De Profundis (Deutsche Ausgabe) - Oscar Wilde - E-Book

De Profundis (Deutsche Ausgabe) E-Book

Oscar Wilde

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Beschreibung

Dieses eBook: "De Profundis (Deutsche Ausgabe)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. In De Profundis und andere briefe in dieser Sammlung betrachtet Wilde sein bisheriges Leben kritisch und beschreibt es als oberflächlich und hedonistisch. Er schildert die Haftbedingungen, zum Beispiel den Tag, an dem er in Handschellen unter den Augen einer spottenden Menge am Bahnhof Clapham Junction stehen musste, und seinen nach vielen Leiden nun demütigen emotionalen Zustand. Nach einer finanziellen Bestandsaufnahme ("I am completely penniless, and absolutely homeless.") kommentiert er, dass ihm in der kommenden schweren Zeit weder Moral noch Religion oder Vernunft helfen werden. Dem Adressaten Alfred Douglas macht er bittere Vorwürfe. Gleichzeitig ist De Profundis eine Apologie für Wildes Leben; er führt an, mit seinem Aufstieg und Fall sei er ein Mann, der in symbolischer Beziehung zu der Kunst und Kultur seines Zeitalters stand. De Profundis ist ein offener Brief, den der irische Schriftsteller Oscar Wilde zwischen 1895 und 1897, während seiner Inhaftierung in verschiedenen englischen Zuchthäusern an seinen früheren Freund und Liebhaber Lord Alfred Bruce Douglas schrieb. Der Name der Schrift ist dem Psalm 130 entnommen: "De profundis clamavi ad te Domine." - "Aus der Tiefe rief ich, Herr, zu Dir". Oscar Wilde (1854-1900) war ein irischer Schriftsteller. Als Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Kritiker wurde er zu einem der bekanntesten und – im Viktorianischen England – auch umstrittensten Schriftsteller seiner Zeit.

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Oscar Wilde

De Profundis (Deutsche Ausgabe)

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7330-3

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titelblatt

Text

GELEITWORT

Inhaltsverzeichnis

»Bist Du also mein Testamentsvollstrecker – schrieb Oscar Wilde aus Reading in einem Briefe vom 1. April 1897 an seinen Freund Robert Ross –, so mußt Du im Besitze des einzigen Dokuments sein, das über mein außergewöhnliches Verhalten Aufschluß gibt ... Wenn Du den Brief gelesen hast, wirst Du die psychologische Erklärung für ein Betragen finden, das dem Außenstehenden eine Verbindung von absolutem Blödsinn und vulgärer Renommisterei scheint. Eines Tages muß die Wahrheit bekannt werden – es braucht ja nicht bei meinen Lebzeiten zu sein ... Aber ich habe keine Lust, für alle Zeit an dem lächerlichen Pranger zu stehn, an den man mich gestellt hat; aus dem einfachen Grunde, weil ich von meinem Vater und meiner Mutter einen in der Literatur und der Kunst hochgeehrten Namen geerbt habe, und ich kann nicht in alle Ewigkeit dulden, daß dieser Name geschändet sein soll. Ich verteidige meine Handlungsweise nicht. Ich erkläre sie. In meinem Briefe finden sich auch etliche Stellen, die von meiner geistigen Entwicklung im Zuchthaus handeln und der unausbleiblichen Wandlung meines Charakters und meiner intellektuellen Stellung zum Leben, die sich vollzogen hat ...

Wird die Abschrift in Hornton-Street hergestellt, so läßt man die Schreibdame vielleicht durch einen Schieber in der Tür füttern, wie die Kardinäle, wenn sie zur Papstwahl schreiten, bis sie auf den Balkon hinaustritt und der Welt verkünden kann: ›Habet Mundus Epistolam‹; denn tatsächlich ist es eine Enzyklika, und wie die Bullen des Heiligen Vaters nach den einleitenden Worten heißen, mag man von ihr als der ›Epistola: In Carcere et Vinculis‹ sprechen ...

Nahezu zwei Jahre habe ich die immer schwerer werdende Bürde der Verbitterung in mir getragen; viel davon habe ich jetzt abgeschüttelt.«

Zu Oscar Wildes Lebzeiten ist, gemäß der Weisung, nichts von dieser Epistel bekannt geworden. Bruchstücke daraus habe ich als erster in der ›Neuen Rundschau‹ (Januar- und Februar-Heft 1905) mitgeteilt; die deutsche Buchausgabe folgte kurz darauf. Sie zog die Veröffentlichung in der Ursprache nach sich. Hier waren die Stellen, die von der geistigen Entwicklung des Briefschreibers im Zuchthaus handelten, mit großem Geschick aneinandergereiht, alles, was den Briefempfänger betraf, mit größerer Kühnheit ausgeschaltet. Für seine – milde gesagt – Umredigierung erfand Robert Ross den Titel ›De Profundis‹. »Mag Ross dem Ideal eines philologischen Herausgebers nicht entsprechen, die Beteiligten werden ihn als das Ideal eines taktvollen Menschen rühmen.«

In meiner etwas erweiterten Ausgabe des Jahres 1909 bin ich dann zu dem vom Verfasser vorgeschlagenen Titel zurückgekehrt, wenn er ursprünglich auch halb im Scherz gemeint war.

»Erst jetzt rückt das Werk in die rechte Beleuchtung, wo es als Brief kenntlich wird. ›De Profundis‹ oder das, was wir ›De Profundis‹ zu nennen pflegen, ist ... ein Brief Oscar Wildes aus dem Zuchthaus in Reading an seinen Freund Lord Alfred Douglas; ein sehr langer Brief allerdings von achtzig eng beschriebenen Seiten, aber doch seinem ganzen Charakter nach ein Brief. Und daß sein Verfasser ihn als solchen empfunden, zeigt der von ihm vorgeschlagene Titel ›Epistola: In Carcere et Vinculis‹. Da ihn Wilde selbst gewählt hat, entschloß ich mich, ihn beizubehalten, obwohl sich ›De Profundis‹ schon, eingebürgert hat.«

Robert Ross hat im Jahre 1909 dem Britischen Museum in London die Urschrift des Werkes mit der ausdrücklichen Bestimmung übergeben, daß es nicht vor dem Jahre 1960 in England veröffentlicht werden solle. Die Rücksicht auf den noch lebenden Adressaten des Schreibens bewog ihn dazu. Als dieser im Frühjahr 1915 einen Beleidigungsprozeß gegen den Schriftsteller Arthur Ransome führte, wurde das gesamte Werk, um die Darstellung des Angeklagten zu erhärten, vor Gericht verlesen; die englischen Zeitungen der ganzen Welt, auch deutsche, brachten spaltenlange Auszüge, so daß es für keinen Menschen mehr ein Geheimnis war, was die von Ross unterdrückten Stellen enthielten.

Diese völlig ungekürzte, zum ersten Mal erscheinende Buchausgabe der ›Epistola‹ erfolgt mit besonderer Genehmigung von Oscar Wildes Erben.

Berlin, 4. August 1924

Max Meyerfeld

DE PROFUNDIS

Inhaltsverzeichnis

I. M. Gefängnis Reading

Lieber Bosie!

Nach langem, fruchtlosem Warten habe ich beschlossen, selbst an Dich zu schreiben, ebensosehr in Deinem wie in meinem Interesse; denn der Gedanke widerstrebt mir, daß ich zwei lange Gefängnisjahre durchgemacht haben soll, ohne jemals eine einzige Zeile von Dir empfangen zu haben oder eine Nachricht oder auch nur einen Gruß, außer solchen, die mich schmerzten.

Unsre unselige, höchst beklagenswerte Freundschaft hat für mich mit Verderben und öffentlicher Schande geendet. Doch die Erinnrung an unsre frühere Zuneigung verläßt mich selten, und der Gedanke, daß Abscheu, Verbitterung und Verachtung für immer den Platz in meinem Herzen einnehmen könnten, den Liebe vordem innehatte, ist sehr traurig für mich; und Du selbst wirst wohl im Herzen fühlen, daß es besser ist, an mich, der ich in der Einsamkeit des Gefängnislebens liege, zu schreiben, als ohne meine Genehmigung Briefe von mir zu veröffentlichen oder, ohne mich zu fragen, mir Gedichte zu widmen, mag auch die Welt nichts erfahren von Worten des Kummers oder der Leidenschaft, der Gewissensbisse oder der Gleichgültigkeit, die es Dir als Antwort oder Rechtfertigung zu schicken beliebt.

Zweifellos wird in diesem Brief, den ich über Dein und mein Leben zu schreiben habe, über die Vergangenheit und die Zukunft, über Süßes, das sich in Bitterkeit gewandelt, und über Bittres, das vielleicht zur Freude werden kann, vieles stehn, was Deine Eitelkeit bis aufs Blut verletzt. Sollte dem so sein, dann lies den Brief immer wieder, bis er Deine Eitelkeit ertötet. Wenn Du darin etwas findest, das Dich Deinem Gefühl nach zu Unrecht beschuldigt, so vergiß nicht: man soll dankbar dafür sein, daß es Fehler gibt, deren man zu Unrecht beschuldigt werden kann. Wenn eine einzige Stelle darin vorkommt, die Tränen Dir in die Augen treibt, dann weine, wie wir im Gefängnis weinen, wo der Tag, nicht minder als die Nacht, Tränen aufgespart ist. Es ist das einzige, was Dich retten kann. Wenn Du zu Deiner Mutter gehst und Dich beklagst, wie damals, über die Verachtung, die ich in meinem Brief an Robbie gegen Dich äußerte, damit sie Dir schmeichle und Dich wieder in Selbstgefälligkeit und Überhebung einlulle, so bist Du völlig verloren. Wenn Du Eine Ausrede für Dich findest, wirst Du bald hundert finden und ganz das sein, was Du vorher warst. Behauptest Du noch, wie Du es in Deiner Antwort an Robbie tatest, ich schriebe Dir »unwürdige Motive« zu? Ach, Du hattest keine Motive im Leben. Du hattest nur Gelüste. Ein Motiv ist ein geistiges Ziel. Behauptest Du noch, Du seist »sehr jung« gewesen, als unsre Freundschaft begann? Dein Gebrechen war nicht, daß Du so wenig, sondern daß Du so viel vom Leben wußtest. Die Morgenröte der Knabenzeit mit ihrem zarten Flaum, ihrem klaren, reinen Licht, ihrer unschuldigen, erwartungsvollen Freude hattest Du weit hinter Dir gelassen. Sehr geschwinden, laufenden Fußes warst Du von der Romantik zum Realismus gelangt. Die Gosse und was darin lebt hatten Dich zu fesseln begonnen. Daraus ging die Unannehmlichkeit hervor, in der Du Hilfe bei mir suchtest, und ich ließ sie Dir, unklugerweise nach dem, was dieser Welt als Klugheit gilt, aus Mitleid und Güte zuteil werden. Du mußt diesen Brief von A bis Z durchlesen, mag jedes Wort auch für Dich zum Feuer oder zum Messer des Wundarztes werden, so daß das zarte Fleisch brennt oder blutet. Bedenke: der Tor in den Augen der Götter und der Tor in Menschenaugen sind etwas ganz andres. Wer gar nichts von den Formen offenbarter Kunst, von der Entwicklung fortschrittlichen Denkens, von dem Gepränge des lateinischen Verses, von der klangvolleren Musik des vokalreichen Griechisch, von toskanischer Skulptur und elisabethanischer Lyrik weiß, kann doch der allerholdesten Klugheit voll sein. Der wahre Tor, den die Götter verspotten oder verderben, ist der, welcher sich selbst nicht kennt. Ich war ein solcher zu lange. Du warst ein solcher zu lange. Sei es nicht mehr! Fürchte Dich nicht! Das höchste Laster ist Seichtheit. Alles, was zum Bewußtsein kommt, ist richtig. Denke auch daran, daß alles, was Dich zu lesen betrübt, mich ärger betrübt niederzuschreiben. Gegen Dich sind die unsichtbaren Mächte sehr gut gewesen. Sie haben Dich die seltsamen, tragischen Gestalten des Lebens sehn lassen, wie man Schatten im Glase sieht. Das Haupt der Meduse, das lebendige Menschen in Stein verwandelt, war Dir vergönnt, bloß im Spiegel zu schaun. Du selbst bist frei zwischen Blumen dahingeschritten. Mir ist die schöne Welt der Farbe und der Bewegung genommen.

Ich will damit anfangen, Dir zu sagen, daß ich mir schreckliche Vorwürfe mache. Während ich hier in der dunklen Zelle in Sträflingskleidung sitze, ein entehrter, vernichteter Mann, mache ich mir Vorwürfe. In den qualvollen Nächten mit ihren Angstanfällen, in den langen, eintönigen Tagen mache ich mir selbst Vorwürfe. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich eine ungeistige Freundschaft, eine Freundschaft, deren ursprünglicher Zweck es nicht war, Schönes zu schaffen und zu schaun, mein Leben völlig beherrschen ließ. Von Anbeginn war eine zu weite Kluft zwischen uns. Du bist in der Schule faul gewesen, schlimmer als faul auf der Universität. Es kam Dir nicht zum Bewußtsein, daß ein Künstler, zumal einer wie ich, will sagen: einer, bei dem der Wert der Arbeit von der innern Kraft der Persönlichkeit abhängt, zur Entfaltung seiner Kunst den Umgang mit Ideen, ein geistiges Milieu, Ruhe, Frieden und Einsamkeit nötig hat. Du bewundertest meine Arbeiten, wenn sie fertig waren; Du ergötztest Dich an den glänzenden Erfolgen meiner Premierenabende und den glänzenden Festessen hernach; Du warst stolz darauf, ganz natürlicherweise, der intime Freund eines so hervorragenden Künstlers zu sein. Aber Du konntest die zum Schaffen künstlerischer Werke erforderlichen Bedingungen nicht verstehn. Ich spreche nicht in rhetorisch übertriebenen Phrasen, sondern in durchaus wahren, auf reinen Tatsachen beruhenden Worten, wenn ich Dir zu Gemüte führe, daß ich während der ganzen Zeit, die wir zusammen waren, nie eine einzige Zeile geschrieben habe. Ob in Torquay, Goring, London, Florenz oder sonstwo, mein Leben ist, solange Du an meiner Seite warst, völlig unfruchtbar und unschöpferisch gewesen. Und mit nur wenigen Unterbrechungen warst Du leider immer an meiner Seite.

Ich erinnre mich zum Beispiel: im September 1895, um nur einen Fall von vielen herauszugreifen, mietete ich mehrere möblierte Zimmer, lediglich um ungestört zu arbeiten; ich hatte nämlich meinen Kontrakt mit John Hare gebrochen, dem ich ein Theaterstück zugesagt hatte und der auf schleunige Erledigung drängte. Während der ersten Woche ließest Du Dich nicht blicken. Wir hatten uns, nur zu natürlich, über den künstlerischen Wert Deiner Übersetzung der »Salome« gestritten. Du begnügtest Dich deshalb damit, mir törichte Briefe in der Angelegenheit zu senden. In dieser Woche schrieb und vollendete ich bis ins kleinste den ersten Akt des »Idealen Gatten«, so wie er schließlich aufgeführt wurde. In der zweiten Woche kamst Du wieder, und mit meiner Arbeit war es tatsächlich aus. Ich begab mich jeden Vormittag um ½ 12 nach St. James's Place, um Gelegenheit zum Nachdenken und Schreiben zu haben ohne die von meinem Haushalt unzertrennliche Störung, so still und friedlich dieser auch war. Aber der Versuch war nutzlos. Um 12 Uhr kamst Du angefahren und bliebst, Zigaretten rauchend und plaudernd, bis ½2 Uhr; dann mußte ich Dich zum Lunch ins Cafe Royal oder ins Berkeley mitnehmen. Das Lunch mit seinen Schnäpsen dauerte gewöhnlich bis ½4 Uhr. Auf eine Stunde zogst Du Dich in White's Club zurück. Zur Teezeit erschienst Du wieder und bliebst, bis es Zeit war, sich zum Diner umzuziehn. Du speistest mit mir, entweder im Savoy oder in Tite-Street. Wir trennten uns in der Regel erst nach Mitternacht, da ein Souper bei Willis den berauschenden Tag zum Abschluß bringen mußte. Das war mein Leben während jener drei Monate, jeden einzigen Tag, mit Ausnahme der vier Tage, die Du verreist warst. Ich mußte dann selbstverständlich nach Calais hinüberfahren und Dich zurückholen. Für einen Menschen meines Schlags und meines Temperaments war es eine gleichermaßen groteske und tragische Lage.

Du mußt das jetzt gewiß begreifen. Du mußt jetzt einsehn, daß Dein Unvermögen, allein zu sein, Dein begehrliches Wesen, das an die Rücksicht und die Zeit der andern beständig Forderungen stellte, Deine Unfähigkeit zu anhaltender geistiger Konzentration, der unglückliche Zufall – denn ich möchte nicht gern es für mehr nehmen –, daß Du noch nicht imstande gewesen, Dir »Oxforder Sinnesart« in geistigen Dingen anzueignen, ich meine: nie ein Mensch gewesen bist, der mit Ideen anmutig spielen konnte, sondern bloß zu ungestümen Ansichten gelangt war – daß all das im Verein mit der Tatsache, daß Deine Wünsche und Interessen dem Leben, nicht der Kunst galten, für Deinen eignen Bildungsfortschritt ebenso schädlich war wie für meine künstlerische Arbeit. Wenn ich meine Freundschaft mit Dir der Freundschaft mit noch Jüngern Männern, wie John Gray und Pierre Louys, vergleich«, schäme ich mich. Mein wahres Leben, mein höheres Leben gehörte ihnen und ihresgleichen.

Von den grauenhaften Folgen meiner Freundschaft mit Dir spreche ich jetzt nicht. Ich denke bloß an ihr Wesen, solange sie währte. Sie war geistig entwürdigend für mich. Ansätze eines künstlerischen Temperaments im Keimen fanden sich bei Dir. Aber ich bin Dir entweder zu spät oder zu früh begegnet – ich weiß nicht, welches von beiden. Wenn Du weg warst, war alles in bester Ordnung mit mir. In dem Augenblick, Anfang Dezember des Jahres, auf das ich vorhin anspielte, als es mir gelungen war, Deine Mutter zu bestimmen, Dich aus England fortzuschicken, sammelte ich wieder das zerrissene, verwirrte Netz meiner Phantasie, bekam wieder Gewalt über mein Leben und beendete nicht nur die übrigen drei Akte des »Idealen Gatten«, sondern ersann auch zwei andre Stücke von gänzlich verschiedener Grundform: die »Florentinische Tragödie« und »La Sainte Courtisane«, und hatte sie fast vollendet. Da plötzlich kamst Du unaufgefordert, unwillkommen, unter Umständen, die für mein Glück verhängnisvoll waren, nach Hause. Die beiden damals noch unvollendeten Werke vermochte ich nicht wieder aufzunehmen. Die Stimmung, aus der sie geflossen waren, konnte ich nie wiedererlangen. Du wirst jetzt, nachdem Du selbst einen Gedichtband veröffentlicht hast, imstande sein, die Wahrheit alles dessen, was ich hier gesagt habe, zu erkennen. Ob Du es kannst oder nicht: es bleibt als gräßliche Wahrheit im tiefsten Herzen unsrer Freundschaft. Solange Du bei mir warst, warst Du der vollkommne Verderb meiner Kunst; und darüber, daß ich Dich beständig zwischen der Kunst und mir stehn ließ, empfinde ich Scham und Gram in vollstem Maße. Du konntest nicht wissen, konntest nicht verstehn, konntest nicht würdigen. Ich hatte kein Recht, es überhaupt von Dir zu erwarten. Deine Interessen galten lediglich Deinem Gaumen und Deinen Launen. Deine Wünsche richteten sich einfach auf Vergnügungen, auf gewöhnliche oder minder gewöhnliche Freuden. Die brauchte oder dachte Dein Temperament im Augenblick zu brauchen. Ich hätte Dir mein Haus und meine Arbeitsräume verbieten sollen, außer wenn ich Dich besonders einlud. Ich mache mir ob meiner Schwäche rückhaltlose Vorwürfe. Es war nur Schwäche. Eine einzige halbe Stunde in der Gesellschaft der Kunst bedeutete für mich stets mehr als ein Zyklus in Deiner Gesellschaft. Nichts war wirklich zu irgendeiner Zeit meines Lebens jemals von der geringsten Bedeutung für mich neben der Kunst. Aber beim Künstler kommt Schwäche einem Verbrechen gleich, wenn es eine Schwäche ist, welche die Phantasie lähmt.

Ich mache mir Vorwürfe, daß ich Dich meinen völligen, schimpflichen finanziellen Zusammenbruch herbeiführen ließ. Ich erinnre mich eines Vormittags Anfang Oktober 1892, als ich in den vergilbenden Wäldern zu Bracknell bei Deiner Mutter saß. Damals wußte ich noch sehr wenig von Deiner wahren Natur. Ich hatte mich von einem Sonnabend bis Montag bei Dir in Oxford aufgehalten. Du warst zehn Tage bei mir in Cromer gewesen und hattest Golf gespielt. Die Unterhaltung kam auf Dich, und Deine Mutter begann, über Deinen Charakter mit mir zu sprechen. Sie erzählte mir von Deinen beiden Hauptfehlern: Deiner Eitelkeit und davon, daß Du, wie sie es ausdrückte, keine Ahnung vom Geld hättest. Ich entsinne mich genau, wie ich lachte. Ich ließ mir nicht träumen, daß die erste Eigenschaft mich ins Gefängnis, die zweite zum Bankrott bringen werde. Ich hielt Eitelkeit für eine Art anmutiger Blume, die ein junger Mensch trägt; was Verschwendungssucht betrifft – denn ich dachte, Deine Mutter meine nicht mehr als Verschwendung –, so lagen die Tugenden der Bedachtsamkeit und Sparsamkeit meinem eignen Wesen und meinem Stamme fern. Aber eh' unsre Freundschaft vier Wochen älter war, sah ich langsam, was Deine Mutter wirklich meinte. Dein Beharren auf einem Leben rücksichtslosen Vergeudens, Deine unablässigen Geldforderungen, Dein Anspruch, ich solle für alle Deine Vergnügungen zahlen, ob ich bei Dir war oder nicht, brachten mich nach einiger Zeit in ernste Geldschwierigkeiten; und was die Ausschweifung, für mich wenigstens, so einförmig uninteressant machte, während Dein beharrlicher Eingriff in mein Leben immer stärker wurde, war, daß das Geld wirklich für kaum etwas andres ausgegeben wurde als für die Freuden des Essens, Trinkens und dergleichen. Dann und wann ist's eine Lust, seinen Tisch mit Wein und Rosen rot zu haben; doch Du gingst über allen Geschmack und alle Mäßigkeit hinaus. Du fordertest ohne Höflichkeit und empfingst ohne Dank. Du dachtest allmählich, Du hättest eine Art Recht, auf meine Kosten und in einer üppigen Schwelgerei zu leben, an die Du durchaus nicht gewöhnt warst und die aus diesem Grunde Deine Begierden immer heftiger werden ließ; und zuletzt, wenn Du beim Spiel in einem Kasino in Algier Geld verlorst, telegraphiertest Du mir einfach nach London am nächsten Morgen, ich möchte den Betrag Deines Verlustes Deinem Bankguthaben überweisen, und dachtest an die Sache ganz und gar nicht mehr.

Wenn ich Dir sage, daß ich vom Herbst 1892 bis zum Zeitpunkt meiner Gefangenschaft mit Dir und für Dich mehr als 5000 Pfund in barem Gelde verausgabte, abgesehn von Schulden, die ich machte, so wirst Du eine Vorstellung von der Art Leben bekommen, die Du durchaus führen wolltest. Glaubst Du, ich übertreibe? Meine gewöhnlichen Ausgaben mit Dir für einen gewöhnlichen Tag in London – für Mittag-, Abendessen, Nachtmahl, Vergnügungen, Droschken und das übrige – schwankten zwischen 12 und 20 Pfund, und die wöchentlichen Ausgaben waren natürlich dementsprechend und schwankten zwischen 80–130 Pfund. Während unsers Vierteljahrs in Goring betrugen meine Ausgaben (die Miete selbstverständlich mitgerechnet) 1340 Pfund. Schritt für Schritt mußte ich mit dem Konkursverwalter jeden Posten meines Lebens durchgehn. Es war greulich. »Einfache Lebensweise und hoher Gedankenflug« war allerdings ein Ideal, das Du damals nicht hättest würdigen können, aber eine solche Verschwendung war eine Schande für uns beide. Eines der entzückendsten Essen, an die ich mich erinnre, hatten Robbie und ich zusammen in einem kleinen Café in Soho es kostete ungefähr so viel Schilling wie die Essen, die ich Dir gab, gewöhnlich Pfund kosteten. Bei diesem Essen mit Robbie entstand der erste und allerbeste meiner Dialoge. Idee, Titel, Behandlung, Form, alles wurde bei einem Menü zu 3 Francs 50 c. entworfen. Von den leichtsinnigen Schmausen mit Dir bleibt nichts zurück als die Erinnrung, daß zu viel gegessen und zu viel getrunken wurde. Und daß ich mich Deinem Begehren fügte, war schlecht für Dich. Du weißt das jetzt. Es hat Dich oft anspruchsvoll gemacht; manchmal recht rücksichtslos; immer ungnädig. Bei allzuvielen Gelegenheiten war es eine zu geringe Freude oder Ehre, Dich zu bewirten. Du vergaßest – ich will nicht sagen: die formelle Höflichkeit zu danken, denn formelle Höflichkeiten zerren an einer engen Freundschaft –, sondern einfach die Anmut lieber Gesellschaft, den Zauber angenehmer Unterhaltung, jenes τερπνὸν καλόν, wie die Griechen es nannten, und all die sanften Menschlichkeiten, die das Leben liebenswert machen und eine Begleitung dazu sind, die, ähnlich wie die Musik, keine Verstimmung aufkommen läßt und die mißtönenden oder stummen Stellen mit Melodie erfüllt. Und wenn es Dir auch seltsam erscheinen mag, daß jemand in der schrecklichen Lage, in der ich mich befinde, zwischen einer Schande und der andern einen Unterschied macht, so bekenne ich doch unumwunden, daß die Torheit, all das Geld für Dich wegzuwerfen und Dich mein Vermögen zu Deinem Schaden ebenso wie zu meinem verschleudern zu lassen, mir und in meinen Augen meinem Bankrott eine Note gemeiner Liederlichkeit gibt, deren ich mich doppelt schäme. Ich war zu andern Dingen geschaffen.

Am allermeisten jedoch mache ich mir Vorwürfe, daß ich Dich meine völlige ethische Erniedrigung über mich bringen ließ. Die Grundlage des Charakters ist Willenskraft, und meine Willenskraft wurde durchaus der Deinen Untertan. Das klingt grotesk, ist aber trotzdem wahr. Diese unaufhörlichen Szenen, die für Dich gradezu ein physisches Bedürfnis zu sein schienen, worin Geist und Körper sich bei Dir verzerrten und Du ebenso schrecklich anzusehn wie anzuhören wurdest; diese gräßliche Manie, die Du von Deinem Vater geerbt hast: die Manie, empörende, widerwärtige Briefe zu schreiben; der gänzliche Mangel, Deine Gefühlsregungen zu beherrschen, wie er in langen Verstimmungen mürrischen Schweigens von Dir nicht minder zur Schau gestellt wurde als in den plötzlichen Ausbrüchen einer fast epileptischen Wut – alle diese Dinge, worüber einer meiner Briefe an Dich, den Du im Savoy oder sonst einem Hotel herumliegen ließest, so daß er vom Anwalt Deines Vaters dem Gericht vorgelegt wurde, eine von Pathos nicht freie Beschwörung enthielt, wärst Du damals imstande gewesen, Pathos in seinem Grundwesen oder seinen Äußerungen zu erkennen – diese Dinge, sage ich, waren der Ursprung und die Veranlassung, daß ich Dir in Deinen täglich wachsenden Ansprüchen so verhängnisvoll nachgab. Du hast einen abgenutzt! Es war der Triumph der kleinern über die größere Natur. Es war ein Fall von jener Tyrannei der Schwachen über die Starken, die ich irgendwo in einem meiner Stücke als »die einzige Tyrannei von Dauer« bezeichne.

Und sie war unausbleiblich. In jedem Verhältnis des Zusammenlebens muß man ein moyen de vivre finden. In Deinem Falle mußte man entweder Dir nachgeben oder Dich aufgeben. Es blieb keine andre Wahl. Aus tiefer, wiewohl übel angebrachter Zuneigung zu Dir; aus großem Mitleid mit den Gebrechen Deiner Natur und Deines Naturells; aus meiner eignen sprichwörtlichen Gutmütigkeit und keltischen Trägheit heraus; aus künstlerischer Abneigung gegen rohe Auftritte und häßliche Worte; aus der für mich damals bezeichnenden Unfähigkeit heraus, einem etwas nachzutragen; aus Widerwillen, das Leben bitter und unschön gestaltet zu sehn durch das, was mir, der seine Augen wirklich auf andre Dinge gerichtet hatte, bloße Lappalien, zu geringfügig für mehr als momentanes Nachdenken oder Interesse, schien – aus diesen Gründen, so einfach sie klingen mögen, gab ich Dir immer nach. Als natürliche Folge wuchsen Deine Ansprüche, Dein Herrschbestreben, Deine erpresserischen Forderungen immer unvernünftiger an. Dein schäbigster Beweggrund, Dein niedrigstes Gelüst, Deine gemeinste Leidenschaft wurden für Dich Gesetze, von denen sich das Leben andrer Menschen jederzeit sollte lenken lassen und denen sie, wenn nötig, skrupellos geopfert werden sollten. Da Dir bekannt, daß Du bloß eine Szene zu machen brauchtest, um Deinen Willen stets durchzusetzen, war es nur natürlich, daß Du – fast unbewußt, wie ich nicht zweifle – die ordinäre Gewalttätigkeit bis zum Übermaß steigertest. Schließlich wußtest Du nicht, zu welchem Ziel Du eiltest oder welcher Zweck Dir vorschwebte. Nachdem ich Dich aus meinem Genius, meiner Willenskraft und meinem Vermögen erschaffen hatte, verlangtest Du in der Blindheit unersättlicher Gier mein gesamtes Sein. Du nahmst es. In dem einen zu allerhöchst und in tragischer Weise kritischen Augenblick meines ganzen Lebens, just bevor ich den beklagenswerten Schritt unternahm, meinen albernen Prozeß einzuleiten, griff auf der einen Seite Dein Vater mich mit scheußlichen Karten an, die er in meinem Klub abgab, griffst Du auf der andern Seite mich mit nicht minder widerwärtigen Briefen an. Der Brief, den ich von Dir am Morgen des Tages bekam, als ich mich von Dir zur Polizeiwache schleppen ließ, um den lächerlichen Haftbefehl gegen Deinen Vater zu beantragen, war einer der schlimmsten, die Du je geschrieben hast, und zwar aus dem schändlichsten Grunde. Zwischen euch beiden hatte ich den Kopf verloren. Mein Urteil verließ mich. Furcht nahm seine Stelle ein. Ich sah keine Möglichkeit des Entrinnens, wie ich offen sagen will, vor euch beiden. Blind schwankte ich dahin wie der Ochs zum Schlachthaus. Ich hatte einen riesenhaften psychologischen Irrtum begangen. Ich hatte immer gedacht, es habe nichts zu bedeuten, daß ich Dir in Kleinigkeiten nachgab; ich selbst könnte, wenn ein großer Augenblick käme, meine Willenskraft in ihrer natürlichen Überlegenheit wieder geltend machen. Es war nicht so. In dem großen Augenblick versagte meine Willenskraft vollständig. Im Leben gibt es tatsächlich nichts Großes oder Kleines. Alles ist von gleichem Wert und gleicher Größe. Meine Gewohnheit – im Anfang hauptsächlich eine Folge von Gleichgültigkeit –, Dir in allem nachzugeben, war unmerklich ein wesentlicher Teil von mir geworden. Ohne daß ich es wußte, hatte sie mein Temperament zu einer ständigen, unheilvollen Stimmung schematisiert. Darum sagt Pater in dem feinen Nachwort zur ersten Auf läge seiner Essays: »Unterliegen ist Gewohnheiten annehmen«. Als er das aussprach, meinten die stumpfen Leute in Oxford, der Satz sei bloß eine eigensinnige Umkehrung des etwas langweiligen Wortlauts Aristotelischer Ethik, aber es ist eine wundervolle, schreckliche Wahrheit darin verborgen. Ich hatte meine Charakterstärke von Dir untergraben lassen, und bei mir hatte sich die Annahme einer Gewohnheit nicht nur als ein Unterliegen, sondern als der Untergang erwiesen. In ethischer Hinsicht warst Du für mich noch verderblicher gewesen als in künstlerischer.

Nachdem der Haftbefehl einmal ausgestellt war, lenkte Dein Wille selbstverständlich alles. Zu der Zeit, als ich in London hätte sein, sachverständigen Rat einholen und über die scheußliche Falle, in der ich mich hatte fangen lassen – die Gimpelschlinge, wie Dein Vater sie heute noch nennt –, ruhig hätte nachdenken sollen, da bestandest Du darauf, daß ich mit Dir nach Monte Carlo ginge, grade diesem abstoßenden Ort auf Gottes Erdboden, damit Du den ganzen Tag wie die ganze Nacht, solange das Kasino geöffnet blieb, spielen könntest. Was mich betrifft – da Baccarat keine Reize für mich hat –, so wurde ich draußen allein gelassen. Du lehntest es ab, auch nur fünf Minuten lang die Lage zu besprechen, in die Du und Dein Vater mich gebracht hatten. Meine Aufgabe war lediglich, Deine Hotelrechnung und Deine Verluste zu bezahlen. Die geringste Anspielung auf die Höllenpein, die mich erwartete, wurde als öde empfunden. Eine neue Champagnermarke, die man uns empfahl, interessierte Dich mehr.

Bei unsrer Rückkehr nach London beschworen mich diejenigen meiner Freunde, denen es wirklich um mein Wohl zu tun war, ins Ausland zu flüchten und nicht einen unmöglichen Prozeß herauszufordern. Du schobst ihnen gemeine Motive unter, weil sie solchen Rat erteilten, und mir Feigheit, weil ich darauf hörte. Du zwangst mich zu bleiben; ich sollte die Sache, wenn möglich, vor Gericht durch geschmacklose, dumme Lügen dreist ausfechten. Schließlich verhaftete man mich, und Dein Vater wurde der Held der Stunde, ja, mehr noch als der Held der Stunde nur: Deine Familie zählt jetzt, komisch genug, zu den Unsterblichen; denn mit der grotesken Wirkung, die gleichsam ein gotischer Bestandteil der Geschichte ist und Klio zu der am wenigsten ernsten sämtlicher Musen macht, wird Dein Vater allezeit unter den gütigen, rein gesinnten Eltern der Erbauungsliteratur fortleben. Dein Platz ist bei dem Kinde Samuel; und im tiefsten Schlamm von Malebolge sitze ich zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade.

Natürlich hätte ich mich von Dir losmachen sollen. Ich hätte Dich aus meinem Leben abschütteln sollen, wie einer von seinem Gewand etwas abschüttelt, das ihn gestochen hat. In der wundervollsten aller seiner Tragödien erzählt uns Aischylos von dem großen Herrn, der in seinem Hause ein Löwenjunges, λέοντος ἶνιν, aufzieht und es Hebt, weil es seinem Lockruf leuchtenden Auges folgt und sich, wenn es Nahrung will, an ihn schmiegt: φαιδρωπῶς ποτὶ χεῖρα σαίνοντα γαστρὸς ἀνάγκαις, und das Geschöpf wächst heran und zeigt die eingeborene Art, ἤϑος τὸ ρπὸς τοκέων, und vernichtet den Herrn und sein Haus und alles, was er besitzt. Ich fühle, ich war ein solcher wie er. Aber mein Fehler war: nicht daß ich mich nicht von Dir trennte, sondern daß ich mich viel zu oft von Dir trennte. Soweit ich mich entsinnen kann, habe ich regelmäßig meine Freundschaft mit Dir alle drei Monate beendet. Und jedesmal, wenn dies geschehn war, brachtest Du es durch dringende Bitten, Telegramme, Briefe, die Vermittlung Deiner Freunde, die Vermittlung der meinen und dergleichen dahin, mich umzustimmen und Dich wiederkommen zu lassen. Als Du Ende März 1893 mein Haus in Torquay verließest, hatte ich beschlossen, nie mehr mit Dir zu sprechen und Dir unter keinen Umständen mehr zu gestatten, bei mir zu sein, so empörend war der Auftritt gewesen, den Du am Abend vor Deiner Abreise machtest. Schriftlich und telegraphisch batest Du mich aus Bristol, Dir zu verzeihn und mit Dir zusammenzukommen. Dein Universitätslehrer, der dageblieben war, sagte mir, er glaube, Du seist zu Zeiten ganz und gar nicht verantwortlich zu machen für das, was Du sprächest und tätest, und die meisten, wenn nicht alle Studenten am Magdalen-College seien derselben Ansicht. Ich willigte ein, mit Dir zusammenzukommen, und verzieh Dir natürlich. Auf der Fahrt nach London batest Du mich, mit Dir ins Savoy zu gehn. Das war freilich ein verhängnisvoller Besuch für mich. Drei Monate später, im Juni, waren wir in Goring. Einige Deiner Oxforder Bekannten kamen auf Besuch von Sonnabend bis Montag. Am Vormittag ihrer Abreise machtest Du eine so schreckliche, so qualvolle Szene, daß ich Dir sagte, wir müßten uns trennen. Ich erinnre mich ganz gut, als wir auf dem ebenen Krocketplatz standen, von dem hübschen Rasen rings umgeben, wie ich Dir auseinandersetzte, daß wir einer dem andern das Leben vergällten, daß Du das meine durchaus vernichtetest und ich Dich offenbar auch nicht wirklich beglückte, und daß unwiderruflicher Abschied und völlige Trennung das eine Kluge, Philosophische wäre, das wir tun sollten. Du gingst schmollend nach dem Mittagessen und ließest einen von Beleidigungen strotzenden Brief dem Diener zurück, der ihn mir nach Deiner Abreise übergeben sollte. Ehe drei Tage verstrichen waren, batest Du telegraphisch aus London, ich möchte Dir verzeihn und Dich zurückkommen lassen. Ich hatte Dir zuliebe dort gemietet. Ich hatte Deine eignen Dienstboten auf Dein Ersuchen engagiert. Es tat mir stets furchtbar leid, daß Du der gräßlichen Gemütsverfassung zum Opfer fielst. Ich hatte Dich gern. Ich ließ Dich also zurückkommen und verzieh Dir. Drei Monate später jedoch, im September, spielten sich neue Szenen ab; der Anlaß dazu war, daß ich Dir die Schuljungenschnitzer in Deinem Übersetzungsversuch der »Salome« nachwies. Du mußt es jetzt im Französischen so weit gebracht haben, zu wissen, daß die Übersetzung Deiner als eines Oxforder Akademikers ebenso unwürdig war wie des Werkes, das sie wiederzugeben vorhatte. Du wußtest es damals allerdings nicht, und in einem der heftigen Briefe, die Du mir in der Angelegenheit schriebst, sagtest Du, Du stündest mir gegenüber unter »keinerlei geistiger Verpflichtung«. Ich weiß noch: als ich diese Behauptung las, fühlte ich, daß es wirklich das einzig Wahre sei, das Du mir im ganzen Verlauf unsrer Freundschaft geschrieben hattest. Ich sah ein, daß ein weniger gebildetes Wesen Dir viel besser getaugt hätte. Ich sage das keineswegs in Verbitterung, sondern einfach als Tatsache, die für allen geselligen Umgang gilt. In letztem Betracht ist das Band jedes geselligen Umgangs, ob nun in der Ehe oder in der Freundschaft, die Unterhaltung, und Unterhaltung muß eine gemeinsame Grundlage haben, und zwischen zwei Menschen von weit verschiedener Bildung ist die einzig mögliche gemeinsame Grundlage der Nullpunkt. Das Triviale im Denken und Handeln ist reizend. Ich hatte es zum Schlußstein einer sehr geistreichen, in Theaterstücken und Paradoxen ausgesprochenen Philosophie gemacht. Aber die Hohlheit und Torheit unsers Lebens ödeten mich oftmals sehr an. Nur im Schlamm sind wir uns begegnet; und so bestrickend, so schrecklich bestrickend auch das eine Thema war, um das Deine Unterhaltung unveränderlich kreiste, es wurde schließlich dennoch ganz monoton für mich. Es langweilte mich oft zu Tode, und ich nahm es hin, wie Deine Vorliebe fürs Varieté oder Deine Manie für abgeschmackte Ausschweifungen im Essen und Trinken oder sonst eine Deiner für mich weniger reizvollen Eigenschaften, will sagen: wie etwas, womit man sich einfach abzufinden hatte – ein Teil des hohen Preises, den man für die Bekanntschaft mit Dir zahlen mußte.

Als ich nach meiner Rückkehr aus Goring für vierzehn Tage nach Dinard ging, warst Du mir sehr böse, weil ich Dich nicht mitnahm, machtest deswegen vor meiner Abreise überaus unerquickliche Szenen im Albemarle-Hotel und schicktest mir ebenso unerquickliche Telegramme in ein Landhaus, wo ich etliche Tage weilte. Ich sagte Dir, wie ich mich erinnre, ich hielte es für Deine Pflicht, daß Du eine Zeitlang bei Deinen Verwandten bliebest, da Du den ganzen Sommer fern von ihnen zugebracht hättest. Aber tatsächlich, um vollkommen offen mit Dir zu sein, konnte ich Dich unter keinen Umständen bei mir sein lassen. Wir waren fast zwölf Wochen zusammen gewesen. Ich brauchte Ruhe und Befreiung von dem schrecklichen Druck Deiner Gesellschaft. Es war nötig für mich, ein wenig allein zu sein. Es war in geistiger Beziehung nötig. Und so – daß ich's nur gestehe – sah ich in Deinem Brief, aus dem ich zitiert habe, eine sehr gute Gelegenheit, die unselige Freundschaft, die zwischen uns aufgekommen war, zu beenden, und zwar ohne Bitternis zu beenden, wie ich es schon vor einem Vierteljahr an dem leuchtenden Junimorgen in Goring versucht hatte. Es wurde mir jedoch nahegelegt – ich fühle mich verpflichtet, es ehrlich zu sagen: von einem meiner eignen Freunde, zu dem Du in Deiner mißlichen Lage gegangen warst –, daß Du tief verletzt seist, vielleicht sogar gedemütigt, wenn man Dir Deine Arbeit wie einen Schulaufsatz zurückschicke; daß ich geistig viel zu viel von Dir erwartete; und daß Du doch, was Du auch schriebest oder tätest, ganz entschieden an mir hingest. Ich wollte nicht der erste sein, der Dich in Deinen literarischen Anfängen hemmt oder entmutigt. Ich wußte ganz gut, daß keine Übersetzung, es sei denn, daß sie von einem Dichter herrührte, die Farbe und den Tonfall meines Werks in angemessener Weise wiederzugeben vermöchte. Anhänglichkeit schien mir, scheint mir noch, etwas Wundervolles, das man nicht leichthin wegwerfen soll. Deshalb nahm ich die Übersetzung und Dich zurück.

Genau drei Monate später, nach einer Reihe von Auftritten, die in einem mehr als üblich empörenden ihren Gipfel erreichten, als Du an einem Montagabend in Begleitung zweier Deiner Freunde zu mir in die Wohnung kamst, fand ich mich am nächsten Morgen buchstäblich auf der Flucht ins Ausland, um Dir zu entrinnen. Ich gab meiner Familie einen albernen Grund für meine plötzliche Abreise an und ließ meinem Diener eine falsche Adresse zurück aus Furcht, Du könnest mit dem nächsten Zuge nachkommen. Und ich weiß noch, an diesem Nachmittag, als ich im Eisenbahnwagen saß und nach Paris sauste, dachte ich darüber nach, in was für eine unmögliche, schreckliche, gänzlich schiefe Lage mein Leben gelangt war, wenn ich, ein Mann von Weltruf, mich buchstäblich gezwungen sah, aus England fortzueilen, um eine Freundschaft loszuwerden, die alles Gute in mir, vom geistigen oder ethischen Standpunkt aus, völlig vernichtete. Dabei war der Mensch, vor dem ich mich auf der Flucht befand, kein schreckliches, aus Unrat oder Schlamm ins moderne Leben hineingesprungenes Geschöpf, mit dem ich mich eingelassen, sondern Du, ein junger Mann meines eignen Rangs und Standes, der das gleiche College wie ich in Oxford besucht hatte und ein ständiger Gast in meinem Hause war. Die üblichen Telegramme mit Beschwörungen und Gewissensbissen folgten. Ich beachtete sie nicht. Schließlich drohtest Du damit, falls ich nicht einwilligte, mit Dir zusammenzukommen, unter keinen Umständen nach Ägypten zu reisen. Ich selbst hatte, mit Deinem Wissen und Zustimmen, Deine Mutter gebeten, Dich von England fort nach Ägypten zu schicken, weil Du Dein Leben in London zuschanden machtest. Ich wußte, daß es für sie, wenn Du nicht gingest, eine schreckliche Enttäuschung sein würde, und um ihretwillen kam ich mit Dir zusammen, und unter dem Einfluß großer Erregung, die Du sogar nicht vergessen haben kannst, verzieh ich die Vergangenheit, obschon ich von der Zukunft gar nichts sagte. Nach London am nächsten Tag zurückgekehrt, saß ich in meinem Zimmer und suchte traurig und ernst mit mir ins klare zu kommen, ob Du wirklich das seist, als was Du mir erschienst, oder nicht: so voll schrecklicher Gebrechen, so durchaus verderblich für Dich selbst wie für andre, ein so verhängnisvoller Bekannter und Gesellschafter. Eine ganze Woche lang dachte ich darüber nach und fragte mich, ob ich im Grunde nicht ungerecht sei und Dich falsch einschätze. Am Ende der Woche ward ein Brief Deiner Mutter abgegeben. Er drückte in demselben Grade jedes Gefühl aus, das ich Dir gegenüber hegte. Sie sprach darin von Deiner blinden, übertriebenen Eitelkeit, die Dich Dein Heim verachten und Deinen altern Bruder – diese candidissima anima – als »Philister« behandeln lasse; von Deiner Gemütsart, die ihr Angst einflöße, mit Dir über Dein Leben zu sprechen, das Leben, das Du, wie sie fühle, wie sie wisse, führtest: über Dein Verhalten in Geldangelegenheiten, das ihr in mehr als einer Hinsicht schmerzlich sei; von der Entartung und Veränderung, die mit Dir vorgegangen. Deine Mutter sah selbstverständlich, daß Erblichkeit Dir ein entsetzliches Vermächtnis aufgebürdet hatte, und räumte es offen ein, räumte es mit Entsetzen ein: er ist »das eine meiner Kinder, welches das unselige Douglas-Temperament geerbt hat«, schrieb sie von Dir. Zum Schluß äußerte sie, sie fühle sich zu der Erklärung verpflichtet, Deine Freundschaft mit mir habe ihrer Ansicht nach Deine Eitelkeit so gesteigert, daß sie der Quell aller Deiner Fehler geworden sei, und sprach die ernste Bitte aus, ich möchte nicht im Ausland mit Dir zusammenkommen. Ich antwortete ihr sogleich und sagte ihr, daß ich mit jedem ihrer Worte völlig übereinstimme. Ich fügte noch viel mehr hinzu. Ich ging so weit, wie es irgend möglich war. Ich sagte ihr, unsre Freundschaft stamme aus Deinen Oxforder Studententagen her, als Du an mich mit der Bitte herantratest, Dir in einer sehr ernsten Kalamität sehr besondrer Art zu helfen. Ich sagte ihr, Dein Leben sei beständig in der gleichen Weise heimgesucht gewesen. Die Schuld an Deiner Fahrt nach Belgien hättest Du Deinem Gefährten auf dieser Reise zugeschoben, und Deine Mutter hätte mir Vorwürfe gemacht, weil ich Dich mit ihm bekannt gemacht hätte. Ich schob die Schuld auf die richtigen Schultern zurück: die Deinen. Ich versicherte ihr zum Schluß, ich hätte nicht die geringste Absicht, Dich im Ausland zu treffen, und bat sie, sie möchte versuchen, Dich dort zu halten, entweder als Gesandtschaftsattaché, falls das möglich wäre, oder, wenn nicht, zur Erlernung fremder Sprachen; oder aus irgendeinem Grunde, der ihr gut dünke, mindestens zwei bis drei Jahre, und in Deinem Interesse ebensosehr wie in dem meinen. Inzwischen schriebst Du mir mit jeder Post aus Ägypten. Ich nahm nicht die geringste Notiz von irgendeiner Deiner Mitteilungen. Ich las sie und zerriß sie. Ich hatte mir fest vorgenommen, ich wollte nichts mehr mit Dir zu tun haben. An meinem Entschluß war nicht zu rütteln, und ich gab mich freudig der Kunst hin, deren Fortschritt ich Dich hatte unterbrechen lassen. Nach Ablauf eines Vierteljahrs schreibt mir tatsächlich Deine Mutter selbst mit jener unglücklichen, für sie bezeichnenden Willensschwäche, die in der Tragödie meines Lebens ein nicht minder verhängnisvoller Bestandteil gewesen ist als die Gewalttätigkeit Deines Vaters, sagt mir – auf Dein Anstiften hin, wie ich natürlich nicht zweifelte –, Du seist überaus begierig, von mir zu hören, und sendet mir, damit ich keinen Vorwand hätte, nicht mit Dir in schriftliche Verbindung zu treten, Deine Athener Adresse, die ich selbstverständlich nur zu gut kannte. Ich gebe zu, ich war sprachlos vor Erstaunen über ihren Brief; ich konnte nicht begreifen, wie sie, nach dem, was sie mir im Dezember geschrieben und was ich ihr darauf geantwortet hatte, es auch nur versuchen konnte, meine unglückliche Freundschaft mit Dir wiederherzustellen oder zu erneuern. Ich bestätigte freilich ihren Brief und legte ihr abermals ans Herz, den Versuch zu machen, Dich bei einer auswärtigen Gesandtschaft anzubringen, um Deine Rückkehr nach England zu verhindern; aber an Dich schrieb ich nicht und nahm so wenig Notiz von Deinen Telegrammen wie vorher, ehe Deine Mutter an mich geschrieben hatte. Schließlich telegraphiertest Du an meine Frau und batest sie, ihren Einfluß bei mir aufzubieten und mich zum Schreiben an Dich zu veranlassen. Unsre Freundschaft war von jeher eine Quelle des Kummers für sie gewesen; nicht nur, weil sie Dich persönlich nie leiden mochte, sondern weil sie sah, wie Dein beständiger Umgang mich veränderte, und nicht zum Besseren. Immerhin, ganz so, wie sie stets höchst gütig und gastlich Dir gegenüber gewesen war, konnte sie den Gedanken nicht ertragen, daß ich lieblos – denn so kam es ihr vor – gegen einen meiner Freunde sei. Sie dachte, ja, wußte, daß das nicht in meinem Charakter lag. Auf ihr Bitten hin setzte ich mich mit Dir in Verbindung. Ich entsinne mich des Wortlauts meines Telegramms recht gut. Ich sagte, die Zeit heile jede Wunde, doch viele Monate noch möchte ich weder an Dich schreiben noch Dich sprechen. Du reistest unverzüglich nach Paris ab und schicktest mir von unterwegs leidenschaftliche Telegramme mit der Bitte, ich möchte Dich doch wenigstens einmal sprechen. Ich lehnte es ab. Du trafst spät in Paris an einem Samstagabend ein und fandest einen kurzen Brief von mir in Deinem Hotel vor, des Inhalts, ich möchte Dich nicht sprechen. Am nächsten Morgen empfing ich in Tite-Street ein zehn bis elf Seiten langes Telegramm von Dir. Du brachtest darin zum Ausdruck: einerlei was Du mir getan hättest, Du könntest nicht glauben, daß ich es glatt ablehnte, Dich zu sprechen; Du erinnertest mich daran, daß Du zu dem Zwecke, mich auch nur eine Stunde zu sprechen, sechs Tage und Nächte durch ganz Europa ohne Aufenthalt gefahren seist; Du beschworst mich auf eine – ich kann es nicht leugnen – überaus rührende Art und schlössest mit einer, wie mir schien, nicht einmal schwach verhüllten Selbstmord-Drohung. Du selbst hattest mir oft erzählt, wie viele Deiner Angehörigen ihre Hände mit ihrem eignen Blute befleckt hatten: sicher Dein Onkel, wahrscheinlich Dein Großvater, neben andern aus dem tollen, schlechten Stamm, dem Du entsprossen. Mitleid, meine alte Liebe zu Dir, Rücksicht auf Deine Mutter, für die Dein Tod unter so fürchterlichen Umständen ein für sie fast unverwindlicher Schicksalsschlag gewesen wäre, die grauenhafte Vorstellung, daß ein so junges Leben, eines, das bei all seinen häßlichen Fehlern noch Schönes verhieß, ein so empörendes Ende nehmen sollte, reine Menschenliebe – all das muß, wenn es der Entschuldigungen bedarf, mir als Entschuldigung dienen, daß ich Dir eine letzte Zusammenkunft zu gewähren einwilligte. Als ich in Paris ankam, brachst Du den ganzen Abend immer wieder in Tränen aus; wie Regen fielen sie über Deine Wangen, als wir zuerst bei Voisin dinierten, hernach bei Paillard soupierten. Deine ungeheuchelte Freude über das Wiedersehn mit mir, die sich darin äußerte, daß Du, sooft es ging, meine Hand hieltest, als ob Du ein folgsames, reuiges Kind wärst, Deine im Augenblick so schlichte und aufrichtige Zerknirschung ließen mich in eine Erneuerung unsrer Freundschaft willigen. Zwei Tage nach unsrer Rückkehr nach London sah Dich Dein Vater mit mir im Café Royal lunchen, setzte sich an meinen Tisch, trank von meinem Wein und begann diesen Nachmittag, durch einen an Dich gerichteten Brief, seinen ersten Angriff auf mich.

Es mag seltsam sein, aber noch einmal wurde mir, ich will nicht sagen: die Gelegenheit, doch die Pflicht, mich von Dir zu trennen, aufgezwungen. Ich brauche Dich kaum zu erinnern, daß ich auf Dein Benehmen mir gegenüber in Brighton vom 10. bis 13. Oktober 1894 anspiele. Drei Jahre zurückzublicken ist für Dich eine lange Zeit. Aber wir, die im Gefängnis leben und in deren Leben es kein andres Ereignis als Leiden gibt, müssen die Zeit nach den Pulsschlägen des Schmerzes und dem Register bittrer Augenblicke messen. Wir haben an nichts andres zu denken. Das Leiden ist – so wunderlich es Dir klingen mag – das Mittel, durch das wir existieren, weil es das einzige Mittel ist, durch das wir uns der Existenz bewußt werden; und die Erinnrung an Leiden in der Vergangenheit ist für uns nötig als Gewähr und Beweis unsrer fortdauernden Identität. Zwischen mir und dem Gedächtnis an Freudiges liegt eine nicht minder tiefe Kluft als zwischen mir und Freudigem in seiner gegenwärtigen Wirklichkeit. Wäre unser gemeinsames Leben gewesen, wie die Welt es sich vorstellte: einfach aus Vergnügen, Liederlichkeit, Lachen bestehend, so wär' ich nicht in der Lage, mir einen einzigen Vorfall zurückzurufen. Weil es voll tragischer, bittrer, in ihren Warnungen finstrer, in ihren eintönigen Auftritten und ungeziemenden Heftigkeiten langweiliger oder schrecklicher Momente und Tage war, kann ich jedes besondere Ereignis bis ins kleinste sehn, ja, kann sonst wenig sehn oder hören. So sehr lebt man an diesem Orte vom Schmerz, daß meine Freundschaft mit Dir, in der Art wie ich daran denken muß, mir stets als ein Präludium im Einklang mit den unterschiedlichen Angststimmungen vorkommt, die ich jeden Tag durchzumachen habe; nein, mehr: sogar nötig zu haben scheine, als wäre mein Leben, wofür ich und andre es auch gehalten haben mögen, die ganze Zeit eine wirkliche Symphonie des Leidens gewesen, die durch ihre rhythmisch verbundenen Sätze zu ihrer bestimmten Auflösung fortschreitet mit jener Unabwendbarkeit, die für die Behandlung jedes großen Themas in der Kunst bezeichnend ist.