Davon ich singen und sagen will -  - E-Book

Davon ich singen und sagen will E-Book

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Beschreibung

Mit Protestsongs machten sie ihrem Unmut Luft. Mit Gassenhauern prägten sie eine neue Art des Singens. Gemeint sind die Protestbewegungen der Moderne – aber eben auch die Reformatoren des 16. Jahrhunderts. 'Vom Himmel hoch, da komm ich her' – 'Ein feste Burg ist unser Gott' – 'Die beste Zeit im Jahr ist mein' – all diese Kirchenlieder waren ursprünglich Volkslieder. Die Erlanger Musikwissenschaftler Konrad Klek und Martin Bubmann lassen eine Reihe von Fachleuten der Kirchenmusik zu Wort kommen. Sie erklären, weshalb Gesang der privaten Erbauung dient, wo die Singebewegungen herkommen, warum 'Stille Nacht, Heilige Nacht' zum Welterfolg wurde – und was das alles mit unserer Gesangskultur heute zu tun hat. Der schöne und kluge Band ist bebildert und erscheint zum EKD-Themenjahr 'Reformation und Musik'. Ein Muss für alle aktiven Sänger, Bläser oder sonstige Instrumentalisten, aben ebenso für die, die gern zuhören. ["Davon ich singen und sagen will".The Protestants and their songs] With protest songs they vented their resentment. With popular songs they coined a new way of singing. This is about the modern protest movements – but also about the reformers of the 16th century. "Vom Himmel hoch, da komm ich her", "Ein feste Burg ist unser Gott", "Die beste Zeit im Jahr ist mein" – all these sacred hymns were originally folk songs.

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Davon ich singen und sagen will

Die Evangelischen und ihre Lieder

Herausgegeben von Peter Bubmann und Konrad Klek

Hinweis:

Alle Abkürzungen sind allgemein üblich. EG bezeichnet das ab 1993 in den deutschen Landeskirchen eingeführte Evangelische Gesangbuch, EKG dessen Vorgänger Evangelisches Kirchengesangbuch (ab 1950), GL das katholische Gesangbuch Gotteslob (2013). Ergänzende Literatur zu den einzelnen Beiträgen ist am Ende des Bandes angegeben und für die E-Book-Version 2018 ergänzt worden. Auf Zitatnachweise wurde verzichtet. Um der Lesefreundlichkeit willen werden die Quellentexte in moderner Umschrift wiedergegeben.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

2. korrigierte Auflage als E-Book 2018

© 2012 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

H 7499

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Redaktion: Burkhard Weitz

Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverabbildung: Detail aus Luca della Robbia Cantario

© by Mary Ann Sullivan; weitere Fotos: © Steffen Giersch, Dresden

ISBN 978-3-374-05577-7

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Die Tradition des Singens hat in Deutschland wesentlich mit dem reformatorischen Erbe zu tun. Nicht zufällig sind mehr als die Hälfte aller Chöre in Deutschland Kirchenchöre, 20.000 von ihnen gehören in den Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Auch deshalb hatte die EKD das Jahr 2012, in welchem der Leipziger Thomanerchor sein 800-jähriges Bestehen feierte, zum Themenjahr „Reformation und Musik“ im Rahmen der Lutherdekade ausgerufen. In den Blick kam so die Reformation allgemein als Singbewegung.

Die Beiträge dieses Buches zeichnen das reformatorische Erbe des Singens nach. So wird das Buch zu einem Gang durch die Jahrhunderte seit der Reformation. Es erinnert daran, wie der Gesang überhaupt zu einem der wichtigsten Medien des Evangeliums geworden ist. Die Evangelischen zielen mit ihren Liedern aufs Singen und Sagen ab – wie es auch in Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch, da komm ich her heißt. Sie singen aus Freude an der guten Botschaft Gottes und am Weitersagen.

Dieses Buch führt weiter in das nachreformatorische Zeitalter, als die lutherischen und reformierten Lieder kanonisiert wurden. Es beschreibt, wie das Barockzeitalter den Christusglauben in geistlichen Liebesliedern verinnerlichte, wie der Pietismus einen neuen Stil des Singens einführte, und wie man im Zeitalter der Vernunft sich der barocken Bilderpracht entledigte und das Kirchenlied funktionalisierte. Der Bogen geht über die Restauration der alten Gesangbuchtradition im 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit, in der die Christen aller Konfessionen nach neuen geistlichen Liedern suchen und zugleich den alten Liedschatz schätzen und pflegen.

Beiträge über berühmte geistliche Evergreens und ihre teils spannungsreiche Wirkungsgeschichte im Lauf der Jahrhunderte setzen Akzente: Ein feste Burg ist unser Gott; Lobe den Herren; Großer Gott, wir loben dich; Stille Nacht, Heilige Nacht und Danke für diesen guten Morgen – sie alle sind aus dem heutigen evangelischen Liedgut kaum wegzudenken und auch überkonfessionell verbreitet. Zwei Lieder davon sind sogar ursprünglich katholischer Herkunft. Wie entstanden sie und wie wurden sie zu dem, was sie heute für uns sind?

Einige Faksimile-Abbildungen und Quellentexte sollen für sich selber sprechen und die Leserinnen und Leser ins Bild setzen.

Besonderer Dank gilt den Autoren, die sich der Aufgabe gestellt haben, in möglichst allgemein verständlicher Darstellung wesentliche Züge der reformatorischen Singbewegung auf den Punkt zu bringen.

Erlangen, im Oktober 2011 und Februar 2018

Peter Bubmann und Konrad Klek

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Konrad Klek

„Singen und Sagen“ – Reformatorisches Singen als öffentlicher Protest

Michael Fischer

„Ein feste Burg ist unser Gott“ – Ein Lied im Wandel der Zeiten

Quellentext: Ein Auszug aus Martin Luthers Vorrede zum Babstschen Gesangbuch 1545

Erik Dremel

Sammeln und Sichten – Gesangbücher als Liedkanon

Andreas Marti

Der Genfer Psalter – Kanonisierung als Grundprinzip kirchlichen Singens

Walter Sparn

Vom Wir zum Ich – Geistliches Singen im Zeitalter des Barock

Quellentext: Johann Georg Ebelings Vorwort zur letzten Lieferung von Paul Gerhardts Liedern

Martin Rößler

„Lobe den Herren“ – Das Lied eines Außenseiters wird zum Hit.

Dietrich Meyer

Geist-reiche Lieder – Der Pietismus als breite Singbewegung

Bernhard Leube

Gegenwärtigkeit als Hauptkriterium – Zur Auswirkung der Aufklärung auf das Kirchenlied

Michael Fischer

Beliebt und verdammt – Das geistliche Volkslied im 19. und 20. Jahrhundert

Wolfgang Herbst

„Stille Nacht, heilige Nacht“ – Die Geburt eines Welterfolgs

Konrad Klek

Die rechten Lieder singen – Gesangbuchreform und Singbewegung im 19. und 20. Jahrhundert

Quellentexte: Drei Zeitdokumente zur Frage des rhythmisierten Choralgesangs im 19. Jahrhundert

Quellentexte zur Rückbesinnung auf die Reformation im Kontext der Singbewegung

Hartmut Handt

Singen im populären Ton – Das Neue Geistliche Lied

Peter Bubmann

Danke für dieses Danke – Die Karriere eines umstrittenen Schlagers

Peter Bubmann

Singen im Protestantismus heute und morgen – Problemanzeigen und Chancen

Anhang

Autorenverzeichnis

Literaturhinweise

Erstveröffentlichung von „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ mit Luthers eigener Melodie (1524).

„Singen und Sagen“

Reformatorisches Singen als öffentlicher Protest

Konrad Klek

Ein herausragendes Kennzeichen der Evangelischen ist, dass sie Lieder singen. Die Reformation habe den Gemeindegesang im Gottesdienst verankert, ist oft zu hören und zu lesen. Damit habe sich das Priestertum aller Gläubigen gegen die römische Priesterkirche durchgesetzt. Tatsächlich wird im Einflussbereich der Wittenberger Reformation unter Luthers Führung Gemeindegesang fester Bestandteil jedes Gottesdienstes. Vorher war das nur bei bestimmten Gottesdiensten der Fall. Aber das allein macht die Reformation nicht zur Singbewegung.

Bei den Überlegungen zur Gottesdienstreform steht das Singen nicht an erster Stelle. Martin Luther (1483–1546) geht es zunächst darum, Missstände im Opferkult abzuschaffen und die Vorrangstellung von Gottes Wort durchzusetzen. In seiner ersten deutschen Schrift zum Thema Gottesdienst Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde (1523) gibt er als Leitlinie vor, dass „Gottes Wort gepredigt und gebetet“ werde. Das Singen kommt in dieser Formel nicht vor.

Noch im selben Jahr verfasst Luther die Schrift Formula missae mit einer gereinigten Form der lateinischen Messe. Hier äußert er allerdings den Wunsch nach „deutschen Gesängen, die das Volk unter der Messe singe“. So möchte er an die frühchristliche Praxis an schließen, während jetzt „allein der Chor der Pfaffen und Schüler singt und antwortet, wenn der Bischof das Brot segnet oder Messe hält“. Doch fehle es an „deutschen Poeten oder Dichtern“, „die uns andächtige und geistliche Gesänge, wie sie Paulus nennet, möchten setzen und anrichten, die da würdig wären, dass man sie in der Kirche in gemeinem Gebrauch haben sollte“. So empfiehlt Luther wenige vorhandene, inhaltlich vertretbare deutsche Lieder, etwa Nun bitten wir den heilgen Geist (vgl. EG 124).

In der Deutschen Messe aus dem Jahr 1526, einem detailliert ausgearbeiteten Gottesdienstformular, das die Wittenberger Praxis wiedergibt, klärt Luther dann alles liturgische Singen, auch das (gesungene) Vortragen der Lesungen. Für „ein deutsches Lied“ weist er ganz am Anfang und nach der Epistellesung einen Platz an. Nach dem Evangelium ist Luthers Glaubenslied dran (Wir glauben all an einen Gott, EG 183), und im Rahmen der Abendmahlsliturgie gibt es weitere genau benannte Gemeindeliedstrophen.

In Sachen Gemeindegesang ist das nicht der große Wurf. Die liturgiebezogenen Lieder aus Luthers eigener Feder (Credo, Sanctus) sind nicht gerade volkstümlich. Da war die in der römischen Kirche bereits verbreitete Praxis volksnäher. An bestimmten liturgischen Höhepunkten wurde das Volk mit elementaren Gesängen wie den meist einstrophigen Leisen (geistliche Volkslieder des Mittelalters mit dem Kehrreim „Kyrieleis“) zu Festtagen beteiligt (z.B. Gelobet seist du, Jesu Christ, EG 23,1). In Luthers Deutscher Messe spiegelt sich jedenfalls nicht der Aufbruch einer Singbewegung. Die entscheidenden Impulse dafür setzt Luther an anderer Stelle und in anderer Form.

Ein neues Lied wir heben an – Singen als öffentlicher Protest

Martin Luthers allererstes Lied ist heute kaum mehr bekannt: Ein neues Lied wir heben an, das walt Gott, unser Herre, zu singen, was Gott hat getan, zu seinem Lob und Ehre. Dieser allgemeine Einstieg in Anlehnung an den Psalm-Appell „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (Psalm 98,1) ist ein rhetorischer Kunstgriff, der gezielt irreführt. Der Anlass motiviert eigentlich überhaupt nicht zum Jubeln. Es ist der erste Märtyrertod der Reformation am 1. Juli 1523 in Brüssel. Zwei Augustinermönche, standhaft im neuen Glauben, ließen auf dem Scheiterhaufen ihr Leben. Seine Empörung lässt den Augustinermönch Luther zum Liedermacher werden. Offenbar schätzt er das Lied primär als massenwirksames Medium ein.

Luther verfasst ein sogenanntes Zeitlied in zwölf Strophen – wie ein fahrender Sänger, der Ereignisse des Zeitgeschehens berichtet und kommentiert. Singen und Sagen – diese schon geprägte Wendung („Spielmannsformel“) nimmt Luther später in sein Weihnachtslied Vom Himmel hoch (EG 24) auf. Sie ist die Formel für Massenkommunikation in Zeiten ohne Zeitungen, Rundfunk und Internet. Was Sänger auf Straße und Marktplatz vortragen, wird von vielen gehört, nachgesungen und memoriert. Auf flugblattartigen Einzelblattdrucken werden solche Lieder überregional verbreitet und dann weiter vorgesungen.

Martin Luther schildert in seinem Lied mit einer aufrüttelnden, eigenen Melodie die Geschichte von den beiden „Märtyrern Christi“ im Duktus der Agitation. Ihren Tod deutet er gegen den Augenschein als triumphales Zeugnis für den neuen Glauben. Als ob auch die Inquisitatoren sich des Mediums Gesang bedienten, heißt es Sie sangen süß, sie sangen saur (Strophe 4), um die beiden Glaubenszeugen zum Widerruf zu bewegen. Die Augustinermönche aber bleiben standhaft und krönen ihr Zeugnis auf dem Scheiterhaufen folgendermaßen:

Mit Freuden sie sich gaben drein,

mit Gottes Lob und Singen.

Der Mut ward den Sophisten klein

für diesen neuen Dingen,

da sich Gott ließ so merken.

Vordergründig setzt sich die irdische Macht im Akt der Hinrichtung durch. De facto unterliegt sie aber der Macht des gesungenen Gotteslobs. Luthers Lied verbreitet dieses Märtyrerzeugnis wie ein Lauffeuer und so wird der Lobgesang der Märtyrer gleichsam weitergedichtet. In einer bald ergänzten Strophe heißt es:

Die er im Leben durch den Mord

zu schweigen hat gedrungen,

die muss er tot an allem Ort

mit aller Stimm und Zungen

gar fröhlich lassen singen.

Solches fröhlich Singen ist die wirksamste Form des Protests. Es entwaffnet die Mächtigen.

Mit Lust und Liebe singen – die gute Botschaft verbreiten

Offensichtlich hat Luthers Protestlied, auf einem Einzelblattdruck verbreitet, voll eingeschlagen. Jedenfalls sieht er sich motiviert, alsbald ein weiteres Lied nachzureichen, das nun aus dem Evangelium selbst dieses fröhlich Singen begründet (EG 341).

Nun freut euch lieben Christen gmein

und lasst uns fröhlich springen,

dass wir getrost und all in ein

mit Lust und Liebe singen,

Eigentlich bedarf es nach Luther keines solch äußeren, grotesken Anstoßes wie der Verbrennung der Brüsseler Mönche. Entscheidend für das Singen der Christen ist vielmehr

was Gott an uns gewendet hat

und seine süße Wundertat,

gar teur hat er’s erworben. (EG 341,1)

Balladenhaft schmissig schildert Luther wieder eine Geschichte: wie der Mensch (ich) tief in Verzweiflung gerät wegen seiner Schuld und Gott darauf reagiert, indem er seinen Sohn zur Erlösung auf die Erde schickt. Luther setzt so in Liedform um, was er im sogenannten September-Testament des Vorjahres 1522 formuliert hat:

… denn Euangelion ist ein griechisch Wort und heißt auf deutsch gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.

Wichtig für die Wirkung des Liedes ist auch hier die Melodie. Luther hat den Text auf die Melodie eines alten Ostergesanges gedichtet, die heute mit dem Lied Es ist das Heil uns kommen her (EG 342) verknüpft ist. Die Tonwiederholung am Anfang hat etwas Appellatives, Aufrüttelndes. Auch das „all in ein“ wird durch die Zentrierung auf diesen einen Ton verstärkt. Der Melodiehöhepunkt nach der Wiederholung ist zwingend mit Gott und sein(e) verbunden. Die Reformation entwaffnet die weltliche Macht der Kirche, indem sie von Gottes „höchsten Wohltaten“ singt, wie es später in der Liedüberschrift im Babstschen Gesangbuch (1545) heißt. Zwischen Gottes Wohltaten und dem damit beglückten Menschen steht keine Kirche mehr, kein Ablasshandel und kein Messopfer-Ritus. Gott wendet mir das Vaterherz zu (Strophe 4).

Ach Gott vom Himmel sieh darein – ein Appell zum Durchhalten

Die erste reformatorische Liedsammlung ist das sogenannte Nürnberger Achtliederbuch aus dem Jahr 1524. Hier steht neben Nun freut euch lieben Christen gmein auch schon Luthers Ach Gott, vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen. Diese aktualisierende Übertragung von Psalm 12 (EG 273) wird zum Sprachrohr für die aufgestaute Wut gegen die römische Kirche, ihr Heuchlertum und ihre Machtbesessenheit.

In seinem „Betbüchlein“ (1522) hatte Luther den 12. Psalm erstmals in deutscher Übersetzung angeboten „zu beten um Erhebung des heiligen Euangelion“. Er sieht hier die aktuelle Situation des Machtmissbrauchs durch die Kirche sprachlich erfasst, und er schöpft daraus die Zuversicht, dass Gott gegen allen äußeren Augenschein sein Wort durchsetzen werde. In der Liedfassung führt Luther weiter aus: Mit der reformatorischen Bewegung habe Gott selbst sein Wort als die entscheidende Macht in Stellung gebracht (Strophe 4). Allein das Vertrauen auf sein heilsam Wort (Strophe 4) könne die reformatorischen Kräfte in ihrem Kampf stärken. Im Gegensatz zum „Ich-Lied“ Nun freut euch, lieben Christen gmein ist dies ein „Wir-Lied“, sozusagen zur Stärkung der „Moral in der Truppe“. Wir Armen (Strophe 1) stehen der Macht der Sie (Strophe 2) nur vermeintlich wehrlos gegenüber. In seiner Stoßrichtung ist dieses Lied ein Durchhalte-Appell an die Gesinnungsgenossen. Die Bewährung des Silbers im Feuer (Psalm 12,7) wird Bild für die Bewährung des wahren Glaubens. Am Gotteswort man warten soll desgleichen alle Stunden hieß es ursprünglich in Strophe 5: Gottes Wort die Treue halten. Das schließt die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge bis hin zum Martyrium ein. Wie beim Zeugnis der Brüsseler Märtyrer wird die neue Glaubensbewegung ihre Leuchtkraft in die Lande entfalten (Strophe 5). Die im EG fehlende Strophe 6 bittet in Bezug auf den 8. Vers des Psalms um Bewahrung von Gottes Wort und der darauf sich Verlassenden vor dem gottlos Hauf.

Das Lied hat also eigentlich sieben Strophen. Jede Strophe umfasst sieben Zeilen. Das ist die sogenannte Lutherstrophe, von Luther am häufigsten gewählt. Es gibt dafür wohl den biblischen Grund:

Die Worte des Herrn sind lauter wie Silber, im Tiegel geschmolzen, geläutert sieben mal. (Psalm 12,7)

Auch dieses Lied hat Luther der impulsiven, siegessicheren Ostermelodie angedichtet:

Den beiden Spitzentönen sind die zentralen reformatorischen Begriffe zugeordnet: Wort – Glaub. Das ist die wahre Macht: Gottes Wort, auf das sich der Glaube gründet – ganz ohne Vermittlung durch den Machtapparat Kirche.

Aus tiefer Not schrei ich zu dir – die Erfindung des deutschen Psalmlieds

In einem (lateinisch abgefassten) Brief Luthers an den Torgauer Hofbeamten Georg Spalatin vom Ende des Jahres 1523 wird erstmalig das Liederdichten als Strategie greifbar.

Ich habe die Absicht, nach dem Exempel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das Volk herzustellen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe.

Hier steht nicht der reformatorische Kampf im Vordergrund, sondern die Sache selbst. Gottes Wort muss auch ohne kirchliche Anleitung und außerhalb der Gottesdienste unter den Leuten „bleiben“ können, damit jene in Psalm 12 benannte Bewährung gelingt.

Dafür erfindet Martin Luther die Gattung des deutschen Psalmliedes – noch ehe er das Alte Testament ins Deutsche übersetzt. Als Mönch hatte er den gesamten Psalter im Stundengebet ständig durchgesungen – in Latein auf die gregorianischen Psalmmodelle. Als Professor hatte er dann bei seinen exegetischen Psalmstudien die reformatorische Erkenntnis gefunden. Er versteht die Psalmen im Anschluss an mittelalterliche Auslegungstraditionen als Christuslieder, als Zeugnis von Gericht und Gnade. Seine erste deutsche Schrift ist eine Übersetzung und Auslegung der sieben Bußpsalmen (1517). In jenem Brief schlägt er Spalatin primär Bußpsalmen zur Übertragung in Liedform vor. Falls ihm das zu schwer sei, könne er auch den 33., 34. oder 103. Psalm nehmen, also Psalmen, die von Gottes Wort und Gnade singen, ohne die Negativfolie der Schuld zu betonen. Als Muster legt Luther dem Brief seine eigene Übertragung des sechsten Bußpsalms bei, Psalm 130 Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299). In diesem De profundis – so der signifikante lateinische Beginn des Psalms – kommt wohl für Luther die Anfechtungserfahrung, wie er sie selbst in extremer Weise erlebt hat, am stärksten zum Ausdruck. Aber auch ihre Überwindung in der Gewissheit: „Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm“ (Psalm 130,7).

Zunächst hat Luthers Lied nur vier Strophen. Er erweitert die zweite jedoch alsbald zu den jetzigen Strophen 2 und 3. Deutlich zu erkennen ist die Akzentuierung im Sinne des reformatorischen „allein aus Gnade“: Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst. Auch das Vertrauen auf Gottes Wort entfaltet er stärker, wenn er aus der einen Liedzeile Ich will seins Worts erharren (Psalm 130,5: „und ich hoffe auf sein Wort“) drei macht:

(und seiner Güte trauen,)

die mir zusagt sein wertes Wort;

das ist mein Trost und treuer Hort,

des will ich allzeit harren.

Auch dieses Lied hat Luther in der Strophenform der Allzweck-Ostermelodie gedichtet, mit der es zunächst auch publiziert wurde. Wahrscheinlich hat er aber schnell gemerkt, dass das hier artikulierte Schreien aus der Tiefe eine spezifische musikalische Gestalt verlangt. So komponiert er eine eigene Melodie in der für Leidens- und Schmerzensaffekte prädestinierten phrygischen Kirchentonart. Ihr Anfang ist wohl einer der genialsten Einfälle der Musikgeschichte. Dieser Quintfall mit anschließendem expressiven Halbtonschritt von der fünften zur sechsten Tonstufe macht die Worte „Aus tiefer Not“ in einzigartiger Weise plastisch.

Die im EG als „zweite Melodie“ präsentierte Alternative stammt aus dem reformatorischen Straßburg und ist ein Musterbeispiel für den dort entwickelten Stil des Psalmliedgesangs – im gemeinsamen Volksgesang leichter zu singen, aber in Sachen Expressivität und Stimmigkeit des Wort-Ton-Verhältnisses viel weniger prägnant als Luthers Melodie.

Auch für seine anderen ersten Hits komponiert Luther noch eigene Melodien nach. Johann Walter verarbeitet sie bereits im 1524 als Chorgesangbuch erscheinenden Geistlichen Gesangbüchlein. Nun freut euch, lieben Christen gmein bleibt im Duktus der wachrüttelnden Ostermelodie, erhält aber auch einen signifikanten Einstieg mit dem doppelten Quartsprung, welcher das fröhlich springen der zweiten Liedzeile sinnenfällig macht. Diese Melodie kann man gar nicht anders denn fröhlich oder mit Lust und Liebe singen. Ach Gott, vom Himmel sieh darein dagegen gestaltet Luther musikalisch als flehentliches Bittgebet wiederum in phrygischer Tonart mit dem expressiven Halbtonschritt gleich zu Beginn: Ach-Gott.

Offensichtlich will Luther nicht einfach mit einer möglichst schmissigen (und bekannten) Melodie seine „message“ unter die Leute bringen. Auch bei den Liedern geht es – wie bei der Bibelübersetzung – um eine in sich stimmige und darin wahre Gestalt des Wortes Gottes. Wort und Ton müssen zueinander passen.

In seinem Brief an Spalatin schätzt Luther seine eigenen Fähigkeiten als Liederdichter noch gering ein und sucht deswegen Mitstreiter. An der Resonanz auf seine Lieder merkt er aber schnell, dass er durchaus das Zeug zum Liedermacher hat – in der Personalunion von Textdichter und Melodist. In seinem Liederjahr 1523/24 ist Luther bereits 40 Jahre alt und hat damit nach damaliger Erfahrung schon den Zenit seines Lebens überschritten. Vielleicht zieht er deshalb die Strategie Lied gleich voll durch und legt in einem Jahr nicht weniger als 24 Lieder vor. Sie erscheinen in Walters Chorgesangbuch. Zu den Psalmliedern kommen nun auch die bekannten Lieder zu den christlichen Festen, zumeist in Erweiterung bereits vorhandener Kirchenlieder, und spezielle Lieder für den Gottesdienst, welche die herkömmlichen, feststehenden Gesänge zur Messe (Ordinarium) ersetzen.

Walters Chorgesangbuch präsentiert dies gar nicht marktschreierisch, sondern kunstvoll in mehrstimmigen Sätzen für die Schulkantoreien. Damit ist nicht nur die pädagogische Dimension des Liedersingens deutlich, sondern auch das Tor zur Kunstmusik aufgestoßen. Gemeindelied und hohe Kunst werden im Protestantismus fortan eng aufeinander bezogen bleiben. So wird auch die Kunst zum Sprachrohr des Evangeliums. In Luthers Vorwort zu diesem Gesangbuch finden sich die viel zitierten Passagen:

Auch dass ich nicht der Meinung bin, dass durchs Euangelion sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen … Sondern ich wollt alle Künste, sonderlich die Musica, gerne sehen im Dienst des, der sie geben und geschaffen hat.

Alles Singen und Musizieren aber dient dazu

[…] das heilige Euangelion, so jetzt von Gottes Gnaden wieder aufgegangen ist, zu treiben und in Schwang zu bringen.

Diese Strategie, mit Liedern „das Evangelium in Schwang zu bringen“, steht seit 1524 und läuft und läuft. Übrigens sind die Gesänge Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362) und Erhalt uns Herr bei deinem Wort (EG 193) erst einige Zeit später hinzugekommen. Erst in den Folgejahrhunderten wurden diese Lieder als Inbegriff des Luthertums gedeutet.

Davon ich singen und sagen will – das Evangelium als Kinderlied

Ein Nachzügler dieser Liedstrategie ist auch das heute wohl meistgesungene Lutherlied Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24). Bei seiner Erstveröffentlichung in einem Gesangbuch von 1535 wird es als Kinderlied tituliert. Im von Luther mit redigierten Babstschen Gesangbuch von 1545 steht dann als Überschrift:

Ein Kinderlied / auf die Weihenachten / vom Kindlein Jesu / aus dem 2. Kap. des Evangelii S. Lukas gezogen

Nirgendwo sonst wird ein Lied so direkt zur viva vox evangelii, zur unmittelbaren Bezeugung der „guten Botschaft“. Das Lied beginnt unvermittelt mit der Stimme des Engels bei den Hirten auf dem Felde. Im Singen wird die Botschaft an die Hirten auf dem Felde jetzt Ereignis: Euch ist ein Kindlein heut geborn (Strophe 2). Luther hat bei den insgesamt 15 Strophen Krippenspielbräuche der Kinder im Blick. Gerade Kinder sind zu solcher Unmittelbarkeit gegenüber dem „Reich Gottes“ fähig. Ihnen muss man nicht erst groß was erklären. So verzichtet der Dichter Luther auf die eigentlich fällige „redaktionelle Einleitung“. Stattdessen stellt sich der Engel in der ersten Strophe selbst vor – wie ein fahrender Sänger auf dem Marktplatz, der seine neuen Nachrichten (Mär) anpreist. Luther benutzt dazu fast wörtlich eine Vorlage:

Ich kumm aus fremden Landen herVom Himmel hoch, da kommich her,und bring euch viel der neuen Mär.ich bring euch gute neue Mär.Der neuen Mär bring ich so viel,Der guten Mär bring ich so viel,mehr dann ich euch hie sagen will.davon ich singen und sagen will.

Auch die Melodie jenes Liedes hat Luther übernommen. Es ist die jetzt für Vom Himmel kam der Engel Schar (EG 25) gewählte. Weltliche Melodie und Text gehören zum Brauch des Kränzelsingens, wo abends junge Burschen und Mädchen sich auf dem Markt treffen, die Burschen sich möglichst spannende „Stories“ für einen Liedvortrag einfallen lassen und der Gewinner dann von den Mädchen einen Kranz bekommt. Dann aber wird auf das Lied getanzt. Mit dieser von Luther gewollten Assoziation kommt die Botschaft des Engels erst recht auf die Straße, in die Öffentlichkeit.

Allerdings hat sich Luther auch hier noch eine eigene Melodie einfallen lassen, die vier Jahre später, 1539, in einem Gesangbuch erstmals greifbar ist. Vielleicht hatte er Sorge, dass die mit der weltlichen Melodie verbundenen Assoziationen – das jugendliche Treiben konnte auch laszive Züge annehmen – sich für ein Kinderlied von der eigentlichen guten Mär zu sehr in den Vordergrund drängen. Jedenfalls ist seine eigene Melodieschöpfung wieder ein Kunstgriff, eine unmittelbar evidente Versinnbildlichung der Botschaft, die da vom Himmel hoch auf die Erde kommt. Diese Melodie ist zum musikalischen Kennzeichen von Weihnachten geworden und muss darin heute höchstens mit O du fröhliche und Stille Nacht konkurrieren.

Luthers eigene Melodie stimmt tatsächlich besser zu der hier bezeugten Mär. Abgesehen vom sinnigen Gesamtduktus – von oben nach unten im Oktavraum, der Grundton wird erst mit dem Schlusston erreicht! – ist auf die Betonung der guten Mär (als Übersetzung von Evangelium) hinzuweisen: zweimal die sechste Tonstufe in der dritten Zeile. So wird – wie von Luther bereits 1522 benannt – das Singen und Sagen des Evangeliums Ereignis. Und da es die gute Mär ist, bewirkt sie bei den Hörern dieses Fröhlichsein, das Luther als Kennzeichen der menschlichen Reaktion auf das Geschenk Gottes im selben Zusammenhang benannt hat: Des lasst uns alle fröhlich sein (Strophe 6).

Die zumeist vernachlässigte zweite Liedhälfte schwenkt um von draußen nach drinnen, von der Straße in die Kirche, und leitet zur Anbetung des Kindes in der Krippe an. Auch dies mündet ins charakteristische Davon ich allzeit fröhlich sei zu springen, singen immer frei (Strophe 14). Dieses Singen und Springen ist eben ein freies, nicht an kirchliche Zeremonien und Vorschriften gebundenes.

Eines der allerersten reformatorischen Gesangbücher ist ein Enchiridion, also ein Handbüchlein, ein Gesangbuch im Pocket-Format, das man immer dabeihaben kann – wie heutzutage das Smartphone. So kann die von Luther neu entdeckte unmittelbare Korrelation von Wort und Glaube im singenden Sagen allzeit Ereignis werden – und Grenzen sprengen.

Das Lied als Selbstläufer

Luthers Liedstrategie geht auf. Seine Lieder rufen mehr Nacheiferer auf den Plan, als ihm lieb ist. Nach nur fünf Jahren sieht er sich zum Eingreifen genötigt: „Summa: es will je der Mäuse Mist unter dem Pfeffer sein“. Das redigierte Gesangbuch wird nötig. Luther lässt 1529 (Klugsches Gesangbuch, Wittenberg) seine eigenen Lieder als Maßstab voranstellen, „darnach die andern hinnach gesetzt, so wir die besten und nütze achten“.

Mehrfach haben Vertreter der römischen Kirche bezeugt, dass die Lieder zur schärfsten Waffe der Protestanten wurden. Einiges ist aktenkundig. In der Bischofsstadt Hildesheim wurde bereits 1524 und dann wieder 1531 das Singen und Sagen auf den Straßen explizit verboten. Die „Protestanten“ zogen mit ihren Liedern dann vor die Stadt. Selbst in privaten Räumen konnte man nicht ungestraft singen. In Braunschweig wurden 1526 Schustergesellen beim Priester angezeigt. Sie hatten bei sich die evangelischen Lieder gesungen. Als ein Jahr später ein Prediger im Gottesdienst die alte Leier von der Gerechtigkeit aus den guten Werken anstimmte, wurde er niedergesungen mit Luthers Ach Gott, vom Himmel sieh darein. Auch an anderen Orten wurde mit spontan angestimmten deutschen Liedern die deutsche Messe ertrotzt.

In Göttingen sprengten Mitglieder von Handwerkerzünften, eine wichtige Gruppe für die Verbreitung der Lieder von Ort zu Ort, eine wegen der „englischen Seuche“ angeordnete Bittprozession. Sie hielten mit Aus tiefer Not schrei ich zu dir und anderen Psalmliedern gegen das angeordnete Absingen von Litaneien mit dem unendlich wiederholten Kyrieleis-Ruf.

Die in den Akten benannten Liedtitel sind überwiegend diejenigen, welche sich mit der von Luther zunächst benutzten Allzweckmelodie verbinden lassen. Dazu zählte auch Es ist das Heil uns kommen her von Paul Speratus (EG 342), das sich ebenfalls im ersten Achtliederbuch findet und bis heute auf diese Melodie gesungen wird. Man kann wohl annehmen, dass diese Weise als „Sturmlied der Reformation“ bei solchen Lied-Demos Allzweckwaffe war und Luthers eigene (Gesangbuch-)Melodien da keine Rolle spielten.

Protestpotential im Liedersingen heute

Im 20. Jahrhundert hat die Singkultur der Kirchentage, die auch öffentliche Plätze nicht scheut, einiges vom damaligen reformatorischen Impetus wieder aufblitzen lassen. Und Ausdrucksmittel der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 war gerade auch das gemeinsame Singen etwa des Liedes Komm, Herr, segne uns, dass wir uns nicht trennen (EG 170). In Estland wird die 1991 erreichte Befreiung vom Sowjetkommunismus sogar als „singende Revolution“ bezeichnet, da das estnische Volk bei einem großen Sängerfest sich mit seinem eigenen politischen Willen manifestieren und durchsetzen konnte.

Zu vielen politischen Protestbewegungen der jüngeren Zeit entstanden signifikante geistliche Lieder. Im Evangelischen Gesangbuch von 1993 gibt die Rubrik Erhaltung der Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit (EG 421–436) davon Zeugnis. Kaum eines dieser Lieder hat aber eine Breitenwirkung außerhalb kirchlicher Kreise erzielt. Nur extremer äußerer Druck wie 1989 scheint auch der Kirche Fernstehende dazu zu bringen, dass sie sich hineinnehmen lassen in ein Komm, Herr, segne uns.

Eine weltweite singende Revolution steht noch aus – die ökumenische. Wenn der Protestantismus einst mit den neuen Liedern zur Massenbewegung wurde und die Kirchentrennung provozierte, so müssten heute die vielen von den Christen aller Konfessionen gemeinsam gesungenen Lieder zu einer Demonstration der kirchlichen Einheit anschwellen, so machtvoll, dass die kirchlichen Hierarchien ihre stumpf gewordenen Waffen strecken.

„Ein feste Burg ist unser Gott“

Ein Lied im Wandel der Zeiten

Michael Fischer

Um berühmte Kunstwerke ranken sich Legenden. Von Luthers Lied Ein feste Burg ist unser Gott wird berichtet, eine Gemeinde in Schweinfurt habe es im Jahr 1532 gegen den Willen des Pfarrers in der Kirche gesungen, die Jugend gar auf den Straßen. Danach soll bald die Reformation eingeführt worden sein. Eine andere Legende überliefert, Kurfürst Pfalzgraf Friedrich III. habe wegen des Chorals in seinem Land keine Festungen bauen lassen: „Ein feste Burg ist unser Gott“ – nicht aber von Menschenhand gemachte Gebäude. Vom schwedischen König Gustav Adolf heißt es, er habe im Kampf gegen die kaiserlichen Truppen das Lied anstimmen lassen und nach dem Sieg den Vers „Das Feld muss er behalten“ ausgerufen.

Eduard Emil Koch schreibt in seiner 1876 erschienenen Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs, selbst die reformierten französischen Hugenotten seien „freudig mit diesem Gesang, ohne ihren Glauben zu verleugnen“ gestorben. Im Ersten Weltkrieg soll ein verwundeter Soldat auf dem Operationstisch Ein feste Burg gesungen haben. Und Kochs Hymnologenkollege Wilhelm Nelle kolportiert 1917, ein Engländer habe geschrieben, man könne sich gar nicht vorstellen, „wie schrecklich es ist, das Maschinengewehr auf ein Regiment zu richten, das mit dem Gesange des Lutherliedes heranstürmt“.

Legenden wie diese sagen viel über religiöse Mentalitäten aus. Die Schreiber, Tradenten und Leser dieser Erzählungen glaubten an Zeichen, welche den endzeitlichen Sieg des Guten im Diesseits bezeugen. Und speziell die Errettungs- und Siegesgeschichten des Ersten Weltkriegs dienten einer nationalreligiösen Erbauung, die keinen Unterschied zwischen Welt und Gottesreich gelten ließ.

„Ein feste Burg ist unser Gott“, Doppelseite aus dem Babstschen Gesangbuch von 1545.

Martin Luther und Psalm 46

Die historische Wirklichkeit hinter solchen Legenden ist oft weniger heroisch. Martin Luther hat Ein feste Burg ist unser Gott gegen Ende der 1520er Jahre als Glaubens- und Vertrauenslied gedichtet. Es ist im Klugschen Gesangbuch aus dem Jahr 1533 nachgewiesen und war vermutlich schon in der verlorengegangenen Erstauflage von 1529 enthalten.

Früher hieß es, das Lied stehe sachlich oder zeitlich in Zusammenhang mit dem Speyrer Reichstag im April 1529, auf dem die Mehrheit der Stände beschlossen hatte, Luthers Anhänger wieder zu ächten, die darauf hin unter Protest die Versammlung verließen – daher die Bezeichnung „Protestanten“. Dieser Zusammenhang ist möglich, aber nicht zwingend.

Luther dichtete das Lied in Anlehnung an Psalm 46 als christliche Aneignung und Fortführung. Zentral war für ihn das Vertrauen auf Gott, Ausgangspunkt der Dank für eine Errettung. Einer altkirchlichen Tradition folgend legte er den Psalm christologisch aus. Christus steht im Mittelpunkt: das Feld muss er behalten (Strophe 2). Ebenso unüberwindlich wie der Sohn Gottes ist das Wort. Es richtet und stürzt den Teufel (Strophe 3) und behält seine Gültigkeit auch dann, wenn der Gläubige sein Eigentum oder Leben verliert (Strophe 4). Am Schluss steht die Zuversicht Das Reich muss uns doch bleiben in endzeitlicher Dimension.

Scharf unterscheidet Luther Welt und Himmel, Gott und Teufel. Seine Burg- und Wehr-Metaphorik ist sehr konkret. So konnte Ein feste Burg