Dear Martin - Nic Stone - E-Book

Dear Martin E-Book

Nic Stone

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Absolut unglaublich, ehrlich und herzzerreißend!» Angie Thomas, Autorin von «The Hate U Give» Justyce McAllister ist einer der Besten seiner Klasse, Captain des Debattierclubs und Anwärter auf einen Studienplatz in Yale – doch all das interessiert den Polizisten, der Justyce die Handschellen umlegt, nur wenig. Der Grund für seine Verhaftung: Justyce ist schwarz. Und er lebt in den USA im Jahr 2017. Mit Briefen an sein großes Vorbild Martin Luther King jr. versucht Justyce, dem alltäglichen Rassismus etwas entgegenzusetzen. Und dann ist da noch Sarah-Jane, seine kluge, schöne — und weiße – Debattierpartnerin. Als jedoch sein bester Freund Manny erschossen wird, scheint es, als ob selbst Martin Luther King jr. keine Antwort mehr für Justyce bereithält.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nic Stone

Dear Martin

Roman

 

Aus dem Englischen von Karsten Singelmann

 

Über dieses Buch

 

 

«Absolut unglaublich, ehrlich und herzzerreißend!»

Angie Thomas, Autorin von «The Hate U Give»

 

Justyce McAllister ist einer der Besten seiner Klasse, Captain des Debattierclubs und Anwärter auf einen Studienplatz in Yale – doch all das interessiert den Polizisten, der Justyce die Handschellen umlegt, nur wenig. Der Grund für seine Verhaftung: Justyce ist schwarz. Und er lebt in den USA im Jahr 2017.

Mit Briefen an sein großes Vorbild Martin Luther King jr. versucht Justyce, dem alltäglichen Rassismus etwas entgegenzusetzen. Und dann ist da noch Sarah-Jane, seine kluge, schöne — und weiße – Debattierpartnerin. Als jedoch sein bester Freund Manny erschossen wird, scheint es, als ob selbst Martin Luther King jr. keine Antwort mehr für Justyce bereithält.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nic Stone wuchs in einem Vorort von Atlanta auf. Nach dem Abschluss am Spelman College arbeitete sie in der Jugendberatung und lebte einige Jahre in Israel, bevor sie in die USA zurückkehrte, um zu schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Atlanta.

Für K und M

Gebt immer euer Bestes.

 

&

 

Für Mr. Casey Weeks

Betrachten Sie dies als

meinen Quietus.

Ich glaube, dass waffenlose Wahrheit

und bedingungslose Liebe

das letzte Wort in der Welt haben werden.

Dr. Martin Luther King jr.

Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises, 10. Dezember 1964

Teil 1

1. Kapitel

Von der anderen Straßenseite aus kann Justyce sie sehen: Melo Taylor, seine Exfreundin, zusammengesackt neben ihrem Benz auf dem feuchten Asphalt des Parkplatzes vor dem FarmFresh-Supermarkt. Sie hat einen Schuh verloren, und der Inhalt ihrer Handtasche ist um sie herum verstreut wie die Innereien einer abgefeuerten Konfettikanone. Er weiß, sie ist stockbesoffen, aber das ist zu viel, selbst für ihre Verhältnisse.

Jus schüttelt den Kopf, den verständnislosen Blick seines besten Freundes Manny noch vor Augen, dessen Haus er keine fünfzehn Minuten zuvor verlassen hat.

Die Fußgängerampel springt auf Grün.

Als er näher kommt, schlägt sie die Augen auf, und er winkt, zieht die Earbuds heraus und hört sie gerade noch sagen: «Was zum Teufel machst du denn hier?»

Genau das fragt Justyce sich auch, während er zusieht, wie sie – vergeblich – auf die Knie zu kommen versucht. Sie kippt zur Seite und prallt mit dem Gesicht gegen die Autotür.

Er kniet sich hin, streckt die Hand nach ihrer Wange aus – die so rot ist wie ein kandierter Apfel. «Verdammt, Melo, alles in Ordnung mit dir?»

Sie stößt seine Hand weg. «Was kümmert dich das?»

Justyce zuckt zusammen, atmet tief durch. Es kümmert ihn sehr wohl. Logisch. Sonst wäre er ja wohl kaum um drei Uhr morgens die anderthalb Kilometer von Manny (nach dessen Meinung Melo «das Übelste ist, was Jus je passiert ist», weshalb er sich natürlich geweigert hat, seinen Kumpel zu fahren) bis hierher zu Fuß gelatscht, um dieses besoffene Elend von einer Ex vom Autofahren abzuhalten.

Er sollte sofort wieder gehen, ganz im Ernst.

Tut er aber nicht.

«Jessa hat mich angerufen», erklärt er.

«Diese Schlampe –»

«Komm, sei nicht so, Babe. Sie hat mich nur angerufen, weil sie sich Sorgen um dich macht.»

Eigentlich hatte Jessa Melo selbst nach Hause fahren wollen, doch Melo drohte damit, die Bullen zu rufen und ihnen zu sagen, sie sei entführt worden, wenn Jessa sie nicht bei ihrem Auto absetzen würde.

Melo kann sich ziemlich dramatisch aufführen, wenn sie betrunken ist.

«Ich werd sie voll entfolgen», sagt sie (typisches Beispiel). «Im Leben und online. Was mischt sie sich ein?»

Justyce schüttelt wieder den Kopf. «Ich bin nur gekommen, um aufzupassen, dass du gut nach Hause kommst.» Genau in diesem Moment fällt Justyce auf, dass es ihm zwar gelingen könnte, Melo nach Hause zu befördern, er aber keine Ahnung hat, wie er dort wieder wegkommen soll. Er schließt die Augen, während Mannys Worte in seinem Kopf nachhallen: Diese Edler-Ritter-Nummer wird dir nichts als Ärger einbringen, Alter.

Er sieht sich Melo genau an. Sie hockt auf der Erde, den Kopf gegen die Autotür gelehnt, halb eingeschlafen, der Mund hängt offen.

Er seufzt. Selbst in betrunkenem Zustand ist Melo für Jus immer noch das tollste Mädchen, das ihm je unter die Augen – geschweige denn zwischen die Finger – gekommen ist.

Sie kriegt schon wieder Schräglage, schnell greift Justyce nach ihrer Schulter, damit sie nicht umkippt. Sie schreckt auf, blickt ihn mit großen Augen an, und plötzlich ist alles wieder da, was Jus ursprünglich so aufregend an ihr fand. Melos Dad war ein berühmter Linebacker in der NFL, ein riesiger schwarzer Schrank, ihre Mutter aber stammt aus Norwegen. Sie hat Mrs. Taylors milchigen Teint geerbt, dazu wellige, honigfarbene Haare und sagenhaft grüne Augen, die an den Rändern irgendwie lila sind, aber andererseits hat sie total volle Lippen, eine schmale Taille, wahnsinnig runde Hüften und wahrscheinlich den schönsten Hintern, den Jus je gesehen hat.

Und das ist ein Teil des Problems: Er lässt sich zu sehr von ihrer Schönheit aus dem Konzept bringen. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, dass so ein heißes Mädchen ausgerechnet auf ihn stehen könnte.

Jetzt verspürt er den Drang, sie zu küssen, obwohl ihre Augen rot sind, ihre Haare wirr und sie nach Wodka, Zigaretten und Gras stinkt. Aber als er ihr die Haare aus dem Gesicht streichen will, stößt sie wieder seine Hand weg. «Fass mich nicht an, Justyce.»

Sie fängt an, ihr Zeug auf dem Boden herumzuschieben – Lippenstift, Taschentücher, Tampons, eins von diesen kreisförmigen Dingern, wo in der einen Hälfte die Schminke und in der anderen ein Spiegel sitzt, ein Flachmann. «Maaaannn, wo sind meine Schlllüüüsssel?»

Justyce entdeckt sie neben dem Hinterreifen und nimmt sie schnell an sich. «Du setzt dich nicht ans Steuer, Melo.»

«Gib her.» Sie will ihm die Schlüssel entreißen, fällt ihm aber stattdessen in die Arme. Justyce lehnt sie wieder gegen das Auto, dann sammelt er ihre Sachen zusammen, um sie in die Handtasche zurückzustopfen – die groß genug ist, um den Wocheneinkauf aufzunehmen (wozu haben Mädels bloß immer diese riesigen Handtaschen?). Er entriegelt das Auto, wirft die Tasche in den Fußraum des Rücksitzes und versucht, Melo vom Boden hochzuhieven.

Dann läuft alles, von einer Sekunde auf die andere, so richtig schief.

Zuerst übergibt sie sich auf den Kapuzenpullover, den Jus trägt.

Der Manny gehört. Und was hat Manny extra noch gesagt? «Komm mir hier bloß nicht mit Kotze auf meinem Hoodie an.»

Super.

Jus zieht das Sweatshirt über den Kopf und wirft es auf den Rücksitz.

Als er erneut versucht, Melo hochzuheben, scheuert sie ihm eine. Mit voller Wucht. «Lass mich in Ruhe, Justyce», sagt sie.

«Das kann ich nicht, Mel. Du schaffst es nie im Leben nach Hause, wenn du versuchst, selbst zu fahren.»

Als er sie unter die Achseln fasst, um sie hochzuziehen, spuckt sie ihm ins Gesicht.

Wieder überlegt er, ob er nicht einfach einen Abgang machen soll. Er könnte ihre Eltern anrufen, die Autoschlüssel einstecken und loslaufen. Oak Ridge ist wahrscheinlich die sicherste Gegend von ganz Atlanta. Die fünfundzwanzig Minuten, die Mr. Taylor hierher bräuchte, würde sie locker überstehen.

Aber er kann es nicht. Im Gegensatz zu Manny, der die Auffassung vertritt, Melo müsse «endlich mal selbst die Konsequenzen tragen», kommt es ihm nicht richtig vor, sie hier so völlig schutzlos sitzen zu lassen. Also hievt er sie hoch und wirft sie sich über die Schulter.

Melo reagiert auf ihre typisch vornehme Art: Schreiend trommelt sie mit beiden Fäusten auf seinen Rücken ein.

Mühsam öffnet Justyce die hintere Tür und will sie gerade ins Auto bugsieren, da hört er ein abgehacktes Sirenengeheul und sieht die blauen Lichter. In den wenigen Sekunden, bevor der Streifenwagen quietschend hinter ihm zum Stehen kommt, kann Justyce sie auf dem Rücksitz unterbringen.

Plötzlich ist sie in einen Zustand der Starre verfallen.

Justyce kann die sich nähernden Schritte hören, aber er konzentriert sich einzig und allein darauf, Melo auf dem Sitz festzuschnallen. Der Polizist soll klar erkennen, dass sie sich nicht hinters Steuer setzen wird, sonst bekommt sie womöglich noch mehr Schwierigkeiten.

Bevor er den Kopf aus dem Auto ziehen kann, spürt er einen Ruck an seinem Shirt und wird nach hinten gerissen. Sein Kopf knallt an den Türrahmen, dann krallt sich eine Hand um seinen Nacken. Mit dem Oberkörper schlägt er so heftig auf die Kofferraumklappe, dass er sich in die Wange beißt und sein Mund sich mit Blut füllt.

Justyce schluckt, ihm schwirrt der Kopf, er weiß nicht, wie ihm geschieht. Das Scheuern von kaltem Metall an seinen Handgelenken reißt ihn in die Realität zurück.

Handschellen.

Er versucht, es zu begreifen: Melo hängt sturzbetrunken auf dem Rücksitz eines Autos, das sie allen Ernstes selber fahren wollte, aber wer hier die Handschellen angelegt kriegt, das ist er, Jus.

Der Polizist stößt Justyce neben dem Streifenwagen zu Boden und will wissen, ob er seine Rechte verstanden habe. Justyce kann sich nicht erinnern, dass ihm irgendwelche Rechte erklärt worden wären, aber von den zwei Schlägen an den Kopf hatten ihm echt die Ohren gedröhnt, es kann also sein, dass er zwischendurch was verpasst hat. Er schluckt noch mehr Blut.

«Officer, das ist ein großes Missverständ –», setzt er an, bringt den Satz aber nicht zu Ende, weil der Beamte ihn ins Gesicht schlägt.

«Erzähl hier keinen Scheiß, du Dreckskerl. Hab sofort gewusst, dass du was im Schilde führst, als ich dich mit deiner Scheißkapuze auf dem Kopf über die Straße hab gehen sehen.»

Die Kapuze war also keine gute Idee gewesen. Auch nicht die Kopfhörer. Ohne sie hätte er wahrscheinlich mitgekriegt, dass er verfolgt wurde. «Aber Officer, ich –»

«Du hältst die Klappe.» Der Polizist hockt sich hin und faucht Justyce direkt ins Gesicht: «Typen wie dich kenn ich: kleine Scheißer, die sich durch die besseren Viertel schleichen, auf der Suche nach Beute. Da konntest du nicht widerstehen, was, so ’n hübsches weißes Mädchen, das seine Schlüssel im Auto hat liegenlassen?»

Nur dass das überhaupt keinen Sinn ergibt. Hätte Mel ihre Schlüssel im verschlossenen Auto gehabt, hätte Jus sie ja wohl kaum ins Auto reinbekommen, oder? Justyce guckt auf das Namensschild des Beamten; CASTILLO steht da, obwohl der Typ wie ein normaler Weißer aussieht. Seine Mama hat ihm erklärt, wie man sich in solchen Situationen verhält, wenn er auch zugeben muss, dass er nie damit gerechnet hätte, dass er ihren guten Rat jemals benötigen würde: Zeige Respekt, halte deine Wut im Zaum, achte immer darauf, dass die Polizei deine Hände sehen kann (das ist allerdings im Moment unmöglich). «Officer Castillo, ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber –»

«Ich hab doch gesagt, du sollst verdammt noch mal das Maul halten!»

Wenn er doch nur Melo sehen könnte. Sie dazu bringen, dass sie diesem Polizisten sagt, was los ist. Aber der Typ verstellt ihm die Sicht.

«Also wenn du dir einen Gefallen tun willst, dann rührst du dich nicht und machst keinen Mucks. Widerworte reiten dich nur noch tiefer in die Scheiße. Verstanden?»

Justyce spürt Zigarettenrauch und Speicheltropfen im Gesicht, während der Polizist auf ihn einredet, aber sein Blick ist starr auf das leuchtend grüne F des FarmFresh-Schilds gerichtet.

«Guck mich an, wenn ich mit dir rede, Junge.» Er packt Justyce am Kinn. «Ich hab dich was gefagt.»

Justyce schluckt. Sieht Officer Castillo in die kalten blauen Augen. Räuspert sich.

«Ja, Sir», sagt er. «Ich hab’s verstanden.»

25. August

LIEBER MARTIN (AKA DR. KING),

zuallererst möchte ich Ihnen versichern, dass diese «Martin»-Anrede nicht respektlos gemeint ist. Ich habe mich mit Ihnen und Ihren Schriften für ein Referat in der zehnten Klasse beschäftigt, deshalb kommt es mir ganz natürlich vor, mit Ihnen wie mit einem Homie zu reden. Hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.

Kurze Vorstellung: Ich heiße Justyce McAllister, bin siebzehn Jahre alt und besuche als Vollstipendiat die letzte Klasse der Braselton Preparatory Academy in Atlanta, Georgia. In meiner Abschlussklasse bin ich 4. von 83, ich bin der Kapitän des Debattierteams, in meinen Leistungstests für die Hochschulreife habe ich 1560 (SAT) bzw. 34 (ACT) Punkte erzielt, und obwohl ich in einer «schlechten» Gegend aufgewachsen bin (nicht allzu weit entfernt von Ihrer alten Gegend), sehe ich einer Zukunft entgegen, in der ich wahrscheinlich an einer Eliteuniversität studiere, ein rechtswissenschaftliches Diplom erlange und schließlich in die Politik gehe.

Traurigerweise hat all das heute in den frühen Morgenstunden absolut keine Rolle gespielt.

Um mich kurzzufassen: Ich wollte eine gute Tat begehen, aber plötzlich lag ich in Handschellen auf dem Boden. Und obwohl meine Exfreundin ganz offensichtlich komplett besoffen war, sah ich im Kapuzenpullover meiner Schule anscheinend so gefährlich aus, dass der Polizist, der mir die Handschellen angelegt hatte, meinte, Verstärkung rufen zu müssen.

Das Verrückteste aber: Während ich dachte, alles würde sich aufklären, sobald ihre Eltern auftauchten, haben diese Typen sich aber schlicht geweigert, mich wieder freizulassen, da konnten die Eltern reden, wie sie wollten. Mr. Taylor bot an, meine Mom anzurufen, aber die Polizisten sagten klipp und klar, dass ich, weil ich siebzehn bin, als Erwachsener gelte, wenn ich verhaftet werde – soll heißen, Mama hätte eh nichts ausrichten können.

Schließlich hat Mr. Taylor die Mom von meiner Klassenkameradin SJ angerufen – sie ist Anwältin –, und da musste also erst diese Mrs. Friedman kommen und den Polizisten ein paar Salven juristischen Kauderwelsch ins Gesicht blaffen, bevor die mir die Handschellen abgenommen haben. Die Sonne ging schon auf, als sie mich endlich haben gehen lassen.

Das Ganze hat Stunden gedauert, Martin.

Mrs. F hat nicht viel gesagt, als sie mich zu meinem Zimmer im Wohnheim der Schule fuhr, aber ich musste ihr versprechen, bei der Krankenstation vorbeizugehen und mir Kühlkompressen für meine geschwollenen Handgelenke geben zu lassen. Ich hab meine Mama angerufen, um zu erzählen, was passiert war, und sie meinte, sie würde gleich am Morgen Beschwerde einreichen. Aber ich glaub nicht, dass das was bringt.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, was ich von der Sache halten soll. Hätte nie gedacht, dass ich mal in so eine Situation komme. Da war neulich noch so ein anderer Jugendlicher, Shemar Carson … ein Schwarzer, in meinem Alter, der wurde in Nevada von einem weißen Polizisten erschossen, im Juni war das. Die näheren Umstände liegen ziemlich im Dunkeln, weil es keine Zeugen gab, klar ist aber, dass dieser Cop auf einen unbewaffneten Jugendlichen geschossen hat. Viermal. Noch fauler an der Sache war, dass es der medizinischen Untersuchung zufolge eine Lücke von zwei Stunden gab zwischen dem geschätzten Eintritt des Todes und dem Zeitpunkt, wo der Polizist Meldung gemacht hat.

Vor dem Zwischenfall letzte Nacht hatte ich mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Es gibt so viele widersprüchliche Informationen, und man weiß nicht, was man glauben soll. Shemars Familie und seine Freunde sagen, er sei ein guter Typ gewesen, kurz davor, aufs College zu gehen, in seiner Jugendgruppe aktiv und alles … aber der Polizist behauptet, er hätte Shemar dabei erwischt, wie er ein Auto stehlen wollte. Es gab ein Handgemenge (angeblich), und nach dem Polizeibericht hätte Shemar versucht, dem Polizisten die Pistole zu entreißen, und da hätte der ihn in Notwehr erschossen.

Ich weiß nicht. Ich hab ein paar Fotos von Shemar Carson gesehen, und äußerlich wirkte er tatsächlich ziemlich gangstermäßig. Irgendwie hab ich wohl geglaubt, ich müsste mich mit solchen Sachen nicht näher beschäftigen, weil ich im Vergleich zu ihm wirklich nicht besonders «bedrohlich» rüberkomme, wissen Sie? Ich lass meine Hosen nicht runterhängen und trage auch keine extragroßen Klamotten. Ich geh auf eine gute Schule, ich habe Ziele und Zukunftsvisionen und «einen großartigen Kopf auf den Schultern», wie Mama gern sagt.

Ja, ich bin in einer rauen Gegend aufgewachsen, aber ich weiß, dass ich ein guter Typ bin, Martin. Ich dachte, wenn ich alles dafür tue, ein aufrechtes Mitglied der Gesellschaft zu sein, dann bleibe ich verschont von dem, womit DIE ANDEREN Schwarzen sich herumschlagen müssen, wissen Sie? Echt schwer zu schlucken, dass ich mich so getäuscht habe.

Jetzt kann ich immer nur denken: «Wie anders wäre die Sache gelaufen, wenn ich kein Schwarzer wäre?» Sicher, der Cop konnte erst einmal nur nach dem gehen, was er gesehen hat (und das machte wohl tatsächlich einen etwas zwielichtigen Eindruck), aber ich hab noch nie erlebt, dass mein Charakter dermaßen in Frage gestellt wurde.

Die letzte Nacht hat mich verändert. Ich will nicht angefressen durch die Gegend laufen und überall nur Probleme sehen, aber ich weiß, dass ich nicht länger so tun kann, als wär alles in Ordnung. Ja, es gibt keine extra Trinkbrunnen für Farbige mehr, und theoretisch ist es illegal, jemanden zu diskriminieren, aber wenn man mich zwingen kann, in zu engen Handschellen auf dem Asphalt zu sitzen, obwohl ich nichts Böses getan habe, dann gibt es eindeutig ein Problem. Dann ist es mit der Gleichheit nicht so weit her, wie die Leute behaupten.

Ich muss aufmerksamer sein, Martin. Richtig die Augen aufmachen und aufschreiben, was ich sehe. Überlegen, was ich damit anfange. Genau darum schreibe ich Ihnen das hier. Sie hatten’s mit viel größerer Scheiß- ich meine, mit viel schlimmeren Sachen zu tun als damit, ein paar Stunden in Handschellen zu stecken, trotzdem haben Sie die Waffen nicht gestreckt … die Waffen, die Sie gar nicht hatten, wenn ich’s genau bedenke.

Ich möchte versuchen, so zu leben wie Sie. Tun, was Sie tun würden. Gucken, wohin mich das führt.

Mein Handgelenk bringt mich um, deshalb hör ich erst einmal auf zu schreiben, aber danke, dass Sie mir zugehört haben.

 

Mit besten Grüßen

Justyce McAllister

2. Kapitel

Justyce lässt sich auf das vornehme Ledersofa in Mannys Souterrain fallen und greift nach dem Gamecontroller auf dem riesigen Sitzkissen, das davorliegt.

«Alles klar bei dir, Kumpel?», sagt Manny, während er wie wild die Tasten seines vibrierenden Controllers bearbeitet, worauf Maschinengewehrfeuer im Surroundsound durch das Zimmer dröhnt. Das Geräusch saugt sich in Justyce’ Gehörgänge und tanzt in seinem Kopf herum, er fühlt, wie es in seiner Brust pulsiert: PENGPENGPENGPENGPENGPENGPENGPENG.

Er schluckt. «Yeah, alles klar.»

«Spielst du jetzt mit, oder was?»

Mannys Avatar wechselt die Waffen in schneller Folge, lädt alles, was er hat, auf die feindlichen Truppen ab.

Granate: WUMM.

Glock 26: PLOP PLOP PLOP.

Flammenwerfer: SSSSWUUSCHSCH.

Bazooka: KKKKRRAAA-WUMMMSS.

So viele Schusswaffen. So wie die, auf die Castillo seine Hand gelegt hatte, während er Jus wie einen Verbrecher behandelte. Ein falsche Bewegung, und Jus hätte der nächste Shemar Carson sein können.

Ihn schaudert. «Hey, was dagegen, wenn wir was spielen, das ein bisschen weniger … gewalttätig ist?»

Manny drückt die Pausentaste. Wendet sich seinem besten Freund zu.

«Sorry.» Justyce senkt den Kopf. «Kann das ganze Geballer grad nicht so gut ab.»

Manny drückt Jus zur Aufmunterung kurz die Schulter, dann betätigt er ein paar Knöpfe, um ein anderes Spiel aufzurufen. Das neue Madden – NFL-Football. Kommt erst nächste Woche überhaupt in die Läden.

Justyce schüttelt den Kopf. In der Haut seines besten Freundes müsste man stecken. Muss nett sein, den Vizepräsidenten eines großen Finanzunternehmens zum Vater zu haben.

Die Jungen wählen ihre Teams aus. Manny gewinnt den Münzenwurf und entscheidet sich für den Ballbesitz. Er räuspert sich. «Möchtest du drüber reden?»

Justyce seufzt.

«Also, ich bin, äh … da, falls du reden willst, okay?», sagt Manny.

«Ja, ich weiß, Manny. Danke. Weiß nur nicht so genau, was ich sagen soll.»

Manny nickt. Täuscht Justyce’ Abwehrspieler mit einem Spin-Move und erzielt ein First Down. «Geht’s schon wieder besser mit den Handgelenken?»

Justyce unterdrückt den Reflex, seine Arme anzuschauen. Man sieht die blauen Flecken kaum, weil seine Haut so dunkelbraun ist, aber sie sind da, selbst nach einer Woche noch.

Manchmal hat er das Gefühl, sie werden nie wieder weggehen.

«Ja, mit denen ist alles gut. Mel hat mir so eine schräge Salbe aus Norwegen gegeben. Riecht wie eingeschlafene Füße, wirkt aber Wunder.» Mannys Quarterback wirft einen langen Pass, aber nicht lang genug. Justyce’ Free Safety fängt ihn ab. «Wir sind seit gestern wieder zusammen.»

Manny drückt auf Pause. Starrt seinen Freund entgeistert an.

«Alter, das ist jetzt nicht dein Ernst.»

Justyce beugte sich vor und betätigt die Dreieckstaste auf Mannys Controller. Jus’ QB gibt den Ball zu seinem Running Back – der freie Bahn hat, da Manny damit beschäftigt ist, Justyce ein Loch in die Wange zu starren. Der virtuelle Spieler läuft durch und erzielt einen einfachen Touchdown.

Der anschließende Kick bringt den Extrapunkt.

Manny drückt wieder auf Pause. «Jus.»

«Lass gut sein, Alter.»

«Lass gut sein? Wegen dieser Hoe hast du drei Stunden lang in Handschellen gesteckt, und ich soll’s gut sein lassen?»

«Hör auf, meine Freundin Hoe zu nennen, Manny.»

«Bro, du hast diese Freundin dabei erwischt, wie sie ihre Hand bei einem anderen Typen in der Hose hatte. Hallooo?»

«Diesmal ist es anders.» Justyce startet das Spiel von neuem.

Sein Team macht den Kickoff, aber Mannys Spieler rühren sich nicht, weil er Justyce noch immer anstarrt, als hätte der gerade einen Mord gestanden. «Jetzt warte mal», sagt Manny, unterbricht das Spiel und wirft seinen Controller zur Seite, sodass Justyce nicht mehr drankommt. «Du willst mir also erzählen, dass dieses Mädchen, das einfach dagesessen und zugesehen hat, wie dieser Bulle dich brutalst in den Arsch tritt –»

«Sie hatte Angst, Mann.»

«Nicht zu fassen, Jus.»

«Wie auch immer.» Justyce starrt den Football an, der auf dem riesigen Flachbildschirm wie eingefroren in der Luft steht. Die Mädels hängen nicht in Scharen an ihm, im Gegensatz zu Emmanuel «Manny» Rivers, Kapitän des Basketballteams der Schule und einer der bestaussehenden Typen, die Justyce je zu Gesicht bekommen hat. Manny hat eine Menge Sachen, die Jus nicht hat – zwei Eltern mit sechsstelligem Jahreseinkommen, eine Souterrainwohnung, Hammerauto, irres Selbstbewusstsein …

Und was hat Justyce? Die heißeste Freundin der Schule.

«Ich erwarte gar nicht, dass du das verstehst, Manny. Du wechselst die Mädchen wie deine Unterwäsche. Würdest die wahre Liebe nicht mal erkennen, wenn sie dir in die Eier tritt.»

«Erstens mal würde die wahre Liebe mir nicht in die Eier treten. Und wenn man dann bedenkt, wie oft Melo dir, bildlich gesprochen, in deine getreten –»

«Halt die Klappe, Mann.»

Manny schüttelt den Kopf. «Ich sag’s dir nur ungern, Kumpel, aber deine Beziehung zu Melo kann man nur als toxisch bezeichnen.»

«Was redest du für einen Mädchenscheiß, Alter.»

«Du weißt, meine Mom ist Psychologin», sagt Manny. «Du hast das Co-Abhängigkeits-Syndrom oder so was. Das solltest du echt mal untersuchen lassen.»

«Danke für den Rat, Herr Doktor.»

«Ist mein voller Ernst, Jus. Ich kann das überhaupt nicht mit ansehen, was du da machst. Dieses Immer-wieder-zu-Melo-zurück-Ding – das ist krank, mein Freund.»

«Halt die Klappe und spiel verdammt noch mal weiter, Mann.»

In diesem Moment erscheint Mannys Mom am Fuß der Treppe.

«Hi, Dr. Rivers», sagt Justyce und erhebt sich, um sie zu umarmen.

«Hey, Schatz. Geht’s dir gut?»

«Ja, Ma’am.»

«Übernachtest du hier? Abendessen ist gleich fertig. Hühnchen cacciatore.» Sie zwinkert.

«Ahh, Sie wissen genau, dass das mein Lieblingsessen ist», sagt Jus.

«Mensch, Ma, wieso machst du eigentlich nicht mal mein Lieblingsessen?»

«Rede nicht so einen Unsinn, Emmanuel.»

«Sei doch nicht sauer, nur weil deine Mom mich lieber mag als dich, Manny.»

«Du bist mal schön still, du Penner.»

Dr. Rivers’ Handy klingelt. «Hier ist Tiffany Rivers», meldet sie sich, immer noch mit einem Lächeln für die Jungen.

Im nächsten Moment ist das Lächeln weg. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung spricht, ihr Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, dass er nichts Gutes mitzuteilen hat.

Als das Gespräch beendet ist, legt sie ihre Hand auf ihr Herz.

«Mom? Alles in Ordnung?»

«Das war deine Tante», sagt sie. «Dein Cousin ist verhaftet worden.»

Manny verdreht die Augen. «Was hat er denn jetzt wieder angestellt?»

Dr. Rivers blickt von Manny zu Justyce und wieder zurück. «Er steht unter Mordanklage.»

Mannys Kinnlade klappt herunter.

«Er soll einen Polizisten getötet haben.»

3. Kapitel

Eine Menge Gedanken gehen Justyce durch den Kopf, als er am Dienstag den Klassenraum betritt, in dem sein Kurs «Gesellschaft» stattfindet. Zum einen hat die in Nevada zusammengetretene Grand Jury eine Anklageerhebung gegen den Polizisten, der Shemar Carson tötete, abgelehnt. Seit seiner eigenen Verhaftung hat Justyce den Fall in jeder freien Minute verfolgt, und jetzt ist die Sache einfach … vorbei.

Apropos Cops und Verhaftungen, gestern hat Justyce zum anderen erfahren, dass der Polizist, den Mannys Cousin nach eigenem Bekunden erschossen hat, niemand anderer war als Tomás Castillo.

Was Jus vor allem zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass er Mannys Cousin kennt. Er heißt Quan Banks und wohnt in Justyce’ Nachbarschaft. Quan ist ein Jahr jünger, und sie haben oft zusammen gespielt, damals, als es noch das Allerwichtigste im Leben war, draußen zu bleiben, bis die Straßenlaternen angingen. Genau wie Justyce wurde Quan ab der dritten Klasse in eine besondere Lerngruppe für Begabte eingestuft, doch mit Ende der Grundschule fing er an, mit nicht so tollen Leuten abzuhängen. Als Quan mitbekam, dass Justyce auf die Bras Prep gehen sollte, sagte er, ein Cousin von ihm wäre auch dort angenommen worden, aber irgendwie hatte Jus nie zwei und zwei zusammengezählt. Und jetzt ist Quan im Gefängnis.

Justyce kann nicht aufhören, daran zu denken.

Ja, Castillo war ein Arschloch, aber hatte er es wirklich verdient zu sterben? Und was ist jetzt mit Quan? Was, wenn er die Todesstrafe bekommt?

Andererseits: Was wäre, wenn Castillo Jus getötet hätte? Wäre er dann überhaupt angeklagt worden?

«Komm mal kurz, Jus», sagt Doc, als Justyce seinen Rucksack auf dem Boden neben seinem Sitz abstellt. Dr. Jay «Doc» Dray ist der Berater des Debattierteams und Justyce’ Lieblingslehrer an der Bras Prep. Er ist der einzige (Halb-)Schwarze mit Doktortitel, den Jus kennt, weswegen er ihn total bewundert. «Wie kommst du klar, mein Freund?», fragt Doc.

«Ging schon mal besser.»

Doc nickt und kneift die grünen Augen zusammen. «Hab ich mir schon gedacht», sagt er. «Ich wollte dir nur sagen, dass die heutige Diskussion ein paar wunde Punkte treffen könnte. Du darfst dich dann gern ausklinken und kannst jederzeit den Raum verlassen, wenn dir danach ist.»

«Ist gut.»

Genau in diesem Moment betritt Manny den Raum, ihm auf den Fuß folgt Jared Christensen. Justyce hat nicht allzu viel übrig für Jared – oder auch für Mannys andere Freunde –, aber er weiß, dass sie schon seit dem Kindergarten dick befreundet sind, daher versucht er, sich nichts anmerken zu lassen.

«Is’ was, Doc?», kräht Jared, während er quer durch den Raum zu seinem Sitz schlurft.

«O Gott, Jared. Setz dich einfach irgendwo hin.» Das kann nur von Sarah-Jane Friedman gekommen sein, Kapitänin des Lacrosseteams, voraussichtlich Jahrgangsbeste und daher Rednerin bei der Abschlussfeier und in den vergangenen zwei Jahren Justyce’ Debattenpartnerin.

«Ohh, SJ, ich liebe dich auch», sagt Jared.

SJ sieht ihn zornig an und tut so, als würde sie sich den Finger in den Hals stecken, während sie zu ihrem Platz links von Justyce geht. Er muss lachen.

Die übrigen Kursteilnehmer trudeln nach und nach ein, und kaum schlägt die Klingel an, drückt Doc die Tür zu und klatscht in die Hände, um mit der Stunde zu beginnen.