Data Tutaschchia - Tschabua Amiredschibi - E-Book

Data Tutaschchia E-Book

Tschabua Amiredschibi

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Beschreibung

Als Data Tutaschchia als Gesetzloser in den Untergrund geht, schreibt man das Jahr 1885. In Geor­gien, als Teil des Russischen Zarenreichs, toben die Vorboten der Oktoberrevolution, die dem Land letztlich die Unabhängigkeit bringen wird. Die Politik ist dabei nicht die Sache des Räubers mit der magischen Aura; was ihn umtreibt, sind der Egoismus, die Rücksichtslosigkeit, vor allem aber die Käuflichkeit der Menschen, gegen die er kämpft bis aufs Blut und an denen er zu verzweifeln droht. Den Behörden kann er immer wieder ein Schnippchen schlagen. Doch er hat einen mächtigen und klugen Widersacher. Am Ende klüger als er? Data Tutaschchia, der edle Räuber, dessen Heimat die Wälder und die Berge Georgiens sind, ist in seinem Land zum Nationalhelden geworden, der Roman sofort nach seinem Erscheinen zum Sensa­tionserfolg, der verfilmt und in ein Comic transformiert wurde; bis heute gilt er als wichtigster Roman der georgischen Gegenwartsliteratur. Bezeichnet wurde er als Don Quijote im Stil Dostojewskis, natürlich als moderner Robin Hood – wirklich vergleichen lässt sich dieser historische, philosophische, politische, satirische Kriminalroman, dieses bunte Panorama aus Geschichten, Personen, Gesprächen, Landschaften mit gar nichts.

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Tschabua Amiredschibi (1921–2013) ist einer der Kultautoren der georgischen Gegenwartsliteratur. In Tiflis in eine adlige Familie hineingeboren, wurde seine Familie 1937 Opfer des stalinistischen Terrors. 1944 wurde er selbst verhaftet und für 25 Jahre nach Sibirien verbannt. 1960 kehrte er nach 16 Jahren Verbannung, drei Gefängnisausbrüchen und zwei Todesurteilen rehabilitiert nach Georgien zurück – sein Hauptwerk Data Tutaschchia hat er offenbar noch während der Haft erdacht.

Amiredschibi unterstützte die Unabhängigkeitserklärung Georgiens im April 1991 und wurde 1992 ins georgische Parlament gewählt.

Aus dem Georgischen erstmals ins Deutsche übersetzt hat den Roman Kristiane Lichtenfeld und verschafft damit endlich auch dem deutschen Publikum die Möglichkeit, dieses ungewöhnliche Meisterwerk kennenzulernen.

Tschabua Amiredschibi

DataTutaschchia

DER EDLE RÄUBER VOM KAUKASUS

Roman

Übersetzt von Kristiane Lichtenfeld Mit Anmerkungen und Karte

ALFRED KRÖNER VERLAG

Tschabua Amiredschibi

Data Tutaschchia

Der edle Räuber vom Kaukasus

Übersetzt von Kristiane Lichtenfeld

mit Anmerkungen und Zeittafel

1. Auflage, Stuttgart, Kröner 2018

ISBN DRUCK: 978-3-520-61001-0

ISBN EPUB: 978-3-520-61092-8

ISBN PDF: 978-3-520-61091-1

Originaltitel: © Kutsna Amiredschibi

The book was published in the frames of the program Georgia the Guest

of Honor country at the 2018 Frankfurter Buchmesse with the support

of the Georgian National Book Center and the Ministry

of Culture and Sport of Georgia.

Die Arbeit der Übersetzerin wurde außerdem gefördert vom

Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.

Deutschen Übersetzerfonds e.V.

Umschlag- und Satzgestaltung Denis Krnjaic´, adenis.de

unter Verwendung eines Bildes aus dem Film Data Tutashkhia © 1978;

copyright for photo publishing acquired by © Kutsna Amiredschibi from

the copyright holders: © Giga Lortkipanidze, © Gizo Gabiskiria.

Foto des Autors auf der Umschlagrückseite:

Bondo Dadvadze © Kutsna Amiredschibi

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2018 Alfred Kröner Verlag Stuttgart

Gesamtherstellung: Alfred Kröner Verlag Stuttgart

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über die Autoren

Titel

Impressum

Erstes Buch

Graf Szegedy

Digwa Sasua

Graf Szegedy

Nikifore Bubuteïschwili

Graf Szegedy

Mosse Samtaradse

Graf Szegedy

Kudschi Toria

Zweites Buch

Gigo Tatischwili

Graf Szegedy

Irakli Churzidse

Nikandro Kilia

Beglar Gwalia

Nikandro Kilia

Drittes Buch

Totschi Mikaschawria

Graf Szegedy

Bekar Dscheiranaschwili

Graf Szegedy

Bekar Dscheiranaschwili

Graf Szegedy

Dimitri Kodaschwili

Graf Szegedy

Frau Tiko O…ni

Graf Szegedy

Schalwa Sarandia

Graf Szegedy

Salome Basieraschwili-Odischaria und Schalwa Sarandia

Graf Szegedy

Schalwa Sarandia

Graf Szegedy

Viertes Buch

Alexej Snegir (1)

Alexej Snegir (2)

Alexej Snegir (3)

Graf Szegedy

Wasso Goderdsischwili

Graf Szegedy

Anmerkungen

Weitere Informationen

DataTutaschchia

Und dem Menschen ward gegeben: ein Gewissen, auf dass er selbst seine Fehler entlarve; Kraft, auf dass er dieselben besiege; Vernunft und Güte zum eigenen Heil und zu dem seiner Nächsten, denn nur solches ist ein Heil, das den Nächsten nützet; das Weib, auf dass sein Geschlecht blühe und fortbestehe; der Freund, auf dass er erkenne das Ausmaß seiner Wohltat und Opferfreude im Namen des Nächsten; ein Vaterland, auf dass er etwas habe, um ihm zu dienen und dafür seinen Kopf hinzuhalten; die Fluren, auf dass er im Schweiße seines Angesichts sein Brot esse, so wie es ihm vom Herrgott prophezeit war; Weinberge, Gärten, Viehherden und andere Güter, auf dass es ihm an Gaben für seine Nächsten nicht mangele, und die ganze Welt, auf dass ein Ort sei, wo er all dies vollbringen und die große Liebe, welche der Herrgott ihm darbrachte, gebührend vergelten könne. Und wie hier gesagt, so geschah alles. Der Glaube und das Gesetz der Väter erfüllten mit Liebe des Menschen Fleisch und Geist. Und Richter sowie Herrscher über das Volk war Tutaschcha, ein Jüngling von großer Pracht und Schönheit. Ohne Mensch zu sein im Fleische, war er dennoch ein menschlicher Geist, weilend in der Tiefe der Seele und alle ihre Fasern durchdringend.

Und dieser Glaube gebar die Vernunft, die Klugheit und das Begreifen des Wesens der Dinge.

Aus wilden Wüstengräsern züchtete der Mensch das Korn, und das Korn wurde sein täglich Brot. Dem Steppenbullen beugte er den Nacken unters Joch, und demütig ertrug der Bulle seine schwere Bürde. Und der Mensch schuf das Rad, und durch Wege verband er Städte und Dörfer, auf dass das Menschengeschlecht eins werde und untereinander verwandt. Und er blickte zum Himmel, berechnete den Lauf der Gestirne und erkannte deren Gesetze. Und so Regen oder Schnee kommen sollten, sagte er zu seinen Nächsten: »Jetzt wird Schlechtwetter kommen.« Und es zeichnete der Mensch das Antlitz der Erde, und es ward ersichtlich, wo man zu Lande reisen konnte und wo zu Wasser, welche Berge wo standen und wo sich welche Meere auftaten. Und es ersann der Mensch Schriften, auf dass er seinen Urenkeln von sich berichten und ihnen seine Erfahrung weitergeben könne. Er kultivierte die Weinrebe und machte sie zur Gabe für den Schöpfer dieses Kunstwerks. Und es sah das Volk ihn, den im Tempel Wohnenden, welcher ähnlich war dem Menschen und dem Herrn. Und es befolgte das Volk seine Gebote wie Gesetze der Natur.

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich im Tifliser Stadtteil Sololaki, in einem vierstöckigen Haus mit einem tiefliegenden, halbdunklen Hof, von allen Seiten umschlossen von den Flügeln unseres Hauses sowie der fensterlosen Wand des Nachbargebäudes. Graf Szegedy bewohnte ein Zimmer mit Kammer im Souterrain des Hauses. Einstmals, vor langer Zeit, war er Chef der Kaukasischen Gendarmerie gewesen, in den neunziger Jahren war er in den Ruhestand getreten und fristete nun, von allen vergessen, einen einsamen Lebensabend. Dem Vernehmen nach hatte er sich um die Revolution verdient gemacht, und die neue Staatsmacht hatte ihm seine Vergangenheit verziehen.

Als Sechsjähriger wusste ich wenig über ihn. Selten nur verließ er sein Kellergemach. Ältere Kinder als ich, solche, die ich gar nicht kannte, gingen zu ihm zum Sprachunterricht – er lehrte sie Französisch und Deutsch.

Szegedy war ein hochgewachsener, hagerer Greis, er hatte eine wundervolle Haltung und ein von Falten durchfurchtes Gesicht. Unabhängig vom Wetter und von der Jahreszeit trug er stets einen schwarzen Kastormantel und eine Melone; der Kneifer mit dem Stahlgestell und der in der Hand schwingende Spazierstock vervollkommneten das Bild. Sein Gang war gemächlich und leicht, und da er den Kopf stets gesenkt hielt, wusste ich lange Zeit nicht, was für Augen er hatte.

Ich war ein höflicher Knabe und grüßte immer alle zuerst, Szegedy jedoch mied ich, bis ich eines Tages sein Schüler wurde. Mit pochendem Herzen klopfte ich an die Tür seiner Behausung.

»Bitte«, hörte ich ihn sagen.

Zögernd trat ich ein und verharrte scheu an der Tür. Szegedy stand von seinem Schreibtisch auf und kam mir lächelnd entgegen.

»Nehmen Sie Platz. Und verzeihen Sie bitte, ich muss Sie für einen Augenblick allein lassen.« Er wies auf eine unvollendete Wachsfigur auf seinem Schreibtisch. »Meine kleine Leidenschaft, vielmehr meine Schwäche«, erläuterte er. »Ich forme diese Figuren und vertreibe mir so die Zeit. Entschuldigen Sie, ich bin gleich zurück.«

Die überaus freundliche Art verwirrte mich, ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machte oder im Ernst sprach.

In einer Ecke des Raumes ragte ein Regal bis zur Decke hinauf, voll mit etwa vierzig Zentimeter großen Wachsfiguren. Ich weiß nicht mehr, wie viele es gewesen sein mögen, aber sie verkörperten Menschen verschiedenen Alters, Standes und Vermögens. Es waren dies fröhliche und trostlose Gestalten, klägliche und stolze, lasterhafte und edle, gütige und böse, und es schien, als wollten sie im nächsten Augenblick in Bewegung geraten, sprechen und hier das Unterste zuoberst kehren. Sie wirkten überaus lebendig. Zugleich hatte die hohe, schmale Stellage etwas von einer gegen die Wand gelehnten Mumie.

Szegedy kehrte zurück, und der Unterricht begann. Sieben Jahre lang unterrichtete er mich in der deutschen Sprache, und niemals ließ er ab von seiner erlesenen Höflichkeit und gewinnenden Freundlichkeit. Unsere Zeit hat die Stände abgeschafft, aber ich entsinne mich keines Mals, da zu dem Namen Szegedy nicht der Titel »Graf« hinzugefügt worden wäre. Dies lag wohl weniger an seiner Herkunft, als vielmehr an seinem vornehmen Benehmen, der Art seines Umgangs mit den Menschen.

Szegedy starb hochbetagt. Er schlief ein und erwachte nicht mehr. Ungeachtet seines Alters bewahrte er bis zur letzten Stunde einen gesunden Verstand und ein klares Gedächtnis. Außer seinen Schülern besuchte ihn niemand; sie erfuhren auch als Erste von seinem Tod. Eine Kommission aus Hausbewohnern fand bei ihm Geld, es deckte die Begräbniskosten. Seine Habe wurde schriftlich fixiert: Bettzeug, drei Garnituren Wäsche, Kleidung, die er täglich trug, der Spazierstock mit dem gebogenen Griff, Geschirr, das Wachsfigurenkabinett sowie ein umfängliches Manuskript. Mehr hinterließ der einstige Gendarmengeneral nicht.

Das Souterrain wurde versiegelt. Danach begannen endlose Streitereien um die ›Szegedy’sche Wohnung‹. Ich weiß nicht mehr, wer gegen wen prozessierte, wer schließlich recht bekam und in den Keller einzog, aber während das Gericht noch nach einer gerechten Lösung suchte, verwandelten die überall herumstromernden Buben das Souterrain in eine Stätte ihrer romantischen Spiele, und natürlich scherte es sie nicht, dass die Habe des Verstorbenen mit skrupulöser Genauigkeit aktenfest gemacht worden war. Die Wachsfiguren bekamen neue Besitzer, aus den Manuskriptblättern des Grafen gefaltete Papiertauben furchten den Himmel unseres Hofes. Der Hauswart schimpfte, doch niemand achtete auf ihn, bis schließlich die Buben im Souterrain Feuer legten und die Feuerwehr eingreifen musste. Erst nach diesem Vorkommnis entschloss ich mich dazu, die Wohnung meines verstorbenen Lehrers zu betreten, und ich verstand zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes ›Pogrom‹.

Zuallerst gewahrte ich die über den ganzen Raum verstreuten Blätter des Manuskripts. Die Papiere hatten wie durch ein Wunder das Feuer überlebt, einige waren angesengt, andere aufgeweicht. Es war aber nur noch ein geringer Teil der Niederschrift. Ich sammelte die Blätter zusammen und sortierte sie nach den Seitenzahlen. Damals konnte ich noch nicht genügend Russisch, um die schwungvolle Handschrift meines Lehrers flüssig zu lesen. Auch hätte es mir mein noch kindliches Alter nicht erlaubt, in das Wesen der Aufzeichnungen zu dringen. So viel immerhin verstand ich – dies war die Lebensgeschichte eines Räubers, eines Abragen, und selbst das Wenige, das ich las, prägte sich meinem Gedächtnis für immer ein.

Erst viele Jahre später, als ich wieder einmal in dem Manuskript blätterte, kam mir die erhellende Ahnung, dass das Panoptikum des Grafen die handelnden Figuren zu seinen Aufzeichnungen darstellte. Ich versuchte die wächsernen Menschlein zu finden, wenigstens einige, jedoch vergebens. So kehrte ich zu der Niederschrift zurück, machte die darin erwähnten Personen oder deren Angehörige ausfindig, schrieb auf, was sie mir erzählten, und zusammen mit den erhalten gebliebenen Teilen der Niederschrift des Grafen reiche ich dies hier dem Leser dar.

Erstes Buch

Es drangen die Kundschafter jenes Stammes, welcher dem Mammon huldigte, ein und säten überall den Samen der Versuchung. Der Same fiel in den Boden und ging üppig auf, denn seine Wurzel bohrte sich in die Gehenna und nährte sich von ihrem Gift. Eine prachtvolle Blüte spross hervor, doch sie zersetzte das Fleisch dessen, der sich über sie beugte, denn ihr Atem war giftig. Das Volk aber schaute und freute sich an ihrer Schönheit, berauschte sich an ihrem Wohlgeruch und dachte nicht an die Zukunft.

Riegel und Schlösser fielen von den Verliesen, in welche die Widersacher der Vernunft des Menschen und seiner Seele gesperrt waren, und es ward der Weg frei für die Skorpione, und es entbrannte die Habgier. Die Menschen neideten einander ihr Gut, sie wurden erfüllt von Bösartigkeit gegeneinander, und ihr Verstand trübte sich. Der Mensch erhob das Schwert gegen seinen Nächsten, schirmte sich von seinem Freund ab mit dem Schild, und es gab kein Volk mehr. Da trat Tutaschcha in den Kampf gegen die Geißeln und Laster der Welt: Er beglückte die Armen mit Wohltaten, zermalmte die Reichen zu Staub, er hielt Gericht über die Ungerechten und erhob die Erniedrigten, er trug Frieden in die Herzen der Feindseligen und verjagte das Böse aus den Seelen der Menschen.

Aber da vervielfachten sich: Verrat unter Brüdern, Untreue unter Eheleuten, Undank der Begnadeten, Hochmut der Mächtigen, Falschheit der Untergebenen, Arglist der Gelehrten, Anmaßung der Ungebildeten, Verlogenheit der Schriftgelehrten.

Bestürzung ergriff da Tutaschcha, denn er wusste nicht, wie er Ruhe und Frieden in die Herzen tragen sollte. Und er sagte in seiner Betroffenheit: »Ich weiß nicht – schaffe ich Gutes oder Böses? Also verschränke ich meine Arme über der Brust und rufe meine Kraft zur Untätigkeit auf.«

Und er wandte sich ab von seinem Volk und hörte nicht mehr auf dessen Stöhnen. Denn er war nicht Gott.

GRAF SZEGEDY

Zwei gleichermaßen begabte Menschen können sich doch moralisch sehr voneinander unterscheiden, und jeder der beiden verwendet die erhaltenen Gaben auf seine Weise. Den Wert jeden Tuns bestimmt die Moral seines Urhebers. Für mich steht außer Zweifel, dass die Gesellschaft zu allen Zeiten dem Adler wie auch dem Aasgeier und dem kleinen Singvogel ein Feld zur Betätigung eingeräumt hat, nur die Spur, die ein jeder hinterlässt, ist jeweils eine andere.

Meine langjährige Tätigkeit als Chef der Kaukasischen Gendarmerie sowie später, im Ruhestand, die bewusste Nähe zu jenen Kreisen erlaubten es mir, vom Beginn bis zum Ende eine Geschichte zu verfolgen, die diese Behauptung anschaulich bestätigt. Es ist dies die Geschichte vom Leben und von den Beziehungen zweier starker Naturen – die des Räubers Data Tutaschchia und seines Cousins Muschni Sarandia. Die Vorsehung versah beide mit der gleichen Begabung, ihre unterschiedliche moralische Prägung indessen führte sie auf unterschiedliche Wege.

Ich beginne meine Erzählung mit dem Gedanken daran, dass, obgleich der Herrgott das Schöne als Quell von Güte und Reinheit geschaffen hat, auch diese Regel Ausnahmen kennt. Dieses Mal brachte das Schöne Unglück hervor: Die Schönheit der jungen Georgierin Ele Tutaschchia verleitete den Leutnant i.R. Andrijewski dazu, einen unbedachten, vom Gefühl diktierten Schritt zu unternehmen. Der Bruder der Georgierin, Data Tutaschchia, verwundete den Leutnant tödlich und ging als Abrage in die Berge. Dies geschah im Jahre 1885, als Data Tutaschchia neunzehn Jahre alt war.

Ich selbst habe Ele Tutaschchia zweimal verhört, und ich schwöre es bei meiner Ehre – jenes aus dem Meerschaum geborene Wesen ist Ele wie aus dem Gesicht geschnitten.

Aus dem Archiv der Verwaltung der Kaukasischen Gendarmerie Tagebücher des Leutnants Andrijewski

9. April des Jahres 1884

Ich habe nur einen Schreiber im Amt, obgleich es über die Maßen viel zu tun gibt. Meine Versuche, einen ordentlichen, hinreichend gebildeten Menschen für den ständigen Dienst zu finden, hatten zu nichts geführt, und so kam ich für 10 Rubel im Monat mit einem gewissen Muschni Sarandia, einem Steuerbeamten, überein. Er kommt an drei Abenden der Woche, sobald sein Dienst in der Amtsstube ihn freigibt. Muschni Sarandia ist ein junger Mann mit Gymnasialabschluss, seine weitreichenden Kenntnisse jedoch stellen ihn einem Absolventen der Universität durchaus gleich. Er hat eine Neigung zu den Wissenschaften, insbesondere zur Jurisprudenz, und lässt auch entsprechende Fähigkeiten erkennen. Gewöhnlich sitzt Sarandia im Dienstzimmer des Kanzleichefs, in das eine der Türen meines eigenen Dienstzimmers führt.

Eines Abends blieb ich noch, um Sarandia zu erwarten, denn es waren bestimmte Papiere zusammenzustellen und abzuschreiben. Sarandia erschien wie immer pünktlich und schrieb nach meinem Diktat. Als er wenig später sein Taschentuch hervorzog, rutschte dabei ein Dukaten heraus und rollte klingend über den Fußboden. Sarandia blickte auf die Münze und fragte, ob es vielleicht meine sei. Ich schüttelte den Kopf und sagte ihm, dass ich beobachtet hätte, wie das Geldstück aus seiner Tasche gefallen sei. Sarandia war in höchstem Maße erstaunt, denn, wie er sagte, hatte er kein Geld von zu Hause mitgenommen.

Die Münze blinkte am Boden, und Sarandia starrte sie an und schien zu überlegen, wie sie in seine Tasche geraten sein könnte. Dann fiel ihm etwas ein, er bückte sich und legte die Münze auf den Tisch. Wir setzten das Diktat fort. Sarandia war auffällig erregt und voller Unruhe, und als ich das Diktat beendet hatte, bat er um die Erlaubnis, weggehen zu dürfen, wobei er versprach, in einer halben Stunde wieder da zu sein, um die Dokumente abzuschreiben. Ich fragte ihn nach dem Grund für seine Aufregung und Eile und erfuhr, dass er tagsüber bei einem kleinen Handwerker eine Überprüfung vorgenommen, dabei vor der Versteuerung versteckte Waren entdeckt und eine Akte angelegt hatte. Nun war er überzeugt, dass ihm jener Handwerker, weil er ihn nicht geradeheraus zu bestechen wagte, unbemerkt diesen Goldrubel zugesteckt hatte, denn wo sonst sollte das Geld hergekommen sein? Sarandia sagte, er müsse das Geld sofort zurückgeben.

Bald darauf begab auch ich mich nach Hause. Etwa um acht Uhr kam ich zurück, benutzte aber den Hintereingang, um in mein Dienstzimmer zu gelangen. Meine Rückkehr hatte der Kanzleichef offensichtlich nicht bemerkt, der an diesem Abend länger als sonst arbeitete, und ebensowenig Sarandia, der inzwischen gleichfalls wieder zurück war.

»Na und, hat er das Geld genommen, oder hat er Sperenzchen gemacht?«, hörte ich den Kanzleichef fragen.

»Er hat es genommen, und er war verlegen«, erwiderte Sarandia.

»Verlegen, soso! Ich nehme an, nicht verlegen, sondern bestürzt. Wahrscheinlich meinte er, dass Ihnen der Betrag zu gering sei und Sie deshalb das Geld zurückgeben würden.«

»Ich weiß nicht, auch das kann sein.«

»Sie hätten es nicht zurückgeben sollen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sarandia aufrichtig erstaunt.

»Sie hätten es einfach nicht tun sollen.«

»Das geht doch nicht.«

»Und wenn der Fiskus Ihnen einen Bettlerlohn zahlt, das geht? Kann man damit auskommen?«

»Es gibt kein ausreichendes Einkommen. Man muss sich auf das Einkommen einstellen. Wieviel man auch bekommt, man will immer noch mehr. Es gibt kein hohes und kein niedriges Gehalt, es gibt nur einen großen und einen kleinen Appetit.«

»Und Sie, mein Herr, haben einen Appetit, der dreimal größer ist als Ihr Gehalt«, sagte nach einer längeren Pause der Kanzleichef.

»Wieso das? Ich habe zwar noch nicht darüber nachgedacht, aber warum erscheint Ihnen das so?«

»Weil Ihnen das Gehalt nicht ausreicht und Sie für 10 Rubel im Monat drei Abende in der Woche zum Federkritzeln hierherkommen.«

Sarandia musste herzlich lachen.

»Ich arbeite nicht wegen der 10 Rubel. Ich habe freie Zeit übrig, die muss ich ausfüllen.«

»Wenn man Sie so hört, arbeiten Sie überhaupt nicht des Geldes wegen. Sie würden es auch für 5 Rubel tun, nicht wahr?«

»Nein. Für 5 Rubel nicht.«

»Was würden Sie denn bei einem solchen Angebot tun?«

»Mir eine Arbeit für 10 Rubel suchen.«

»Soso, ist vielleicht die Zehn eine heilige Zahl?«

»Durchaus nicht. Mein Grundgehalt und dazu der Dukaten bilden zusammen ein Einkommen, das es mir ermöglicht, die verbleibende freie Zeit – vier Abende und den Sonntag – für mich selbst zu nutzen. Außerdem ist die Zeit, die ich für den zusätzlichen Dienst aufwende, eben 10 und nicht 5 Rubel wert.«

»Eine verblüffende Theorie, bei Gott! Verraten Sie mir vielleicht die Quelle einer solchen Weisheit, mein lieber Herr?«

»Ein andermal.«

»Warum es aufschieben?«

»Also bitte sehr: die altgeorgische weltliche Literatur und ein paar theologische Schriften.«

Damit endete das Gespräch. Gerne wüsste ich, ob Sarandia wirklich so war oder ob er nur vorgab, so zu sein.

14. November des Jahres 1884

Gestern fuhren Data Tutaschchia und ich mit Kankawas Kutsche in die Kreisstadt. Das Pferd lief im Trab. Es nieselte. Wir überholten eine Frau mittleren Alters, die sich mit letzter Kraft dahinschleppte, völlig durchnässt und fröstelnd. Tutaschchia schlug vor, der Frau die Kutsche zu überlassen, bis zur Stadt sei es ohnehin nicht mehr weit, und er habe auch Lust, ein wenig zu Fuß zu gehen. Ich war einverstanden.

In der Stadt erledigten wir zunächst meine Besorgungen, wir gingen in ein Schreibwarengeschäft, darauf in einen Manufakturladen. Es war Sonntag, Markttag, und so fanden sich um die Auslagen sogleich einige Dutzend Kauflustige ein. Wir brauchten jedoch nicht lange zu warten, der Kommis hatte uns bereits mehrere Stücke vorgelegt, da stürmte eine junge Frau in den Laden – die Gattin des jungen Lehrers Schabatawa, ein hübsches Ding, aber auch eine ungestüme Person. Die Leute ungeniert wegstoßend, drängelte sie sich vor bis zum Ladentisch. Tutaschchia wandte sich um, maß die Ungestüme von Kopf bis Fuß und trat ihr entschlossen in den Weg. Die junge Frau ließ sich nicht so einfach aufhalten, aber Tutaschchia gab nicht nach, und um ihn aus dem Weg zu räumen, bedurfte es anderer als weiblicher Kräfte.

Der Kommis verpackte unsere Einkäufe, und wir bezahlten. Data bat mich, noch zu warten, wandte sich an die am nächsten stehende Dame, fragte sie, ob sie auch etwas zu kaufen beabsichtige, und erst, als der Kommis diese Dame bediente, verließ er seinen Platz.

Ehrlich gesagt wunderte ich mich über Datas Handlungsweise. Dem schwachen Geschlecht gegenüber verhielt er sich doch sonst stets überaus zuvorkommend, und so fand ich es befremdlich, wie er mit der freilich schlecht erzogenen, aber jungen und anziehenden Madame Schabatawa umgegangen war.

»Ich habe zu ihrem eigenen Nutzen so gehandelt«, erklärte mir Data. »Ein Mensch wird weniger dreist geboren, als vielmehr durch unser aller Schuld dreist gemacht. Aus Edelmut sind wir häufig geneigt, Dummköpfen eine Dreistigkeit nachzusehen, die diese sich gelegentlich aus Unbedachtsamkeit erlauben. Dann aber wird diese Dreistigkeit von Mal zu Mal gefestigt, und sogar der Dummkopf begreift, dass dem Dreisten die Welt gehört, und er bleibt lebenslang ein Frechling. Nehmen wir dagegen an, dem Dreisten wird nicht nachgegeben, und es findet sich einer, der ihn belehrt – wie dreist er auch ist, früher oder später wird er von seiner Unsitte lassen, und vielleicht wird er für den Rest seines Lebens noch ein ordentlicher Mensch.«

Freilich ist diese von Data Tutaschchia geäußerte Überzeugung ein wenig ungewöhnlich. Das Los des Dreisten ist die Dreistigkeit. Doch ahne ich, dass darin eine gewisse Wahrheit steckt, und was mich dabei anzieht, ist die energische Haltung gegenüber dem Leben.

Das Vernehmungsprotokoll

11. März 1885

Stadt Poti, Militärhospital

Untersuchungsrichter – Jewtichi Agafonowitsch Ijewlew, Rittmeister der Gendarmerie des Gouvernements Kutais

Geschädigter – Leutnant i.R. Sergej Romanowitsch Andrijewski, ein Mann von altem Adel aus dem Moskauer Gouvernement

Frage des Untersuchungsrichters: Herr Doktor, erlaubt der Zustand des Patienten ein Verhör und wird das Vernehmungsprotokoll ein rechtskräftiges juristisches Dokument darstellen?

Antwort: Herr Andrijewski wurde im oberen Bereich der Leber verwundet, was Ihnen bereits aus dem medizinischen Gutachten bekannt sein dürfte. Gegenwärtig hat Herr Andrijewski leicht erhöhte Temperatur, die psychische Verfassung ist gut, und er kann ohne Schaden für seine Gesundheit Aussagen machen. Was jedoch die Rechtskräftigkeit des Dokuments angeht – dies zu bejahen oder zu verneinen, fällt nicht in meine Kompetenz.

Frage: Herr Leutnant, bitte erklären Sie uns hier die Motive für Ihren Ruhestand und die Wahl des freien Berufs des Künstlers.

Antwort: Die Frage gehört nicht zur Sache, darum verweigere ich die Antwort.

Frage: Wer hat Ihnen die Verwundung zugefügt, zu deren Behandlung Sie sich im Militärhospital der Stadt Poti aufhalten?

Antwort: Data Tutaschchia, ansässig im Kreis Sugdidi im Gouvernement Kutais.

Frage: Welche Beweise können Sie dafür anführen?

Antwort: Data Tutaschchia wird es bestätigen. Ebenso können es seine Schwester Ele Tutaschchia und mein Diener Fjodor Nikischow bestätigen. Ich merke jedoch an, dass wir im gegenseitigen Einverständnis aufeinander geschossen haben.

Frage: Sie wollen sagen, dass zwischen Ihnen ein Duell stattgefunden hat?

Antwort: Nein, wir haben keine Bedingungen vereinbart, und wir schossen ohne Sekundanten, was, wie Ihnen bekannt sein dürfte, nicht als Duell angesehen werden kann.

Frage: Wünschen Sie ein Strafverfahren gegen Data Tutaschchia einzuleiten?

Antwort: Auf keinen Fall. Ich erkläre auch, dass ich strikt dagegen bin, dass ein anderer ein solches Verfahren einleitet. Ich denke dabei an unseren gemeinsamen Bekanntenkreis.

Erläuterung des Untersuchungsrichters: Die Gendarmerie ist nach den geltenden Gesetzen verpflichtet, ein Strafverfahren gegen denjenigen einzuleiten, der Ihnen die Verwundung zugefügt hat. Die subjektive Seite der Straftat, das heißt, das Tatmotiv, wird das Gericht klären, und es wird bei seinem Urteilsspruch auch den die Schuld mildernden Umständen Rechnung tragen, falls es solche gibt. Gegenwärtig entzieht sich der Täter Data Tutaschchia der strafrechtlichen Verfolgung. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren eingeleitet, und die Fahndung läuft bereits.

Frage des Geschädigten: Welche Strafe erwartet Data Tutaschchia?

Erläuterung des Untersuchungsrichters: Wenn der Straftat kein politisches oder ähnliches Motiv zugrunde liegt, das heißt, wenn sie kein Vergehen ist, welches das Gesetz als terroristischen Akt anzusehen hat, wird sie als vorsätzliche, doch nicht ausgeführte Tötung oder als Körperverletzung mit schweren gesundheitlichen Folgen eingestuft werden. Was die Sanktionen betrifft, also das Strafmaß, so befindet darüber das Gericht.

Frage des Geschädigten: Würde meiner schriftlichen Bitte um Beilegung des Verfahrens gegen Data Tutaschchia stattgegeben werden?

Erläuterung des Untersuchungsrichters: Mit einer derartigen Bitte können Sie sich an das Gericht wenden, dem Sie die Strafsache übergeben müssen.

Frage des Untersuchungsrichters: Die Ermittlung bedarf Ihrer erschöpfenden Aussage zu dem Vorgefallenen. Wollen Sie über den genauen Ablauf berichten oder wünschen Sie lieber auf Fragen zu antworten?

Antwort: Stellen Sie Fragen.

Frage: Waren Sie mit Data Tutaschchia vor der Verwundung bekannt, und wenn ja – unter welchen Umständen lernten Sie sich kennen?

Antwort: Data Tutaschchia ist Viehzüchter. Für den Winter pachtet er die am Meer gelegenen Weiden des Fürsten Antschabadse. Es handelt sich beinahe um eine Dauerpacht, darum steht auf dem Weideland auch eine Reisighütte, in der Data Tutaschchia und seine Schwester Ele den Winter verbringen. Die Küste ist an der Stelle felsig, und für mich als Landschaftsmaler äußerst attraktiv. Mir gefiel der Ort, und so wandte ich mich an den Pächter und bat ihn darum, ein Zelt aufschlagen zu dürfen. Wie ich bereits sagte, war Data Tutaschchia der Pächter. Er erlaubte mir, das Zelt aufzustellen, und half mir und meinem Diener dabei. Das war im vergangenen Jahr im Oktober. Vor fünf Monaten.

Frage: Beschreiben Sie das Äußere Tutaschchias, weist er besondere Merkmale auf?

Antwort: Er ist etwas größer als mittelgroß und von kräftigem Körperbau. Er hat blaue Augen, eine Hakennase, die Beine sind vom ständigen Reiten leicht krumm. Er liebt schicke, ihm zu Gesicht stehende Kleidung, bevorzugt die georgische Tschocha und meist eine von schwarzer Farbe. Er wechselt häufig die Pferde. Von seinen Pferden ist eines schöner als das andere. Kurz, er unterscheidet sich kaum von seinen Landsleuten aristokratischer Herkunft.

Frage: Und Ele Tutaschchia?

Antwort: Ich glaube nicht, dass diese Frage etwas mit der Angelegenheit zu tun hat.

Frage: Was wissen Sie von nahen Verwandten Data Tutaschchias?

Antwort: Data und Ele sind Geschwister. Sie verwaisten bereits als Kinder. Soviel ich weiß, haben sie eine Tante väterlicherseits, deren Mann sowie Cousins.

Frage: Was für eine Bildung hat Tutaschchia genossen?

Antwort: Zwar hat er kein Gymnasium besucht, aber er ist ein recht gebildeter Mensch. Die Tante und der Onkel, ein Dorfdiakon, nahmen die Waisen zu sich und erzogen sie zusammen mit ihren eigenen Kindern. Sie lehrten sie lesen und schreiben, Gottes Wort und machten sie mit der schönen Literatur bekannt. Data Tutaschchia hat gute Kenntnisse in der russischen Umgangssprache, er spricht besser Russisch als ich Georgisch. Wo und wann er das gelernt hat, weiß ich nicht. Er hat einen lebhaften, hellen Verstand. Er ist ein hochanständiger und rechtschaffener junger Mann.

Frage: Was verband Sie miteinander, in welcher Beziehung standen Sie zu Data Tutaschchia?

Antwort: Unsere Beziehung war von enger, freundschaftlicher Art. Ungeachtet des Vorgefallenen empfinde ich auch jetzt noch größte Hochachtung vor Data und seiner Schwester Ele.

Frage: Menschen, die einander so nahestanden, trachteten einander plötzlich nach dem Leben? Dafür gab es sicherlich ernste Gründe? Weswegen kam es zum Zerwürfnis?

Antwort: Data Tutaschchia traf Ele und mich allein an. Der Pflicht halber muss ich sagen: Wenn auch Liebe zwischen uns war, so hatte ich in keiner Weise das Vertrauen meines Freundes noch das seiner Schwester missbraucht.

Frage: Was geschah dann?

Arzt: Herr Rittmeister, der Patient ist müde. Eine Fortsetzung des Verhörs wird ernste Folgen für seine Gesundheit haben. Herr Andrijewski braucht unbedingt eine Erholungspause.

Untersuchungsrichter: Ich wage nicht, Ihnen zu widersprechen. Ich will hoffen, dass es Herrn Andrijewski in ein paar Tagen schon viel besser geht und wir dann Gelegenheit haben werden, das Verhör fortzusetzen.

Rapport von L.D. Schwangiradse

27. März 1885

Ich melde, dass bis zum Zeitpunkt von S.R. Andrijewskis Ableben in Poti noch keinerlei Nachricht über den Verbleib des Täters Tutaschchia ergangen war. In letzter Zeit aber wird in den Wirtshäusern von Poti der Name Tutaschchia häufig erwähnt, und es gelang uns, Hinweise von Personen zu erhalten, die behaupten, Tutaschchia zu kennen oder mit ihm in enger Beziehung zu stehen. Die Tatsache, dass Tutaschchia auf den Friedhof gelangte und mühelos Andrijewskis Grab finden konnte, ist zweifellos den ihm von Freunden erteilten Auskünften zu verdanken.

Der Täter Tutaschchia erschien gegen Abend auf dem Friedhof und sah sich auf dem Gelände um. Wachtmeister Stropilin und der Polizist Machatadse befanden sich linkerhand vom Grabhügel im Versteck. Auf der anderen Seite lagen Feldwebel Iwanizki und der Polizeibeamte Scharia. Der Distriktspolizist Turnawa und ich beobachteten den Verlauf der Operation aus dem Gebüsch heraus.

Der Täter bemerkte den Hinterhalt nicht und ging geradenwegs zu Andrijewskis Grab. Dort blieb er stehen. Man sah, dass er sich die Stelle merken wollte. Wachtmeister Stropilin erhob sich, zielte auf den Täter und forderte ihn auf, sich zu ergeben. Das gleiche tat Machatadse im Rücken Tutaschchias. Feldwebel Iwanizki schoss in die Luft und schritt mit dem Polizisten Scharia auf den Täter zu. Dieser warf sich auf den Boden und zog zwei Mauserpistolen aus dem Gürtel. Vor Stropilin und Machatadse schützte ihn der Grabhügel, und ohne weiter auf die beiden zu achten, zielte er auf Iwanizki und Scharia. Iwanizki feuerte aus der zweiten Waffe, schoss jedoch daneben. Als Antwort ertönten Schüsse von gegenüber. Scharia schrie auf und suchte humpelnd das Weite. Erneut hörte man Schüsse. Der Täter robbte zwischen den Grabhügeln hindurch und schoss zurück. Iwanizki wurde schwer verwundet. Distriktspolizist Turnawa und ich gingen rechtzeitig zur Ergreifung des Täters über, gerieten aber in Stropilins und Machatadses Schusslinie und warfen uns auf den Boden. Tutaschchia nutzte das Durcheinander und verschwand.

Ich vermelde zu Ihrer Kenntnis einen weiteren Umstand: Der Polizeibeamte Scharia behauptet, durch einen Schuss Machatadses verwundet worden zu sein. Eine Überprüfung dürfte unmöglich sein, da es sich bei Scharias Verletzung um einen Durchschuss handelt. Ich glaube sicher, dass Tutaschchia ihn getroffen hat. Was Feldwebel Iwanizki angeht, so wurde aus seiner Wunde eine Mauserkugel entfernt.

Die Fahndung nach Tutaschchia wird fortgesetzt. Anordnungsgemäß werden sämtliche Orte, an denen er auftauchen könnte, überwacht.

GRAF SZEGEDY

Wenn sich einer der Verantwortung entzieht, so erzeugt das mit der Zeit ganz von selbst eine Kette neuer Straftaten, und je mehr sich aneinanderreihen, desto dringlicher wird die Isolierung des Straftäters. Ähnlich dem Leben einer Kokotte besteht das Leben des Abragen aus dem, was er getan hat, und dem, was den Aufsichtsbehörden bekannt wird, aus dem, was er nicht getan hat, was aber der Klatsch ihm zuschreibt, und schließlich aus dem, was er zwar getan hat, was aber nicht öffentlich geworden ist. Tutaschchias Dossier wuchs rasch an und füllte sich mit einer Vielzahl so widersprüchlicher, bisweilen höchst zweifelhafter Informationen, dass uns über die Dienstpflicht hinaus schon die berufsbedingte Neugier dazu trieb herauszufinden, was denn nun tatsächlich Tutaschchias Werk war und was ihm nur angedichtet wurde. Ich wünschte mir eine Begegnung mit Tutaschchia von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge, um dieses Phänomen zu ergründen.

Während der ersten vier Jahre seines Räuberlebens – dies darf als sicher gelten – blieb Tutaschchia innerhalb der Grenzen Georgiens, was uns die Möglichkeit bot, ihn im Blick zu behalten und zu hoffen, dass er früher oder später in eines unserer Netze gehen würde. Ein solches Verhältnis zu Polizei und Gendarmerie schien Tutaschchia recht zu sein. Dies mag sich zum Teil daraus erklären, dass jeder auch noch so geringe Erfolg beim Volk lebhaften Widerhall fand und seinen Ruhm mehrte, was seinem Ehrgeiz schmeichelte. Es gibt eine Gesetzmäßigkeit: Das Los des Abragen ist letztlich entweder der Galgen oder die Kugel des Verfolgers oder aber das Messer oder das Gift des Verräters. Tutaschchia jedoch war offenbar ein Erwählter des Schicksals – sein Leben unterwarf sich keinen Gesetzmäßigkeiten. In den vier Jahren, in denen er in Georgien verweilte, konnten die Ermittlungsbehörden etwa zwanzig Personen anwerben, die Tutaschchias Vertrauen genossen und bei denen er häufig Station machte. Man darf annehmen, dass die Hälfte dieser Personen Tutaschchia vor der Gefahr warnte, die übrigen – das steht außer Zweifel – durchschaute er selbst und verzichtete auf ihre Dienste. So manches Mal gelang es uns in Erfahrung zu bringen, wo und wann er auftauchen sollte. In fünf oder sechs Fällen blieb er aus, und das Polizeiaufgebot wartete vergebens auf ihn. Es gab einen Fall, da er der Umzingelung entschlüpfte und obendrein noch acht Pferde aus dem Bestand der Polizei mitnahm. Die Pferde verkaufte er in Osurgeti an irgendwelche Türken. Ein anderes Mal stahl er sich in ein von der Polizei umstelltes Haus, aß mit den Bewohnern zu Abend und ging wieder. Ich erwähne diese Vorkommnisse, weil ich es während meiner langjährigen Dienstzeit nur ein einziges Mal erlebt habe, dass ein Abrage mit derart unbegreiflichem Starrsinn wenn nicht mit dem Galgen, so doch zumindest mit der Zwangsarbeit spielte.

Im Jahre 1889 verschwand Data Tutaschchia spurlos. Im Volk kursierten darob viele Gerüchte und Mutmaßungen, doch nichts davon war überzeugend. Ich glaube, er hielt uns für allzu schwache, unwürdige Gegner. Sein Interesse an uns war erschöpft, das Spiel ihm über geworden.

DIGWA SASUA

Ob ich ihn gekannt habe? Wenn ich sage, ich habe ihn gekannt, heißt das gar nichts. Siehst du, dass mir ein Auge fehlt? Alles wegen ihm. Jaja, wegen Data Tutaschchia! Kirchendiener bin ich geworden wegen der Einäugigkeit. Was sollte ich sonst hier zu suchen haben, ich, mit diesen Armen? Wenn ich früher Geld verdienen ging; unter vierzig, fünfzig Goldrubeln brachte ich da nichts nach Haus. Siehst du das Pfahlhaus? Ganz und gar aus Kastanie gezimmert. Und wieviel Ackerland ich noch für mein gutes Geld von Dschidschichia gekauft habe … Was mein Handwerk war? Ich habe Fassdauben behauen. Für das Stück zahlten sie mir 2 Kopeken. Gutes Geld, und die Arbeit hat mir Freude gemacht. Im Wald, da fühle ich mich wohl. Du trittst an so eine Buche heran: ein sauberes, lichtes Ding, kein Ästchen dran, wie eine Sehne streckt sie sich himmelwärts. Du wirfst nur ein Auge drauf, schon weißt du, ob das Holz sich spalten lässt oder ob die Fasern klemmen. Dann ist es aus, das ist eine Qual. Zuerst haust du ein Stück heraus, anderthalb Spannen lang und drei Finger dick. Die Berührung mit der Axt sagt dir gleich, ob das Holz für Fassdauben taugt oder nicht. Allein schafft man die Arbeit nicht, das braucht einen zweiten Mann. Wenn man gleich einen Kameraden mitbringt, umso besser, sonst muss man sich einen Handlanger suchen. Sägen muss man zu zweit. Am besten geht’s natürlich mit einem Freund, da schafft man mehr.

Im Herbst brachte ich die Ernte ein, verkaufte, was sich verkaufen ließ, legte Vorräte an und zog in den Kuban. In den Bergen dort kannte ich ein Kosakendorf, Barakajewka. Diesseits des Dorfes, zu uns hin, stehen reine Buchenwälder, da werden Fassdauben gemacht. Ringsum liegen ein paar kleine Ansiedlungen, überall wohnen Holzfäller und Fassdaubenmacher. Und verschiedenstes zugewandertes Volk sammelt sich da. Die Alteingesessenen kannte ich alle, war ja nicht das erste Jahr dort. Der Aufseher sah mich immer gerne kommen, schließlich war ich ein Meister meines Fachs.

Ich kam also hin und fand unter den Kosaken einen zweiten Mann. Der verstand was vom Handwerk und war auch sonst ein richtiger Kerl. Nur arbeiteten wir nicht lange zusammen. Der Typhus warf ihn um, er starb. In dem Jahr wütete die Seuche schlimm. Viele gingen drauf, vor allem von den Zugewanderten. Die Alteingesessenen hatten ja ein ordentliches Zuhause, die Kornkästen waren voll, und Viehzeug gab’s auch. Den Satten und Sauberen fällt die Seuche nicht so leicht an. Kurz, ich blieb allein. Ich konnte keinen neuen Arbeiter finden, es waren so wenig Leute übrig. Von den Alteingesessenen kommt keiner zu dir – die gehen alle mit der Familie raus, mähen den Wald ab, als wär’s Heu, und scheffeln Unmengen Geld. Die hätten dich selber gern als Arbeiter.

Aber einmal in der Ferne, konnte ich doch nicht einfach zurück! Also pusselte ich allein herum, plagte mich, schuftete und wäre am liebsten weggelaufen. Ich wollte wirklich alles hinschmeißen und nach Hause gehen. Aber da tauchte im Wald plötzlich Data Tutaschchia auf. Ich sehe hin – kommt da einer den Hang raufgekrochen. Nicht nur von ferne, sogar von Nahem hatte ich Mühe, ihn zu erkennen. Wo waren Tutaschchias maßgeschneiderte Tschochas und seine rassigen Hengste hin? Kaum zu glauben, er schleppte sich zu Fuß voran, in abgewetzten Stiefeln für 30 Kopeken.

Das Unglück verfolgt dich, Data, dachte ich bei mir, er aber kam lächelnd auf mich zu. »Wie ich sehe, geht’s dir nicht besonders«, sag ich. »Was ist passiert?« – »Ach, nichts«, antwortet er, »ich muss nur für ein Weilchen irgendwo bleiben.«

Er trug Lumpen auf dem Leib, sag ich dir, trotzdem wirkte er neben diesem dreckigen, grauen Volk wie ein Fürst. Und ein hübscher Kerl, weiß Gott. Die Weibsbilder konnten die Augen gar nicht wieder abwenden. Schön, darum geht’s jetzt nicht.

Ich habe Data also zum Aufseher gebracht und erklärt, ich hätte meinen zweiten Mann gefunden. Wir bekamen eine Unterkunft zu zweit und fingen an zu arbeiten. Vom Fassdaubenmachen verstand Data nichts, dafür wusste er tüchtig die Axt zu schwingen. Er erlernte das Handwerk schnell, vor allem war er fleißig.

Am ersten Tag brauchten wir keinen Baum zu fällen – ich hatte noch einen Stamm, und wir sägten ihn in Stücke für hölzerne Deckelkannen. Neben uns fällte Poklonski mit seinem Sohn gerade eine Buche – ein Prachtbaum, drei Männer konnten den nicht umfassen! Den zweiten Tag arbeiteten sie schon daran. Data sah immer wieder hinüber, maß mit den Augen bald die Höhe, bald den Umfang des Baums. Hatte er noch nie gesehen, wie man einen Baum fällt? Aber nein, siehst du, diese Bäume waren anders, und sie fielen anders, er war einfach neugierig. Na, endlich hatten die Poklonskis ihre Buche so weit. Sie krachte los, Data warf die Säge hin, drehte sich um, und wie er war, knieend, verharrte er und schaute wie gebannt zu. Die Buche schwankte und brach zu Boden. Ich sehe, Data ist kreidebleich, der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, er rührt sich mit keiner Faser. Gleich würde er aufspringen und mir entfleuchen. Ehrlich gesagt, ich habe nicht geglaubt, dass er dableibt. Lange kniete er so, ganz still und in sich gekehrt, dann hat er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht gewischt und nach der Säge gegriffen.

Ich dachte, er gewöhnt sich schon an den Wald und an die Arbeit und nimmt es sich bald nicht mehr so zu Herzen, aber er ist irgendwie sonderbar geblieben: Hatten wir einen Baum ausgesucht, gingen wir mit zwei Äxten dran, und um uns regnete es ellenlange Späne. War der Fallkerb fertig, trat Data beiseite und guckte. Es gibt ja wirklich was zu sehen – die Buche kracht, als ob man ihr das Rückgrat bricht, aber vorerst steht sie. Dann kippt sie und fällt, alles zertrümmernd, was ihr im Weg ist; das Laubwerk klirrt und rasselt, die Zweige stöhnen und knacken, kaum zu glauben. Ein Getöse ist das, als ob Amirani den letzten Seufzer ausstößt. Der Baum schlägt auf dem Boden auf, als ob sich ein Riese mit der Faust an die Brust hämmert, nur noch viel lauter. Die Erde erbebt, schwankt und beruhigt sich wieder. Es ist, als wäre man plötzlich taub geworden. Da liegt er, der unglückliche Baum. Die Blätter rollen sich bald zusammen. Es herrscht Totenstille. Data steht und guckt. Es war immer dasselbe – sobald in der Nähe ein Baum niederging, ließ er die Arbeit fallen und rannte hin. Wie oft habe ich ihn sagen hören: »Digwa, Bruderherz, ich wette um meinen Kopf – ein Baum ist wie ein Mensch, ja, er versteht sogar alles besser, außerdem ist er schöner als der Mensch, er tritt dem Tod würdiger entgegen, und er lebt ein viel edleres Leben!«

Solche Reden schwang Data gern, und er glaubte an seine Worte. Aber ich schweife ab, ich werde alt und vergesse mich …

Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war, da kam ein ehemaliger Soldat zu uns mit seiner Frau. Wie ich später erfuhr, war sie während der gesamten Dienstzeit ihres Mannes immer bei ihm gewesen. Die beiden hatten keine Kinder, waren völlig abgerissen und barfuß und hatten nicht einmal einen Platz zum Schlafen. Gott allein weiß, wie es sie dahinverschlagen hatte! Unergründlich sind die Wege des Herrn. Aber wie viele lebten da im Dorf, lauter Zugewanderte, armes Lumpenpack, und siehe da, sie hatten sich festgesetzt und Hab und Gut erworben.

Die Neuen kamen also, und der Aufseher fragte den Soldaten, ob er Holz fällen könne. Der Soldat verneinte, er sei ein Mann aus der Steppe, er könne zwar Brennholz hacken, aber von der Waldarbeit verstehe er nichts. Trotzdem nahm ihn der Aufseher, denn es fehlten Leute, und er bat Data und mich, die beiden als Gehilfen zu nehmen und ihnen das Handwerk beizubringen. Ach, sei er verflucht, dieser Tag, damals fing das ganze Elend an! Aber ich will der Reihe nach erzählen.

Der Soldat hieß Budara, die Soldatenfrau Budaricha. Niemand wusste etwas von ihrem Wer und Woher. Sie sprachen Russisch, aber ein so merkwürdiges Russisch habe ich sonst noch nie gehört. Budaras Sehkraft hatte in der Soldatenzeit nachgelassen, trotzdem, auch mit schwachen Augen war er ein tüchtiger Arbeiter. Die Budaricha, obwohl sie ein Weibsbild war, rackerte nicht schlechter, ja fast noch besser als ihr Budara.

Zwei Tage lang sah Data sich die Leute an, dann sagte er zu mir: »Es geht nicht, dass wir denen nur 50 Kopeken zahlen, lass uns ihnen einen Rubel geben.«

Na sowas! Ein Tagelohn betrug in dem Jahr 40 Kopeken, wieso sollten wir den Budaras da einen Rubel geben?! Data blieb stur, und wir einigten uns am Ende darauf, jedem der beiden 75 Kopeken zu zahlen. Die Budaras, erfreut, packten noch eifriger zu. Nach und nach lernten sie, den richtigen Baum auszuwählen, ihn zu fällen, zu zersägen, das Holz zuzuschneiden und abzuhobeln. Herrgott, was waren das für fleißige Leute! Nehmen wir zum Beispiel das Mückenpack. Das lebt da im Wald in dicken Schwärmen. Wo man arbeitet, muss man zuallerst Faulholz anräuchern und mit dem Qualm das Ungeziefer vertreiben, sonst frisst es einem die Knochen kahl. Die Budaras brauchten kein Faulholz, die Mücken machten ihnen nichts aus, sie gingen frühmorgens an die Arbeit und richteten sich bis zur Dämmerung nicht einmal auf. Und wie höflich die beiden waren; immer kamen sie mit einem Lächeln, immer ehrerbietig, sogar mit den Hühnern waren sie, wie man so sagt, per Sie. Begrüßten sie einen, verbeugten sie sich bis zur Erde runter. Und beten, das taten sie Tag und Nacht, ein Mönch hätte sie drum beneiden können. Einmal sagte ich einfach so daher, dass das Wasser im Krug abgestanden sei – Budara hörte es, riss mir das Gefäß aus der Hand, und schon lief er den Berg hinunter. Ich rief ihm zu, er solle zurückkommen, aber von wegen! Eine Werst weit rannte er den steilen Hang runter bis zur Quelle und kam im Laufschritt wieder rauf. Mit frischem Wasser.

Die Budaras verbrachten bei uns genau einen Monat, dann kannten sie das Handwerk und arbeiteten auf eigene Rechnung. Sie waren noch bei uns, als sie anfingen, ihre Hütte zu bauen. Wir halfen ihnen, so gut wir konnten, mit Balken, Dachsparren, Rahmen, Türen. In dem einen Monat verdienten die beiden 40 Silberrubel. Sie aßen sich satt, die Ärmsten, und kleideten sich ein, natürlich nach Waldarbeiterart.

Die Wände standen schon, da ließen sie die Hütte sein und bauten einen Stall. Der war nach zwei Wochen fertiggezimmert. Ein großer Stall, in dem hätten fünf Kühe mitsamt Nachwuchs Platz gehabt. Data freute sich dermaßen über ihre Beharrlichkeit – als ob sie für ihn rackerten.

Ich weiß noch, einmal um die Mittagszeit machten Data und ich Pause. Da kamen die Budaras, und wir luden sie zu unsrer Mahlzeit ein. Wie wir so zu viert dasitzen und über Verschiedenes sprechen, sagt die Budaricha plötzlich: »Wir sind in eurem Handwerk noch nicht so geübt, für einen Rubel am Tag höchstens zimmern wir die Fassdauben, und ihr wisst ja, was wir für Ausgaben haben: Die Hütte muss fertig werden, für den Haushalt ist dies und das anzuschaffen. Zuallererst möchten wir eine Kuh kaufen, aber das Geld langt nicht. Leiht uns doch 15 Rubel, am Sonntag gehen wir nach Barakajewka, kaufen die Kuh, und die Schulden können wir abarbeiten oder in Geld zurückzahlen, wie ihr wollt.«

Data ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen – schon zählte er der Budaricha die 15 Silberrubel hin. Für Leute wie sie sei ihm nichts zu schade, hat er gesagt, der Herrgott möge ihnen helfen. Sie haben sich wer weiß wie viele Male bei uns bedankt, sind noch ein Weilchen sitzen geblieben und dann zu ihrer Buche gegangen.

Ehrlich gesagt, mir gefiel weder ihre Bitte noch dass Data ihnen das Geld gegeben hatte. Nicht aus Geiz, Gott ist mein Zeuge. Ich hielt damit nicht hinterm Berg und sagte es Data.

»Was hast du dagegen?«, fragte er verwundert. »Erklär mir das.«

»Ich spüre, das ist nicht zum Guten. Du wirst sehen, dass ich recht behalte.«

Am Sonntag brachen die Budaras noch vor Tagesanbruch auf, um möglichst früh auf dem Basar zu sein. Das ganze Dorf, Alteingesessene wie Zugewanderte, wusste inzwischen, dass die Budaras eine Kuh kaufen wollten. Schon vom Morgen an bemerkte ich eine seltsame Unruhe im Dorf – die Mannsleute schwiegen, und die Weibsleute guckten böse. Ich meine damit die Alteingesessenen; von den Zugewanderten war fast keiner zu sehen.

Unsere Siedlung lag am Hang, und vom Dorfplatz aus, auf dem immer Volk versammelt war, konnte man den Weg sehen – der schlängelte sich den Hang hinauf, und wer von Barakajewka aus zu uns heraufkam, musste diesen Weg nehmen, einen andern gab es nicht. Als Mittag vorbei war, krochen alle Familien aus ihren Häusern, besetzten die Vortreppen, die Bänke, die Balken und starrten auf den Weg. Es herrschte Schweigen, kaum, dass jemand ein Wort wechselte. Sie starrten vor sich hin wie die Zwergohreulen; es war, als ob sie einen fremden Leichenzug erwarteten. Ich ahnte, worauf sie warteten, aber für alle Fälle hörte ich mich um – wirklich, sie warteten auf die Budaras. Wenn einer im Dorf Vieh kauft und ein Nachbar kommt gelaufen, um es zu begutachten, ist das ganz normal. Aber die, von denen hier die Rede ist, besaßen jeder mindestens fünf Kühe, außerdem massenweise Schweine, Ziegen und Hühner, Enten und Gänse. Darum wunderte es mich, dass sie an die Budara’sche Kuh so viel Zeit verschwendeten. Alle waren sie mal nackt und bloß angekommen und hier reich geworden. Sie hatten Rodeland, bauten darauf Unmengen von Kartoffeln an. Die Ernten sind üppig in der Gegend, die Kartoffeln erstklassig, mit blauschwarzer Schale. Die kleinen sind so groß wie eine Faust, die großen wie ein Kohlkopf. Aus einer Saatkartoffel holten sie zwanzig Stück als Ernte. Die brachten sie im Frühjahr zum Basar, wenn sie gut im Preis standen. Wieviel Land hatten sie dann noch mit Korn und Mais bestellt, und der Wald warf auch noch was ab … Da kam was zusammen. Und in dieser Einöde gab es keine Vertreter der Staatsmacht, wer sollte da Steuern eintreiben? Reich waren die Leute, steinreich, also warum dieses Warten auf die Budara’sche Kuh? Dieses krampfige, grimme Warten? Ich sagte es Data. Er werkelte gerade etwas mit der Axt, ließ alles liegen, und wir setzten uns zu den Dorfleuten auf eine Bank.

Die Budaras und ihre Kuh ließen auf sich warten. Alle schwiegen, mürrisch und bedrückt.

Endlich tauchten sie auf. Sie bewegten sich langsam. Vorneweg Budara, er führte die Kuh an dem um die Hörner gebundenen Strick, und der Kuh folgte die Budaricha, eine lange Rute in der Hand. Sie kamen immer näher.

»Die Budaras haben eine Ziege gekauft! Eine Ziege!«, rief einer.

Alle lachten, doch nur leise, für sich, damit die Budaras es nicht hörten.

Es war aber keine Ziege, sondern eine Kuh. Von einer guten Gebirgsrasse, nur diese Dummköpfe wussten nicht Bescheid. So viel Milch wie ihre Kühe konnte die Budara’sche Kuh freilich nicht geben, dafür ließ sich aus der Milch die doppelte, wenn nicht die dreifache Menge Butter schleudern. Sie wussten’s nicht und freuten sich, weil die Kuh so mickrig war und ihre Milch einen nicht überschwemmen würde.

Als die Budaras auf zwanzig Schritt heran waren, sagte einer: »Seht mal, die Kuh hat keinen Schwanz!«

Der Schwanz war tatsächlich gestutzt, auf knapp zwei Handbreit Länge. In den waldigen Gegenden ist es für eine Kuh umso besser, je länger der Schwanz ist, da kann sie Fliegen und Mücken leichter vertreiben; stummelschwänziges Vieh wird von dem Teufelszeug geplagt und gibt weniger Milch. Als die Dorfleute den gestutzten Schwanz sahen, beruhigten sie sich – die Budara’sche Kuh konnte es mit ihren Kühen nicht aufnehmen. Also gingen sie auseinander.

»Hast du das gesehen?«, fragte Data. »Was freuen die sich, die Dummköpfe? Ein reicher Nachbar ist eine Hilfe im Unglück, eine Stütze in der Not! Was sind das für Leute, ich begreife das nicht!«

Er verstand sie nicht, weil er sie nicht kannte. Aber ich, ich kannte sie. Die peinigten sich gegenseitig bis aufs Blut, da gönnte keiner dem andern was, die bestanden nur aus Neid und Missgunst. Wenn Lumpenpack zu Wohlstand kommt, wird es immer so. In dem Dorf lebte nur solch ein Fett ansetzendes, böses, übles Volk. Du glaubst das nicht? Gleich will ich dir was erzählen – die Haare werden dir zu Berge stehen!

Die Budaras trieben ihre schwanzlose Kuh in den Stall, der war geräumig wie ein herrschaftliches Wohnhaus. Und was meinst du? Im ganzen Dorf war keine bessere Milchkuh zu finden. Als das stummelschwänzige Vieh anfing, mehr Milch zu geben als alle andern, wollte es keiner glauben. Und die Budaricha, das Aas, hatte irgendwo ein Glasgeschirr aufgetrieben, das nahm sie leer mit in den Stall und trug es randvoll vor aller Augen aus dem Stall heraus ins Haus. Das nichtsnutzige Weibsstück wusste genau, dass die Nachbarn durch die Vorhänge lugten und vor Neid platzten. Ihr Gang war gewichtig wie der einer Amme, und sie tat, als ob sie nicht ein Milchgeschirr auf dem Arm trüge, sondern einen Fürstensohn.

Ein listiges Weib, das ganze Dorf machte sie kirre.

Die Zeit kam, und zum Kalben hin wurde die Budara’sche Kuh trocken. Einen Monat ungefähr ging sie in die Herde, und dann war sie überhaupt verschwunden. Im Dorf wurde geflüstert, die Budara’sche Kuh sei abgehauen. Diese Teufel – da rennt einer zum andern, um die Zunge zu wetzen: Ganze drei Wochen habe diese Ziege Milch gehabt!

Man weiß ja, manches Rindvieh reißt zum Kalben aus. Die Budaras suchten ihre Kuh – vergebens. Auch Data und ich liefen jeden Hohlweg ab, jede kleine Schlucht; die Kuh war wie vom Erdboden verschluckt. Als wir bei Dunkelheit ins Dorf zurückkamen, hörten wir Geschrei. Wir rannten hin: Da lag die Budara’sche Kuh mit durchschnittener Kehle, und neben ihr ein rotbraunes Kälbchen, der Kopf war zerschmettert; auch der Pflock lag auf der Erde. Die Budaricha, das Haar unbedeckt, kniete vor dem allen und schrie. Du weißt ja wohl, wie die Weiber einen Toten beklagen, und sie schrie noch schlimmer. Drumherum ungefähr acht Leute, alles solche, denen die stummelschwänzige Budara’sche Kuh ein Dorn im Auge gewesen war. Die machten Gesichter, als ob weder sie noch ihre Großväter je ein solches Unglück mitangesehen hätten, und etwas damit zu tun – nein, das hatten sie nie und nimmer!

»Guck dir diese Scheusale an, Digwa, Bruderherz! Was haben sie getan?«, flüsterte Data mir zu. »Schlag mich tot, aber ich bin sicher, dass einer von denen da die Sünde auf sich geladen hat.«

Data zitterte vor Wut. Er packte den Pflock und ging auf die Trauergemeinde los. Die stoben auseinander wie Kakerlaken. Und wie schnell – ich wollte Data noch beschwichtigen, aber da waren sie schon weg.

Der Aufseher schickte gleich einen Mann nach Barakajewka. Am andern Morgen erschien der schnurrbärtige Polizeikommissar, Skirda mit Namen. Der sah sich das getötete Vieh an, befragte die Leute nach dem Hergang. Die Schweinehunde beklagten sich über Data, waren aber geizig und gaben kein Schmiergeld. Ich steckte Skirda einen Fünfer zu. Er fragte mich, wie das mit dem Pflock gewesen sei, ich erzählte es ihm, und er platzte fast vor Lachen. »Das geschieht euch ganz recht«, sagte er zu den Verdroschenen, »ihr hättet noch mehr verdient!« Skirda fraß sich voll und verschwand dahin, woher er gekommen war. Unsere Geißler guckten in den Mond. Geißler sage ich, weil sie so einen Glauben hatten, nach dem hießen sie. Von dem Glauben erzähle ich noch.

Drei Tage vergingen. Die verdroschenen Geißler kamen zur Arbeit, hielten sich aber im Hintergrund, als wenn sie was befürchteten. Data war ja so wütend gewesen, als er zum Pflock gegriffen hatte, aber dort, ich hab’s gesehen, ließ er die Leute in Frieden.

Einmal, als ich allein war, kam ein Geißler zu mir und versuchte mich beiläufig auszufragen, was mein Kamerad vorhabe. Es war klar, die hatten Angst, dass Data sie alle einzeln umbringen würde wegen der Anzeige beim Polizeikommissar. Ich wusste ja, was Data dachte, er litt, weil er sich hatte hinreißen lassen, denn vielleicht war der Schuldige gar nicht unter diesen Leuten gewesen. Der Gedanke quälte ihn, aber das konnte ich den Geißlern ja nicht sagen! Also sagte ich, sie sollten das Schicksal nicht versuchen und meinem Kameraden lieber nicht unter die Augen kommen, damit nichts passierte. »Ja, wie lange sollen wir denn noch vor ihm auf der Hut sein?«, fragt der Geißler. »Vielleicht trägt er es uns ja gar nicht nach?« »Komm morgen wieder«, sag ich, »ich werde ihn fragen.« Am andern Tag kommt er wieder und bittet mich, ich solle ihnen um Christi willen helfen. »Bemüh den Herrgott nicht«, sag ich, »sammelt mir lieber einen Fünfer zusammen, danach reden wir weiter.« Er ging zu seinen Leuten, und sie fragten ihren Christus um Rat. Die haben ihren eigenen Christus, einen lebendigen Menschen, ein Fassdaubenmacher wie alle anderen auch. Ihr Christus riet ihnen, die 5 Rubel aufzubringen, um Data zu beschwichtigen. Sie kamen also zu mir, ich steckte das Geld ein und hatte meine Ausgaben für den Kommissar zurück. Den Geißlern sagte ich, sie könnten jetzt ohne Furcht zur Arbeit kommen. Ich bürgte gewissermaßen dafür.

Die Budaras beweinten ihren Verlust. Das versteht man ja, Gott sei mit ihnen. Das Unglück war, dass Data keinen Ton sagte. Ich hätte nicht geglaubt, dass er sich so quälen könnte. Finster wie eine Gewitterwolke lief er umher.

Dann plötzlich kam wieder Leben in ihn. Mir fiel ein Stein vom Herzen, aber ich fühlte, da war noch was im Busch. Auf meine Fragen antwortete er nicht. Bis zum Sonnabend. Da sagte er:

»Ich habe den Budaras Geld geliehen, wir gehen nach Barakajewka zum Basar, wir wollen eine Kuh kaufen und auch noch ein Pferd.«

»Warum tust du das?«, fragte ich.

»Ich kann es, also tue ich’s«, gab er zurück. »Warum sollte ich’s nicht tun?«

Vor Tagesanbruch brachen sie zu dritt auf, gegen Abend kamen sie wieder, mit zwei Kühen samt Kälbern und mit einem prächtigen Pferd. Data, na klar, hatte ausgezeichnet gewählt. Keine lebende Seele empfing sie im Dorf, alle saßen zu Hause, lugten aber heimlich aus den Fenstern.

Die Budaras dingten Arbeiter, machten Land für Getreide und Kartoffeln urbar, kauften Saatgut, pflügten, säten, eggten, sie bauten die Hütte fertig und schafften ein Schwein und Geflügel an.

Einmal hielt ich’s nicht mehr aus und fragte Data, wieviel Geld er den Budaras gegeben habe, dass sie sich so einrichten könnten. Er starrte mich eine Weile an, dann drehte er sich um, arbeitete an seinem Holzstück weiter und sagte endlich:

»Hast du einen Schaden davon, Digwa, dass sie sich so einrichten konnten?«

»Ich? Wieso?«, antwortete ich. »Nur denk du nicht, dass die Budaras dir in der Not helfen und ihr Leben für dich geben werden.«

»Ich brauche ihre Hilfe nicht«, sagte Data. »Soll’s ihnen wohl ergehen, reichen Leuten fällt’s leichter, Gutes zu tun, und falls ihnen ein Unglücklicher begegnet, werden sie ihm beistehen, so wie ich jetzt ihnen. Meiner Not kann sowieso keiner abhelfen, auch wenn ich der Patensohn des Statthalters wäre.«

»Schön, wir werden’s ja sehen«, sagte ich. Schon damals, als die Budaricha mit der Milch im Glasgeschirr geprahlt hatte, hatte ich geahnt, was das für Vögel waren … »Trotzdem, wieviel hast du ihnen gegeben?«

»200 Rubel. Von mir aus, sie haben mich um nichts gebeten. Es ist geliehen. Ich hätte es ihnen auch schenken können, aber Geschenktes ist zu schnell vergeudet, Hab und Gut muss durch eigenen Schweiß erworben werden.«

Der Frühling kam, ich begab mich heim, besorgte die Aussaat, machte Ordnung. Der Sommer, wie man weiß, ist die Zeit des Bauern. Im Herbst ging’s dann wieder in den Kuban. Data empfing mich düster, voller Unruhe. Wer weiß, was ihn quälte.

Im Herbst wird geerntet. Die Budaras füllten Unmengen von Korn in die Kästen, legten einen Vorrat an Butter und Käse an, schlachteten einen Eber von zehn Pud Gewicht und zahlten die Schulden zurück. Bloß waren das nicht mehr die freundlichen, gefälligen Budaras. Die Augen des halbblinden Budara schienen sehend geworden zu sein; die Budaricha ging nicht mehr in den Wald, sie saß zu Hause bei Handarbeiten, hier wurde ja jetzt eine Hausfrau gebraucht. Budara hatte sich von irgendwoher einen Arbeiter geholt, einen hinkenden Krüppel. Das Hinkebein hatte auch einen hinkenden Verstand. Immer grinste der Mensch und brabbelte vor sich hin. Er schuftete bei denen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, für 20 Kopeken am Tag, der Ärmste. Das Schlimmste war aber nicht seine Blödheit, jedes Dorf braucht seinen Tölpel – er tat mir unendlich leid. Für eine solche Plackerei 20 Kopeken zu zahlen, ist eine Riesensünde. Data sprach darüber mit Budara, aber der gab bloß zur Antwort: »Wozu einem Tölpel mehr zahlen?«

Du hättest sehen sollen, wie Budara aus dem Wald heimkehrte: Wie ein Herr stolzierte er daher. Hinterdrein schleppte sich der dumme Sewa, konnte kaum die Beine heben, auf dem krummen Rücken das Handwerkszeug – Äxte, Hobel, Keile, Hämmer. Der Ärmste kam siebenmal in Schweiß, bis er das Haus erreichte. Alle Fassdaubenmacher ließen ihr Handwerkszeug im Wald, schützten es nur vor dem Regen, und fertig; niemand rührte es an, Dieberei kannte man dort nicht. Budara aber behauptete, es werde doch gestohlen, und jagte den armen Teufel mit der Last fünf Werst weit hin und fünf Werst weit wieder zurück, als ob der dumme Sewa nicht so schon seine letzten Kräfte hergab.

Ich hatte es früher bereits bemerkt, aber nichts gesagt, nämlich dass die Budaricha ein Auge auf Data geworfen hatte. Jetzt, wo sie satt war und voll im Saft stand, ging sie offen zum Sturm über. Data würdigte sie keines Blickes, aber sie war außer Rand und Band, ließ uns keine Ruhe, man wusste gar nicht, wie man sich vor ihr retten sollte. Sie wusch uns die Wäsche, kehrte alle Ecken und Winkel und nähte für uns. Das alles hätte sich sowieso gehört, immerhin hatten sie es dank unserer Güte so weit gebracht, aber hier ging’s nicht um Dankbarkeit, sondern sie führte etwas anderes im Schilde. Mir gefiel das nicht, aber ich sagte mir: Data wird’s nicht schaden, sie kann ihm nichts tun. Alle Geißler schliefen mit den Frauen ihrer Glaubensgenossen – nach ihrem Glauben ist das keine Sünde, sondern der Finger Gottes. Die Budaricha, die das mitbekam, war ganz wild. Ich sagte zu Data: »Hier herrscht sowieso Weibermangel, die Geißler wollen mit den Orthodoxen nichts zu tun haben, quäl die Frau nicht, erfülle ihr das Herzensverlangen, du nimmst dabei keinen Schaden.« Aber Data gab der Budaricha nicht nach: »Wenn ich mich darauf einlasse«, meinte er, »heißt es, ich hätte den Budaras nur geholfen, um meine Lust zu befriedigen.« Die Budaricha umkreiste uns, scharwenzelte um uns herum, begriff dann aber, dass es nichts werden würde, und verzog sich. Ab da mussten wir wieder selber im Fluss die Wäsche waschen.

Die Budaricha fing an, Schnaps zu brennen, und trieb damit schwunghaften Handel. Der Rücken des dummen Sewa war völlig zerschunden, so viel Holz schleppte er aus dem Wald, aber umsonst durfte er am Schnaps nicht mal riechen; dafür kriegte er, wenn die Budaricha die Maische abseihte, den Bodensatz. Der Ärmste fraß das Mistzeug und schwankte berauscht umher, sein Bauch quoll dabei auf wie von der Wassersucht.

Die Geißler bedrängten die Budaras immer mehr, ihren Glauben anzunehmen. Mit der Budaricha wurden sie rasch einig – Schnaps trinken, sagten sie, dürfe man nicht, aber ihn brennen und verkaufen – bitte sehr. Die Budaricha ließ sich zum Geißlertum bekehren, Rüden hatte sie nun mehr als genug, dafür hielt Budara um jeden Preis am orthodoxen Glauben fest, wohl weil er auf Schnaps und Tabak nicht verzichten mochte. Dass sein Weib von einem Bett ins nächste kullerte und Budara als Orthodoxer nicht mehr mit ihr schlafen durfte, schien ihn gar nicht zu stören. Vorerst jedenfalls. Hätte der Ärmste gewusst, was ihm noch bevorstand, er hätte sein Weib eher umgebracht als ihr erlaubt, den Glauben zu wechseln.