# Death for You - Kiley Roache - E-Book

# Death for You E-Book

Kiley Roache

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ruhm, Geld, 35 Millionen Follower – und eine Tote im Pool

Die sechs Teenager-Social-Media-Stars haben wirklich alles: eine Villa am Strand, Millionen von Followern, umwerfend gutes Aussehen, und Sponsorenverträge, die mehr Geld bringen, als sie sich je erträumt haben. Nun leben sie zusammen und streamen ihr perfektes Leben.
Nur dass es plötzlich alles andere als perfekt ist, nachdem eine von ihnen morgens tot im Infinity-Pool treibt. Als dann auch noch mysteriöse Nachrichten von ihrem gemeinsamen TikTok-Account gepostet werden, sucht die Polizei rasch nicht mehr außerhalb des Hauses nach dem Täter, sondern nimmt sie alle ins Visier. Denn jede*r Einzelne von ihnen hatte gute Gründe, die Tote loswerden zu wollen.
Aber nur eine*r von ihnen hat sie ermordet.

Ein atemberaubender Thriller über die berühmtesten TikToker der Welt, deren Leben von einem Tag auf den anderen an den Rand des Abgrunds gerät ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 427

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem Amerikanischenvon Ursula Held

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die

Produktion entstandenen CO²-Emissionen ausgeglichen, indem der

cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstützt.

Weitere Informationen zu dem Projekt unter:

www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,

so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf

deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

© 2021 Kiley Roache

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Killer Content«bei Random House Children’s Books, einem Verlag von Penguin Random House LLC, New York

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ursula Held

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Abbildungen von © Shutterstock (Alena Ozerova; Eak021)

MP · Herstellung: AW

Satz: Vornehm Mediengestaltung, München

ISBN978-3-641-29441-0V001

www.cbj-verlag.de

Für alle, die California Dreams haben

PROLOG

11 Tage später

HÄFTLING #1438 IM L. A. COUNTY JAIL

Das Blitzlicht der Kamera flammt auf, mir mitten ins Gesicht. Der Beamte will, dass ich mich zur Seite drehe und die Tafel etwas höher halte.

Sonst treibe ich weit mehr Aufwand, bevor ich vor eine Kamera trete. Immer im idealen Outfit, perfekt abgestimmt, extrem stylish – aber ohne den Eindruck zu erwecken, ich würde mich besonders um meinen Look bemühen. Und keine Logos im Bild, es sei denn, ich werde dafür bezahlt. Die richtige Kameraposition, die wir immer erst nach mehreren Probeläufen finden. Die beste Ausleuchtung, für die ich mich gern im Halbprofil vor ein Fenster stelle, damit wir das seitlich einfallende natürliche Licht nutzen können. Dazu Reflektoren, um das Gesicht von beiden Seiten gleichmäßig zu beleuchten, und auf jeden Fall noch mein zweihundert Dollar teures Ringlicht, ohne das keine Aufnahme wirklich gelingt.

Immer geht es darum, unheimlich begehrenswert und einzigartig, aber gleichzeitig nahbar rüberzukommen. Ein schwieriger Balanceakt, der einen Haufen Vorbereitung erfordert.

Aber jetzt muss ich dieses Verbrecherfoto hinter mich bringen.

Wen wundert’s, dass ich mistig aussehe. Und trotzdem schlägt das Bild heftiger ein als alles, was ich in den zwei Jahren gepostet habe, in denen ich mir mit viel Mühe meine persönliche Marke aufgebaut habe. Die körnige Aufnahme einer uralten Digitalkamera, geschossen vor einer kahlen grauen Wand, mit Neonlicht von oben bringt mir innerhalb eines Tages den absoluten Klickrekord ein. Krass.

1

17 Stunden vorher

GWEN

»Ich sag euch eins: Wenn es dieses Mal nicht hinhaut, bringe ich euch beide um.« Camis Gesicht hat hektische rote Flecken. Sie packt mich – ein wenig zu fest – am Arm und führt mich erneut durch die Moves. »Rechts, links, drehen und Pose, klar?«

»Also genauso, wie wir es schon die ganze Zeit gemacht haben?«, maule ich.

»So, wie ich es gemacht habe. Du hast es immer noch nicht drauf«, raunzt Cami.

Cami heißt mit vollem Namen Dolores Camila Villalobos de Ávila, aber alle nennen sie nur Cami, denn Dolores, so meint sie, heißen nur Omas, aber doch keine TikTok-Stars.

Sie glaubt, sie muss den Boss raushängen lassen, weil sie die Einzige mit richtiger Tanzausbildung ist. Sie ist zwei Jahre zur School of American Ballett gegangen, bis sie die Pubertät erwischt und sie zu deutliche Kurven für die klassische Tanzwelt entwickelt hat. Cami kommt mir ständig von oben herab, weil ich nie richtigen Unterricht hatte und außerdem die Fachbegriffe nicht kenne: ein Frappé gibt es nicht nur bei Starbucks, Gwen.

Wenn ich wollte, könnte ich genauso überheblich tun. Ich könnte ihr ganz leicht einen Dämpfer verpassen, indem ich sie daran erinnere, dass ich diejenige mit achtzig Millionen TikTok-Followern bin, sie kommt nicht mal auf die Hälfte. Ganz egal, ob sie weiß, wie man den Takt hält: Ich bin hier die Top-Checkerin.

Stattdessen halte ich meine professionell geboosterten Lippen geschlossen und lasse mich zum zehnten Mal durch die 45-Sekunden-Choreo führen. Wenn ich jetzt aufmucke, gibt es nur wieder Chaos und Streit. Und sie hat ja recht, uns bleibt nicht viel Zeit.

Ehrlich gesagt erkenne ich keinen Unterschied zwischen dem, was ich bisher gemacht habe, und dem, was sie möchte. Aber sie freut sich über irgendeine Verbesserung.

»Also gut, dann nehmen wir es jetzt auf.« Sie stupst Tucker an, der uns bis vorhin gefilmt hat, jetzt aber quer über Camis Bett liegt und durch Instagram scrollt. Tucker ist eins neunzig groß und soweit ich weiß, hat er sich in den siebzehn Jahren seines Lebens noch keinen Augenblick darum geschert, vielleicht zu viel Raum einzunehmen.

»Häh?« Er schaut von seinem Handy hoch und reißt die Augen auf, als er Camis Gesichtsausdruck registriert: Sie sieht aus, als hätte sie üble Verstopfung. »Oh, klar. Bin bereit.« Er steht auf, schiebt sich den Schirm seines Basecaps in den Nacken, richtet das Smartphone auf uns und startet die Aufnahme: »Action!«

Die Musik wird über TikTok abgespielt und wir verrenken uns zu den unsterblichen Klängen der Pussycat Dolls. »When I grow up – I wanna be famous – I wanna be a star.«

Fünfundvierzig Sekunden später ruft Cami: »Schnitt!« Sie reißt Tucker das Telefon aus der Hand. »Ich glaube, das ist es.« Sie hält mir das kleine Display hin und ich begutachte unsere Performance. »Ich wusste doch, dass es nicht komisch rüberkommt, nur mit uns beiden.«

»Ja, warum sollte man sich bei seiner Freundin entschuldigen, wenn die Dreier-Regel mal eben nicht mehr gilt?«, ätzt Tucker.

»Genau«, erwidert Cami und überhört seinen Sarkasmus. Sie wischt über den Bildschirm und probiert verschiedene Filter für unser Video aus. »Ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass ich nicht die Einzige bin, auf die Sydney sauer ist.«

Tucker zuckt kurz zusammen.

Wir konnten nicht in unserer üblichen Formation tanzen, mit Sydney rechts und Cami links von mir, weil es vorgestern einen RIESENkrach gegeben hat. Sydney ist spätabends abgehauen, zum Haus ihrer Eltern, oben in den Santa Monica Mountains. Seitdem ist weder ein Snap noch eine Nachricht von ihr gekommen und niemand weiß, ob sie je wieder TikToks mit uns aufnehmen wird.

»Seid ihr sicher mit dem Lied?« Tucker lenkt lieber von seiner Freundin ab, die uns im Stich gelassen hat. »Ist das nicht zu dick aufgetragen?«

»Was meinst du?«, frage ich. Ich fasse mir an die Wange. Danach habe ich Make-up an den Fingern. »Hab ich zu viel Kontur aufgetragen?«

Cami verdreht die Augen.

Tucker lacht mich aus. »Das war nicht wörtlich gemeint, Gwen.«

»Klar, weiß ich doch.« Ich drücke die Schultern durch. »Wollte nur witzig sein.«

»Klar, Süße«, bemerkt Cami mitleidig.

Ich glühe innerlich vor Scham. Ich hasse es, wenn Leute mich für blöd halten. Weil ich siebzehn bin, platinblond und so nah dran am Barbie-Look wie La-Mer-Kosmetik, Tracy-Anderson-Fitness und Dr. Malibu (der Schönheitschirurg der Stars) es mir ermöglichen, glauben alle, ich wäre unterbelichtet. Bin ich aber nicht. Eigentlich bin ich ziemlich schlau, auf meine Art.

Ich habe vielleicht nicht viel drauf von dem, was man in der Schule beigebracht bekommt, zum Beispiel was »zu dick aufgetragen« bedeutet. Dafür weiß ich aber, zu welcher Tageszeit man am besten bei Insta postet. Nämlich grundsätzlich zu einer anderen Zeit als bei TikTok. Ich weiß, welche Kameraperspektive für mich am günstigsten ist und wie man sexy und witzig wirkt, dabei aber nicht zu selbstverliebt rüberkommt. Ich kenne die genaue Dosis Content, mit der man garantiert im Gedächtnis bleibt, ohne seine Follower zu nerven.

Ich habe mir das alles hier ausgedacht. Das vergessen die anderen gerne, weil Sydneys Eltern die Hypothek aufgenommen haben. Dabei hatte ich die Idee, das LitLair zu gründen, eine WG mit TikTok-Teeniestars, die zusammen in einem Haus in Malibu abhängen und Content liefern. Ich dachte, wenn wir jeweils in den Videos der anderen auftauchen, steigern sich unsere Followerzahlen viel schneller, als wenn jeder sein Ding macht. Und ich hatte recht. Letztens habe ich gelernt, dass man so was Synergie nennt. Also wenn zwei plus zwei fünf statt vier ergibt. Ich fand das aber schon einen guten Plan, bevor ich diesen Begriff kannte.

Ich habe eben echtes Talent, wenn es darum geht, mich zu vermarkten. So wie Paris Hilton mal meinte: »Manche Mädchen werden eben mit Glitzer in den Adern geboren.« Genau wie ich. Ich wusste immer, dass ich für dieses Leben geschaffen bin. Selbst als meine Mutter und ich in einem winzigen Einzimmerapartment hausten und mein Bett ein Schlafsofa war, wusste ich mit einem Blick auf mein mitgenommenes Second-Hand-Barbie-Traumhaus, dass mir ein Leben im Luxus vorherbestimmt ist.

Es sieht vielleicht nach Vergnügen aus, wie wir hier zusammenleben, im Infinity Pool planschen, Tänze ausprobieren oder im Esszimmer Billard spielen, aber im Grunde ist all das knallhartes Business. Unser Account @LitLair_L. A. hat dreißig Millionen Follower.

Dazu kommen unsere eigenen Profile mit jeweils mindestens zehn Millionen Followern. (Ich habe die meisten und Sydney und Cami batteln weit dahinter um den zweiten Platz.)

Diese Zahlen bedeuten Sponsorenverträge. Und zwar nicht mit irgendwelchen Firmen. Schließlich müssen wir unsere Marke positionieren. Unsere Partner gehören zu den 500 umsatzstärksten Unternehmen der USA. Jeder neue Post von mir bringt mindestens 30 000 Dollar. Seit wir im Sommer in das Haus gezogen sind, habe ich mit diversen 60-Sekunden-Videos mehr Geld verdient als die meisten Hollywood-Sternchen mit einem ganzen Spielfilm.

Nicht schlecht für ein Mädchen ohne Talent, würde Kim Kardashian sagen. Und wer mit Personal Branding Geld machen will, sollte sich die Schutzheilige der Influencer drüben in Calabasas zum Vorbild nehmen.

Deswegen habe ich mich in letzter Zeit auch bemüht, mein Portfolio zu erweitern. Auch wenn von außen alles perfekt aussieht, habe ich schreckliche Angst, dass ich eines Tages nur noch irgend so eine bin, die mal auf einer Plattform erfolgreich war, die kaum einer mehr kennt.

Klar, im Moment ist TikTok so ungefähr das größte Ding im Universum. Aber was ist, wenn es so endet wie Vine oder Myspace? Obwohl ich da aktuell die Einzelperson mit den meisten Followern bin, will ich nicht einfach nur ein TikTok-Star sein. Ich will ein It-Girl werden. Ich will eine Make-up-Serie, eine Lifestyle-Website, vielleicht noch eine Sneaker-Collab. Ich will ein Buch mit lauter Instagram-Fotos von mir, das die Bestsellerliste der New York Times stürmt. Ich will alles.

Irgend so ein uralter schlauer Typ hat mal gesagt: »Ein ungeprüftes Leben ist nicht lebenswert.« Mein Leben muss einiges wert sein, denn es wird jeden Tag von achtzig Millionen Menschen beäugt. Das sind mehr, als in ganz Frankreich leben. Dass all diese Leute daran interessiert sind, wie ich tanze und welche Klamotten ich trage, gibt mir das Gefühl, dass mein Leben etwas bedeutet. Ich will dieses Gefühl nie wieder verlieren. Denn sonst weiß ich nicht mehr, wer ich bin.

Meine liebe Mom ist aber leider keine Kris Jenner. Seit ich berühmt bin, besteht ihre Hauptbeschäftigung darin, Tennis zu spielen und Mimosa-Cocktails zu schlürfen. Anstatt an meiner Karriere zu feilen. Ich muss alles alleine machen. Mit jedem Kommentar unter einem meiner Videos, in dem irgendwelche Trolls behaupten, ich sei überbewertet, ich hätte zugenommen oder nein, im Gegenteil abgenommen und sei deshalb garantiert magersüchtig, meine Tanzbewegungen wären zu gewöhnlich, mein ganzer Auftritt ein fieser Trick der chinesischen Regierung oder – was öfter vorkommt – ich sei dumm, spüre ich, wie meine Zeit läuft. Und ich habe Angst, sie könnte vorbei sein, bevor ich etwas geschaffen habe, das bleibt.

Kommentare von Fremden, die mich für blöd halten, sind also schon stressig genug. Ich brauche so was nicht auch noch von Leuten, die angeblich meine Freunde sein wollen, und erst recht nicht von Tucker.

»Schön für dich, dass du so gut Bescheid weißt, Tuck«, schnaube ich. Ich starre ihn wütend an und denke mir einfach all die Sachen, die ich nicht sagen kann, da Cami dabei ist.

Er wird rot. »Wenn es das jetzt war, mach ich mich schon mal fertig für heute Abend.« Er sprintet aus Camis Zimmer, flieht vor meiner Wut.

Cami nennt den Post Dynamic Duo und setzt das Emoji mit zwei tanzenden Mädchen dahinter. Mit einem Klick schickt sie das Video zu @LitVilla_L. A. und seinen dreißig Millionen treuen Fans.

Auf meinem eigenen Handy kann ich zuschauen, wie der Beitrag innerhalb von Sekunden Likes und bewundernde Kommentare bekommt. Aber als ich das Video jetzt noch mal ansehe, muss ich Tucker recht geben. Es fehlt irgendwas, wenn unsere Freundin nicht dabei ist.

»Syd ist doch bestimmt heute Abend wieder zurück, oder?«, frage ich.

»Na, klar«, versichert Cami mir. »Sie ist vielleicht wütend, aber garantiert nicht blöd. Drake will sie bestimmt nicht verpassen.«

Ich nicke, bin aber nicht ganz überzeugt. Ich sehe Sydney vor mir, wie sie aus dem Haus gestürmt ist, mit ihrer Louis-Keepall-Reisetasche über der Schulter und dem Away-Koffer, den sie polternd die Stufen runterzerrte. Ihr Mascara war total verschmiert, aber ihr Blick hat mich beeindruckt: Sie hatte zwar geweint, sah aber nicht traurig aus, sondern außer sich vor Wut.

Ich verlasse Camis Zimmer und laufe dieselben Marmorstufen hinunter, nur dass sie jetzt in der Sonne Malibus glänzen. Meine makellos manikürten Hände gleiten über das Geländer und ich summe leise vor mich hin, denn Nicole Scherzingers Stimme geht mir nicht aus dem Kopf: Be careful what you wish for ’cause you just might get it.

16 Stunden vorher

KAT

Die Familie meines Vaters ist während des Goldrauschs nach Kalifornien gekommen. Mein Ururururgroßvater ist mit einem Planwagen durchs Land gezogen und irgendwann bei Fresno gelandet.

In seiner ersten Woche dort fand er ein kleines Goldnugget. Er fischte es aus der Siebpfanne, ließ die einfach im Fluss liegen und lief zu den beiden einzigen Läden, die es im Ort gab: ein Saloon und ein Bordell. Innerhalb eines Monats war das Geld weg und er machte sich im kalifornischen Staub erneut auf die Suche nach einem Glitzerkorn. Er suchte sein Leben lang, fand aber nie mehr etwas. Als er starb, war er komplett verarmt, das Geld reichte nicht mal für einen ordentlichen Grabstein. Aber seitdem leben seine Nachfahren in Kalifornien.

Meine Mutter erzählt diese Geschichte gern, bei ihr klingt sie wie eine Warnung. Ihre Familie hat nämlich eine ganz andere Vergangenheit. Ihre Eltern sind aus Jamaika hergekommen. Die Mutter wurde Krankenschwester, der Vater arbeitete beim Bau. Als meine Mom erwachsen war, wurde sie Lehrerin. Alle waren sie fleißig, haben die Schule zu Ende gemacht, in sicheren Berufen gearbeitet. Das war ihr amerikanischer Traum: kein vergänglicher Goldstaub oder das irre Versprechen vom schnellen Reichtum, sondern hart verdientes tägliches Brot.

Man kann sich also vorstellen, was los war, als ich ihr erzählt habe, dass ich in diese Geld-regnet-vom-Himmel-Party-Influencer-WG ziehe.

Das mit TikTok fing aus Spaß an. Alle in der Schule hatten einen Account und meinen Eltern war es egal, dass ich mit meinen Freundinnen alberne Kurzvideos drehte, solange es in der Schule gut lief. Aber aus irgendeinem Grund blieben meine Followerzahlen nicht bei zweihundert stehen, so wie bei den meisten. Meine Videos schafften es immer wieder auf die For-You-Seiten von irgendwelchen überall auf der Welt verstreuten Leuten. Ein paar Videos sind richtig viral gegangen. Einmal ist mein Handy im Geschichtskurs abgestürzt, weil ein Post von mir eine Million Klicks in drei Stunden gerissen hat. Und auf einmal hatte ich 150 000 Follower, und ein paar Tage später 400 000, und dann … so was nennt man wohl exponentielles Wachstum.

Ich hatte schon hier und da ein bisschen Geld verdient, ein paar Hundert Dollar über Werbeverträge mit kleinen Firmen, als ich diese DM von Gwen bekam, in der sie mir mitteilte, dass sie zwanzigtausend oder mehr für einen gesponserten Post bekommt. Sie würde mir gerne zeigen, wie das geht, und ob ich nicht mir ihr und ihrer Freundin Sydney in Südkalifornien zusammenwohnen wolle?

Meine Eltern bewilligten mir einen Monat. Ich könne das den Juni über als Sommerjob machen, meinte meine Mom. Aber ich müsste mindestens genauso viel verdienen wie sonst durchs Eisverkaufen und Babysitten, also 480 Dollar. Es waren dann 40 000 Dollar im ersten Monat. Das Geld ist natürlich auf mein Studienkonto gewandert – abzüglich dem, was ich für Miete, Essen und Kleidung brauchte. Ich habe weiter bei American Eagle und Target eingekauft und mir nicht etwa den neuesten Gucci-Look geleistet, wie manch andere hier. Das Geld war vor allem auch dazu da, meinen Eltern zu beweisen, dass ich quasi einer Arbeit nachgehe. So konnte ich um Verlängerung bitten und sie haben mir erlaubt, den Rest des Sommers in Malibu zu verbringen.

Ein Sommer als Vollzeit-TikTokerin. Ein Sommer in einer inzwischen superberühmten Villa. Danach, so der Plan, soll ich zurück nach Hause, die Highschool beenden, Aufnahmeprüfungen an Unis machen und damit den Weg einschlagen, der mich zu einem »echten«, zuverlässigen Beruf führen wird. Also garantiert nicht dazu, als Comedian durchzustarten und meine Karriere von den Launen der Online-Welt abhängig zu machen. Ab heute habe ich noch drei Wochen, in denen ich meinem Traum nachgehen kann.

Mir pocht das Herz wild in der Brust, das Blut rauscht nur so durch meine Adern. Mit jedem Ausholen perlt Wasser von meinem Arm.

Meine Apple Watch zeigt an, dass ich mein Trainingsziel für heute erreicht habe. Ich will aber noch ein paar Bahnen ziehen. Ich spüre die Kraft der Sonne auf meinem Rücken. Wieder mal feinstes Wetter in Malibu.

Am Rand des Beckens mache ich eine Rollwende, stoße mich ab und gleite durchs Wasser. Da entdecke ich auf der anderen Seite zwei verschwommene Füße. Obgleich ich unter Wasser bin, heben sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Meine Arme und Beine sind inzwischen ziemlich schlapp, aber ich bringe irgendwie die Kraft auf, noch einmal zu beschleunigen, um schneller bei Beau zu sein.

»Hi«, rufe ich gleich beim Auftauchen. Ich schiebe die Schwimmbrille auf die Stirn. Beau lächelt zu mir herunter. Auf seinem nackten Oberkörper schimmert der Schweiß von seinem Strandlauf. Seine Surferlocken liegen trotzdem perfekt.

»Und? Wie war das Schwimmen heute?«, erkundigt er sich.

»Gut. Ich bin kurz davor, meinen Rekord zu brechen«, antworte ich. Ich nehme die Badekappe ab und rubble mir über die Schläfen, weil Kappe und Brille immer so fiese Streifen in meinem Gesicht hinterlassen.

»Und? Wolltest du bei Camis Dreh nicht dabei sein?«, fragt er.

»Ich bin kein so großer Pussycat-Dolls-Fan, musst du wissen.«

»Ach nein?«, entgegnet er grinsend.

Beau weiß, dass ich Tanzvideos hasse und mein Beitrag darin besteht, den anderen dabei nicht ins Handwerk zu pfuschen. Wie ich ist er auf Comedy-TikToks spezialisiert. Ich bin das einzige Mädchen hier, das keine Tanzvideos macht – bis auf das eine Mal, als ich zu Bill Clintons Satz »Ich hatte kein sexuelles Verhältnis mit dieser Frau« den Renegade getanzt und untertitelt hatte mit: Josef dazu, wie Maria schwanger wurde. Beau streckt die Hand aus und hilft mir aus dem Pool. Ich wickle mich in ein Handtuch. Die Sonne sinkt dem Horizont entgegen, aber die Spätsommerhitze hängt noch in der Luft und ein lauer, leichter Wind streicht mir über die Haut.

»Ich bin auf meinem Lauf in den Ort abgebogen und hab das hier entdeckt.« Beau greift in die Tasche seiner Shorts und holt ein Armband hervor: weiße Muscheln, auf ein schwarzes Band gefädelt. Er hält es mir vorsichtig hin. »Ich dachte, es gefällt dir vielleicht.«

Ich nehme es in die Hand. »Wunderschön.«

»Ist zwar nicht von Cartier« – das letzte Wort spricht er extra gekünstelt aus – »aber ich fand, es passt zu dir.«

Ich muss lachen. In den ersten Wochen nach unserem Einzug hörte Sydney nicht auf, von ihrem Cartier Love Bracelet zu schwärmen, das sie von ihren Eltern geschenkt bekommen hatten. Sie bedrängte mich pausenlos, doch mit ihr ein Video zu »I can’t take it off« zu drehen, bis ich sie schließlich beiseitenehmen und ihr klarmachen musste, dass vielleicht nicht alle Teenager etwas mit einem Filmchen über ein 6000 Dollar teures Armband anfangen können. Das war das letzte Mal, das jemand vom Tanzteam mich zu einen Beitrag aufgefordert hat.

Ich binde das Muschelarmband um mein nasses Handgelenk und sehe Beau an. »Perfekt.«

»Freut mich.« Er wird rot. »Schön, dass es dir gefällt.«

Einen Augenblick stehen wir einfach da am Beckenrand, blinzeln ins Sonnenlicht und lächeln wie blöde. Ich bin immer noch außer Atem vom Schwimmen und es kommt mir vor, als würde mir das Herz in den Ohren pochen.

»Was macht ihr denn da?« Cami, die im Kleid und mit neonfarbenen Blockabsatz-Pumps die Treppe zum Pool herunterstürmt, holt uns abrupt in die Gegenwart zurück. »Kapiert ihr nicht, dass Aubrey Graham in einer Stunde hier ist? Sagt bloß, ihr habt nicht mal geduscht?«

»Ich war gerade dabei, hochzugehen«, erwidere ich.

»Die goldene Stunde beginnt um sieben. Also um achtzehnfünfundvierzig im Foyer.« Sie spricht das Wort möglichst Französisch aus.

»Jawohl!«, rufe ich. Beau und ich kichern wie die Kinder und rennen die nassen Stufen hoch zum Haus.

Oben pelle ich mich aus meinem Badeanzug und steige unter die Dusche. Das Bad ist mein Lieblingsort im Haus. Die gesamte Hinterwand der Dusche ist nämlich aus Glas, wie ein riesiges Fenster mit Blick aufs Meer. Die Villa steht auf einem Felsen über dem Strand und der Architekt hat möglichst viele Zimmer mit Meerblick eingeplant, damit man von überall diesen tollen Blick hat, sogar aus dem »Scheißhaus« (wie mein Vater sagen würde).

Ich spüle das salzige Poolwasser ab und atme den Duft meines Grapefruit-Duschgels ein. Ich schaue zu, wie die Wellen an den Strand schlagen, und frage mich zum x-ten Mal, wie es sein kann, dass ich dieses Leben hier habe.

So lange ich denken kann, gibt es zwei Versionen von Kalifornien in meinem Kopf: das reale, in dem ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, Eis verkauft und Hausaufgaben gemacht habe. Und das legendäre Kalifornien aus Jack Kerouacs Büchern und Lana del Reys Liedern. Dort jagen die Menschen dem Ruhm hinterher, den Hollywood-Träumen, dem Silicon-Valley-Reichtum und, so wie früher meine Vorfahren, dem handfesten, aus dem Nichts geschürften Gold. Nach Kalifornien geht man, damit etwas mit einem passiert. Und zwar etwas Großes.

In Fresno aber, das wusste ich, würde nie etwas passieren. Und jetzt bin ich also hier, wo mein kalifornischer Traum sich endlich mit der Wirklichkeit vereint. Wo ich beim Duschen zuschauen kann, wie die Sonne über dem Pazifik untergeht.

Ich trockne mich ab und renne in mein Zimmer. Als wir eingezogen sind, gab es einen Riesenstreit, wer das beste Zimmer bekommt. Ich habe einfach das genommen, das am wenigsten Miete kostet. Also schaue ich auf den Pool statt aufs Meer. Ich schließe die Vorhänge, damit ich mich umziehen kann.

Ich habe keine Ahnung, wie ich zu diesem Treffen mit Drake erscheinen soll, also suche ich einfach etwas heraus, das ich auch für einen Besuch von irgendwelchen Eltern tragen würde. Also meinen üblichen Look, nur etwas aufgehübscht, damit es nicht so aussieht, als wäre mir der Besuch egal. Ein gelbes Blumenkleid, zu dem ich minimalistisches Make-up auftrage.

Auf meinem Schminktisch mit dem Muschelrahmen-Spiegel vibriert mein Handy. Anruf von Mom, informiert mich das Display. Wir telefonieren sonst etwa einmal am Tag. Aber über die letzten Tage habe ich sie weggedrückt. Ich weiß, dass sie mit mir besprechen will, wann ich nach Fresno zurückkomme, aber ich kann mir das gerade nicht vorstellen. Ich muss noch den Mut aufbringen, meinen Eltern mitzuteilen, dass ich ein Jahr mit der Schule aussetzen und hierbleiben möchte. Ich weiß natürlich schon, wie sie darauf reagieren werden. Also schalte ich mein Handy erneut auf stumm.

Wie immer streife ich noch ein Scrunchie über mein Handgelenk. Aber dieses Mal um das rechte, nicht das linke, damit mein neues Armband nicht verdeckt wird. Ich drehe eine der Muscheln zwischen den Fingern. Ich fand, es passt zu dir, hat Beau gesagt.

Ich seufze. Seit wir das Haus bezogen haben, bin ich in Beau verknallt. Bevor ich ihn hier kennenlernte, hatte ich schon ein paar seiner Videos gesehen und wusste, dass er lustig ist und ziemlich süß. Aber ihn dann hier zu erleben, war noch mal was ganz anderes. Er gehört zu dieser Sorte Leute, die schon für einen besseren Vibe sorgen, wenn sie nur einen Raum betreten. Sein Lachen ist ansteckend, und wenn er lächelt, will man einfach mitlächeln. Ist jemand traurig, findet er genau die richtigen Worte. Er hat ein Auge für die, die auf Partys in der Ecke stehen, weil sie niemanden kennen, und dann geht er auf diese Leute zu und redet mit ihnen. Er weiß immer, wie man peinliches Schweigen bricht und welche Songs auf die Playlist gehören, wenn die Stimmung zu kippen droht. Er macht alles wärmer und fröhlicher, wie Sonnenschein.

Während der ersten Wochen hier, als alle furchtbar nervös waren und sich hervortun wollten, indem sie ununterbrochen ihre Sponsorenverträge und Klickzahlen verglichen, hat sich Beau einfach rausgehalten aus dem ganzen Drama. Er hat seine Videos gemacht und ist surfen gegangen. Vorher hat er alle gefragt, ob sie nicht mitkommen wollen, aber ich war die Einzige, die Ja gesagt hat. Und dann hat er mir mit unendlicher Geduld das Surfen beigebracht, auch wenn es fast den ganzen Morgen gedauert hat, bis ich endlich auf dem Brett stehen konnte. Abends war ich komplett erledigt, aber hin und weg – vom Surfen und von ihm.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass er das Gleiche fühlt. Wenn wir zum Beispiel in einer Gruppe zusammen sind und ich merke, dass er mich anschaut, obwohl jemand anders redet. Oder wenn er das letzte Stück Pizza für mich rettet. So kleine Dinge halt. Aber eigentlich ist er zu allen im Haus und auch zu allen anderen, die er trifft, supernett und man kann schwer sagen, ob das etwas zu bedeuten hat.

Ich weiß, dass sich manche unserer Follower wünschen, wir wären ein Paar. Andere wiederum sehen mich an Spidermans Seite – aber nicht an der von Tom Holland, sondern an der von Peter Parker, der fiktiven Figur. Man kann also nicht allzu viel darauf geben.

Ich betrachte noch einmal das Armband. So ein Geschenk hat doch etwas zu bedeuten, oder? Man kauft nicht jedem einfach so ein Armband, oder? Sondern einer einzelnen Person, in die man verknallt oder verliebt ist.

Ich hänge diesem Gedanken nach, bis mir dämmert, dass es ja auch ganz harmlose Freundschaftsarmbänder gibt. Mist. Wieder mal Fehlalarm.

Ich hole tief Luft und sehe ein letztes Mal nach meinen Haaren, bevor ich nach unten gehe und mich in den Kampf stürze.

2

15 Stunden vorher

KAT

Drake ist da. Sydney fehlt immer noch.

Ich sehe, wie zwei schwarze SUVs in unsere Einfahrt rollen. Die Kegel ihrer Scheinwerferlichter erhellen unsere Fenster.

»Was machst du da?« Cami schlägt nach meiner Hand und zieht die Vorhänge zu. »Die halten uns noch für komisch, wenn wir so rausglotzen.« Sie macht auf ihren neonfarbenen Blockabsätzen kehrt. »Benehmt euch bitte alle ganz normal.«

»Ach ja? Ist auch supernormal, dass wir hier alle hinter der Haustür versammelt lauern, oder?« Ich deute auf Beau und Gwen, die ebenfalls parat stehen. »Wie die singende Trapp-Familie.«

Beau lacht über meinen Witz.

»Squid, langsam mache ich mir Sorgen.« Tuckers Stimme dringt aus dem Wohnzimmer. Als er sich umdreht, merkt er, dass wir ihn beobachten. Cami gestikuliert, er solle zu uns kommen. »Ruf mich an, wenn du das hier hörst.« Er beendet die Nachricht, die er Sydney auf dem Handy hinterlassen hat, und gesellt sich zu uns.

»Ich verstehe das einfach nicht mit Sydney«, meint Cami. Sie tippt hektisch in ihr Handy. »So was von unprofessionell. Kann ja sein, dass sie sich geärgert hat. Aber echt mal, das ist jetzt zwei Tage her!«

»Wer weiß«, meint Beau. »Ich habe da mal was über die Psychologie von Zwillingen gelesen. Das ist echt nicht zu unterschätzen. Wenn es Brooklyn mies geht, geht es Sydney auch mies.«

»Alles klar, Dr. Phil«, faucht Cami. »Trotzdem kein Grund, hier so eine Riesenshow abzuziehen.«

Gwen tut so, als bekäme sie von alldem nichts mit. Stattdessen betrachtet sie sich in dem großen, goldgerahmten Spiegel. Ihre blonden Haare fallen ihr seidig glatt über die Schultern, in ihren Ohren glänzen dünne goldene Creolen. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid mit hohem seitlichen Schlitz.

Sie starrt immer noch ihr Spiegelbild an, als sie sagt: »Wir schaffen das auch ohne Sydney.« Ihre Stimme zittert etwas. »Wir müssen. Wir haben keine andere Wahl.«

Da ertönt die Türklingel.

Wie sich herausstellt, ist der echte Drake fast genauso wie der Fernseh-Drake. Höchstens ein bisschen schüchterner. Er sagt uns allen Hallo, dann übernimmt sein Team die Regie.

Eine Frau in magenta-rotem Samthosenanzug stellt sich als Bianca vor und präsentiert uns ihre Leute. »Und wer von euch ist Sydney?«, erkundigt sie sich. »Ich habe schon mit deiner Mutter über das Honorar für den Dreh hier gesprochen.«

Schweigen. Ich gucke Beau an. Der guckt mich an. Cami guckt Tucker an, Tucker guckt Gwen an.

»Sie ist nicht da«, erwidert Tucker schließlich. »Sie fühlt sich nicht so gut.«

»Na schön«, erwidert Bianca. »Wer ist dann zuständig?«

Wieder schweigen alle, bis Cami mit erhobenem Kopf hervortritt. »Das wäre dann wohl ich.« Sie streckt Bianca die Hand hin. »Ich bin Cami. Ich habe die Choreo für diesen Tanz entworfen.«

Drakes neue Single ist letzte Woche rausgekommen und der Besuch hier ist Teil seiner Promo. Wir wollen eine einminütige Tanzsequenz zu dem Song filmen und hoffen, dass wir so den nächsten viralen Hit generieren und zugleich die Single promoten.

»Sydney wollte ja gerne im Foyer drehen, aber unten am Pool ist das Licht viel besser«, schlägt Cami vor.

Also trotten alle über den zu beiden Seiten von Grün gerahmten schmalen Pfad zum Pool. Cami und Bianca laufen vorneweg und unterhalten sich über die Interaktionsrate pro Posting und Google Analytics.

Auf einmal hält Bianca ihr Handy hoch, streckt es scheinbar den Bäumen über uns entgegen. »Ich kriege irgendwie kein Signal«, moniert sie.

»Oh, das wollte ich euch noch sagen: Weil wir so nah am Meer sind, gibt es hier kein Netz«, erklärt Sami. »Aber ich kann euch ins WLAN einloggen.«

»Ihr produziert hier Content und habt keinen Handyempfang?« Bianca lächelt trocken, reicht Cami aber ihr Smartphone.

»Glaub mir, ich habe ähnlich reagiert, als wir eingezogen sind. Sydney hatte zufällig vergessen, das zu erwähnen«, erklärt Cami, während sie lachend das Passwort eintippt.

Jetzt macht sie Witze darüber, aber damals gab es Mega-Ärger.

»Alles kein Problem«, versichert Cami. »Wir haben ein superstarkes WLAN, es deckt das gesamte Grundstück ab. Man kann sogar ein paar Schritte ins Meer laufen und ist immer noch drin.«

»Wir haben das getestet, als wir mein Lay-All-Your-Love-on-Me-Video gedreht haben«, schaltet Gwen sich ein.

Cami schießt ihr einen giftigen Blick zu.

»Und? Habt ihr schon eine Chance gehabt, den neuen Song zu hören?«, fragt Drake uns andere. Er sagt das, als wäre sein neuestes Lied nicht der Nummer-1-Hit der USA.

»Klar«, antworte ich. Ich habe mir eigentlich geschworen, hier nicht auf Fangirl zu machen, aber das muss man erst mal schaffen mit dem Typen vor Augen, der Nonstop und God’s Plan gerappt hat. »Ich bin ein echt großer Fan«, schwärme ich. »Take Care war das allererste Album, das ich mir je gekauft habe. Das gesamte Album, bei iTunes.«

»Echt?«, meint Drake. »Cool.« Dann fragt er: »Wie alt seid ihr eigentlich?«

»Siebzehn.«

»Aber he, Degrassi ist meine absolute Lieblingsserie«, platzt Tucker dazwischen. »Ich hab mir das als Wiederholung reingezogen.«

Drake lacht in sich hinein. »Freut mich.«

»Degrassi?«, zischt Gwen in Richtung Tucker. »Mit so was kommst du hier?«

»Ist die Aufregung«, flüstert er zurück.

Cami dreht sich zu uns um. Sie hat die Augenbrauen hochgezogen und ihr messerscharfer Blick sagt: Reißt euch mal zusammen!

Drake tut netterweise so, als würde er unsere Nervosität nicht bemerken.

Sein Team beschließt, dass Cami recht hat mit dem Pool. Es ist nur ein bisschen zu dunkel, deswegen werden noch einzelne Strahler aufgestellt, während Cami uns durch den Tanz dirigiert. Sie hat ihn allen Hausbewohnern beigebracht und den Nichttänzern, also Beau und mir, wiederholt klargemacht, dass wir es nicht überleben, wenn wir vor Drake Mist bauen.

Bei dem springt der Funke zum Glück gleich über. »Ich find’s cool«, meint er.

Unsere knallharte Dolores Camila Villalobos de Ávila schmilzt sofort dahin. »Ach, danke. Das bedeutet mir ja so viel.« Sie kichert sogar – ein Geräusch, das ich noch nie von ihr gehört habe.

»Alles klar, dann fangen wir an. Ich möchte mehrere Auswahlmöglichkeiten«, verkündet Bianca und wedelt mit ihrem iPhone. Abgemacht ist es so: Sie suchen sich das beste Video raus, posten es in Drakes Account, und wir machen dann ein Reposting. Anschließend dürfen wir Outtakes in unseren eigenen Accounts zeigen.

Cami sagt allen, wo sie stehen sollen, und ich gehe währenddessen noch einmal die Choreo durch: rechts, links, drehen, Hüftschwung, Arm, Arm… Aber dann entdecke ich etwas aus dem Augenwinkel.

»Stopp mal kurz!« Ich hebe einen winzigen Salamander auf, der gleich neben Tuckers Sneaker in der Sonne gelegen hat. »Der kleine Kerl hier soll schließlich nicht zertrampelt werden, wenn wir anfangen zu tanzen.«

Ich gehe zu den Büschen am Poolrand und öffne die Hand. Der Salamander blinzelt mich an. »Na los«, flüstere ich. Er streckt seine kleine Hand den Blättern entgegen und muss das Grün wohl für gut befinden, denn er krabbelt auf den Zweig und verschwindet.

Als ich mich wieder umdrehe, steht Cami vor mir: die Arme über der Brust verschränkt, der Blick finster. »Echt jetzt?«, blafft sie mich an. »Sie kommt nicht von hier«, erklärt sie Drake. »Die Viecher sind absolut nicht selten oder so, die sind wie Eichhörnchen oder Tauben.«

Ich zucke nur mit den Schultern, denn es war ja gar nicht meine Annahme, dass es sich hier um eine bedrohte Art handelt.

»Ist doch richtig«, erwidert Drake. »Bei dem Dreh hier sollten keine Tiere zu Schaden kommen.« Und zu mir gebeugt fügt er hinzu: »Macht gar nichts, dass du nicht von hier bist. Ich übrigens auch nicht.«

»Du kommst aus Kanada«, zwitschert Gwen, als könnte Drake das vergessen haben.

»Stimmt.« Er nickt.

»Echt jetzt?« Cami funkelt Gwen böse an. Gleich darauf aber zeigt sie wieder ihr gewohntes profimäßiges Lächeln und wendet sich an Bianca: »Was meinst du? Sollen wir anfangen?«

Nach ein paar Durchläufen sitzt die Choreo, und nach noch zweien beschließt Cami, dass das Video nun im Kasten ist. Wir sind fertig.

»Das war toll«, lobt Bianca. »Und wo wir schon hier sind: Könnten wir noch eine Aufnahme nur mit Gwen machen?« Es soll so klingen, als wäre ihr diese Idee eben erst gekommen, aber an ihrer Schauspielkunst sollte sie noch feilen.

»Klar«, meint Gwen, lächelt zuckersüß und stellt sich noch näher zu Drake.

Der Rest macht Platz. Cami braucht am längsten, um aus dem Scheinwerferlicht zu treten. Ihr Laserblick durchbohrt Gwen. Wir filmen noch ein paar Sequenzen nur mit den beiden und alle Augen hängen an den wahren Stars des Tages: der Person mit den meisten TikTok-Followern und – na, Drake halt. Ich aber beobachte Cami. Denn während Drake und Gwen sich durch Camis Choreografie lachen und tanzen, wirkt Cami, als würde sie Gwen am liebsten ihre perfekt manikürten Finger um die Gurgel legen.

»Okay. Passt doch«, sagt Cami nach dem dritten Durchlauf. Sie bemüht sich, fröhlich zu klingen.

Bianca überprüft die Aufnahme auf ihrem Handy. »Ja, das ist gut.« Sie sieht uns an. »Danke, dass wir in diesem wunderschönen Haus drehen durften. Sagt auch Sydney herzlichen Dank.«

»Machen wir«, verspricht Cami.

Alles in allem war Drake vielleicht fünfzehn Minuten hier. Trotzdem weiß ich, dass mich meine Cousinen die nächsten zwanzig Jahre bei jedem Familienfest mit Fragen zu eben dieser Viertelstunde bestürmen werden. Als das Drehteam weg ist, geht der Abend in eine typische LitLair-Party über. Tucker lässt die Korken knallen und sprüht uns Mädchen mit Champagner an, bevor die Flasche herumgereicht wird. Und ich bin zu glücklich, um mich über ihn zu ärgern. Wir trinken direkt aus der Flasche und ballern dazu Drakes Songs durch die Lautsprecher.

Als Started from the Button dran ist, kann ich jede Zeile auswendig. Ich singe stumm mit. Den Song habe ich immer beim Joggen gehört, in Fresno. Jetzt schaue ich über unseren Pool hinweg aufs Meer und denke, was ich doch für ein verdammtes Glück habe. Dass ich hier sein kann, und zwar gerade jetzt. Dass ich eines meiner absoluten Idole treffen durfte. Dass ich mit meinen Freunden alberne Videos drehe, die mehr Geld einbringen, als ich mir je vorstellen konnte.

Als ich sehe, wie ungelenk Beau tanzt und dabei seinen Drink verschüttet, muss ich leise lachen. In mir blubbern die Champagnerperlen und das Glück des Erfolgs um die Wette.

Cami steigt aufs Sprungbrett. Sie hat eine Flasche Champagner in der Hand und tanzt mit lockeren, entspannten Moves, wobei Haltung und Rhythmusgefühl natürlich immer noch perfekt sind.

»Dolores! Du bist toll!«, rufe ich.

Dafür zeigt sie mir den Mittelfinger. Sie hasst es, mit diesem Vornamen angesprochen zu werden. Aber sie lacht. Ich werfe ihr einen Kuss zu und sie tut so, als würde sie vom Brett ins Wasser fallen, als sie ihn fangen will.

Das Lied verklingt gerade, da schaut Tucker von seinem Handy auf. »He, kommt mal!« Er dreht die Musik leiser. »Drake hat gepostet!«

Wir drängeln uns um sein Display. Auf dem sind aber nur zwei Menschen zu sehen. Vom ganzen Material haben sie nur den Ausschnitt mit Drake und Gwen ausgewählt. Die gute Laune ist dahin.

»Echt sweet«, kommentiert Gwen. Sie wirft wie nebenbei einen Blick auf den Bildschirm und geht dann zum Tisch, um sich Champagner nachzugießen. Ein Video mit Drake ist nur eine kleine Episode unter vielen in Gwen Rileys Glamourleben.

Cami, die erst vom Sprungbrett herunterklettern musste, schaut sich als Letzte an, was passiert ist. Kurz zuckt so was wie Schmerz über ihr Gesicht, dann hat sie sich wieder im Griff und tut unbeteiligt.

Sie rennt rüber zum Tisch und schnappt sich eine Flasche Patrón, nimmt einen großen Schluck und ruft uns zu: »Das war es jetzt mit dem Champagner! Ab sofort gibt es Shots!«

Sie gießt heftige Portionen in Plastikbecher und reicht diese herum.

»Bin okay mit Champagner«, winke ich ab, als sie mir einen Becher in die Hand drücken will.

»Sei kein Weichei, Kitty-Kat«, sagt sie. Den Spitznamen hat sich Beau für mich ausgedacht, die anderen benutzen ihn nur selten. Aus ihrem Mund mag ich ihn nicht hören – erst recht nicht, wenn sie so komische Laune hat. Sie funkelt mich böse an, aber ich will keinen Streit anfangen.

Cami reißt die Flasche hoch und dreht sich im Kreis, um allen zuzuprosten: »LitLair forever!« Sie kippt einen ordentlichen Schluck Tequila.

Ich starre auf meinen Becher und verziehe das Gesicht.

»Hier, zum Runterspülen.« Beau gibt mir einen Becher mit einer seltsamen bräunlichen Flüssigkeit.

Ich nippe daran. Das Zeug ist so süß, dass einem die Zähne wehtun. »Danke!« Trotz des Zuckerschocks gelingt mir ein Lächeln.

»Das ist Pfirsichwodka, AriZona-Eistee und Diet Coke. Ich mach dir auch einen.«

Ich weiß nicht, ob ich das Zeug wirklich mag, aber auf jeden Fall mag ich Beau, also nicke ich. »Ja, gern. Danke.«

Er mixt mir das seltsame Getränk und erklärt mir dabei mit dem Stolz eines Fernsehkochs alle Details: »Der Trick ist, nicht zu viel Diet Coke zu nehmen«, sagt er.

»Aha.«

Bevor ich nach Südkalifornien – das traumhafte SoCal – gezogen bin, hatte ich nur ein einziges Mal Alkohol getrunken. Das war am 4. Juli, beim Picknick zum Unabhängigkeitstag. Eine meiner älteren Cousinen hatte billigen Wodka in eine Flasche Gatorade gegossen und diesen Absturzmix mitgebracht. Wir sind dann im Schutz der Menge auf dem Festplatz rumgelaufen, damit unsere Eltern nichts mitbekommen, und haben an der Flasche genippt. Es war eine superheimliche Aktion, und als dann die Sonne unterging und das Feuerwerk anfing, hatten wir Schluckauf und mussten wie blöde kichern. Ich hatte total Angst, dass unsere Eltern merken würden, was los war. Es war ein echt lustiger Tag, aber ich war bestimmt noch eine Woche danach nervös, weil ich ständig befürchtete, meine Mutter würde mich im nächsten Moment aus heiterem Himmel zur Schnecke machen. Aber hier, in der hübschen kleinen Blase dieser Villa, gibt es keine Aufpasser. Tucker hat einen gefälschten Ausweis, und obwohl wir sämtliche Hinweise auf Alkohol verstecken, bevor wir filmen, trinken wir an den meisten Wochenenden, als wären wir Erwachsene oder zumindest Studenten. Ich bin es inzwischen absolut gewohnt, mit meinen Freunden trinken zu können, und habe fast vergessen, wie verbrecherisch ich mir letzten Sommer nach den paar Schluck aus der Gatorade-Flasche vorkam.

Im Hintergrund hört man die letzten Takte von God’s Plan, dann donnern die Anfänge von Say So aus den Outdoor-Lautsprechern.

»He, das ist doch nicht von Drake!«, beschwere ich mich. Dabei weiß ich, warum jemand das Lied auf die Playlist gesetzt hat. Unser allererstes Posting aus der Villa – mit dem wir bewiesen haben, dass dieses Experiment funktioniert und wir nicht nur Einzelpersonen mit tollen Followerzahlen sind, sondern ein Haus voller Superstars – war ein Video, in dem wir eben zu diesem Song von Doja Cat getanzt haben. Seitdem ist er der absolute Hit auf unseren Partys.

»Sydney fehlt einfach«, sagt Gwen, die am Poolrand sitzt und mit einem Bein langsame, traurige Kreise im Wasser zieht.

»Egal«, schnaubt Cami. Sie umrundet Gwen und stakst dann weiter am Pool entlang wie auf einem Schwebebalken. Dabei schwingt sie die Tequilaflasche. Der Alkohol zeigt Wirkung: Ihre Augen sind feuerrot und ihr sonst makelloses Make-up ist verschmiert. »Ich sag jetzt mal einfach, wie es ist.« Ihre Blockabsätze schlittern am Beckenrand entlang und ich befürchte schon, dass sie gleich ins Wasser fällt. »Ich bin froh, dass sie weg ist. Das denken doch alle hier, nur bin ich wieder die Einzige, die es auszusprechen wagt: Sydney ist eine elende Bitch und ich vermisse sie kein Stück!«

»Okay. Das reicht.« Tucker geht auf sie zu und entreißt ihr die Flasche. »Könntest du bitte etwas freundlicher über meine Freundin sprechen?«

»Ist sie überhaupt noch deine Freundin?«, feuert Cami zurück. »Hat sie sich denn schon bei dir gemeldet, seit sie weg ist?«

Tucker lässt die breiten Schultern fallen. Leise erwidert er: »Ich glaube, sie brauchte einfach mal Abstand von uns. Nach allem, was passiert ist.« Die beiden tauschen angespannte Blicke. Er nimmt einen Schluck von ihrem Tequila und drückt ihr die Flasche wieder in die Hand.

Dann wird ein neuer Song gespielt und Beau macht eine Arschbombe in den Pool. Cami schreit auf, als ihre Beine Spritzer abbekommen, und ist anschließend damit beschäftigt, ihr Kleid auf Flecken zu untersuchen. Und wie so oft, wenn man sich angetrunken streitet, lassen die Beteiligten sich leicht ablenken und vergessen die Angelegenheit. Fürs Erste zumindest.

Ein paar Stunden später, tief in der Nacht, als der Mond schon weit unten am Horizont steht, sitzen Beau und ich an unserem Lieblingsplatz: einem flachen Teil des Dachs, zu dem wir durch ein Fenster im Treppenhaus gelangen.

Die meisten Sterne sind von Wolken verdeckt, dennoch sieht man in der Dunkelheit das Meer schimmern. Aus Beaus lädiertem iPhone erklingen die leisen Töne von Steal Tomorrow von The Tallest Man on Earth.

Der Wind hat etwas zugenommen und streicht mir sanft durch die Haare. Unten rauschen die Wellen nun schneller an den Strand.

»Wollen wir morgen surfen?«, fragt Beau. »Sieht aus, als wäre es das passende Wetter.«

»Klar.« Ich nicke schläfrig.

Beaus Handy plingt und unterbricht das Lied. Er schaut aufs Display, und obwohl es so dunkel ist, sehe ich, wie seine Wangen sich röten.

»Was ist?« Ich beuge mich nach vorn, aber er hält sein Handy an die Brust, damit ich nichts erkennen kann.

Ich zucke zusammen. Schreibt ihm da etwa irgendein Mädchen?

»Ach, nichts«, erklärt er. »Nur ein Kommentar zu meinem TikTok, das alle gerade liken.«

Ich kneife die Augen zusammen. Und wieso reagiert er dann so?

»Na ja … sieh mal.« Er gibt mir das Handy. Auf dem Display ist das Video geöffnet, das er zu Drakes Besuch gepostet hat: Darin stolpert er über die eigenen Füße und fällt beinahe lang hin, aber ich fasse ihn am Arm und er fängt sich wieder. Die Caption lautet: Heute mal als TikTok-Tänzer versucht. War wohl nicht so grandios …

Ich scrolle zu den Kommentaren und staune nicht schlecht, als ich die 40K Likes sehe, die der erste Beitrag erhalten hat. Da steht: Omg, wie süß die beiden, so nebeneinander! Und wie Kat ihn auffängt!!Ich bin für #Keau, oder lieber #Bat? Lol was meint ihr?

Meine Wangen beginnen zu glühen. Deswegen war er so komisch. Beau und ich haben uns noch nie darüber unterhalten, was die Welt da draußen über uns beide denkt.

Ich hebe den Kopf und merke, dass er mir fest in die Augen blickt. »Und, was meinst du?«, fragt er.

»Wozu? Ob wir uns Bat nennen sollen?«

Er lächelt, aber sein Blick wirkt nervös, nicht belustigt. »Nein, ich meine … okay … was soll ich sagen?« Er wendet sich ab und dreht an einem der Armbänder an seinem Handgelenk. »Ist schon seltsam. Eigentlich finde ich, dass ich mit dir über alles reden kann. Und das ist mir mit sonst noch niemandem passiert.« Er sieht mich an. »Ich kenne dich erst seit ein paar Monaten, aber du bist der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich das Gefühl habe, dass ich ihm komplett vertrauen kann.« Mir wird warm und kalt zugleich. Beau spricht nie über seine Familie, aber ich weiß, dass da manches mies läuft. Ich freue mich, dass er mir vertraut, und gleichzeitig macht es mich traurig, dass ich offenbar der einzige Mensch bin, bei dem das so ist. Beau verdient es, genau dasselbe gute Gefühl zu haben, das er bei allen anderen hervorrufen kann, die ihm begegnen.

»Aber in diesem besonderen Fall ist es total seltsam«, erklärt er. »Mir geht da etwas durch den Kopf, und anscheinend fragt sich die gesamte Online-Welt genau das Gleiche, aber der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden möchte, nämlich meine beste Freundin, ist eben die Person, mit der ich so gar nicht darüber reden kann«, erklärt er umständlich und vermeidet es, mir dabei in die Augen zu sehen.

Mir wird ganz flau. Ich habe keine Ahnung, was er mir sagen will, aber es könnte sein, dass er da was klarstellen will. Dass er gemerkt hat, was ich für ihn empfinde, und mir mitteilen möchte, dass es ihm nicht so geht.

»Ist halt schwer«, redet er weiter. »Wie soll man jemanden um Rat fragen, was man tun soll, wenn man verliebt ist, wenn es genau diese Person ist, in die man verliebt ist?« Er schaut Richtung Meer und fährt sich mit beiden Händen durch sein strubbeliges Haar. »Ich meine, es ist so, dass …«

Ich lege ihm die Hand an die Wange, drehe seinen Kopf in meine Richtung und küsse ihn.

Überrascht hält er den Atem an. Aber dann geben seine Lippen nach und er erwidert den Kuss. Seine Hand berührt meine Hüfte und die Wärme seiner Haut sickert durch den dünnen Stoff meines Kleids.

Mein Herz klopft wie wild. Es ist, als hätte sich die Welt um uns herum verlangsamt.

Beau löst seine Lippen, lächelt mich an und lehnt seine Stirn an meine. »Genau das wünsche ich mir seit dem Tag, an dem ich dich kennengelernt habe.«

Ich lächle zurück. »Wenn ich es dir überlassen hätte, wäre es noch drei Monate so weitergegangen.«

Er lacht und spielt mit einer meiner Zopfspitzen. Ich schaue in seine meergrünen Augen und zittere.

»Es wird langsam kalt.« Er streicht über meinen nackten Arm. »Komm, wir gehen rein.«

Ich nicke, obwohl ich gar nicht wegen der Kälte gezittert habe.

Beau klettert zuerst nach unten und schiebt sich von der Dachkante in die darunterliegende Fensteröffnung. Genau diese Bewegung habe ich unzählige Male vollführt, seit Beau und ich diesen Ort kurz nach unserem Einzug entdeckt haben. Ich bin inzwischen fast nüchtern, also wird es wohl auch dieses Mal klappen. Ich hänge die Beine über die Dachkante und taste mit den Füßen nach dem Fensterbrett. Mein rechter Schuh setzt auf, und ich will gerade den linken dazuholen, als –

Donner grollt und ein Blitz schlägt hinter mir ins Meer ein.

Ich schreie auf, mein linker Schuh rutscht vom Fensterbrett. Mein Fuß hängt in der Luft. Beau streckt die Arme nach mir aus und umklammert meine Hüften. Ich kann den Fensterrahmen packen und halte mich zu Tode erschrocken daran fest.

Beau zieht mich ins Haus. »Alles in Ordnung?« Er drückt mich fest an sich.

»Ja, alles gut«, antworte ich in sein weiches T-Shirt. Das Adrenalin pocht in meinen Adern. Ich habe mir die Handflächen aufgeschürft, spüre dank des Schocks aber keinen Schmerz. Ansonsten ist mir nichts passiert. Ich versuche mich zu beruhigen: Ich habe mir nichts getan, ich bin in Sicherheit. Hier, in Beaus Armen.

»Meine Vans haben überhaupt keinen Grip mehr«, erkläre ich außer Atem. »Ich muss mir unbedingt neue besorgen.«

Beau lacht erleichtert und streicht mir mit einer Hand über den Rücken.

Wir sind so vertieft in diesen Moment, dass wir erst gar nicht merken, wie ein Schatten aus Sydneys Zimmer tritt.

»Du bist zurück?« Sie zuckt zusammen, als ich sie anspreche. Da flammt noch ein Blitz auf, und als sein Licht durchs Fenster fällt, schimmern die blonden Haare des Mädchens.

»Gwen?«, frage ich verwundert.

Gwens sonst rosige Wangen sind totenbleich. Das letzte Mal habe ich sie in einem so bemitleidenswerten Zustand erlebt, als Kylie Jenner ihr auf Instagram entfolgt ist.

»Was machst du hier?«, frage ich. Mein Blick zuckt zu der verschlossenen Tür hinter ihr.

»Ich hab mir nur … was ausgeliehen«, erwidert sie. Sie guckt auf ihre leeren Hände und nimmt sie schnell hinter den Rücken.

Ich lege ungläubig den Kopf schief.

»Um zwei Uhr nachts?«, fragt Beau.

»Was genau hast du dir denn ausgeliehen?«, bohre ich nach.

»Äh… na schön.« Sie stößt einen übertriebenen Seufzer aus und lässt die Arme fallen. »Ich brauchte eine Binde, okay? Und ich weiß, wo Sydney ihren Vorrat hat.« Sie sieht Beau an und erklärt: »Ich habe sie gleich im Bad eingeklebt.«

»Oh. Alles klar.« Beaus Gesicht wird knallrot. »Gute Nacht dann, Gwen.«

»Nacht! Schlaft schön.« Sie tänzelt zurück zu ihrem Zimmer.

»Ja, Gute Nacht«, wünsche auch ich. Beau nimmt meine Hand und wir eilen über den Flur davon. Doch ich sehe mich noch mal zu Gwen um: Beau hat ihr das mit der Binde ja sofort abgekauft, aber ich weiß ziemlich sicher, dass Gwen erst vor zwei Wochen ihre Periode hatte. Sie hat sich nämlich einen Tampon von mir geliehen, als wir gerade in einem dreistündigen Meet and Greet festsaßen.

Vor meiner Tür bleibt Beau stehen und spielt mit den Enden meines neuen Armbands. Im Halbdunkel werfen seine Wimpern lange Schatten auf seine Wangen. »Bis morgen dann«, flüstert er.

Und küsst mich noch einmal.

Ich schwebe wie auf einer Wolke in mein Zimmer. Beau mag mich. Beau hat mich geküsst. Ich nehme meine Kopfhörer von der Kommode und suche mir die heftigsten Liebeslieder raus, die ich kenne. Denn jetzt gerade wirken sie überhaupt nicht übertrieben, sondern absolut wahr.

Ich lasse mich in Klamotten aufs Bett fallen, höre Death Cab for Cutie und spule diese Nacht in meinem Kopf immer wieder ab. Ich lächle, bis mir das Gesicht wehtut. Ich starre an die Zimmerdecke. Es ist dunkel, nur der Pool unten schimmert bläulich durchs Fenster. Eins weiß ich jetzt ganz sicher: Auf keinen Fall werde ich in ein paar Wochen nach Fresno zurückkehren. Denn mein Leben spielt sich hier ab.

Bevor ich mich endgültig schlafen lege, ziehe ich die Vorhänge zu, damit die Poolbeleuchtung mich später nicht weckt. Der Regen hat aufgehört, am Himmel linsen die Sterne hinter den Wolken hervor.

Der Abend glüht noch in mir nach, ich schlafe total selig. Nur gegen drei werde ich wach, weil ich einen vereinzelten Donnerschlag höre.

Noch ein Gewitter