Debbie Macomber - Das Leuchten des Augenblicks - 4 Kurzgeschichten - Debbie Macomber - E-Book
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Debbie Macomber

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Beschreibung

HOCHZEIT WÄRE DIE LÖSUNG

Wann begreift die hübsche Julia endlich, dass Alek Berinski sie nicht nur geheiratet hat, um in den Staaten bleiben zu können? Mit einem glühenden Kuss versucht er es der zarten Schönheit klarzumachen – doch sie ist verwirrt. Wird Julia je verstehen, wie sehr er sie begehrt?

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Seitenzahl: 804

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Impressum

MIRA Taschenbuch Copyright © 2018 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH Titel der amerikanischen Originalausgaben: "Groom Wanted" Copyright © 1993 by Debbie Macomber erschienen bei: Silhouette Books, Toronto "Baby Blessed" Copyright © by Debbie Macomber erschienen bei: Silhouette Books, Toronto "Bride Wanted" Copyright © 1993 by Debbie Macomber erschienen bei: Silhouette Books, Toronto "Same Time, Next Year" Copyright © 1995 by Debbie Macomber erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with Harlequin Enterprises II B.V./SARL www.mira-taschenbuch.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

Debbie Macomber

Debbie Macomber - Das Leuchten des Augenblicks - 4 Kurzgeschichten

1. KAPITEL

Julia Conrad war selbst in besten Zeiten keine geduldige Frau, und die Zeiten waren düster. Rastlos ging sie in ihrem Büro auf und ab und umkreiste immer wieder den Schreibtisch. Sie fühlte sich so hilflos. Sie hätte persönlich mit Jerry zur Einwanderungsbehörde gehen sollen, anstatt die Entscheidung abzuwarten.

Aber sie war mit den Nerven am Ende, und die Beamten hätten das sofort bemerkt. Julia hatte allen Grund zur Besorgnis. Das Schicksal der Firma hing vom Ergebnis der heutigen Anhörung ab. Und sie war letztlich für alles verantwortlich.

Um sich zu beruhigen, sah sie aus dem Fenster des Gebäudes, das ihr Großvater dreißig Jahre zuvor erbaut hatte. Das Wetter schien ihre Stimmung widerzuspiegeln. Der Donner klang wie ein zorniger Grizzlybär, und als es blitzte, flackerten die Lichter im Raum.

Julia konnte sich in der Fensterscheibe sehen. Äußerlich war alles wie sonst. Das dunkle Haar war nach hinten gekämmt und wurde von einer goldenen Spange gehalten. Das schwarze Kostüm verriet exzellenten Geschmack. Sie wirkte gelassen und ruhig. Aber eben nur äußerlich. Innerlich war sie voller Anspannung. Sie war siebenundzwanzig, und wenn sie lächelte, wurde ihr hübsches Gesicht noch attraktiver. Aber in letzter Zeit hatte sie nicht sehr oft gelächelt. Genauer gesagt, seit drei Jahren. Und ihre Augen verrieten es. Schmerz und Verletzlichkeit waren deutlich in ihrem Blick zu erkennen.

Ihr Anblick betrübte sie, und Julia drehte sich hastig um. Sie war entschlossen, die Firma wieder auf die Beine zu bringen. Ihr Bruder Jerry half ihr dabei und opferte wie sie sein Privatleben. Sie hatten einige Erfolge erzielt. Und jetzt dies.

Julia war es ihrem Vater schuldig, Conrad Industries zu retten, und ihr Bruder setzte großes Vertrauen in sie. Sie wollte ihm unbedingt beweisen, dass sie es verdiente, aber dazu musste sie einen kühlen Kopf behalten. Zwei Jahre aufwendiger Forschung drohten umsonst gewesen zu sein, weil sie das Wohl und Wehe der Firma von den Ideen und Experimenten eines einzigen Mannes abhängig gemacht hatten.

Aleksandr Berinski war ein brillanter Biochemiker. Jerry hatte ihn vor Jahren auf einer Europareise kennengelernt und Julia davon überzeugt, dass dieser Mann die Antwort auf ihre Probleme war. Rückblickend fand Julia, dass ihr Bruder recht behalten hatte. Aleks Ideen würden die Farbindustrie bald revolutionieren. Ihn in die Vereinigten Staaten einzuladen war ein kühner Schritt gewesen, aber sie hatte ihn noch nie bereut. Nicht eine Sekunde.

Aleksandr Berinski von Prushkin, einem kleinen Staat, der einmal zum großen sowjetischen Imperium gehört hatte, auszuleihen und nach Seattle zu holen war riskant – das größte Risiko, das Conrad Industries je eingegangen war. Denn jetzt lag das Schicksal der Firma in den Händen eines unerbittlichen Beamten der Einwanderungsbehörde.

Julia hatte alles getan, um Aleksandrs Visum verlängert zu bekommen. Sie hatte in einem Brief erklärt, wie wichtig er für die Firma war. Sie hatte Dokumente beigefügt, die bewiesen, dass Aleksandr Berinski ein angesehener Wissenschaftler war. Jerry, ein verdammt guter Wirtschaftsanwalt, hatte Wochen mit der Vorbereitung ihres Antrags verbracht. Aber er hatte sie gewarnt. Es konnte Probleme geben, denn Aleksandrs Aufenthaltsgenehmigung war vom Typ H-2. Und ein H-2-Visum galt nur für eine vorübergehende Beschäftigung. Außerdem war sein Fall an einen besonders strengen Beamten geraten. Und der konnte durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass man für Aleksandr eine befristete Aufenthaltsgenehmigung beantragt hatte, obwohl die Geschwister von Anfang an vorgehabt hatten, ihn auf Dauer zu beschäftigen.

Julia sah auf die Uhr. Erst wenige Minuten waren vergangen. Sie ärgerte sich über ihre Ungeduld und setzte sich in den weißen Ledersessel. Auf dem schwarzen Schreibtisch war alles ordentlich arrangiert, denn sie hatte gern alles unter Kontrolle.

Als das Telefon läutete, zuckte sie zusammen. Sie griff nach dem Hörer. Das konnte nur Jerry sein.

„Hallo, Schwesterherz“, meldete er sich. „Ich rufe vom Wagen aus an. Ich fürchte, es ist nicht so gut gelaufen, wie wir gehofft haben. Die Behörde weigert sich, Aleks Visum zu erneuern.“

Julia fühlte sich, als hätte sie einen Tritt in den Magen bekommen. Sie schloss die Augen. Warum war sie so entsetzt? Ihr Bruder hatte sie doch gewarnt. Aleksandr konnte keinen festen Wohnsitz in Prushkin mehr nachweisen, und für die Behörde war das der Beweis, dass er für immer in den USA bleiben wollte.

„Wann muss er ausreisen?“

„Bis Ende der Woche. Dann läuft sein bisheriges Visum ab.“

„So schnell?“

„Ja.“

„Jerry, was sollen wir tun?“, fragte sie verzweifelt.

„Darüber reden wir, wenn ich wieder im Büro bin“, sagte ihr Bruder beruhigend. „Keine Sorge, ich habe einen Notplan.“

Wie nett von ihm, dass er es jetzt schon erwähnt, dachte Julia. Er hätte ihr schlimme Stunden erspart, wenn er am Morgen damit herausgerückt wäre.

Keine zehn Minuten später kündigte ihre Sekretärin Jerry an.

Julia stand am Fenster, als er mit Aleksandr Berinski eintrat. Obwohl Aleksandr seit fast zwei Jahren für Conrad Industries arbeitete, hatte sie ihn nur ein paarmal gesehen. Aber sie las seine wöchentlichen Berichte und war begeistert, welche Fortschritte seine Arbeit machte. Zweifellos würden die Ergebnisse Conrad Industries wieder eine solide finanzielle Grundlage verschaffen.

Die Farbenserie, die Aleksandr entwickelte, sollte Phoenix heißen, weil sie und Jerry das Familienunternehmen buchstäblich aus der Asche gerettet hatten. So dicht vor dem Erfolg zu stehen und in letzter Minute zu scheitern war mehr, als Julia ertragen konnte.

Drei Jahre lang kämpfte sie jetzt schon ums Überleben. Dass sie so hart und manchmal sogar rücksichtlos sein konnte, war Roger Stanhope zu verdanken. Aber wenn Aleksandr nach Prushkin zurück musste, war alles umsonst gewesen.

Das Ende der Firma wäre auch das Ende für ihre Großmutter. Niemand wusste besser als Julia, wie angegriffen Ruths Gesundheit seit einigen Monaten war.

„Du sagtest, du hättest einen Notplan“, sagte sie zu Jerry und ging an den Schreibtisch zurück. Als sie sich interessiert vorbeugte, sah Aleksandr sie an.

Hastig wich sie seinem Blick aus. Der Mann irritierte sie auf eine Weise, die sie nicht verstand. Er war groß, schlank und besaß perfekte Manieren. Sein Gesicht war nicht hübsch wie Rogers, sondern eher hager und ausdrucksstark. Die dunklen Augen verrieten Entschlossenheit und charakterliche Stärke. Er lächelte, als Julia ihn fragend anschaute. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf Jerry.

„Es gäbe da eine Möglichkeit …“, sagte er.

„Red nicht herum. Heraus damit“, verlangte sie verärgert. Jerry wusste genau, wie kritisch die Lage war.

Ihr Bruder stellte den Aktenkoffer ab und zeigte auf den Sessel. „Vielleicht solltest du dich besser hinsetzen.“

„Wozu?“, fragte sie erstaunt.

„Sie auch, Aleksandr“, riet Jerry und ging ans Fenster.

„Nun sag schon“, forderte Julia ihn auf, als er schwieg.

Jerry ließ seinen Blick von Julia zu Aleksandr wandern, und sie bemerkte, dass seine Wangen gerötet waren. „Es gibt nur einen legalen Weg, Aleksandr hierzubehalten“, sagte er und sah Julia ernst an. „Du müsstest ihn heiraten.“

„Ich hatte gehofft, dass du mich besuchen würdest“, sagte Ruth Conrad, Julias Großmutter, leise und streckte die Hand aus. Sie saß im Bett, blass und mit streng zurückgekämmtem Haar. Nur die Augen verrieten noch einen Hauch ihrer früheren Schönheit. Aber jetzt wurde sie von Tag zu Tag schwächer.

Julias kühle Fassade fiel sofort von ihr ab, wenn sie mit ihrer geliebten Großmutter sprach. Sie setzte sich in den Sessel neben dem alten Messingbett, streifte die Schuhe ab und zog die Beine unter den Körper.

Wann immer sie Ruth besuchte, konnte sie die chaotische Welt draußen lassen. Hier fand sie Ruhe und Ausgeglichenheit. Selbst das Unwetter, das über der Stadt tobte, schien weit weg zu sein.

„Der Donner hat mich geweckt“, sagte Ruth und lächelte matt. „Ich habe Charles die Vorhänge aufziehen lassen. Die Wolken zogen vorbei wie riesige Rauchpilze. Es sah großartig aus.“

Julia nahm die Hand ihrer Großmutter und sah sich in dem Zimmer um, in dem Ruth ihre Schätze um sich gesammelt hatte. Auf dem Nachttisch standen neben den Medikamenten mehrere Fotos in silbernen Rahmen. Über der Lehne des antiken, mit Chintz bezogenen Ohrensessels lag die warme Wolldecke, in die Ruth sich hüllte, wenn sie sich wohl genug fühlte, um das Bett zu verlassen. Auf dem runden Tisch daneben befand sich ein Foto, das kurz nach dem College-Abschluss von Julia gemacht worden war. Wie naiv und unschuldig ich damals wirkte, dachte sie.

„Es ist schön, dass du gekommen bist“, sagte Ruth.

Julia kam fast jeden Tag, denn sie wusste, dass die Zeit, die ihr mit ihrer Großmutter blieb, bemessen war. Sie hatte mit ihr über die Firma und ihre Pläne, sie mit Aleks Hilfe zu retten, gesprochen. Ruth hatte Alek unbedingt kennenlernen wollen, und als Jerry ihr den russischen Wissenschaftler vorstellte, hatten die beiden sich hervorragend verstanden.

„Ich möchte nämlich mit dir reden“, flüsterte Ruth.

Wie schwach sie klang. „Ruh dich aus“, erwiderte Julia. „Wir reden später.“

„Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Julia. Höchstens ein paar Wochen …“

„Unsinn. Du bist nur müde. Bald geht es dir wieder besser“, sagte Julia aufmunternd, obwohl sie selbst nicht daran glaubte.

Ruth fielen die Augen zu, aber sie öffnete sie wieder. „Wir müssen über Roger reden“, sagte sie leise, aber eindringlich.

Julia lief es kalt den Rücken herunter. „Nicht … jetzt.“

„Doch.“

„Großmutter, bitte …“

„Er hat dich verraten, Kind, und du trauerst noch immer. Der Schmerz wird dich noch umbringen. So, wie mein altes Herz mich.“

„Ich denke gar nicht mehr an ihn“, versicherte Julia, obwohl es eine Lüge war. Sie versuchte, ihn zu vergessen, aber das würde sie wohl erst schaffen, wenn die Wunden verheilt waren, die er ihr geschlagen hatte.

„Die Trauer vergiftet dich … Ich war zu schwach … um dir darüber hinwegzuhelfen.“

„Bitte, Grandma. Ich habe Roger seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Wozu sollen wir jetzt über ihn sprechen?“, fragte Julia.

„Er hat dich im Stich gelassen.“

Julia biss die Zähne zusammen. Das war noch milde formuliert. Roger hatte sie nicht nur im Stich gelassen, er hatte sie verraten, betrogen und verlassen. Wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihn geliebt und ihm vertraut hatte, wurde ihr fast übel vor Enttäuschung. Nie wieder würde sie ein Mann in ihr Herz schließen und ihm die Macht geben, sie zu manipulieren.

„Es ist an der Zeit, ihm zu verzeihen“, sagte Ruth.

Julia schüttelte den Kopf. Ihre Großmutter verlangte etwas Unmögliches. Was Roger getan hatte, war unverzeihlich. Und nicht zu vergessen. Roger hatte ihr die wichtigste Lektion ihres Lebens erteilt. Eher würde sie sich in ihrer Arbeit vergraben und nie wieder lieben, als Roger zu vergeben.

In vielerlei Hinsicht hatte sie das bereits getan.

„Ich möchte, dass du wieder liebst.“ Ruth sprach so leise, dass Julia sie kaum noch hörte. „Ich werde nicht in Frieden sterben können, wenn ich weiß, wie schlecht du dich fühlst.“

„Großmutter, wie kannst du so etwas sagen? Jerry und ich arbeiten hart, um die Firma wieder aufzubauen. Wir stehen kurz vor dem Erfolg. Ich habe dir doch erzählt, was Aleksandr schon alles geschafft hat. Wie kannst du sagen … dass ich mich schlecht fühle? Dies ist die größte Herausforderung meines Lebens.“

„Was bedeutet das schon, wenn deine Vergangenheit so schmerzt, dass sie dich lähmt? Ich habe all diese Jahre darauf gewartet, dass du dich davon frei machst und wieder eine Liebe findest …“ Sie zögerte, und ihre Augen wurden feucht. „Ich möchte, dass du heiratest und so glücklich wirst, wie ich es war. Das ist das Einzige, das mich noch am Leben hält.“

„Ich werde nie wieder fähig sein, einem Mann zu vertrauen.“

„Das musst du aber … deinetwegen“, sagte Ruth beschwörend.

„Ich kann nicht. Nicht nach dem, was Roger mir angetan hat. Das musst du doch verstehen …“

Ruth schüttelte den Kopf und hob beschwörend die Hände. „Ich habe den Tag herbeigesehnt, an dem du mir den Mann vorstellst, den du liebst. Ich habe gehofft, dass dieser Mann Aleksandr sein würde … er ist ein so guter, so brillanter Mensch. Aber … ich kann nicht mehr warten. Meine Zeit geht zu Ende.“ Sie schloss die Augen, und ihr Kopf fiel nach vorn.

Julia betrachtete sie schweigend. Sich noch einmal verlieben? Unmöglich. Sie weigerte sich, auch nur daran zu denken.

Heiraten. Alek.

Das war heute schon das zweite Mal, dass sie diesen Vorschlag hörte. Erst von Jerry als Lösung ihres Problems mit der Einwanderungsbehörde, jetzt von ihrer Großmutter als Heilmittel gegen ihren Schmerz.

Julia stand auf. Ruth war eingeschlafen. Die Großmutter, die sie immer geliebt und selbst dann zu ihr gehalten hatte, als die ganze Welt um sie herum zu zerfallen drohte.

Sie dachte, wie sie als kleines Mädchen zu Ruth ins Bett geschlüpft war, als ein heftiges Gewitter ihr Angst gemacht hatte. Diese Geborgenheit hatte sie bei Ruth auch später immer gefunden. Aber bald würde sie den Menschen verlieren, der ihr immer alles gegeben und nie etwas von ihr verlangt hatte. Julia wusste nicht, ob sie ihrer Großmutter diese letzte Bitte abschlagen konnte.

Als Julia ihn bat, zu ihr zu kommen, war Aleksandr nicht überrascht. Seit der Szene in ihrem Büro hatte er auf die Einladung gewartet. Trotzdem würde er Julia Conrad nie verstehen. Sie war eine Frau mit einem Eispanzer um sich und Narben auf der Seele. Das hatte er gleich gesehen. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart nicht wohl und vermied jeden Blickkontakt mit ihm. Wahrscheinlich merkte sie, dass er sie durchschaute und den tiefen Schmerz hinter der selbstsicheren Fassade wahrnahm.

Julias Sekretärin führte ihn zu ihr. Sie saß am Schreibtisch und sah lächelnd hoch, als er eintrat.

„Bitte, setzen Sie sich“, sagte sie förmlich. „Ich hoffe, ich halte Sie nicht von der Arbeit ab.“

„Für Sie bin ich nie zu beschäftigt, Miss Conrad“, erwiderte er.

Ihre Schönheit war so makellos, dass er immer wieder fasziniert von dieser Frau war.

„Ich dachte, wir sollten uns einmal unterhalten“, sagte sie.

„Über meine Arbeit?“

Sie antwortete nicht, sondern stand auf und ging dorthin, wo der Schatten es ihm erschwerte, ihre Miene zu deuten.

„Erzählen Sie mir, was Ihre Experimente machen“, bat sie, die Hände auf dem Rücken. Sie glich einem Anwalt, der nervös vor den Geschworenen stand.

Aleksandr wusste, dass Julia seine wöchentlichen Berichte sorgfältig las. Trotzdem kam er ihrer Bitte nach. Die Farbzusätze, die er für Conrad Industries entwickelte, bargen erstaunliche Möglichkeiten. Mit ihrer Hilfe brauchte eine gestrichene Oberfläche nur mit einer ebenfalls von Conrad produzierten Lösung abgewaschen zu werden, um mit neuer Farbe versehen zu werden. Das Verfahren funktionierte in den verschiedensten Bereichen, von Hausfassaden über Autos bis zu Gartenmöbeln.

Seine zweite Erfindung bestand aus einer chemischen Verbindung, mit der sich alte Farbe mühelos, ohne Abkratzen oder Erhitzen entfernen ließ. Und zwar ohne die schädlichen Auswirkungen, die die bisherigen Mittel auf die Umwelt hatten.

Aleksandr beschrieb Julia seine Experimente. Er bedauerte sehr, dass er nicht bei Conrad Industries bleiben konnte, bis die Produkte auf den Markt kamen, aber es ließ sich nicht ändern.

„Also stehen Sie kurz vor dem Durchbruch“, folgerte sie.

„Wenige Monate.“

Überrascht und erfreut zog sie die schmalen Augenbrauen hoch, aber ihre Miene wurde sofort wieder kühl, als sie den kurzen Blickkontakt abbrach. Aleksandr fragte sich, wie viele Männerherzen Julia wohl schon gebrochen hatte. Sie gab sich unnahbar, unberührbar, als eine Frau, von der die meisten Männer nur träumen durften.

„Aleksandr.“ Sie sprach seinen Vornamen mit einer lässigen Vertrautheit aus, obwohl sie ihn noch nie so angeredet hatte. „Wie Sie wissen … haben wir ein Problem.“ Sie ging zu ihm. „Wir sind zu kurz vor dem Erfolg, um jetzt alles zu verlieren. Ich darf es nicht zulassen. Mein Bruder hat eine Lösung vorgeschlagen.“

Aleksandr traute seinen Ohren nicht. Sie dachte doch nicht etwa ernsthaft daran, ihn zu heiraten?

„Ich habe über Jerrys Vorschlag nachgedacht“, fuhr sie mit schüchterner Stimme fort. Sie sah ihn über die Schulter an, während sie zum Schreibtisch zurückging. „Wie es aussieht, ist eine Heirat tatsächlich unsere einzige Chance.“

Er ließ sich nicht täuschen. Julia Conrad war viel zu stolz und selbstbewusst, um die Rolle glaubwürdig zu spielen.

„Natürlich würden wir Sie für Ihre … Hilfe angemessen entschädigen. Wir würden Ihr jetziges Gehalt verdoppeln“, bot sie an. „Natürlich wäre es keine richtige Heirat. Wenn Sie die Arbeit hier beendet haben, würde es eine diskrete Scheidung geben. Wenn Sie einverstanden sind, lasse ich Jerry einen entsprechenden Vertrag aufsetzen.“

Aleksandr war überzeugt, dass Julia jede andere Lösung vorgezogen hätte, doch leider gab es keine. Nur deshalb war sie zu einer Scheinehe bereit, gefolgt von einer Scheidung in aller Stille.

Dass sie ihn mit Geld bestechen wollte, störte ihn. Er verdiente schon jetzt weit mehr, als er in Prushkin jemals bekommen hätte. Das meiste davon schickte er seiner Familie. Er selbst lebte so sparsam wie möglich.

„Ich weiß, dass Ihre Familie noch in Prushkin lebt“, sagte sie. „Wenn wir … unseren Plan in die Tat umsetzen, könnten wir ihr vielleicht helfen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.“ Er antwortete nicht. „Falls Sie das möchten … Möchten Sie das?“, fragte sie.

„Meine Schwester ist verwitwet und lebt bei meiner Mutter.“ Er stand auf, ging ans Fenster und kehrte ihr den Rücken zu. Am liebsten hätte er Julia Conrad in den Arm genommen. Sie wirkte arrogant und abweisend, aber vor ihm konnte sie ihre Widersprüchlichkeit nicht verbergen. Hinter der kühlen Maske steckte eine Frau, die sich um ihre Mitarbeiter sorgte und manchmal fast zu großzügig war. Kurz nach seiner Ankunft hier hatte er gesehen, wie sie ihre Großmutter durch die wiedererrichteten Firmengebäude führte. Sie hatte vor Stolz und Freude gestrahlt, und dieses Bild hatte er bis heute nicht vergessen.

Heirat. Er seufzte innerlich. Seine Religion ließ eine Scheidung nicht zu, und er wehrte sich dagegen, sein Leben und sein Glück geschäftlichen Belangen zu opfern.

„Ich wünschte, Sie würden etwas sagen“, meinte sie.

Er nahm wieder Platz. „Es gibt eine Menge zu bedenken, bevor wir eine solche Vereinbarung treffen.“

„Natürlich.“

„Ihr Geld interessiert mich nicht.“

Das schien sie zu erstaunen. „Nicht einmal dann, wenn es Ihrer Familie zugutekäme?“

„Nicht einmal dann.“ Was er jetzt verdiente, war absolut ausreichend. Julia war nicht die Einzige, die Stolz besaß. Alek ließ sich nicht kaufen. Sie, eine Frau, die niemanden brauchte, brauchte ihn, und er verstand, wie schwer ihr der Vorschlag gefallen sein musste. Alek war nicht ganz uneigennützig. Er hatte bereits einen Preis im Kopf.

„Was wollen Sie dann?“

Er zuckte mit den Schultern, denn er wusste nicht recht, wie er es ihr sagen sollte.

Sie stand auf, ging davon und kehrte ihm den Rücken zu. Er bewunderte ihre anmutigen geschmeidigen Bewegungen. Sie war eine selbstsichere Frau. Normalerweise. Aber im Moment war sie total verunsichert.

„Finden Sie die Vorstellung, mich zu heiraten, so erschreckend?“, fragte sie schließlich.

„Nein. Sie sind sehr hübsch.“

„Wo liegt dann das Problem?“

„Ich will kein Geld.“

„Wenn nicht Geld, was dann? Einen Anteil an der Firma? Einen Posten als Vizepräsident? Sagen Sie es mir.“ Ihr Blick war fast flehend.

„Für Sie hier in Amerika ist die Ehe etwas anderes als für uns in Prushkin. In meinem Land heiraten ein Mann und eine Frau nicht immer aus Liebe. Aber wenn wir erst verheiratet sind, bleiben wir es unser Leben lang.“

„Aber Sie sind jetzt nicht in Prushkin, sondern in Amerika“, wandte Julia ein.

„Die Amerikaner behandeln die Ehe wie Kleidung. Wenn sie unbequem wird, werfen sie sie weg. Mein Kopf sagt mir, dass ich in Ihrem Land lebe, aber mein Herz glaubt an die Tradition. Wenn wir heiraten, Julia, wird es keine Scheidung geben.“

Ihre dunklen Augen blitzten auf.

Aleksandr ignorierte den Zorn in ihrem Blick. „Ein solches Arrangement nützt uns beiden. Ich bleibe im Land und setze meine Experimente fort. Auch Sie bekommen, was Sie wollen. Aber die Sache hat einen Preis. Diese Ehe wird echt sein, oder es wird sie nicht geben.“

Ihr Blick wurde verächtlich. „Also wollen Sie nicht nur das goldene Ei, Sie wollen auch noch die Gans?“

„Die Gans?“ Aleksandr kannte das Märchen nicht. Er lächelte. „In meinem Land gibt es zur Hochzeit Gänsebraten. Von dem goldenen Ei weiß ich nichts. Das können Sie behalten. Ich will nur Sie.“

„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte sie heiser.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete, und Julia riss den Hörer von der Gabel. „Ich sagte, ich möchte nicht gestört werden“, fuhr sie ihre Sekretärin an. Dann lauschte sie. „Ja, ja, das war richtig. Stellen Sie ihn durch … Dr. Silverman, hier ist Julia Conrad. Sie haben meine Großmutter ins Virgina Mason Hospital bringen lassen?“

Alek sah, wie die eben noch wütenden Augen feucht wurden.

„Natürlich“, fuhr sie fort. „Ich werde meinen Bruder verständigen, und wir kommen so schnell wie möglich hin. Danke für Ihren Anruf.“ Sie legte auf und ging zur Tür. Aleksandr schien sie ganz vergessen zu haben.

„Ihre Großmutter ist krank?“, fragte er.

Sie drehte sich um, als wäre sie überrascht, ihn zu hören. „Ich … muss gehen. Ich glaube, es hat keinen Sinn, weiter über meinen Vorschlag zu diskutieren. Ich kann Ihre Bedingung nicht akzeptieren. Eine derartige Ehe kommt für mich nicht infrage. Ich hatte gehofft, wir würden einen Kompromiss finden, aber das scheint unmöglich zu sein.“

„Das enttäuscht mich. Sie hätten mir bestimmt prächtige Kinder geschenkt.“

Sie sah ihn an, als hätte er in der Sprache seiner Heimat geantwortet. „Kinder?“, wiederholte sie leise. Ihre Miene wurde traurig, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Traurigkeit abschütteln.

„Ich werde an Ihre Großmutter denken.“

„Danke.“ Dann drehte sie sich um und verließ das Büro.

Alek sah ihr nach. Die Haltung, die diese Frau auch in einer so schwierigen Situation bewahrte, griff ihm ans Herz. Er wünschte ihrer Großmutter Gesundheit, aber vor allem wünschte er Julia ein glückliches Leben.

Da Aleksandr wusste, dass er nur noch wenige Tage in den Staaten bleiben durfte, machte er lange Überstunden im Labor. Er fühlte sich moralisch verpflichtet, die Experimente auch weiterhin sorgfältig durchzuführen. Vielleicht würde ein anderer Wissenschaftler sie zu Ende führen können.

Im Labor war es still, und die Schritte auf dem Korridor klangen, als würde ein Squashball immer wieder gegen die Wand des Courts knallen.

Erwartungsvoll hob er den Kopf, als Julia Conrad hereinkam.

Sie war blass.

„Julia“, sagte er und stand sofort auf. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Sie starrte ihn an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen.

„Ihre Großmutter?“, fragte er leise.

Julia nickte. „Sie … sie hat einen weiteren Herzinfarkt erlitten.“

„Das tut mir leid.“

Sie blickte ihm in die Augen und schien überprüfen zu wollen, ob er das ernst meinte. Dann atmete sie tief durch und sagte entschlossen: „Ich habe es mir anders überlegt, Mr Berinski. Ich akzeptiere Ihre Bedingungen und werde Sie heiraten.“

2. KAPITEL

„Ich will keine aufwendige Hochzeit“, wehrte Julia ab. Ihr Bruder war unmöglich. „Dafür haben wir auch gar keine Zeit.“

„Julia, du hörst mir nicht zu.“

„Ich höre dir zu“, entgegnete sie scharf. „Mir gefällt nur nicht, was ich höre.“

„Ein Empfang im Four Seasons ist doch nicht zu viel verlangt.“

„Aber eine Hochzeit mit Gästen und Brautkleid ist doch einfach lächerlich! Bitte, Jerry, diese ganze Sache gerät uns langsam aus der Hand. Ich sehe ja ein, dass eine Heirat die beste Lösung ist, aber mir war nicht klar, dass ich dazu auch noch eine offizielle Hochzeitsfeier über mich ergehen lassen muss.“

Jerry machte eine hilflose Handbewegung. „Wir müssen dafür sorgen, dass es so glaubwürdig wie möglich aussieht. Offenbar begreifst du nicht, wie wichtig das ist. Außerdem ist es nicht nur die Hochzeit. Die ist nur die erste Hürde. Alles muss so wirken, als wärst du wahnsinnig in Aleksandr verliebt. Sonst nimmt die Einwanderungsbehörde die Sache nicht ab. Wenn sie uns auf die Schliche kommt … darüber will ich lieber nicht nachdenken.“

„Das hast du mir alles schon erklärt.“

„Alek muss mit dir zusammenleben.“

Das war der Teil, der Julia am meisten störte. Ihre Wohnung war der einzige Ort, an dem sie wirklich sie selbst sein konnte. „Aber warum denn?“ Sie kannte die Antwort. Sie hatte protestiert, bis Jerry die Geduld verloren hatte. Julia konnte es ihm nicht verdenken. Aber diese Heirat gestaltete sich schwieriger, als sie es sich je ausgemalt hatte.

„Warum?“, rief Jerry aufgebracht. „Ich habe versucht, es dir so einfach wie möglich zu erklären. Alek ist nicht das Problem, du bist es. Was ich nicht verstehe, Julia, ist, warum du solche Schwierigkeiten machst. Wir sind es doch, die von dieser Sache profitieren.“

„Du machst Alek ja zum Heiligen, nur weil er mich heiraten will.“

„Sagen wir mal so … Conrad Industries profitiert von dieser Verbindung weit mehr als Alek.“

„Ich habe ihm eine stattliche Belohnung angeboten“, sagte Julia.

„Du hast ihn gekränkt. Der Mann ist stolz, Julia. Er tut es nicht für Geld.“

„Warum ist er dann einverstanden?“

Jerry zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Er will seiner Familie helfen.“ Julia dachte an die Mutter und die verwitwete Schwester, die er erwähnt hatte. Als ältester Sohn fühlte er sich für sie verantwortlich. Julia hatte versprochen, ihm dabei zu helfen, seine Familie in die Vereinigten Staaten zu holen. Auch für Aleksandr ging es um einiges, und sie brauchte keineswegs das Gefühl zu haben, ihn auszunutzen.

„Ich bin ganz sicher, dass er nicht an Geld interessiert ist“, beharrte Jerry. „Als wir den Ehevertrag durchgingen, bestand er darauf, keinen Anteil an der Firma zu wollen. Wir werden mit seiner Hilfe ein Vermögen verdienen, und er will nichts davon abhaben.“

„Ich bin mit der Heirat einverstanden“, erinnerte Julia ihren Bruder. „Aber von einer Hochzeitsfeier war keine Rede. Ich dachte, wir gehen zu einem Friedensrichter und erledigen alles ganz diskret.“ Sie ging an den Schreibtisch und schlug den Terminkalender auf. „Freitag um vier würde mir passen.“

„Julia“, begann Jerry seufzend. „Sei doch nicht so schwierig. Ich habe es dir doch oft genug erklärt – die ganze Sache muss realistisch aussehen.“

„Ich bin damit einverstanden, dass Alek bei mir einzieht.“ Für Julia war das ein gewaltiges Zugeständnis. Sie wusste, dass Alek sich falsche Hoffnungen machte. Er wollte mit ihr schlafen und sie sogar schwängern. Das war natürlich vollkommen unmöglich, aber Alek verstand das nicht. Jerry auch nicht. Julia war zu wahrer Liebe unfähig, zu der vertrauensvollen Liebe, die Voraussetzung jeder Ehe war. Das war eine Folge von Rogers Verrat. Nie wieder würde sie einem Mann vertrauen. Alek erwartete von ihr, dass sie in jeder Hinsicht seine Ehefrau wurde, doch bald würde er die Wahrheit erfahren. Er würde merken, wie sehr er getäuscht worden war. Julia tat es äußerst ungern, aber ihr blieb keine andere Wahl.

Sie bewunderte ihn zwar, aber zugleich machte er sie nervös. In seiner Gegenwart kam sie sich wie nackt und ausgeliefert vor. Irgendwie schien er alles über sie zu wissen, was es zu wissen gab.

„Die Behörde wird alles über die Hochzeit wissen wollen“, fuhr Jerry fort. „Wir müssen ihr beweisen, dass du Alek aus wahrer Liebe heiratest. Eine eilige Zeremonie bei irgendeinem Friedensrichter funktioniert nicht. Die Beamten dürfen nicht merken, dass es nur eine Scheinehe ist.“

„Und ein eiliger Empfang im Four Seasons wird sie vom Gegenteil überzeugen?“

Jerry seufzte wieder. „Es sieht einfach besser aus. Ich schlage vor, du besorgst dir ein hübsches Brautkleid, während ich mit Virginia zusammen den Rest organisiere. Wir reden mit dem Partyservice und den Fotografen und sorgen dafür, dass die Einladungen persönlich überbracht werden.“

„Jerry, das ist doch verrückt!“, protestierte Julia. Die Vorstellung, sich als liebende Braut zu verkleiden, war ihr zuwider. Sie hatte auch keine Lust, irgendwelchen Fotografen die zärtliche Frau vorzuspielen. Es war einfach zu viel. „Ich schaffe es nicht“, sagte sie ernst.

„Du hast dich doch schon bereit erklärt.“

„Zur Heirat, aber nicht zu diesem … Zirkus. Nicht zu einer Show à la Hollywood.“

„Nur eine Show wird die Ermittler der Behörde täuschen. Und glaub mir, Julia, sie werden sehr genau hinsehen“, sagte Jerry.

Julia ging ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. In einem Moment der Schwäche, als sie Angst um Ruth gehabt hatte, war sie zu Alek gegangen und hatte seine Bedingungen akzeptiert. Erst am nächsten Morgen ging ihr auf, was für einen Fehler sie gemacht hatte. Aber nun war es zu spät. Alek hatte Jerry bereits angerufen, und ihr Bruder hatte alles in die Wege geleitet. Jetzt schien es kein Zurück mehr zu geben.

Die Sprechanlage summte, und dann ertönte Virginias geschäftsmäßige Stimme. „Mr Berinski ist hier.“

Julia warf ihrem Bruder einen ängstlichen Blick zu. Sie hatte Aleksandr nicht mehr gesprochen, seit sie der Heirat zugestimmt hatte.

„Julia“, drängte Jerry, als sie nicht antwortete.

„Schicken Sie ihn herein“, sagte sie, und Sekunden später ging die Tür auf. Alek kam herein. Ein verführerisches Lächeln umspielte seine Lippen.

„Guten Tag“, sagte er zu Jerry, bevor er sie ansah. „Julia.“

„Alek“, begrüßte sie ihn kühl.

Ihre unfreundliche Begrüßung schien ihn nicht zu erschüttern.

„Julia und ich sprachen gerade über die Vorbereitungen“, erklärte Jerry.

Aleks Blick ruhte auf Julias Gesicht, und sie spürte, wie sie errötete.

„Ich würde gern allein mit meiner zukünftigen Frau sprechen“, sagte Alek.

Jerry ignorierte ihren verzweifelten Blick. Er stand auf, murmelte etwas, das sie nicht verstand, und verließ den Raum.

„Sie wollen mit mir reden?“, fragte sie leise.

„Haben Sie Angst?“

Julia merkte, wie sie von Panik ergriffen wurde. Die ganze Situation war so unwirklich. Noch vor wenigen Jahren hatte sie sich darauf gefreut, eine glückliche Braut zu sein. Sie hatte davon geträumt, wie Roger ihr den Ehering überstreifte und ihr voller Liebe in die Augen blickte.

„Alle Bräute sind nervös“, sagte sie.

„Wie geht es Ihrer Großmutter?“

„Ich werde sie heute Nachmittag besuchen …“ Julia hatte mit einer Krankenschwester telefoniert und erfahren, dass Ruth eine ruhige Nacht gehabt hatte.

„Wollen Sie die Zustimmung zur Heirat zurückziehen?“, fragte Alek.

Da war ihre große Chance, serviert auf dem sprichwörtlichen Silbertablett. Sie brauchte ihm nur zu erklären, dass sie nicht gewusst hatte, was sie tat. Sie wollte es ihm sagen, aber sie konnte nicht. Noch während sie es versuchte, trat er hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern.

Dann beugte er sich vor und küsste ihren Hals. Julia erstarrte. Es war das erste Mal seit Roger, dass ein Mann sie berührte, und ihr Herz geriet in Aufruhr. Sie konnte sich nicht mehr bewegen oder auch nur atmen. Alek schien es nicht zu bemerken. Er schlang die Arme um ihre Taille und zog sie an sich. Sein Atem strich über ihren Nacken, und sie spürte eine ungewohnte Wärme in sich aufsteigen.

Alek drehte sie zu sich um. Aber ehe sie protestieren konnte, legte er die Lippen auf ihre. Julia schob ihre Hände zwischen sich und ihn und drückte mit aller Kraft gegen seinen Oberkörper, bis er sie losließ. Es war eigenartig. Sein Kuss war sanft und zärtlich gewesen, aber sie hatte das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen.

Ihre Reaktion schien Alek nicht zu erstaunen oder gar zu kränken. Sein Blick war spöttisch, als er ihr in die Augen sah. Julia hob den Handrücken an den Mund. Sie war wütend auf ihn. Er hatte sie mit Absicht geküsst, damit sie wusste, dass er sie oft küssen und berühren würde, wenn sie erst verheiratet waren. Sie sollte seine Frau werden, und er würde eine Ehe ohne Liebe, ohne Sex nicht dulden. Er begehrte sie, und er wollte, dass sie das wusste.

Was sollte sie bloß tun?

Julia stand vor der Brautmoden-Boutique und fühlte sich, als hätte sie einen längst überfälligen Termin beim Zahnarzt vor sich.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat ein.

„Guten Tag“, begrüßte die Verkäuferin sie freundlich. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich brauche ein Brautkleid. Für Freitagnachmittag.“ Julia klang nicht gerade begeistert.

„Die Hochzeit findet am kommenden Freitag statt?“

„Ich weiß, das ist kurzfristig“, erwiderte Julia verlegen. „Es ging eben alles sehr schnell.“

„Keine Sorge“, erwiderte die Verkäuferin und ging an einen Ständer. „Die Blitzhochzeiten sind oft die romantischsten.“

Julia erwiderte nichts. Die Frau war nicht nur eine Träumerin, sondern hoffnungslos sentimental. Kein Wunder, dachte sie, bei dem Job.

Vor drei Jahren war sie selbst auch so gewesen. Jung, verträumt und so verliebt, dass sie blind war.

„Ich möchte etwas Einfaches“, erklärte sie.

„Etwas Einfaches“, wiederholte die Verkäuferin.

„Je einfacher, desto besser.“

„Ich fürchte, unsere Auswahl an einfachen Kleidern ist begrenzt.“

Das hatte Julia befürchtet. „Ich meine etwas Schlichtes.“

„Schlicht und elegant?“, fragte die Verkäuferin und lächelte aufmunternd. „Davon habe ich mehrere Modelle. Wenn Sie sich diesen Ständer ansehen möchten? Wählen Sie ein Muster, das Ihnen gefällt. Ich notiere es mir, dann können Sie Ihre Größe anprobieren.“

Julia ging die Kleider rasch durch und wählte zwei aus. Keins davon gefiel ihr besonders.

„Ich probiere diese beiden an“, sagte sie.

Die Frau gab keinen Kommentar ab, sondern verschwand im Hinterzimmer. Kurz darauf kehrte sie mit zwei Kleidern in Julias Größe zurück und hängte sie in die Umkleidekabine. Sie waren so, wie die Verkäuferin es versprochen hatte: schlicht und elegant. Ein glatter Rock aus feinster Seide, Kragen und Ärmel mit Perlenbesatz. Nicht schlecht, dachte Julia.

„Nein“, sagte die Verkäuferin, als Julia im ersten Kleid aus der Kabine kam. „Das steht Ihnen nicht.“

„Es sieht doch …“

„Nein“, unterbrach die Frau. „Das andere brauchen Sie gar nicht erst anzuprobieren. Es passt nicht zu Ihnen.“

„Bitte, ich habe nicht viel Zeit.“

„Das Kleid gehört zum Wichtigsten bei jeder Hochzeit. Eine Braut muss sich an ihrem glücklichsten Tag schön fühlen.“

Julia wusste nicht, warum ihr fast die Tränen kamen, und war heilfroh, dass die Verkäuferin es nicht bemerkte. Eine Braut brauchte weit mehr als ein schönes Kleid, sie brauchte einen Mann, der sie liebte.

„Warten Sie hier“, bat die Verkäuferin Julia. Kurz darauf kam sie mit einem aufwendig verzierten Kleid zurück, das alles andere als schlicht war.

„Probieren Sie das hier an.“

„Ich … glaube, das sollte ich nicht tun“, zögerte Julia.

„Unsinn. Dieses Kleid wurde für Frauen Ihres Typs entworfen. Es ist perfekt und ist erst heute geliefert worden. Als hätte ich es für Sie bestellt.“

„Ich weiß nicht.“ Julia zögerte noch immer. Die Frau hielt das Kleid hoch. Es war wunderschön, genau das, was eine glückliche Braut tragen würde. So ein Kleid hätte sie für Roger getragen, bevor sie von seinem Verrat erfahren hatte.

Sie wollte sich weigern, aber die Verkäuferin sah aus, als duldete sie keinen Widerspruch. Julia wusste nicht, warum sie sich von einer Fremden vorschreiben ließ, was sie tragen sollte. Trotzdem probierte sie das Kleid an. Die Seide und der Taft raschelten, als es an ihr hinabglitt. Mit gesenktem Blick drehte sie sich um, damit die Verkäuferin die Perlen am Rücken durch die winzigen Schlaufen schieben konnte.

Julia hatte ein wenig Angst, in den Spiegel zu schauen. Fast erkannte sie die wunderschöne junge Frau nicht wieder, die ihr entgegensah.

Verschwunden war der verbitterte enttäuschte Ausdruck, der ihr Gesicht seit dem Tod ihres Vaters gezeichnet hatte. Der Blick war nicht mehr kühl und uninteressiert, sondern wach und warm. Julia wurde wieder zu der Frau, die sie gewesen war, bevor sie sich in Roger Stanhope verliebt hatte. Offen, vertrauensvoll, jung, ein wenig naiv.

„Perfekt“, wiederholte die Verkäuferin mit einem Seufzer. „Einfach perfekt. Das Kleid ist wie geschaffen für Sie.“

Julia wollte widersprechen, doch dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Vor einigen Tagen hatte sie sich in ihrem Bürofenster gesehen. Der Anblick hatte ihr nicht gefallen. Sie war zu einer kalten, gefühllosen, gestressten Frau geworden. Aleksandr bestand darauf, dass es keine Scheidung geben würde. Wozu auch? dachte sie jetzt. Sie brauchte keine Scheidung, denn sie würde ohnehin nie heiraten. Abgesehen von dieser Scheinehe, die ihre einzige Chance war, ein so traumhaftes Kleid zu tragen.

„Ich nehme es“, sagte sie.

„Ich wusste, dass Sie es nehmen würden“, erwiderte die Verkäuferin mit strahlendem Lächeln.

„Hallo“, flüsterte Julia, als sie etwa eine Stunde später das Krankenzimmer ihrer Großmutter betrat. Ruth hatte die Augen geschlossen, und Julia wusste nicht, ob sie schlief oder nur ruhte.

Mühsam öffnete Ruth die Augen. „Julia, mein liebes Kind, wie schön, dass du gekommen bist. Setz dich zu mir.“

Julia zog einen Stuhl ans Bett und nahm Platz. „Wie fühlst du dich?“

Ruth machte eine abwehrende Handbewegung, und Julia konnte sehen, wie geschwächt sie war. „Das ist jetzt nicht wichtig. Erzähl mir von dir und Alek. Wie sehr ich diesen Tag herbeigesehnt habe! Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass du wieder zu lieben lernst.“

„Wir werden am Freitagnachmittag heiraten.“ Julia hatte erwartet, dass die Eile ihre Großmutter misstrauisch machen würde, aber die alte Frau lächelte beglückt.

„Freitag … Gut, dass es keine lange Verlobungszeit gibt … denn ich bezweifle, dass ich noch lange leben werde.“

„Großmutter, hör auf. Du wirst noch viele Jahre leben.“

„Schade, dass ich meine Enkel nicht mehr sehen werde.“

Julia wollte ihr widersprechen, denn für sie und Alek würde es keine Kinder geben, weil es keine richtige Ehe geben würde. Aber dann sagte sie nur: „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich musste noch mein Brautkleid anprobieren.“ Sie beschrieb das Kleid und freute sich darüber, wie Ruths Augen aufleuchteten.

„Du und Alek, ihr werdet mich nach der Trauung besuchen, nicht wahr?“

„Natürlich“, versprach Julia.

„Er hat mir Blumen geschickt. Er ist ein so aufmerksamer Junge. Velma, meine Krankenschwester, hat mir den Strauß gebracht.“

„Wer hat die Blumen geschickt?“

„Dein Alek. Wie nett von ihm. Ich mag ihn, Julia, ich mag ihn sehr. Du hast eine gute Wahl getroffen, mein liebes Kind.“

Julia sprach nur ungern über Alek. Sie wollte nicht mehr daran denken, wie zärtlich er sie geküsst hatte.

„Erzähl mir mehr von euch beiden“, bat Ruth mit müder Stimme. „Er ist wirklich ein ganz besonderer Mann, und es macht mich glücklich, alles über euch zu hören.“

„Nun ja …“ Julia zögerte. „Es ging alles so schnell … fast über Nacht.“

„Oh, was für eine schöne Liebesgeschichte. Erzähl mir mehr, bevor ich wieder einschlafe.“

„Aleks Aufenthaltsgenehmigung war fast abgelaufen.“ Je dichter sie an der Wahrheit blieb, desto leichter fiel ihr das Märchen.

„Seine Aufenthaltsgenehmigung“, wiederholte Ruth. „Natürlich, das hatte ich vergessen.“

„Er hätte nach Prushkin zurückkehren müssen.“

„Und das wolltest du nicht, was?“

„Mir wurde erst jetzt bewusst, wie wichtig er mir ist.“ Julia seufzte schwer, um die Geschichte etwas dramatischer klingen zu lassen. „Jerry hat alles versucht, aber die Behörde wollte ihn nicht im Land bleiben lassen. Als wir drei uns darüber unterhielten, ging mir plötzlich auf, wie sehr ich Alek brauche. Ich … glaube, ohne ihn könnte ich nicht weiterleben.“ Das war ein wenig übertrieben, aber Julia wusste, was für eine hoffnungslose Romantikerin ihre Großmutter war.

„Julia, mein süßes Kind.“ Ihre Großmutter griff nach Julias Hand und drückte sie. „Ich habe immer gewusst, dass du dein Herz irgendwann einer neuen Liebe öffnen wirst. Aber es musste schon ein ganz besonderer Mann kommen, nicht wahr? Einer wie Alek. Werde glücklich, mein Kind. Versprich mir, dass du nicht aufgibst, bis du dein Glück gefunden hast.“

Julia verstand nicht, was Ruth damit meinte. Sie wollte sie fragen, doch ihre Großmutter war schon wieder eingeschlafen. Sie blieb noch eine Weile bei ihr.

„Julia.“ Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich zur Tür um.

Es war Alek. Verärgert stand sie auf. Warum konnte er sie nicht einmal hier in Ruhe lassen? Sie ging zur Tür.

„Was ist?“, fragte sie, als sie vor dem Zimmer standen.

Er lächelte. „Ich wollte dich sehen. Es gibt viel zu besprechen.“ Er nahm ihren Arm und führte sie zum Fahrstuhl.

„Jerry organisiert die Hochzeit. Zwischen uns beiden gibt es nichts zu besprechen“, erwiderte sie scharf.

„Du willst mich, Julia. Du brauchst mich. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis du das einsiehst.“

Die Arroganz dieses Mannes war einfach unbeschreiblich. Sie brauchte niemanden, schon gar keinen Mann und erst recht keinen Ehemann.

„Du brauchst mich.“

„Da irrst du dich.“ Conrad Industries brauchte ihn.

Er ließ ihren Arm los und ging davon. Jerry hatte ihr erzählt, wie stolz Alek war.

„Ich gebe nicht zu, dass ich dich brauche, Alek“, rief sie ihm nach. Sie musste ihn besänftigen. Wie sollte sie es mit ihm in einer Wohnung aushalten? Wenn sich die Spannungen zwischen ihnen nicht bald legten, würden sie einander das Leben zur Hölle machen.

„Das sagtest du bereits.“

„Aber ich gebe zu, dass wir beide einander brauchen.“

Er blieb stehen, drehte sich um und kam lächelnd auf sie zu. Wortlos beugte er sich herab und küsste sie. Wie beim ersten Mal war die Berührung so weich wie das Fell eines Kätzchens und so leicht, dass sie sich fragte, ob sie sich diesen zarten Kuss nicht nur eingebildet hatte.

„Wofür war der denn?“, fragte sie erstaunt.

Er lächelte. „Den hast du dir verdient.“ Er strich ihr das Haar von der Schläfe. „Und ich auch.“

3. KAPITEL

Die Trauung war für Julia ein wahrer Alptraum. Als sie ihr Ehegelöbnis ablegen sollte, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Alek dagegen sprach die Formel laut und deutlich, ohne das geringste Zögern aus.

Lieben und ehren.

Julias Gewissen protestierte. Sie hatte nicht vor, Alek zu lieben. Sie wollte keinen Mann lieben, denn die Liebe hatte die Macht, sie zu verletzen, sie zu zerbrechen. Julia hatte es geschafft, die Liebe aus ihrem Leben zu vertreiben. Sie konnte ohne sie leben. Liebe war überflüssig, unnötig, schmerzhaft, und ihr Herz hatte sich noch nicht einmal vom ersten Versuch erholt.

Die abschließende Unterschrift war noch schlimmer als die Zeremonie. Ihre Hand zitterte, als sie ihren Namen auf die Heiratsurkunde schrieb. Mit tränenfeuchten Augen starrte sie auf das Papier, mit dem sie die größte Lüge ihres Lebens besiegelt hatte.

Jerry, ihre Sekretärin und der Geistliche schienen nichts zu bemerken. Julia ließ den Füllfederhalter auch dann nicht los, als sie längst unterschrieben hatte.

„Möge Ihre Ehe lang und glücklich sein“, sagte der Geistliche zu Alek. Julia schloss die Augen, holte tief Luft und richtete sich wieder auf. Sie wagte es nicht, Alek anzusehen.

„Sollen wir zu den anderen gehen?“ Jerry, der als Aleks Trauzeuge fungiert hatte, zeigte zur Tür. Julia war froh, den Raum verlassen zu können.

Der Empfang fand in einer großen Hotelsuite auf der anderen Seite der Halle statt. Die Gäste bedienten sich bereits am kalten Buffet und tranken Champagner.

Julia war überrascht, wie viele Leute gekommen waren. Die meisten davon waren Geschäftspartner, aber sie sah auch einige Freunde der Familie. Sie selbst hatte seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr viele Freunde, da sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben fast ganz zurückgezogen hatte.

Alek war neben ihr und lächelte den Gästen freundlich zu. Als er den Arm um sie legte, zuckte Julia zusammen.

„Habe ich dir schon gesagt, wie schön du aussiehst?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Julia nickte. Er hatte sie kaum aus den Augen gelassen, seit sie im Brautkleid ins Trauzimmer gekommen war. Sie bereute, kein schlichteres, unauffälligeres Kleid genommen zu haben. Selbst Jerry war bei ihrem Anblick wortkarg geworden, und seine Komplimente hatten eher gequält geklungen.

„Könntest du wenigstens so tun, als würdest du mich lieben?“, bat Alek leise. „Nur für ein paar Stunden.“ Sein Atem strich über ihre Haut. „Lächle, mein Liebling.“

Sie gehorchte.

„Schon besser“, flüsterte er.

„Wann können wir gehen?“

„Ich weiß, du kannst es nicht abwarten, mit mir allein zu sein, aber wir müssen noch eine Weile bleiben.“

Julia spürte, wie sie errötete.

„Soll ich dir einen Teller holen?“, fragte Alek belustigt.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr war der Appetit vergangen. „Möchtest du etwas?“

Seine Augen blitzten. „Ich möchte etwas, aber ich spare mir den Nachtisch für später auf.“

Julia hatte das Gefühl, als könnten ihre Knie jeden Moment nachgeben. Weil man es von ihr zu erwarten schien, trank sie ein Glas Champagner, und sofort wurde ihr ein wenig schwindlig.

Es ist das Kleid, entschied sie. Sie musste es ausziehen, denn es rief in ihr Gefühle wach, die sie nicht empfinden wollte. Sie fühlte sich schön und begehrt und geliebt, obwohl sie nichts davon verdient hatte.

„Jerry …“ Verzweifelt ergriff sie den Arm ihres Bruders. „Ich muss von hier weg …“

Julia hörte nicht, was er zu Alek sagte. Sie wartete darauf, dass ihr Bruder sie hinausführte, aber es war Alek, der den Arm um ihre Taille legte. Julia verließ den Empfang zusammen mit ihrem Ehemann.

„Jerry wird uns bei den anderen entschuldigen“, sagte er.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie.

„Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte er besorgt.

„Jetzt geht es mir besser, danke.“ Es würde ihr noch besser gehen, wenn sie erst dieses Kleid ausgezogen hatte. Sie wünschte, Alek würde sie allein lassen, aber er begleitete sie bis zur Tür des Zimmers, in dem sie sich umgezogen hatte.

„Wir haben uns noch gar nicht geküsst“, sagte er.

Nach der Zeremonie hatte sie ihm nur ein Küsschen auf die Wange gegeben.

„Du bist doch nicht etwa krank?“

Sie hätte ihn anlügen können, aber sie tat es nicht. „Nein, es geht mir gut.“

„Dann werde ich jetzt die Braut küssen.“

Er war ein behutsamer zärtlicher Mann, und vielleicht würde es ihr schlechtes Gewissen besänftigen, wenn sie ihm einen Kuss erlaubte.

„Ja“, hauchte sie.

Sie stand mit dem Rücken an der Wand, als er die Arme um sie legte. Er zog sie an sich und schloss die Augen, als wollte er es auskosten, sie so dicht an sich zu spüren.

Dann berührten seine Lippen ihre, so leicht und zart, wie sich der Morgentau auf die Blütenblätter einer Rose legte. Sein Mund streifte ihren. Einmal, ein zweites Mal, und Julia seufzte, als seine Zunge den Umriss ihres Mundes nachzog.

Sie hielt den Atem an, war unfähig, seine Zärtlichkeit zu erwidern.

„Julia“, bat er. „Küss mich zurück.“

Zaghaft öffnete sie den Mund, und Alek presste sie an sich. Dann spürte sie, wie seine Zunge sich behutsam zwischen ihre Lippen schob. Das Gefühl, das dieser Kuss in ihr auslöste, war herrlich, dennoch wehrte sie sich dagegen.

Sie fing an zu zittern, und ihr wurden die Knie weich. Sie fühlte sich, als wäre sie auf die Straße getreten und nur knapp von einem vorbeirasenden Wagen verfehlt worden. In die Angst mischte sich eine überwältigende Erleichterung, die es ihr erlaubte, sich ganz der Erregung hinzugeben, die sich von Alek auf sie übertrug. Sie legte den Kopf in den Nacken und empfing seine Zärtlichkeiten voller Erwartung. Sie schmiegte sich an ihn, während ihr Körper seine stürmischen Liebkosungen aufsog wie ausgedörrte Erde den Regen.

Als jemand sich räusperte, erstarrten Julia und Alek. Langsam und widerwillig öffnete Julia die Augen. Fast alle Gäste standen auf dem Korridor und sahen lächelnd zu ihnen herüber.

Jerry strahlte übers ganze Gesicht.

Alek murmelte etwas in seiner Muttersprache und ließ sie los.

„Ich ziehe mich um“, sagte sie und eilte ins Zimmer. Sie ließ sich auf einen Sessel sinken, presste die Hände auf die brennenden Wangen und schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in eine dunkle Schlucht gesprungen, ohne zu wissen, was sie unten erwartete. Was als Kuss begonnen hatte, war weit mehr als das geworden. Sie hatte ihr Gewissen beruhigen wollen, aber stattdessen hatte sie in Alek Hoffnungen geweckt, die sie nicht erfüllen konnte.

Julia ließ sich mit dem Umziehen viel Zeit. Zwanzig Minuten später verließ sie das Zimmer in einem rot geblümten Kleid, nach dem sie zu Hause lange hatte suchen müssen. Meistens trug sie Kostüme. Das Kleid stammte noch aus ihren College-Tagen.

Alek ging vor dem Zimmer auf und ab.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie.

Lächelnd hob er eine Hand und strich ihr über die Lippen. Sah man ihr den Kuss noch an? Sie spürte, dass ihre Wangen noch immer glühten.

„Ich … habe meiner Großmutter versprochen, dass wir sie nach dem Empfang besuchen“, sagte sie nervös. „Ich möchte sie nicht enttäuschen.“

„Natürlich nicht.“

Als sie das Krankenzimmer betraten, lächelte Ruth beglückt und streckte ihnen beide Arme entgegen.

Julia eilte ans Bett und umarmte die Frau, die sie über alles liebte. Sie spürte, wie sehr ihre Großmutter sich an das Leben klammerte. Warum waren es immer die guten Menschen, die leiden mussten? Warum konnten Ruth nicht noch einige glückliche Jahre bleiben? Es war Ruths Liebe gewesen, die Julia geholfen hatte, Rogers Verrat und den Tod ihres Vaters zu überstehen.

Und wozu? Um einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte und der sie nicht liebte.

Julia schloss die Augen. Ruth sah ihr ins Gesicht und strich ihr die Tränen von den Wangen.

„Tränen?“, fragte sie sanft. „Dies sollte der glücklichste Tag deines Lebens sein.“

Alek legte den Arm um Julias Taille und half ihr in den Sessel neben dem Bett.

„Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich Louis geheiratet habe“, sagte ihre Großmutter mit wehmütigem Lächeln. „Ich hatte eine solche Angst.“

„Angst?“ Julia verstand nicht.

„Ich fragte mich immerzu, ob ich das Richtige tat. Damals gab es nur wenige Scheidungen, und wenn eine Frau den falschen Mann heiratete, war sie in der Regel zu einem freudlosen Leben verurteilt.“

„Aber du kanntest ihn doch schon lange.“

Ruth zog eine Augenbraue hoch. „Lange?“, wiederholte sie. „In gewisser Weise schon. Aber wir sind nur ein paarmal zusammen ausgegangen, bevor wir heirateten.“

„Ich dachte immer, du hättest Großvater schon jahrelang gekannt.“

Ruth streichelte ihre Wange. „Ich kannte ihn, weil er für meinen Vater arbeitete, und begegnete ihm ab und zu im Büro.“

„Und wann hast du dich in ihn verliebt?“

„Louis kündigte bei meinem Vater und eröffnete seine eigene Firma. Als der Krieg kam, ging er zur Armee. Bevor seine Einheit nach England verlegt wurde, kam er zu uns nach Hause. Ich dachte, er wollte sich von meinem Vater verabschieden, aber er kam meinetwegen. Er fragte mich, ob ich ihm schreiben würde. Natürlich habe ich Ja gesagt, und dann tat er etwas ganz Eigenartiges.“

„Was denn?“, fragte Julia neugierig, als ihre Großmutter zögerte.

„Es war eine so kleine, so zärtliche Geste. Typisch für Louis. Er nahm meine Hand und küsste sie.“

Ruth betrachtete ihre Hand, als könnte sie den Kuss noch immer spüren.

„Ich glaube, das war der Moment, in dem ich mein Herz an Louis verlor. Er erzählte mir später, dass er fürchtete, nicht aus dem Krieg zurückzukommen. Er liebte mich damals schon, aber mein Vater war ein reicher Mann, und Louis hatte Angst, dass er ihn nicht als Schwiegersohn akzeptieren würde.“

„Wie lange war er fort?“

„Drei Jahre. Aber er schrieb mir viele Briefe, und ich habe sie oft gelesen. Als er dann heimkehrte, liebte ich ihn so sehr, dass mir alles andere egal war. Meine Familie wusste es, und mein Vater bestand darauf, mich zu begleiten, als ich Louis vom Bahnhof abholte“, erzählte Ruth kopfschüttelnd.

„Was ist passiert?“

Ruth lächelte matt, aber glücklich. „Dad bot ihm seinen alten Job an. Louis nahm an und bat mich sofort, seine Frau zu werden. Einen Monat später heirateten wir.“

„Was für eine wunderschöne Geschichte.“

„Wir hatten ein wunderbares Leben. Ich vermisse ihn noch immer.“

Julia wusste, wie schwer Louis’ Tod ihre Großmutter getroffen hatte.

„Ihr, meine Kinder“, fuhr Ruth fort, „werdet auch ein gutes Leben haben. Alek, geh behutsam mit meinem kleinen Schäfchen um. Ihr Herz hat eine Narbe, und sie kann störrisch sein. Aber alles, was sie braucht, ist Liebe und Geduld.“

„Großmutter!“

Ruth hob eine Hand. „Und jetzt ab mit euch. Ihr wollt doch eure Hochzeitsnacht nicht mit mir verbringen.“

„Ich liebe dich“, flüsterte Julia, als Ruth sich aufs Kissen zurücksinken ließ. „Ruh dich jetzt aus. Ich rufe dich morgen früh an.“

„Ich war sehr gern hier“, sagte Alek und küsste ihre Hand. „Ich hätte Louis bestimmt gemocht. Er muss ein Mann von großer Ehre gewesen sein.“

„Das war er“, erwiderte Ruth. „Als wir heirateten, wurde behauptet, er hätte mich nur meines Erbes wegen genommen. Aber das war Unsinn. Ich hatte unglaubliches Glück, von einem Mann wie ihm geliebt zu werden.“

Julia sah Alek an, doch als ihre Blicke sich trafen, wandte sie sich rasch ab.

„Jetzt geht“, drängte Ruth. „Dies ist eure Hochzeitsnacht.“

Die Worte hallten in Julia nach wie ein riesiger chinesischer Gong. Ihr Großvater war ein Ehrenmann gewesen, aber sie hatte weder seinen Mut noch seine Ehrlichkeit geerbt. Alek würde sehr bald herausfinden, wie unehrlich sie war.

Julia überraschte ihn. Alek hatte die Frau, mit der er jetzt verheiratet war, falsch eingeschätzt. Zwei Jahre lang hatte er sie beobachtet und über ihre Hartnäckigkeit gestaunt. Er wusste nicht viel über die Schwierigkeiten, in denen ihre Firma steckte. Er wusste nur, dass Conrad Industries kurz davor gewesen war, eine äußerst dauerhafte Farbe für Außenanstriche auf den Markt zu bringen. Das Unternehmen hatte sich einen großen Erfolg erhofft und war auf eine Expansion vorbereitet gewesen. Aber dann war es in die Krise geraten.

Es gab irgendeinen Skandal, der mit einem anderen Produkt von Conrad Industries zu tun hatte. Die Firma musste dieses Produkt auf Anweisung der Behörden vom Markt nehmen. Die genauen Gründe kannte Alek noch nicht. Außerdem war von einem Einbruch die Rede. Und von einem Feuer, das die Labors und das Lager zerstört hatte. Erst später stellte sich heraus, dass es Brandstiftung gewesen war.

Man verdächtigte einen Angestellten, konnte ihm die Tat jedoch nicht nachweisen. Kurz nach dem Brand starb Jerrys und Julias Vater an einem Herzinfarkt. Julia übernahm die Firma, und sie und ihr Bruder konnten Conrad Industries mühsam über Wasser halten, bis Jerry Alek aus Prushkin holte.

„Du bist sehr still“, sagte Julia plötzlich.

Alek spürte, wie nervös sie war. „Wo möchtest du essen?“, fragte er und schlug einige Restaurants vor.

„Essen?“, wiederholte sie. „Ich … weiß nicht. Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir … zu mir fahren?“

Er nickte begeistert. Das war eine hervorragende Idee. Dort würde sie sich entspannen können, und wenn es an der Zeit war, ins Bett zu gehen, würde sie sich nach seiner Berührung sehnen.

„Wir werden etwas bestellen müssen“, sagte Julia, als sie das Hochhaus erreichten. Ihre Wohnung lag im zehnten Stock, in der City von Seattle, mit einem herrlichen Blick über das Wasser des Puget Sound. Im Westen erhoben sich die zerklüfteten Gipfel der Olympic Mountains. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das Land in rosiges Licht.

„Bestellen?“, fragte er verwirrt.

Julia stand inmitten ihrer modern eingerichteten Wohnung und wirkte wie ein ungehorsames Kind. „Ich koche nicht viel.“

Jetzt verstand er. „Ich bin in der Küche sehr gut.“ Im Schlafzimmer auch, aber das konnte er nicht sagen. Sie würde es bald merken.

„Du willst uns etwas kochen?“

„Ja“, erwiderte er und folgte ihr in die Küche. Ihre Wohnung gefiel ihm. In ganz Prushkin gab es kein so luxuriöses Zuhause. Das Wohnzimmer war sehr groß mit Fenstern über die ganze Wandbreite. Esszimmer und Küche waren klein und offenbar unwichtig.

„Möchtest du ein Glas Weißwein?“, fragte Julia.

„Gern.“ Während sie die Flasche holte, sah Alek sich in seinem neuen Zuhause um. Ein schmaler Flur führte zu zwei Schlafzimmern. Im größeren stand ein breites Doppelbett, auf dem eine blaue Tagesdecke und unzählige kleine Kissen lagen. Das andere Zimmer war viel kleiner, und Alex stellte fest, dass im Kleiderschrank der Weihnachtsschmuck aufbewahrt wurde.

Er kehrte in die Küche zurück und nahm von seiner Frau das Glas Wein entgegen. Ihre Augen waren groß und dunkel und sahen ihn bittend an. Worum sie baten, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er nicht mehr lange würde warten können.

Julia fühlte sich wie ein Fuchs kurz vor Beginn der Jagd. Bald würde die Meute sie in die Enge getrieben haben. Alek schien noch nicht begriffen zu haben, dass sie nicht mit ihm schlafen würde.

„Ich habe etwas Hühnchenfleisch im Eisschrank gefunden“, sagte sie. „Ich schlage vor, ich mache den Salat.“

Alek suchte in den Schränken, bis er ein altes Geschirrtuch fand, und klemmte es sich unter den Gürtel.

Summend machte er sich an die Arbeit. Eine Zwiebel, Paprika und Pilze waren bereits zerkleinert, als Julia sich einen Hocker an den Tresen zog. Vielleicht konnte sie von ihm etwas lernen. Sie hatte gesehen, wie er im Labor arbeitete. Er schien sich in einer Küche ebenso zu Hause zu fühlen.

„Wann hast du kochen gelernt?“

„Als Junge. Meine Mutter wollte es.“

„Richte ihr meinen Dank aus.“

Alek lächelte. „Du wirst ihr selbst danken können. Ich tue, was ich kann, um sie in die Staaten zu holen.“

„Wenn … ich helfen kann, sag’s mir.“

Er nickte. Ihr Angebot schien ihn zu freuen.

Julia trank ihren Wein und füllte beide Gläser wieder. Sie zerbrach sich den Kopf nach Möglichkeiten, das Unausweichliche hinauszuzögern. Aber irgendwann musste sie ihm die Wahrheit sagen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, ihn betrunken zu machen. Aber jetzt war sie es, der die beiden Gläser Wein zu Kopfe stiegen. Alek dagegen wirkte vollkommen nüchtern. Ohne das geringste Zögern hantierte er mit dem großen Küchenmesser.

Die zweite Idee bestand darin, an sein Ehrgefühl zu appellieren. Er musste doch wissen, dass sie ihn nicht liebte. Dies hier war ein geschäftliches Abkommen, von dem sie beide profitierten. Etwas Persönliches daraus zu machen, würde alles ruinieren.

Der Kuss. Warum hatte sie ihm bloß erlaubt, sie so zu küssen? Sie hatte sich nicht dagegen gewehrt. Im Gegenteil, sie hatte ihn sogar noch ermutigt. Wo war ihr Verstand gewesen?

Und jetzt erwartete Alek mehr von ihr. Weit mehr, als sie ihm geben konnte.

„Noch Wein?“, fragte sie nervös. Der Reis kochte in einem zugedeckten Topf, und das Fleisch lag in einer köstlichen Sauce. Der Duft erfüllte die Küche. Alek stand summend am Herd und wirkte vollkommen entspannt, während Julia zu schätzen versuchte, wie viele Schritte es bis zur Wohnungstür waren.

„Nein danke“, erwiderte Alek.

„Ich decke den Tisch“, bot sie an und eilte ins Esszimmer. Mit zitternden Händen legte sie die Bestecke auf, stellte Wassergläser dazu und tat alles, um die Rückkehr in die Küche hinauszuzögern. Die Rückkehr zu Alek.

Alek hatte ihr Abendessen bereits auf den Tellern angerichtet. Julia bezweifelte, dass sie auch nur einen einzigen Bissen herunterbekäme.

„Julia, mein Liebling.“

„Ich bin nicht dein Liebling“, erwiderte sie kühl.

Er lächelte unbeschwert. „Noch nicht, aber bald.“

Sie kam sich vor wie eine hilflose Fliege in einem Spinnennetz. Sie schloss die Augen. Wenn er nun versuchte, sie zu zwingen?

„Komm, lass uns essen“, sagte er und führte sie an den gedeckten Tisch. Er rückte ihr den Stuhl zurecht und wartete, bis sie bequem saß. Dann nahm er selbst Platz.

„Das sieht lecker aus“, sagte sie. Der Duft stieg ihr verlockend in die Nase, und unter anderen Umständen wäre sie froh über seine Kochkünste gewesen.

„Meine Schwester ist eine ausgezeichnete Köchin“, erwiderte er, bevor er die Serviette vom Tisch nahm und auf den Knien ausbreitete. „Wenn du einverstanden bist, wird sie für uns kochen, wenn sie aus Prushkin herkommt. Sie wird sich freuen, gleich Arbeit zu finden und auf die Weise schneller ein Visum bekommen.“

„Natürlich …“ Julia würde alles tun, um seiner Familie zu helfen.

„Du bist nervös?“, fragte Alek nach einer Weile. Julia hatte noch keinen einzigen Bissen probiert.

„Ja.“

Er lächelte. „Verständlich. Keine Angst, mein Schäfchen. Ich werde sehr zärtlich zu dir sein.“

Julia blieb fast das Herz stehen.

„Ich bewundere dich, Julia. Nicht jede Frau wäre zu einer solchen Heirat bereit gewesen. Du bist nicht nur tapfer, sondern auch sehr schön. Ich bin überglücklich darüber, dass ich dich geheiratet habe.“

4. KAPITEL

Julia sprang auf. Ihre Hand umklammerte die Serviette wie einen Rettungsring, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

„Julia?“, fragte Alek erstaunt.

„Ich kann es nicht. Du erwartest von mir, dass ich mit dir in einem Bett liege. Dass wir wie ein ganz normales Ehepaar leben. Es tut mir leid, aber das kann ich nicht. Ich … habe gelogen. Es ist alles eine Lüge. Es tut mir leid, Alek, wirklich.“

„Du warst mit meinen Bedingungen einverstanden“, sagte er ruhig. Sie war blass und zitterte. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und getröstet.

„Ich war überarbeitet. Ich … ich wusste nicht, was ich tat. Es ging alles so schnell.“

„Du wusstest, auf was du dich einlässt“, erwiderte er leise.

Sie machte einige Schritte vom Tisch weg. „Ich habe es mir anders überlegt. Ich halte das für verständlich.“

„Du warst es doch, die diese Heirat wollte“, erinnerte er sie. Sie waren verheiratet. Julia war seine Ehefrau. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Ich … musste es tun. Jerry war überzeugt, dass du sonst hättest ausreisen müssen. Meine Großmutter liegt im Sterben. Sie mag dich … und ich weiß nicht … irgendwie habe ich es auch ihretwegen getan. Aber jetzt …“

„Jetzt bereust du es?“

„Ja“, sagte sie mit Nachdruck.