet, noch vor Ende meines Studiums eine Stelle bei Ziltou zu erhalten. 

Was ich ebenfalls an Nils liebte: In all den Jahren, in denen ich mich beruflich schneller entwickelte als er, war er nie neidisch. Kein Anflug von Missgunst. Im Gegenteil – er unterstützte mich darin, die Ruhe zu bewahren, mich von äußeren Erwartungen nicht vereinnahmen zu lassen. „Vergiss nie den Genuss am Leben“, sagte er oft. Für ihn lag in der Leichtigkeit ein tiefer Sinn.

Nicht mein Ehrgeiz oder mein Scharfsinn waren der Schlüssel zu meinem Glück – sondern die kleinen Dinge. Die Abende mit ihm. Die Natur um uns. Der wache Blick für vollkommene Vereinigungen. Das, was seit meiner Kindheit in mir schlummerte: die immerwährenden, überall vorhandenen Kopien der Verschmelzung.

Es ging mir nicht um Prestige. Ich hatte mir diese Karriere nicht erträumt, sie war mir passiert. Was ich wirklich wollte, war Verbundenheit. Stille Nähe. Und Nils verstand das.

 

Doch seit ich bei Ziltou war, wurde eine alte Verunsicherung in mir wieder lebendig. Ich begegnete Kollegen und Kunden, die mir auf eine Weise vertrauten, als kannten sie mich schon lange. Die mir zuhörten, mir zustimmten, mir folgten. Menschen, die mir mehr Glauben schenkten als erfahreneren Kollegen, als müsse ich nur den Mund öffnen, und sie waren überzeugt. Ich hätte ihnen alles verkaufen können. Einige nannten es Charisma, andere Ausstrahlung. Für mich war es ein Rätsel – und eine Belastung. Ich konnte es nicht steuern. Ich wollte keine Frau sein, die Menschen verzauberte. Wollte nicht das Objekt unerklärlicher Sympathie sein. Ich wollte verstanden werden, nicht bewundert. Doch das eine schien das andere zu überlagern. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich Gespräche führte, und stellte mir gleichzeitig die Frage: Was sehen die anderen in mir? Was lässt sie reagieren, als sei ich etwas Besonderes? Ich selbst hatte kein übersteigertes Bild von mir. Im Gegenteil verurteilte ich mich dafür, ein solcher Magnet zu sein. Nils sagte seinerzeit: „Du übst diesen Zauber auf andere aus. Niemand wird je auf die Idee kommen, dich anzuzweifeln.“ Es sollte ein Trost sein, eine Erklärung. Ich wusste nicht, ob ich mich bei solchen Worten geschmeichelt oder gedemütigt fühlen sollte. All die Erfolge und die Anerkennung schienen mir nichts Wert zu sein, würde dies bloß einer nebulösen Anziehungskraft gelten, die mich angeblich umgab. Ich wollte mich ihrer nicht rühmen. Im Gegenteil wäre ich sie gerne losgeworden. Auch ließ mich die Sorge nicht los, permanent überschätzt zu werden. Phasen, in denen ich weiter an Selbstwert verlor, jagten mich wie Dämonen. Manch einer wäre an den zahlreichen positiven Rückmeldungen gewachsen, mich aber verunsicherten sie zutiefst. Ich erlebte sie als Bürde. Als schambegleitete Ausstrahlung, die mich in Situationen führte, in denen ich gegen eine aufgezwungene Rolle ankämpfen musste. Nils war der Einzige, der meine innere Zerrissenheit sah. Und er war kompromisslos ehrlich zu mir. 

Die Mischung aus innerer Zartheit und äußerem Schein begleitete mich auch an jenem Tag, an dem ich Hendrik Althaus zum ersten Mal sah. Er war stellvertretender Vorstand von Iron Steel, mal Partner, mal Konkurrent von Ziltou. Hendrik war Bauingenieur, Projektleiter, bekannt für seine klaren Worte und seine visionären Ideen. Er sprach nicht nur – er dirigierte Aufmerksamkeit. Wenn er vor Publikum stand, war sein Blick fest auf die Zuhörer gerichtet. In seiner Sprachmelodie lag Entschlossenheit. Er unterstrich seine Sätze mit Gesten, die so präzise gesetzt waren, als würde er seine Gedanken in die Luft schneiden. Pausen platzierte er gezielt, jeden Moment dosierend. Seine Stimme schwoll an, mal sanft, mal fordernd, sodass seine Worte wie planvolle Impulse ins Publikum drangen. Dabei wählte er jede Aussage so scharfsinnig, als spräche er über Themen, die seiner größten Leidenschaft entsprangen.

Hendrik hatte eine stattliche Größe, braune Haare, die an den Seiten grau meliert waren. Er war einer der wenigen Menschen, die mir imponierten und vor denen es mir schwerfiel, Nils‘ Appellen an meine innere Gelassenheit Folge zu leisten. Ich begegnete ihm auf einem Fachkongress, bei dem es um ökologisches Bauen von Kraftwerken ging, Innovation zum Jahrtausendwechsel – mein Spezialgebiet. Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt bei Ziltou immer mehr auf die Arbeit in Wasserkraftwerken mit dem Schwerpunkt auf Speicherkraftwerke spezialisiert und hing die ganze Veranstaltung lang an seinen Lippen. Ich dachte: So fühlen sich die anderen wohl, wenn sie mich erleben. Hendrik musste zu dieser Zeit etwa Mitte dreißig gewesen sein. Unter seinem Jackett zeichneten sich dezent muskulöse Oberarme ab. Seine Mundwinkel umspielte beizeiten ein gewinnendes Lächeln. Er nahm an jenem Tag keine Notiz von mir, und es gab niemanden, der uns miteinander bekannt machte. Und doch erzählte ich Nils später auf einem Spaziergang im Wald von ihm. Der hörte zu, schwieg eine Weile und sagte dann nur einen Satz: „Wenn ihr euch begegnen werdet, wird etwas zwischen euch entstehen.“

 

3

Clelia war bereits im Kleinkindalter ein Mädchen gewesen, welches in seiner mitfühlenden Art häufiger über die Gefühle anderer weinte als über die eigenen. War jemand wütend, so verkroch sie sich in der hintersten Ecke der Wohnstube, oder lief fort, um Hilfe zu holen. Später, als sie weiter heranwuchs, griff sie in Streitigkeiten ein und schlichtete diese. Weinte irgendwer, so weinte sie still mit, während sie Trost spendete. Verhielt sich eine Spielkameradin ängstlich, nahm Clelia zitternd die Hand der anderen und sprach ihr Mut zu. Oft geschah dies, noch bevor die Eltern des Kindes mitbekamen, was es bewegte. Als Clelia acht Jahre alt war, bemerkte sie, dass sie nicht nur anders war als Gleichaltrige. Ihre Art, sich in Mitmenschen einzufühlen, unterschied sich so grundlegend von der anderer Personen, dass ihre (für sie) so selbstverständliche Fähigkeit der Erwachsenenwelt womöglich unbegreiflich war.

 

Es geschah eines frühen Nachmittags Mitte Juni: Clelia befand sich auf dem Heimweg, der sich durch das opulente Aquarell der norditalienischen Landschaft zog. Rechts von ihr thronten die Dolomiten am Himmel. Ein verwaschenes Blau in der Ferne, das in der Sommerluft flirrte. Clelias Hand glitt an ihrer Stirn entlang, um die feinen Schweißperlen fortzuwischen, die sie kitzelten. Die verdorrten Gräser am Rande des Weges hatten längst aufgegeben, auf Regen zu hoffen. Knorrige Olivenbäume reckten ihre Äste wie betende Hände in den Himmel. Hie und da durchbrach der Triller eines einsamen Vogels die sommerliche Stille, bevor er von der vibrierenden Dissonanz der Zikaden verschluckt wurde.

Fast eine Stunde benötigte sie für die Strecke zwischen Schule und Heimatdorf. Meist dauerte der Rückweg deutlich länger, denn sie verweilte gerne zwischendurch, um Tiere zu beobachten und ihren Gedanken nachzuhängen. Eilen wollte sie sich nicht. Daheim wartete Arbeit auf sie und ein meist mürrischer, bisweilen übellauniger Vater, der nicht selten seinen Trübsinn über die monetäre Situation der Familie in Wein und Grappa ertränkte. Die Mutter kam oft erst abends nach Hause, wenn sie ihr gramgebeugtes Tagewerk auf dem Feld oder in der Scheune bei den Ziegen und Hühnern beendet hatte, oder zuweilen kleine Aufträge als Näherin erledigt hatte. Manchmal kehrte sie zeitiger zurück, wenn die Kinder ihr ausreichend Arbeit abgenommen hatten.

Oft lieft Clelia den Heimweg gemeinsam mit ihren sechs Brüdern. An Tagen wie dem heutigen waren sie jedoch früher aufgebrochen. Bisweilen erwischten sie einen Eselskarren, auf dem sie mitfahren durften. Auf ihre Schwester zu warten, war nicht nötig. Clelia hatte nacharbeiten müssen, was recht häufig geschah, denn sie war mit ihren Gedanken oft nicht bei der Sache und verpasste Arbeitsanweisungen ihrer Lehrerin. Glücklicherweise gab es keine Züchtigung. Die Signora war nachsichtig, bestand aber darauf, das Kind erst zu entlassen, wenn alle Aufgaben erfüllt wären.  

 

Als Clelia nun auf dem Rückweg über den ausgetretenen Talweg lief, lauschte sie gerade dem Geräusch der granulierenden Steinchen unter ihren nackten Füßen, als eine junge Frau aus dem Dorf ihren Weg kreuzte. Clelia kannte sie flüchtig. Sie lebte gemeinsam mit ihrem Mann auf einem schmucklosen Hof, etwa fünf Straßen hinter der Ponte dell’Amore, auf der anderen Seite des Nastro. Zuweilen waren sie sich begegnet, wenn sie bei der Mutter ein Stück Käse oder etwas Ziegenmilch gekauft hatte. Sie hatte unscheinbar gewirkt, hatte sich bewegt, als wollte sie sich im Hintergrund halten. Ein flüchtiger Schatten, der Angst hatte, gesehen zu werden. Sie hatte stets das Nötigste gesprochen. Ein kurzer Gruß, eine knappe Abwicklung des spärlichen Geschäftes. Ein Nicken ihres Kopfes hatte Zustimmung verraten, ihre Lippen waren oft stumm geblieben, als ob sie ihre Gedanken hinter einem unsichtbaren Vorhang verbarg. Kleine Gesten der Dankbarkeit hatten ihr gereicht. Zum Abschied hatte sie einen schönen Tag und Gottes Segen gewünscht. Alsbaldig war sie wieder ihrer Wege gegangen.

Die Frau war schlank, hochgewachsen, hatte schulterlanges, schwarzes Haar und trug ein ebenso unauffälliges wie zweckdienliches Kleid mit Schürze, dessen Farben das Leben im Laufe der Jahre herausgewaschen hatte. Auf die meisten Menschen hätte sie einen völlig gewöhnlichen Eindruck gemacht, ja vielleicht wäre sie in ihrer bescheidenen Kärglichkeit sogar übersehen worden, selbst als sie einen freundlichen Gruß vernehmen ließ. Clelia aber spürte, dass von ihr etwas ausging, was sich in ihrem eigenen Leib als leichter Gänsehautschauer bemerkbar machte, knapp unter der Epidermis ihrer Unterarme. Es fühlte sich elektrisierend an und beunruhigte sie. Wie ein zudringliches Kribbeln, welches gleich den phrenetisch wimmelnden Tentakeln eines gallertartigen Sepias rasch in weitere Areale ihres Körpers vordrang. Unrast erfasste das Mädchen und ließ es erschaudern.

Als sich ihre Blicke trafen, stieg die namenlose Regung in Clelias Innerem übersättigend an. Sie trat an die Frau heran und blickte ihr ins Antlitz. Der Ausdruck ihrer Augen verstärkte das Gefühl, welches nun als Woge grünlicher Übelkeit in Clelias Brust und in ihren Kopf strömte.

 „Möchtest du eine Aprikose haben?“, fragte die Frau und lächelte freundlich.

Clelia zögerte. Ihr Blick fixierte weiterhin die Augen der Fremden. Sie hatte das Gefühl, beinahe greifen zu können, was die Quelle dieser abstoßenden Empfindungen war. 

„Trau dich ruhig“, ermutigte sie die Signora mit leiser Stimme. „Du darfst unbesorgt etwas von mir annehmen. Wir hatten eine reiche Ernte und ich gebe dir gerne etwas ab.“

„Danke“, erwiderte Clelia und nahm die rosig schimmernde Frucht entgegen. Als sich ihre Finger berührten, verkrampfte sich Clelias Magen. Schlingernde Gänsehautströme fuhren ihre Wirbelsäule hinab.

Wieder blickte sie in das Gesicht der Frau und augenblicklich setzten sich ihre Beobachtungen und die Gefühle, die ihr Instinkt ihr verrieten, wie ein Puzzle zu einer folgenschweren Erkenntnis zusammen. „Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe für dein Baby?“, fragte sie. 

Die Fremde sah sie an, als stünde sie einem Geist gegenüber. Ihre Augen weiteten sich. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Mit so viel plötzlichem Schrecken war Clelia nie zuvor angeschaut worden. Sie selbst zuckte unwillkürlich zusammen.

„Wieso sagst du so etwas? Woher weißt du von dem Baby?“

„Ich kann es dir ansehen“, antwortete Clelia wahrheitsgemäß.

„Woher weißt du, dass ich Hilfe brauche?“ Die Brauen der Signora zogen sich zusammen und drängten aufwärts, als wollten sie dem Moment entfliehen. Clelia fühlte, dass sie sich vor ihr fürchtete. 

„Ich kann es spüren“, setzte sie an.

Im Gesicht der Frau schien eine Fehde zwischen beherrschtem Habitus und haltloser Verzweiflung zu entbrennen. Dann fiel die Geplagte vor Clelia auf die Knie und umklammerte ihre Hüfte, legte den Kopf an ihren Bauch und weinte: „Du liebes Kind! Woher hast du diese Gabe? Spricht Gott zu dir?“

Jetzt war es Clelia, die erschrak. Sie fuhr herum, warf den Kopf nach allen Seiten. Ihre Blicke suchten in der Landschaft nach Halt, vielleicht in der Hoffnung, Hilfe zu finden, wie immer diese hätte aussehen können. Sie wünschte sich, die Frau möge von ihr ablassen. Der Strom der fremden Gefühle überrollte sie mit aller Macht: Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Einsamkeit. Die Intensität raubte ihr fast den Atem.

„Mein Ehemann schlägt mich. Es stimmt: Ich bin schwanger. Ich habe Angst um mein Kind … Ich bete jeden Tag zu Gott, er möge mir einen Ausweg zeigen. Wenn er zu dir spricht, sagt mir bitte, was ich tun soll!“

Clelia suchte in den entlegensten Winkeln ihres Geistes nach einer Idee, wie sie der Situation entfliehen könnte. Kaum möglich war es, sich dem Schwindel des Mitgefühls für diese Fremde nicht zu ergeben. Doch gleichzeitig hatte sie die Empfindung, an den Erwartungen der Frau zu ersticken. Woher sollte sie wissen, was zu tun war? Sie war acht Jahre alt und wusste nicht viel vom Leben. Der Allmächtige, so es ihn überhaupt gab, hatte niemals zu ihr gesprochen. Und sollte es ihn geben, was Clelia bezweifelte, so würde er ihr gegenüber stumm bleiben, dessen war sie sicher, denn sie hatte bisher kaum zu ihm gebetet. Diese Frau aber schien in ihr eine Art Botin Gottes zu sehen, suchte einen Ausweg in ihrem Glauben. Vielleicht war dies aus ihrer Sicht die einzig nachvollziehbare Erklärung, weshalb Clelia ihre Situation erfasst hatte. Dabei war es offensichtlich: Die leichte Blässe im Gesicht bei der sonst so sonnengegerbten Haut, die dezente Unsicherheit in jedem Schritt, die hauchzarte Art, wie sie sich bewegte …

Clelia hatte oft Frauen beobachtet, die ein neues Leben in sich trugen. Wenn die Frucht jung war, war der Unterleib zwar flach, die Körperhaltung aber änderte sich gleich einer nebulösen Verheißung über dem verschwiegenen Korpus. Die Mimik wandelte sich fast unmerklich zu einem Schimmer, dessen Fragilität Clelia mühelos erkannte. 

Die Fremde vergrub ihr Gesicht weiter schluchzend in Clelias Schoß. Indes erwuchs in dieser ein Gedanke. Sie erinnerte sich an einen Moment, in dem sie ihren Vater – es mochte Jahre her sein – überraschend hilfsbereit und engagiert erlebt hatte. Nüchtern. Selbstbewusst. Stark. Er hatte einem Nachbarn zu seinem Recht verholfen, ein Stück Land zu behalten, das ein anderer ihm abnötigen wollte. Der Nachbar hatte dem Druck kaum mehr standgehalten, das hatte Clelia seinerzeit gespürt. Obgleich sie damals zu jung gewesen war, die Einzelheiten zu begreifen oder die diffizilen Zusammenhänge zu erfassen. Aber sie erinnerte sich umso deutlicher an die unvertraute Anteilnahme und das Engagement, die sich in ihrem Vater entfaltet hatten – und was sie bewirkt hatten. 

„Ich weiß, was zu tun ist“, sprach sie. „Komm mit. Ich hole Hilfe.“

Die Fremde war Clelia an jenem Tag nach Hause gefolgt, hatte die Hand des Mädchens umfasst gehalten, bis sie in der Wohnstube des alten Hofes gesessen hatte. Bis der Vater gekommen und eindringlich mit ihr gesprochen hatte. Clelia hatte an diesem Tag recht behalten: Ihr Padre hatte sich ähnlich ausgewechselt gezeigt wie damals, als es um das Land des Nachbarn gegangen war. Wenn er auch ein maliziöser Säufer war, ein Choleriker, selbst nicht frei von unkontrollierbarer Aggression und unredlichem Handeln: Ging es um andere, besaß er feine moralische Antennen und ein tugendhaftes Auftreten. Womöglich war auch in seinem Fall die durchdringende Gottesfürchtigkeit der Grund dafür, dass er sich so beflissen zeigte, die bedürftige Fremde aus der Gewalt des eigenen Ehemannes zu erretten. Letztlich verhalf er ihr zur Flucht, weit fort. Clelia wusste nicht, wohin er sie schickte, aber sie sah das dankbare Leuchten in den Augen der Signora, das Funkeln, das, befreit vom Dunkel der Furcht, an Intensität gewann. Sie wusste, dass es ihr gut gehen würde.

In jener Nacht lang Clelia lange wach und fragte sich, weshalb die Frau sie so fest umklammert hatte und warum das für sie so Offensichtliche für andere so unersichtlich war. 

 

 

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Etwa neun Monate, nachdem mich Hendrik Althaus auf jener Fortbildungsveranstaltung in seinen Bann gezogen hatte, rief mich mein Chef in sein Büro. Ingo hatte den Ruf, humorvoll und unkompliziert zu sein. Trotz des schlohweißen Haares verliehen sein wohlwollendes Lächeln und seine Zugewandtheit ihm einen Schimmer jugendlicher Leichtigkeit. Er ließ mir väterliche Zuneigung zuteilwerden, seit meine selbst ernannte Mentorin mich ihm vor sechs Jahren angepriesen hatte. Auf Unsicherheiten reagierte er mit einem gelassenen Schulterzucken, „kriegst du schon hin“. Schwierigkeiten, die meinen Puls erhöhten, begegnete er mit gelassener Unbekümmertheit. „Alles wird sich fügen.“

Als ich an seinen Schreibtisch trat, berichtete er mir, es gebe eine Anfrage für eine große Kooperation mit Iron Steel. Man habe vor meiner Zeit einige Male in kleineren Projekten zusammengearbeitet. Nun gehe es um den Bau eines neuen Speicherkraftwerkes. Er hätte mich gerne beratend an seiner Seite und bat mich, ihn und einen weiteren Kollegen zu begleiten. Ich fragte nicht nach, doch es verstand sich von selbst, dass Nils und ich beim abendlichen Telefonat überlegten, wer Iron Steel beim Zusammentreffen vertreten würde. Ich tippte auf Peter Ingeln, den Vorstandschef. Wir sollten uns nichts vormachen, riet ich. Wieso sollte Hendrik Althaus das Gespräch leiten, wenn es um die temporäre Zusammenarbeit mit einem anderen Unternehmen ging?

„Abwarten“, sagte Nils. „Immerhin fährt Ingo auch nicht allein hin. Und Herr Ingeln mag Vorstandschef sein, Hendrik Althaus aber hat die kaufmännische Leitung, oder nicht?“

Er sollte recht behalten.

 

Als Ingo, unser Kollege Andreas und ich eine Woche darauf in der aus Stahl und Glas gefertigten Eingangshalle bei Iron Steel eintrafen, erfuhr ich von der Dame am Empfang, dass „Herr Ingeln und Herr Althaus“ auf uns warteten. Wir fuhren mit dem gläsernen Aufzug in den 12. Stock. Dort führte uns eine weitere Mitarbeiterin in einen Konferenzsaal, in welchem, mit Blick über die Stadt, Tische zu einem Rondell zusammengestellt waren. Auf einem der Plätze links, den Rücken zur Fensterfront, saß niemand Geringeres als Hendrik. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit hellblauem Hemd und war in das Studium einiger Unterlagen vertieft.

„Ihre Gäste sind da“, kommentierte die Dame, die uns begleitet hatte.

Hendrik hob den Kopf, sein Lächeln öffnete sich wie eine Einladung. Ein Ziehen durchfuhr meine Brust bis tief hinunter in den Bauch – wie ein stummes Echo seiner Gegenwart. Mein Herz beschleunigte sich.

Er trat auf uns zu – mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die ihn größer wirken ließ, als er war.

Herr Ingeln, der ihm gegenübergesessen hatte, tat es ihm gleich. Er begrüßte Ingo mit einem lässigen Handschlag, klopfte ihm kurz auf die Schulter. Dann reichte er Andreas und mir förmlich die Hand und wies mit einer Geste, die einer pathetischen Ehrung gleichkam, auf Hendrik. Ich erschrak, als er mich ansah. Meine Lippen formten sich instinktiv zu einem Lächeln, das kraftvoll nach oben drängte. Rasch lenkte ich meinem Blick zurück auf Herrn Ingeln.

„Mein Kollege und stellvertretender Unternehmensleiter: Hendrik Althaus. Ihr kennt euch ja, Ingo. Hendrik, das hier ist Ilaria Trovato, Mitarbeiterin von Ziltou. Das hier ist Andreas Bach.“

„Freut mich“, lächelte Hendrik. Er gab Ingo die Hand. Beide tauschten einen vielsagenden Blick, dessen Bedeutung ich nicht einzuordnen vermochte. Ingo grinste. Anschließend gab Hendrik Andreas die Hand. Dann schaute er mich abermals an und ergriff die meine.

„Herzlich willkommen bei Iron Steel“.

Als wir uns berührten, verstärkte sich das Gefühl in meinem Bauch. Mein Herzschlag beschleunigte sich ein weiteres Mal, als ich das Blitzen in seinen Augen sah und das Grinsen in seiner Mimik, das sich verbreiterte. 

„Wenn ihr euch begegnen werdet, wird etwas zwischen euch entstehen.“ 

Oh, wie ich Nils in diesem Moment recht gab ...

Wir nahmen Platz und ließen uns über das geplante Projekt informieren. Es ging um den Bau des besagten Speicherkraftwerkes, welches eine Gemeinde in Auftrag gegeben hatte, um die umliegenden Dörfer mit ökologischem Strom zu versorgen. Als das Anliegen grob umrissen war, grinste Ingo, wies in meine Richtung und bat in einem geheimnisvoll triumphalen Unterton in der Stimme, Herr Ingeln möge eröffnen, wo dieses Kraftwerk errichtet werden solle.

„Wegen der italienischen Wurzeln?“, fragte Hendrik schmunzelnd. „Stimmt doch, oder? Trovato … Und dann die Optik. Sie sind Italienerin, nicht wahr?“

Ich errötete leicht. „Mein Pass sagt etwas anderes. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aber: Ja, meine Mutter kommt aus Italien. Ich habe Familie dort.“

„Sehr schön“, kommentierte Hendrik und nickte anerkennend.Seine Geste ließ mich innerlich stolpern. – Als wäre dies meine Leistung, dachte ich. Vielleicht störte ich mich auch nur daran, mich ein wenig vorgeführt zu fühlen. Das Ganze war mir unangenehm. 

„Passenderweise reden wir von einem italienischen Auftraggeber. Woher genau kommt ihre Familie, Frau Trovato?“, wollte Herr Ingeln wissen.

Ich berichtete knapp vom Dorf Nonna Clelias und Nonno Giuseppes – von der malerischen Landschaft, die den Nastro umgab, den Zypressenhainen, den Sommerblumen auf der Weite der Felder, vom Wein, der die Anhöhen mit seinem wechselnden Farbenspiel schmückte. Dennoch mühte ich mich, nicht allzu versonnen zu klingen. Dies war kein privates Treffen ... Italien also ... Ich lächelte. Womöglich würde ich Ingo als Dolmetscherin assistieren können.

 

Als die Details der Zusammenarbeit besprochen wurden, verdeutlichte sich, wie die Rollen verteilt würden: Iron Steel würde das Kraftwerk bauen und die Hardware stellen, Ziltou würde die Entwicklung der Software übernehmen. Dabei würde es vor allem um die Programmierung von Automatisierung- und Prozessleittechnik gehen. Dies fiel in ein Terrain, auf dem ich mich sicheren Schrittes bewegte. Ebenso wie Andreas. Mir war klar, dass er derjenige war, der sich darum kümmern sollte.

Wir sprachen über eine Stunde, als Ingo mich bat, meine eigenen Ideen einzubringen, wie wir die Wünsche der Kommune nach ökologischer Orientierung umsetzen könnten. Ich berichtete von meinem ehemaligen Forschungsschwerpunkt, den Projekten, in denen ich in den vergangenen Jahren mitgewirkt hatte, den Kongressen. Auch die inoffiziellen Erfahrungsberichte von Kollegen aus aller Welt ließ ich nicht aus. Dies war mein fachlicher Vorteil. Ingo hatte mich stets bestärkt, mich intensiv auszutauschen und hinter den Kulissen Auskünfte einzuholen. Ich denke, er tat es aus Kalkül. Er wusste um meine Fähigkeit, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, und dass – wenn dies möglich wäre – in erster Linie ich diejenige wäre, die an Informationen anderer Unternehmen käme. Und er hatte recht. Mein Erfahrungsschatz war beachtlich.

Ich berichtete also von den aktuellen Entwicklungen der Branche, von unveröffentlichten Studien, Preprint Essays und persönlichen Erfahrungen aus Ziltou-Projekten. Herr Ingeln und Hendrik hörten mir dabei aufmerksam zu, wobei Hendriks Gesichtsausdruck zwischen Konzentration und einer Mischung aus Anerkennung und Belustigung wechselte. 

„Ingo, Ingo“, kommentierte Herr Ingeln am Ende meiner Ausführungen, „du hast uns einen neuen Diamanten in deinem Unternehmen vorenthalten!“ Er lachte. Dann wandte er sich mir zu. „Alle Achtung, Frau Trovato! Ich bin beeindruckt.“

An Ingo gerichtet sprach er weiter, als sollte keiner von uns anderen lauschen: „Du wirst doch Frau Trovato mit in unsere Kooperation einbinden. Es wäre ein großes Versäumnis, wenn nicht.“

„Natürlich.“ Ingo winkte ab, als sei er soeben gefragt worden, ob er die Uhr lesen könne. „Was denkst du denn? Alles schon geplant.“

Wieder wechselte er einen wissenden Blick mit Hendrik. „Nun rückt schon raus mit der Sprache: Wo genau wird das Kraftwerk gebaut?“

Im Nachgang begriff ich, dass er die Antwort gekannt haben musste.

---ENDE DER LESEPROBE---