Dein perfektes Jahr - Charlotte Lucas - E-Book

Dein perfektes Jahr E-Book

Charlotte Lucas

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Beschreibung

Für Jonathan Grief verspricht das neue Jahr alles andere als perfekt zu werden. Seine Frau Tina hat ihn verlassen, und überhaupt ist ihm der Glaube an einen Sinn in seinem Leben seit langem abhandengekommen. Für Hannah Marx sieht das anders aus: Unbeirrbar glaubt sie an das Gute, an den Reichtum des Lebens und das Glück im Kleinen. Als sich die Umlaufbahnen dieser beiden Menschen auf unvorhergesehene Weise und von beiden unbemerkt kreuzen, nimmt das Schicksal das Heft in die Hand. Eine bezaubernde Liebesgeschichte findet einen Anfang und an ihrem Ende wird selbst Jonathan eine Antwort gefunden haben auf die Frage: Was ist der Sinn deines Lebens?

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Charlotte Lucas

Dein perfektes Jahr

Roman

Atlantik

Für meine Mutter Dagmar Helga Lorenz

* 08.03.1945 – † 20.10.2015

 

Und für meinen Vater Volker Lorenz

Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben – aber den Tagen mehr Leben.

Chinesische Weisheit

 

»Eine ziemlich platte Weisheit.«

Jonathan N. Grief

An die »Hamburger Nachrichten«

Redaktion/Leserdienst

Per Mail

Hamburg, den 31. Dezember

 

Wertes Redaktionsteam,

 

bevor ich Ihnen heute einen guten Rutsch und einen erfolgreichen Start ins neue Jahr wünsche, möchte ich Sie noch kurz auf ein paar Fehler in Ihrer aktuellen Ausgabe hinweisen.

Auf Seite 18 schreiben Sie über den neuen Kinofilm »Eiszeit« mit Henning Fuhrmann: »Henning Fuhrmann (33), der sich in den vergangenen Jahren bereits als Seriendarsteller einen Namen machen konnte …«

Hierzu möchte ich anmerken, dass Henning Fuhrmann laut Wikipedia am heutigen Tag, also am 31.12., Geburtstag hat. Somit ist er nicht mehr 33, sondern vielmehr 34 Jahre alt, was Ihnen offenbar entgangen ist. Zudem stimmt in dem von Ihnen formulierten Text die Vorzeitigkeit nicht, richtig müsste es heißen: »… der sich in den vergangenen Jahren bereits als Seriendarsteller einen Namen hatte machen können.«

Und auf der letzten Seite titeln Sie zum Thema Elbphilharmonie: »Jetzt gehen sie auf’s Ganze!« Hierbei wird »aufs« natürlich ohne Apostroph geschrieben!

 

Der Duden merkt hierzu an:

»1. Bei den allgemein üblichen Verschmelzungen von Präposition (Verhältniswort) und Artikel setzt man in der Regel keinen Apostroph.

– ans, aufs, durchs, fürs, hinters, ins, übers, unters, vors

– am, beim, hinterm, überm, unterm, vorm

– hintern, übern, untern, vorn; zur«

 

Wie immer mit hochachtungsvollen Grüßen

 

Jonathan N. Grief

1Jonathan

1. Januar, Montag, 7:12 Uhr

Jonathan N. Grief war nicht zufrieden. Wie jeden Morgen hatte er um Punkt 6:30 Uhr seine Joggingschuhe angezogen, sich trotz Minusgraden aufs Mountainbike geschwungen und zu seiner täglichen Laufrunde um die Außenalster aufgemacht.

Und wie jedes Jahr am 1. Januar ärgerte er sich nicht nur über die Überreste von Böllern, Raketen und Chinakrachern, die zusammen mit dem grauen Schneematsch eine hässliche und rutschige Melange auf sämtlichen Bürgersteigen, Radwegen und Laufpfaden bildeten; er ärgerte sich nicht nur über die verrußten und zerbrochenen Sekt- und Bierflaschen, die in der Nacht als Abschussrampen hatten herhalten müssen und bei denen es offensichtlich niemand für nötig befunden hatte, sie anschließend im Altglascontainer zu entsorgen; und er ärgerte sich auch nicht nur über die dicke und diesige Luft, die die feierfreudigen – in Jonathan Griefs Augen verantwortungslosen – Hamburger durch ihr hirnloses Feuerwerksgeballer in einen Albtraum der Feinstaubbelastung verwandelt hatten, und die nun wie eine Dunstglocke über der Hansestadt waberte und ihm das Atmen erschwerte.

(Jetzt natürlich lagen die Silvesterleichen alle noch verkatert und komatös in ihren Betten, hatten ihre Neujahrsvorsätze vom weniger Trinken und nicht mehr Rauchen bereits um eine Minute nach Mitternacht mit einer besonders lautstarken Rakete in den Wind geschossen und bis in die frühen Morgenstunden randaliert und getobt, als ginge es sie nichts an, dass sie mal eben einen Betrag in Flammen aufgehen ließen, mit dem man den Bundeshaushalt im Handumdrehen sanieren könnte.)

Nein, nicht nur das war es, was Jonathan Grief ärgerte.

Am meisten empörte er sich darüber, dass seine Exfrau Tina es sich auch dieses Jahr nicht hatte nehmen lassen, ihm irgendwann im Verlauf der Nacht eine Schornsteinfegerfigur aus Schokolade vor seine Haustür zu stellen; zusammen mit einer Karte, auf der sie ihm wie immer »Ein erfolgreiches und glückliches neues Jahr!« wünschte.

Ein erfolgreiches und glückliches neues Jahr! Als er jetzt über die Krugkoppelbrücke trabte, von der aus der Pfad vorbei am »Red Dog« runter in den Alsterpark führte, erhöhte er sein Tempo auf 14 km/h, sodass jeder seiner Schritte mit einem satten Geräusch auf den Sandweg klatschte.

Ein erfolgreiches und ein glückliches neues Jahr! Jonathans Pulsuhr zeigte ihm eine Geschwindigkeit von 16 km/h und eine Herzfrequenz von 156 Schlägen die Minute an, heute würde er die Runde von 7,4 Kilometern vermutlich in Rekordzeit schaffen. Bisher lag sein schnellstes Ergebnis bei 33,29 Minuten, das würde er toppen, wenn er so weiterrannte.

Auf Höhe vom »Anglo-German Club« allerdings verlangsamte er seine Schritte schon wieder. Das war ja Unsinn. Weshalb sollte er sich über Tinas gedankenlose »Aufmerksamkeit« so sehr aufregen, dass er seine Gesundheit gefährdete und sich womöglich eine Zerrung einhandelte. Immerhin waren sie und er schon seit fünf Jahren getrennt, da durfte ihn ein blöder Schokoschornsteinfeger nun wirklich nicht dermaßen aus der Fassung bringen.

Ja, er hatte Tina geliebt. Sehr sogar. Und ja, sie hatte ihn für seinen (vormals) besten Freund Thomas Burg verlassen, hatte nach über sieben glücklichen Jahren Ehe die Scheidung eingereicht. Jedenfalls hatte Jonathan immer gedacht, sie seien miteinander glücklich. Tina hatte das anscheinend etwas anders gesehen, sonst wäre die Sache mit Thomas wohl nicht passiert.

Zwar hatte sie ihm damals beteuert, es hätte nichts mit ihm, mit Jonathan, zu tun – aber schließlich weiß jeder, der noch alle seine Sinne beisammen hat, dass es in solch einem Fall eben doch immer etwas mit einem selbst zu tun hat.

Wobei Jonathan sich bis heute fragte, was das wohl gewesen sein könnte. Schließlich hatte er Tina im wahrsten Sinne des Wortes den Himmel auf Erden bereitet. Hatte für sie ein schönes Stadthaus direkt am Innocentiapark in Harvestehude gekauft und es nach ihren Wünschen umgebaut (sie hatte sogar ihr ganz eigenes Refugium – inklusive Bad und Ankleidezimmer!), hatte es ihr ermöglicht, ihren verhassten Job als Grafikerin in einer Werbeagentur an den Nagel zu hängen und ein freies Leben ganz nach ihren Vorstellungen zu führen.

Er hatte ihr quasi jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Egal, ob es ein hübsches Kleid, eine edle Handtasche, ein Schmuckstück oder ein neues Auto war – Tina musste nur erwähnen, dass ihr etwas gefiel, schon hatte er es für sie erstanden.

Ein sorgenfreies Dasein ohne jede Verpflichtung. Der Buchverlag Griefson & Books, den Jonathan von seinem Vater Wolfgang übernommen hatte, wurde von einem Geschäftsführer ganz hervorragend geleitet, sodass er selbst nur hin und wieder als »Frühstücksdirektor« hereinschneien und als Verleger für repräsentative Aufgaben zur Verfügung stehen musste. Sie hatten die teuersten Reisen in die exklusivsten Länder unternommen, waren bei jedem gesellschaftlichen Ereignis der Hansestadt immer gern gesehene Gäste gewesen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob ihre Privatsphäre vielleicht der Boulevardpresse zum Opfer fallen könnte.

Tina hatte das Leben mit ihm in vollen Zügen genossen, hatte immer exotischere Reiseziele vorgeschlagen, immer raffiniertere Designermode getragen und in regelmäßigen Abständen sämtliche Zimmer ihrer Villa neu eingerichtet.

Gut, manchmal hatte er sich schon gefragt, ob sie sich nicht ein bisschen langweilte – vor allen Dingen, als sie immer wieder mit dieser einen Sache ankam.

Sie hatte nach einem »Mehr« gesucht, das sie lange nicht hatte benennen können, jedenfalls nicht Jonathan gegenüber. Sie hatte es mit Fremdsprachenkursen, Laufgruppen (das hatte Jonathan ihr empfohlen), Gitarrenunterricht, Qigong, Tennis und diversen anderen Aktivitäten versucht, ohne eine davon längerfristig durchzuhalten. Er war schon fast so weit gewesen, das Thema Kinder energischer zur Sprache zu bringen (und nicht nur das, sondern auch Taten folgen zu lassen), trotz Tinas Beteuerungen, dass sie es zu zweit doch so perfekt hätten.

Und dann schließlich war sie bei einer Therapeutin gelandet.

Was genau Tina dort bei ihren wöchentlichen Sitzungen besprochen hatte, entzog sich bis heute Jonathans Kenntnis. Sie hatte es nicht für nötig befunden, mit ihm darüber zu reden. Aber was auch immer es gewesen war, offensichtlich hatte Tina ihr undefinierbares »Mehr« letztlich ausgerechnet bei Thomas gefunden, den Jonathan bereits seit der Schulzeit kannte und der bei Griefson & Books für das gesamte Marketing verantwortlich war.

Gewesen war. Denn nach der Trennung hatte Thomas es vorgezogen, seine Stelle im Verlag zu kündigen, Tina zurück in ihren Agenturjob zu schicken und fortan mit ihr in einer 3-Zimmer-Wohnung in der Schanze zu hausen.

Bei dem Gedanken an die beiden schüttelte Jonathan nun ungläubig den Kopf, während er den Blick weiterhin unverwandt auf seine neongelben Nike-Schuhe heftete. Was für ein verpfuschtes Leben im Namen der Liebe! Und da wünschte ausgerechnet Tina ihm »Ein erfolgreiches und glückliches neues Jahr«? Das war ja der pure Hohn!

Jonathan schnaubte laut aus, wobei sich eine kleine Dunstwolke vor seinem Mund bildete. Er war erfolgreich, und er war – verdammt! – glücklich!

Seine Schritte wurden wieder schneller, sodass er neben der Hundewiese beinahe ins Stolpern geriet und nur um Haaresbreite der Hinterlassenschaft eines der Köter, die hier von ihren Herrchen und Frauchen leinenlos auf die Menschheit losgelassen wurden, ausweichen konnte.

Schwer atmend blieb er stehen, fingerte aus dem Sportarmband an seinem Oberarm, in dem er neben iPhone und Haustürschlüssel auch kleine Plastikbeutelchen verwahrte, eines der knisternden Säckchen hervor, stülpte es sich über die Hand, um den Hundekot darin mit spitzen Fingern in den nächsten Mülleimer zu befördern. Nichts, was ihm Freude bereitete, aber irgendjemand musste sich ja darum kümmern.

Wieder so eine Sache, über die Jonathan Grief sich maßlos ärgerte. All die großen »Tierliebhaber«, die sich eine Dogge oder einen angesagten Weimaraner unter unwürdigsten Umständen in ihren schicken Altbauwohnungen hielten und es nicht mal hinbekamen, deren Kackehaufen wegzuräumen, wenn sie die armen Viecher für die obligatorischen fünf Minuten durch die Gegend zerrten.

Im Geiste schrieb er bereits eine weitere Mail an die Redaktion der »Hamburger Nachrichten«, an diesem Missstand würde sich im neuen Jahr unbedingt etwas ändern müssen! Da würde der Gesetzgeber energischer durchgreifen und härtere Strafen verhängen müssen, damit auch der Letzte begriff, dass die eigene Freiheit da aufzuhören hatte, wo sie das Leben anderer beeinträchtigte. Und Hundekot am Schuh – das war in Jonathans Augen durchaus eine Beeinträchtigung. Eine, die ihm gewaltig stank.

Während Jonathan langsam wieder anlief, warf er einen schnellen Blick auf die Run-App seines Smartphones und stellte als nächstes Ärgernis fest, dass er durch den kurzen Zwischenstopp natürlich nun die gesamte Statistik ruiniert hatte. Kurz wünschte er sich, den Hundehaufenübeltäter mitsamt seinem Köter in die Finger zu bekommen, dem würde er was erzählen!

Dann aber wanderten seine Gedanken zurück zu Tina und Thomas. Tina und Thomas, vermutlich nannten sie sich gegenseitig »Tini und Tommy«, vielleicht aber auch »Mausepups« und »Hasenbär«, wer wusste das schon?

Er malte sich aus, wie sie abends gemeinsam bei einer Flasche Rotwein vom Discounter in ihrem zusammengeschusterten Ikea-Wohnzimmer saßen, während ihre gemeinsame Tochter Tabea – ja, ja, jaaaa, offenbar war das Leben zu zweit doch nicht der Gipfel der Perfektion gewesen, denn Tina hatte etwa dreißig Sekunden nach Bekanntgabe ihrer Liaison mit Thomas ein Baby zur Welt gebracht – friedlich in ihrem Hochbett mit Rutsche aus handgebeizter Bio-Lärche schlummerte. Tini, Tommy und Tabbi also, das war fast so gut wie Tick, Trick und Track.

Tick, Trick und Track in ihrer Schanzen-Bude. Und Tick und Trick machen sich Gedanken um Jonathan und wie es ihm wohl geht. Bis Tick meint, dass sie noch mal eben schnell runter zum Penny will, die hätten da gerade so süße Schokoschornsteinfeger, da könne sie doch einen besorgen und ihrem Ex mit einer Karte vor die Tür stellen, schließlich habe sie ihn damals ja so gemein verlassen und ihm damit das Herz gebrochen.

»Gute Idee, Tick!«, ruft Trick aus. »Und bring dann bitte gleich noch eine Flasche von dem Chateau de Clochard mit, der ist gerade im Angebot, dann feiern wir heute Abend!«

Jonathans Pulsuhr zeigte eine Herzfrequenz von 172 Schlägen pro Minute an, wieder musste er seine Schritte bremsen, wenn er nicht seine Gesundheit gefährden wollte. Er wusste selbst nicht, was an diesem Morgen mit ihm los war, musste sich indes zähneknirschend eingestehen, dass es ihm noch immer nicht gelang, bei den Gedanken an Tina und ihr neues Leben Ruhe zu bewahren.

Und das trotz zwanzig Stunden bei einem Life-Coach, der ihm versichert hatte, das Übel nach nur zwei oder drei Sitzungen mit der Wurzel ausreißen zu können. Noch so ein Stümper, über den Jonathan sich aufregen könnte, wenn er wollte. Der Kerl hatte damals sogar die Chuzpe besessen, ihm mangelnde Kooperation vorzuwerfen, als Jonathan ihn auf methodische Unzulänglichkeiten bei seinem Coaching hingewiesen hatte.

Erstaunlicherweise, dachte Jonathan, während er nun an »Bodo’s Bootssteg« (auch hier mit falschem Apostroph, es war zum Verrücktwerden!) vorübertrabte, hatte Tina damals nach der Trennung rein gar nichts von ihm gefordert. Kein Geld, keinen Unterhalt, keinen Anteil vom Haus, kein Nichts.

Dabei hätte sie das alles fordern können, laut Jonathans Anwälten sogar eine ganze Menge mehr. Aber sie war genau so gegangen, wie sie acht Jahre zuvor gekommen war – mittellos und mit einem unterbezahlten Job als Grafikerin. Sogar den von ihm geschenkten Mini und sämtlichen Schmuck hatte sie, entgegen seinem Protest, zurückgelassen.

Jonathans Life-Coach war damals der Meinung gewesen, dass Tina damit Stil und Anstand bewiesen hätte, denn schließlich hätte sie ja die Scheidung gewollt. Aber mal abgesehen davon, dass er den Trainer gebucht hatte, damit er die Angelegenheit so schnell wie möglich abhaken konnte, und nicht, um dessen unqualifizierte Meinung über das Verhalten seiner Ex zu hören, sah Jonathan das bis heute ein klein wenig anders: Tinas Verzicht auf alles, was ihr rechtlich zustand, war kein würdevoller Abschied gewesen, sondern nichts weiter als eine kleine, perfide Stichelei, die ihm zeigen sollte, dass sie ihn nicht brauchte. Auch nicht sein Geld. Nicht einmal das.

Zwanzig Minuten später erreichte Jonathan schwitzend und ungewohnt keuchend den Trimm-Fit-Circle am Schwanenwik. Jeden Morgen beendete er hier seine Tour mit einem dreißigminütigem Work-out in dem kleinen Parcours, der um diese Uhrzeit so gut wie von niemandem außer ihm genutzt wurden. Erst recht nicht am Neujahrsmorgen, da schien er weit und breit der einzige Mensch auf Erden zu sein.

Erst machte er fünfzig Liegestütze, dann fünfzig Sit-ups gefolgt von fünfzig Klimmzügen. Die Prozedur wiederholte er insgesamt drei Mal. Danach fühlte er sich fit für den Tag, und als er bei den abschließenden Dehnübungen an sich herunterblickte, stellte er wie so oft erfreut fest, dass sich sein tägliches Sportprogramm durchaus auszahlte.

Für seine zweiundvierzig Jahre war er ausgesprochen gut in Form, in Sachen Fitness könnte er es ohne Weiteres mit jedem Mittzwanziger aufnehmen, und mit einem Gewicht von achtzig Kilo bei einer Größe von knapp 1,90 Metern war er schlanker als die meisten Männer seines Alters. Im Gegensatz zu Thomas, der schon zu Schulzeiten einen deutlichen Hang zu »Lovehandles« im Hüftbereich zu beklagen hatte.

Und ebenfalls im Gegensatz zu Tinas »großer Liebe« verfügte Jonathan über dichtes, schwarzes Haar, das nur an den Schläfen ein paar graue Strähnen aufwies. Ein interessanter Kontrast zu seinen blauen Augen, wie Tina immer gesagt hatte.

Ein Kontrast, der sie nun nicht mehr zu interessieren schien, denn Thomas, der Ärmste, hatte bereits mit Ende zwanzig eine speckig glänzende Stirnglatze entwickelt, die man nur mit liebevollem Blick noch als »Geheimratsecken« bezeichnen konnte. Und dazu eine Augenfarbe, die sich irgendwo zwischen Matschbraun und glasigem Grün bewegte.

Jonathan erlaubte sich ein kurzes Lächeln, als er daran dachte, wie oft er seinen damals besten Freund hatte aufbauen müssen, wenn der mal wieder keinen Erfolg bei Frauen aufzuweisen hatte.

Umso ungerechter war jetzt die Situation. Wenn er nur an Thomas’ Spruch damals dachte: »Tja, Jonathan, nimm’s nicht so schwer, der Bessere gewinnt«! Der Bessere – pah! Seit seiner Kündigung verdingte Thomas sich als »freier Marketingberater«, was genau genommen ja nur eine nettere Umschreibung für »arbeitslos« war; von Erfolg konnte bei ihm also keine Rede sein.

Jetzt reichte es aber wirklich: Bevor Jonathan noch Gefahr lief, sich ein weiteres Mal in Überlegungen hineinzusteigern, weshalb und warum Tina ihn ausgerechnet für diesen, schon rein objektiv gesehen, »schlechteren« Kerl verlassen hatte, straffte er die Schultern und marschierte zu seinem Mountainbike, das er wie immer am Eingang zum Trimm-dich-Parcours angeschlossen hatte.

Er stutzte, als er die schwarze Tasche sah, die am Lenker seines Fahrrads baumelte. Wie kam die denn dahin? Hatte die jemand vergessen? Aber warum ausgerechnet an seinem Mountainbike? Seltsam. Oder war das etwa noch eine »Aufmerksamkeit« von Tina? Lauerte sie ihm nun schon an seiner morgendlichen Trainingsstrecke auf?

Er nestelte die Henkel der Tasche vom Lenker ab. Sie war relativ leicht und bei näherer Betrachtung nur ein etwas hochwertigerer Einkaufsbeutel aus Nylon mit Reißverschluss, wie man ihn zu einem kleinen Päckchen zusammengefaltet an jeder Supermarktkasse kaufen kann.

Jonathan überlegte, ob er ihn öffnen sollte, schließlich gehörte er ihm nicht. Aber er dachte nur kurz darüber nach, denn letztendlich hatte ihn jemand an sein Fahrrad gehängt, also zog er mit einem energischen Ruck den Reißverschluss auf und warf einen Blick ins Innere der Tasche.

Zum Vorschein kam ein dickes, in dunkelblaues Leder gebundenes Buch. Interessiert nahm Jonathan es zur Hand, drehte es von links nach rechts. Das Buch war neu, das Leder von edler Prägung mit abgesteppten weißen Nähten, eine Lasche hielt es per Druckknopf verschlossen.

Ein Filofax, wie es im Zeitalter von iPhone, Blackberry & Co. nur noch wenige Menschen benutzten, jedenfalls, wenn sie jünger als fünfzig waren.

Jetzt war Jonathan verwirrt. Weshalb hängte ihm jemand einen Beutel mit einem altmodischen Terminkalender ans Fahrrad?

2Hannah

2 Monate zuvor, 29. Oktober, Sonntag, 8:21 Uhr

Hannah Marx erwachte und wusste, dass sie verliebt war.

Aber sie hatte keine Ahnung, in wen.

Was sie allerdings wusste: Es handelte sich – und das irritierte Hannah noch viel mehr – auf keinen Fall um ihren Freund Simon Klamm, von dem sie sich schon länger einen Heiratsantrag wünschte. Nur heimlich allerdings, sie hatte es ihm bisher noch nie gesagt oder es auch nur angedeutet. Aber nachdem er und sie nun bereits seit mehr als vier Jahren ein Paar waren, wurde es Hannahs Meinung nach langsam Zeit dafür.

Sie schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf und rieb sich verwirrt die Augen. Was war das nur für ein seltsamer Traum gewesen in der vergangenen Nacht? Noch deutlich spürte sie das angenehme Kribbeln, das ihren gesamten Körper durchzog, und ein schneller Blick in den Spiegel neben ihrem Bett verriet ihr, dass ihre Wangen vor Aufregung gerötet waren. Die roten Locken standen ihr so wild vom Kopf ab, als hätte sie die gesamte Nacht ausgelassen in den Kissen gewühlt, und sogar ihre Lippen glänzten rot und voll wie nach einer längeren Knutscherei.

Keine Frage, Hannah hatte sich im Schlaf verliebt. Nein, kein erotischer Traum über irgendeinen Fremden, das nicht. Auch nicht ein Traum mit jemandem, den sie kannte, mit einem früheren Kollegen, Nachbarn oder jemandem aus ihrem Freundeskreis.

Genau genommen konnte sie sich an gar keinen Mann erinnern, der in ihrem Traum eine Rolle gespielt hatte. Eben nur an das Gefühl. An dieses ganz eindeutige Gefühl von Verliebtheit. Von Wärme und Geborgenheit, von Schmetterlingen im Bauch und Lachen und Gekicher, von übermäßiger Freude und Ausgelassenheit, Verrücktheit. Und von Glück, ja, das auch.

Seufzend schwang sie die Beine aus dem Bett und blieb einen Moment lang auf der Kante sitzen. Sie schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, damit wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und den nebulösen Traum zu verscheuchen. So angenehm das Gefühl auch gewesen war, sie brauchte heute früh einen klaren Kopf, denn schließlich stand ihr ein wichtiger Tag bevor.

Fast ein halbes Jahr lang hatten ihre beste Freundin und Kollegin Lisa und sie ein heruntergekommenes Ladenlokal im Eppendorfer Weg renoviert und eingerichtet, dazu Businesspläne verfasst und Anträge auf Existenzgründung gestellt, einen Internetauftritt gestaltet und dabei mithilfe von Crowdfunding sogar ein beachtliches Startkapitel zusammenbekommen (ein bisschen hatten Hannahs und Lisas Eltern auch dazugegeben), über Marketing und Außenwerbung nachgedacht, Flyer gedruckt, Lisas alten VW-Bus mit ihrem selbst entworfenen Logo beklebt und, und, und.

Heute, um 14 Uhr, war es endlich so weit: Sie würden ihren Laden »Rasselbande-Events – die Freizeit-Agentur für Kids« mit einer großen Kinderparty eröffnen!

Die Idee dazu hatte Hannah schon seit Ewigkeiten, wenn auch nur sehr vage im Hinterkopf. Genau genommen träumte sie davon schon seit fast zehn Jahren; seit dem Tag, an dem sie und Lisa gemeinsam nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin in derselben Gruppe einer Kita angefangen hatten.

Miese Bezahlung und katastrophale Arbeitszeiten waren das eine, was sie – und auch Lisa! – immer gestört hatte. Aber als viel schlimmer noch hatte Hannah die Zustände empfunden, die in ihrem Kindergarten herrschten: nie genug Geld für vernünftiges Spielzeug und Bastelmaterialien, für Ausflüge oder Zusatzangebote wie Kinderturnen oder Musikkurs; die Sandkiste im Hof war meistens leer, die marode Schaukel daneben lebensgefährlich.

Die Eltern ihrer kleinen Schützlinge wären zwar durchaus bereit gewesen, sich selbst finanziell einzubringen – aber aus irgendwelchen Gründen, die Hannah und Lisa bis zum heutigen Tag ein Rätsel blieben, stellte sich die Kita-Leitung komplett quer, auf solche Mittel zurückzugreifen.

Auch insgesamt drei Wechsel in andere Kindergärten brachten den beiden keine Befriedigung, überall schienen ähnliche Missstände zu herrschen. Und so war in Hannah langsam, aber stetig der Wunsch gewachsen, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Unabhängig von irgendwelchen Kita-Leitungen und Geschäftsführern wollte sie etwas erschaffen, das Kindern wirklich Freude bereitete. Für das Eltern bereit wären, Geld auszugeben, weil sie ihre Schützlinge in guter und liebevoller Obhut wussten.

Und so hatte Hannah vor einem halben Jahr, nachdem sie die Idee wieder und wieder gedanklich hin und her gewälzt hatte, Lisa in ihren Plan eingeweiht und sie davon überzeugt, dass sie es versuchen müssten; dass sie ihre Jobs kündigen und das Projekt »Rasselbande« in Angriff nehmen sollten. Weil sie sonst nie herausfinden würden, ob sie damit erfolgreich sein könnten, und weil man ja bekanntlich am Ende seines Lebens nie die Dinge bereuen würde, die man getan hatte, sondern die, die man nicht getan hatte.

Als »ausgemachten Unsinn« hatte Simon ihr Vorhaben bezeichnet, nachdem Hannah ihm davon erzählt hatte. Als etwas, »das die Welt nicht braucht« – und dass es noch dazu Wahnsinn war, eine sichere Stelle zu kündigen, eine »Kamikazeaktion«, nur weil man irgendwelche »Flausen im Kopf« hatte. Dabei dann noch eine Freundin mit »reinzuziehen«, das war in seinen Augen darüber hinaus der »Gipfel der Verantwortungslosigkeit«.

Manchmal war sie fast versucht gewesen, ihm recht zu geben. Nach einem besonders anstrengenden Tag vielleicht, wenn sie nach der Arbeit auch noch mit dem Businessplan gekämpft hatte. Oder wenn plötzlich die Angst an ihr zerrte, dass sie im Falle des Scheiterns nicht nur ihre eigene, sondern auch die Zukunft von Lisa aufs Spiel gesetzt hätte.

Aber mit der Zeit hatte Hannah sowohl sich selbst als auch ihren zur Schwarzmalerei neigenden Freund davon überzeugen können, dass das Land zwar gerade in einer Medienkrise steckte – von der Simon als frisch entlassener Redakteur der »Hamburger Nachrichten« unmittelbar betroffen war (der Chef hatte es eleganter als »freigestellt« formuliert) –, ihre Idee für die Kinder-Event-Agentur aber trotzdem genial war.

Immerhin hatten Lisa und sie sich vor ihrer Doppelkündigung die Mühe gemacht, einen ausgefeilten Fragebogen an mehr als zweihundert Elternpaare zu verteilen, mit dessen Hilfe sie ermittelt hatten, was genau sich Mamas und Papas für ihren Nachwuchs wünschten. Und wie viel ihnen das jeweilige Angebot wert wäre, damit sie in der Zwischenzeit sorgenfrei ihrem Beruf oder der Verbesserung ihres Golfhandicaps nachgehen konnten.

Die Auswertungsergebnisse der Umfrage – und der sensationelle Erfolg beim Crowdfunding – hatten endlich sogar Simon beeindruckt. Er musste Hannah gegenüber eingestehen, dass sie mit ihrer Idee selbst dann, wenn sich nur die Hälfte ihrer Erwartungen erfüllen ließ, locker auf ihr recht spärliches Gehalt kommen würde, das sie als Erzieherin bezahlt bekam.

Der Plan war im Grunde genommen simpel: Lisa und sie würden nachmittags, am frühen Abend und vor allem an den Wochenenden ihr Programm anbieten und damit Familien ansprechen, die auch außerhalb von Kita-Zeiten ihren Nachwuchs unterbringen mussten oder wollten. Für einen unschlagbaren Stundensatz von sechs Euro pro Kind wären sie günstiger als jeder Babysitter – würden aber wesentlich mehr bieten als nur »bezahltes Fernsehen« oder reine Kleinkindverwahrung, die schon als erfolgreich galt, wenn dabei niemand zu Tode kam.

Bei der Rasselbande sollte es anders sein, mit jeder Menge Spaß und Action. Einmal im Monat würden sie von Samstag auf Sonntag sogar ein »Übernachtungsfest« veranstalten und damit Eltern die Möglichkeit geben, mal wieder »auf den Swutsch« zu gehen und anschließend ausschlafen zu können. Bei guter Nachfrage wären solche Aktionen auch häufiger denkbar.

So stellten Hannah und Lisa es sich jedenfalls vor. Mit einer Gruppe von höchstens sechzehn Kindern zwischen drei und sechs Jahren – also acht pro Erzieherin; ein wirklich luxuriöser Betreuungsschlüssel, denn im Vergleich dazu hatten sie bei ihren früheren Jobs zu zweit oft zwanzig kleine Racker oder mehr beaufsichtigen müssen – konnten sie tolle Dinge unternehmen: ob Ausflüge zum Abenteuerspielplatz und zu den Hirschen ins Niendorfer Gehege, zur Feuerwehr oder Polizei, in die Hamburger Bücherhallen, an den Elbstrand inklusive Fahrt mit der für Kleinkinder kostenlosen HVV-Fähre, zum Bauspielplatz am UKE, im Sommer zum großen öffentlichen Planschbecken im Stadtpark oder, oder, oder.

Und für das in Hamburg unvermeidliche »Schietwedder« hatten sie in ihrem Laden am Eppendorfer Weg genug Platz für Indoor-Aktivitäten. Neben dem vorderen Bereich mit Anmeldung, Garderobe, Kitchenette und Toilette mit Wickeltisch war das eigentliche Herzstück der Rasselbande das fast vierzig Quadratmeter große Spiel- und Tobezimmer. Hier hatten Lisa und Hannah in den vergangenen Wochen viele, viele Stunden gewirbelt und den Raum in ein wahres Kinderparadies verwandelt.

Mit Sprossenwand und dicker Turnmatte, Kaufmannsladen und Küche, einer Ritterburg mit Rutsche (für einen Apfel und ein Ei auf eBay erstanden), Kuschelecke mit Decken, Kissen, CD-Player und Bilderbüchern, Prinzessinnenzelt, Kostümkiste, Bobbycars, Bauklötzen und Bastelutensilien, Kinderschminke und vielem mehr.

In dem kleinen Hinterhof, der zum Laden gehörte, standen selbstverständlich eine abdeckbare Sandkiste und eine brandneue Schaukel (ebenfalls eBay, zwei Äpfel und zwei Eier), außerdem hatten Hannahs Eltern eine Hängematte, Lisas Eltern ein paar Miniaturgartenmöbel und jede Menge Sandspielzeug gespendet.

Das Nonplusultra – darauf war Hannah besonders stolz – war allerdings, dass sie seit zwei Monaten sogar Gitarrenunterricht nahm, um mit den Kiddies Musik machen zu können. Lisa hingegen hatte sich mit dem Thema »Mini-Disco« beschäftigt und zu beliebten Songs wie »Der Cowboy Jim aus Texas«, »Veo veo« und »Das Lied über mich« ein paar einfache Choreografien einstudiert, wie man sie von Animateuren in Club-Hotels kennt.

Kurz: Sie hatten an alles, wirklich alles gedacht, was das Kinderherz nur begehren konnte. Und sie glaubten fest an den Erfolg der Rasselbande, nein, sie waren überzeugt davon.

Die ungewöhnlichen Arbeitszeiten an den Wochenenden und abends wären dabei für beide kein Problem. Lisa war seit über drei Jahren Single, obwohl sie nicht nur nach Meinung von Hannah wirklich hinreißend aussah: Mit einer Größe von nur 1,65 Metern war sie zwar klein, aber mit extrem fraulichen Kurven gesegnet, und ihr kurzer schwarzer Struwwelkopf lud einfach nur zum Drüberstreicheln ein. Ihre Augen hatten die warme Farbe von Bernstein, und noch dazu hatte sie von Natur aus einen Schmollmund, für den so mancher Schönheitschirurg töten würde, wenn er wüsste, wie er so was künstlich hinbasteln könnte.

Dennoch, in Lisas Leben war schon ewig kein passender Mann mehr aufgetaucht, was sie laut eigener Aussage »nicht im Geringsten« störte. Hannah kaufte ihr das zwar nicht so ganz ab – aber in Hinblick auf die Rasselbande war Lisas komplette Unabhängigkeit natürlich ideal.

Was Hannah betraf, war sie bis vor Kurzem ebenfalls davon ausgegangen, abends und am Wochenende ungestört arbeiten zu können, weil Simon meistens ewig in der Redaktion hockte. Das hätte also super gepasst und wäre sogar ein richtiges Plus für ihre Beziehung gewesen. Momentan galt das ja nun leider nicht mehr, aber das würde sich hoffentlich bald ändern. Und in der Zwischenzeit, hatte er Hannah versichert, sah er überhaupt kein Problem darin, wenn sie sich jetzt voll und ganz ihrem Projekt widmete. Sie hatte nicht so richtig gewusst, ob sie sich über seinen ausbleibenden Protest freuen oder ärgern sollte, sich dann aber fürs Freuen entschieden, weil das ihrer Meinung nach in jeder Lebenslage die bessere Einstellung war.

»Du kannst ja auch mitmachen!«, hatte Hannah Simon sogar vorgeschlagen. »Immerhin hast du jetzt Zeit. Und wenn es so gut läuft, wie Lisa und ich uns das vorstellen, brauchen wir über kurz oder lang sowieso noch Leute.«

»Als was soll ich denn da mitmachen?«, hatte er gefragt. »Soll ich meine Fähigkeiten im Kinderschminken perfektionieren? Oder mich ab sofort morgens in ein Clownkostüm werfen?«

»Bloß nicht!«, hatte Hannah lachend erwidert. »Du wärst bestimmt eher so eine Art ›Pennywise‹, vor dem die Kinder heulend und schreiend wegrennen.« Dabei hatte sie sich allein bei dem Gedanken an den Clown aus Stephen Kings Horrorroman »Es« geschüttelt.

»Was soll das denn heißen?«, hatte ihr Freund beleidigt gefragt. »Ich liebe Kinder!«

»Ja. Vor allem, wenn sie schlafen. Oder wenn sie nur durch ein Fernglas an einem sehr weit entfernten Horizont auszumachen sind.«

»Pffff!« Er hatte beide Arme um sie gelegt und sie fest an sich gezogen. »Wenn wir erst einmal eigene Kinder haben, wirst du schon merken, was für ein fantastischer Papa ich bin!«

»Meinst du?«, hatte Hannah ihn gefragt und kieksend gelacht, weil seine Umarmung sie kitzelte.

In Wahrheit hatte ihr Herz bei seinen Worten allerdings regelrechte Aussetzer erlitten. »Eigene Kinder«. Hatte er das wirklich ernst gemeint? Bisher hatten sie ja noch nicht einmal übers Heiraten oder auch nur übers Zusammenziehen gesprochen – lediglich den Schlüssel zu Simons Apartment in Hohenfelde hatte er ihr vor einem halben Jahr feierlich überreicht.

»Ja«, hatte Simon lapidar erwidert und einen Kuss auf Hannahs Nasenspitze platziert, »davon bin ich überzeugt.«

»Dann bin ich mal gespannt.«

»Jedenfalls, was die Rasselbande betrifft«, hatte ihr Freund das Thema leider sofort wieder gewechselt, »stehe ich euch natürlich gern mit Rat und Tat zur Seite und übernehme mit Freuden für euch die Pressearbeit. Aber ansonsten sehe ich mich lieber nach einer neuen Stelle als Redakteur um.«

»Oder du schreibst endlich deinen Bestseller.«

»Also, dafür habe ich jetzt gerade echt keinen Kopf!«

»Warum nicht?«, hatte Hannah wissen wollen. »Ich finde den Zeitpunkt ideal!«

»Ideal?«

»Na ja, du hast im Moment nichts zu tun, bekommst aber trotzdem noch ein halbes Jahr lang dein volles Gehalt. Zusammen mit deiner Abfindung reicht das Geld sogar für ein Jahr – ich finde, du bist ein echter Glückspilz!«

»Ein Glückpilz?« Simon hatte sie fassungslos angestarrt.

»Ein Jahr zu Hause bezahlt rumsitzen und deinen großen Roman schreiben können? Davon träumt doch jeder!«

»Manchmal gehst du mir mit deiner ewigen ›Alles-ist-für-irgendwas-gut‹-Einstellung tierisch auf die Nerven«, hatte Simon fast ein bisschen böse erwidert. »Du weißt ja nicht, was es bedeutet, mit einem krisengebeutelten Beruf wie meinem auf der Straße zu stehen.«

Dazu hatte Hannah nichts mehr gesagt, auch wenn sie es ein bisschen ungerecht fand, dass Simon vollkommen vergaß, wie oft sie in den letzten Jahren völlig fertig gewesen war wegen der Zustände in der Kita. Und dass er selbst bis vor Kurzem immer gern behauptet hatte, wie viel mehr Verantwortung ihr Job mit sich brachte als seiner und wie ungerecht es war, dass sie so wenig Geld dafür bekam.

Sie hatte sich sogar die Frage verkniffen, ob es bei Simon vielleicht Zeit für einen anderen Beruf sein könnte, wenn die Lage in der Medienbranche denn ach so dramatisch war. Denn es stimmte schon: Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, neben dem sicher geglaubten Job auch die Perspektive zu verlieren. Sie war ja »nur« Erzieherin und hatte nicht einmal Abitur – aber dafür verfügte sie tatsächlich über einen unerschütterlichen Optimismus.

Und der zeigte sich unter anderem darin, dass Hannah der festen Überzeugung war, dass sich mit jeder Tür, die sich schloss, eine andere, oftmals sogar bessere, öffnete. Aber auch das hatte sie Simon nicht gesagt, denn sie hatte sich schon ausmalen können, dass er darauf höchstens ein mauliges »Verschon mich bitte mit deinen Kalendersprüchen!« erwidert hätte.

Nein, Simon musste es allein aus seinem Tief schaffen, da hielt sie sich besser raus. Und bis es so weit war, musste er eben in seinem eigenen Saft schmoren – oder sich vorsichtshalber vielleicht doch ein Clownkostüm zulegen …

Die Sache mit einem neuen Job bei einer Zeitung, einem Magazin oder einer Online-Redaktion entpuppte sich bisher tatsächlich als ganz schön schwierig. Obwohl er sich bei jeder noch so kleinen Klitsche bewarb, hagelte es seit Wochen nur Absagen. Was seine Laune nicht unbedingt hob und gleichzeitig für angespannte Stimmung zwischen Hannah und ihm sorgte.

Denn während sie voller Elan und Begeisterung an der Entstehung ihrer Agentur bastelte, wurde Simons Laune mit jedem Tag, den er ohne Job zu Hause rumsaß, schlechter. Heimlich wünschte sie sich hin und wieder die Anfangszeit ihrer Beziehung zurück, in der Simon sie mit seinem Witz, seinem Charme und seiner liebevollen Art sprichwörtlich aus den Schuhen gehauen hatte.

Hannah hatte ihn in der Kita kennengelernt, als er einmal seinen Patensohn eingesammelt hatte. Sofort war da dieses gewisse Knistern zwischen ihnen gewesen, und in den folgenden Wochen hatte Simon den Jungen plötzlich ziemlich oft abgeholt.

Zufall oder Absicht? Wohl Letzteres, denn nach etwa zwei Monaten hatte er sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, sich auch mal außerhalb der Arbeit mit ihm zu treffen.

»Wenn ich erst eigene Kinder haben muss, um dich öfter zu sehen, könnte es noch ein bisschen dauern«, hatte er gesagt. »Außerdem wäre der perfekte Zeitpunkt für uns dann wohl vorbei.« Beim Gedanken an Simons originelle Bitte um ein Rendezvous lächelte Hannah nun versonnen.

Die Erinnerung an ihr erstes Treffen flackerte in ihr auf, bei dem Simon sie zu einem Picknick an der Elbe eingeladen hatte. Es war grandios gewesen! Die Sonne hatte an diesem wunderschönen Tag im Mai mit Simon um die Wette gestrahlt, und sie hatten von vormittags bis spät in die Nacht am Strand auf seiner wasserundurchlässigen Campingdecke gesessen, den Schiffen zugeguckt und dabei all die Köstlichkeiten genossen, die Simon in zwei überdimensionalen Taschen angeschleppt hatte: eisgekühlter Weißwein und Champagner, Fruchtsäfte und Wasser, Obst und Käse, Ciabatta, Salate, selbstgemachte Frikadellen (selbst-ge-mach-te!), Pata Negra, Scampi in Öl, gemischte Antipasti – Simon hatte das komplette Catering-Programm aufgefahren, um Hannah zu beeindrucken.

Dazu hatte er sogar richtige Gläser, Geschirr, Besteck und Stoffservietten im Gepäck gehabt, nach Einbruch der Dunkelheit hatte er zwei mitgebrachte Pechfackeln entzündet – Hannah war sich vorgekommen wie bei einem Galamenü. Nun ja, wie bei einem Galamenü im Sand.

Dann Simons erster Kuss … So schüchtern und lieb, so aufgeregt und zittrig, sein Herz hatte dabei so wild geklopft, dass sie es hatte spüren können.

Und wenn sie sich nicht gerade küssten, hatte er erzählt. Ohne Punkt und Komma hatte er geredet, von seinem spannenden Job bei der Zeitung berichtet, von seinen Plänen für eine Weltreise, die er irgendwann einmal machen wollte, und von dem großen Roman, den er schreiben würde, sobald er die Zeit dazu hätte. Er hatte gelacht und Witze gemacht und rumgesponnen und Hannah damit in seinen Bann gezogen. So viel Elan, so viel Leidenschaft, so viel Enthusiasmus!

Doch kurz darauf war dann erst Simons Mutter Hilde an Krebs gestorben – wie einige Jahre zuvor sein Vater –, und als er sich von diesem Schock ein bisschen erholt hatte, hatte es in den Medien zu kriseln begonnen.

Mit jedem Kollegen, der daraufhin seinen Platz in der Redaktion hatte räumen müssen, war Simon unsicherer, verzagter und pessimistischer geworden, bis schließlich seine größte Befürchtung, ebenfalls entlassen zu werden, eingetreten war. Manchmal dachte Hannah sogar, er hätte seine Entlassung selbst »herbeigeredet«, so oft, wie Simon darüber lamentiert hatte.

Und seitdem haderte er eben mit dem Leben, dem Schicksal und mit sich selbst, was Hannah zwar einerseits nachvollziehen konnte, ihr andererseits manchmal, so ungern sie es zugab, auf die Nerven ging. Zumal sie davon überzeugt war, dass Simon mit seiner Haltung den komplett falschen Weg einschlug. Er mochte es für Humbug halten, aber Hannah war sich sicher, dass die Energie eines jeden Menschen seiner Aufmerksamkeit folgt: Optimisten erlebten Gutes, Pessimisten Schlechtes, und wer immer nur vom Negativen ausging, dem servierte das Universum auch die dazu passenden Ergebnisse.

Hannahs Ansicht nach hatte Simon, bei Tageslicht betrachtet, zum Jammern überhaupt keinen Grund! Immerhin war er jung und gesund, hatte ein Dach über dem Kopf, genug zum Essen und eine liebende Partnerin an seiner Seite, da ging es vielen Menschen auf der Welt wesentlich schlechter! Sie hoffte wirklich, er würde zu seiner alten Form zurückfinden, sobald ein neuer Job für ihn in Sicht wäre.

Hannahs Telefon klingelte und verscheuchte ihre Gedanken an Simon. Sie sprang vom Bett auf und hechtete in den Flur ihrer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in Lokstedt, wo der Apparat auf einer Kommode neben der Tür stand.

»Guten Morgen!«, trötete Lisa ihr ins Ohr, sobald sie abgenommen hatte.

»Guten Morgen!«, erwiderte Hannah und unterdrückte ein Gähnen.

»Oh, tut mir leid, hab ich dich etwa geweckt?«

»Quatsch! Ich bin seit Stunden wach«, flunkerte sie.

»Dann ist ja gut, ich hatte schon Sorge …«

»Nein, alles gut«, unterbrach sie ihre Freundin.

»Und? Bist du bereit?«

»Aber so was von! Ich kann’s kaum noch erwarten!«

»Dann treffen wir uns um zehn im Laden?«

»Eher halb zehn, ich bin schon so gut wie fertig.«

»Gut, dann beeil ich mich auch. Soll ich auf dem Weg noch irgendwas besorgen?«

»Wenn du vor mir da bist, könntest du ja schon die bestellten Berliner und Amerikaner bei Werncke abholen.« Das war die Bäckerei schräg gegenüber der Rasselbande.

»Mach ich«, sagte Lisa. »Sonst noch was?«

Hannah überlegte einen Moment. »Nein, sonst ist alles da. Getränkekisten, die Heliumflasche für die Luftballons und das Einweggeschirr hat Simon noch in seinem Auto.«

»Wann kommt er denn?«

»Er meinte, so gegen elf wäre er da.«

»Okay«, sagte Lisa, »Dann sehen wir uns gleich!«

»Gut, bis gleich!«

Kaum hatte Hannah aufgelegt, spürte sie wieder dieses ungeheure Kribbeln aus ihrem Traum in sich aufsteigen. Sie lächelte erleichtert, denn jetzt wusste sie endlich, was es war. Sie hatte sich in der Nacht tatsächlich verliebt, das war ganz eindeutig.

Und zwar in die Idee, dass sie ab sofort keine kleine, unterbezahlte Angestellte mehr war – sondern Hannah Marx, stolze Mitbesitzerin von »Rasselbande-Events«!

3Jonathan

1. Januar, Montag, 8:18 Uhr

Verstohlen, mit einem beinahe schlechten Gewissen, sah Jonathan sich um. Was natürlich totaler Unsinn war, doch er spürte dieses seltsame Gefühl im Nacken, als wenn ihn jemand beobachten würde.

Aber da war niemand. Noch immer gab es weit und breit keinen einzigen Menschen an der Alster zu sehen, nur drüben auf der Straße fuhren langsam ein paar Autos vorüber.

Jonathan wollte sich schon wieder dem Kalender zuwenden, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Da war doch jemand! Unten am Ufer, halb versteckt hinter der »Alsterperle«, erkannte er eine schemenhafte Gestalt. Ohne groß darüber nachzudenken, sprintete Jonathan los, das Filofax und die Tasche fest umklammert.

Er hatte sich nicht getäuscht, direkt am Ufer des spiegelglatten Wassers stand jemand und hatte ihm den Rücken zugewandt.

»Hallo!«, rief Jonathan etwas atemlos.

Nichts geschah, die Gestalt blieb weiterhin regungslos stehen, blickte vollkommen versunken auf die Alster.

»He!«, rief Jonathan, diesmal lauter, erhielt aber noch immer keine Reaktion. Er verlangsamte seine Schritte, nun war er nah genug, um zu erkennen, dass es sich um einen groß gewachsenen, schlanken Mann handelte.

Etwas verwundert registrierte Jonathan, dass er lediglich Jeans, Turnschuhe und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt trug. Nicht gerade der passende Aufzug für einen Neujahrsspaziergang an der Alster, immerhin herrschten knappe Minusgrade.

»Hallo?«, fragte Jonathan ein weiteres Mal und tippte dem Fremden vorsichtig auf die Schulter.

Jetzt zuckte der Mann zusammen und fuhr herum. Er war jung, Jonathan schätzte ihn auf Anfang oder Mitte dreißig, und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen erschrocken an. Die Nickelbrille auf seiner Nase ließ seine grünen Augen sogar noch etwas größer wirken. »Meinen Sie mich?«

»Ja«, japste Jonathan.

»Was wollen Sie denn von mir?«

»Gehört das vielleicht Ihnen?« Jonathan hielt dem Fremden den Kalender und die Tasche unter die Nase. Und kam sich augenblicklich bescheuert vor. Wie musste das für den Mann aussehen? Da hechtete ein atemloser Jogger auf ihn zu und streckte ihm irgendwelche Sachen entgegen, das wirkte mit Sicherheit etwas bizarr.

Erwartungsgemäß schüttelte der Mann den Kopf, langsam zuerst, dann energischer. »Nein«, sagte er, »das gehört mir nicht.«

»Ähm, schade«, erwiderte Jonathan. Und sah sich zu einer Erklärung bemüßigt. »Ich habe das an meinem Fahrrad gefunden. Also, das heißt, die Tasche hing am Lenker meines Rads, und darin steckte dieser Kalender.« Wie zum Beweis deutete er noch einmal auf das Filofax. »Und weil ich hier außer Ihnen niemanden gesehen habe, da dachte ich, ich frage Sie mal, ob Sie die Tasche vielleicht …« Ihm fehlten die Worte.

»Am Lenker Ihres Fahrrads vergessen habe?«, beendete der junge Mann Jonathans Satz und lächelte.

»Ähm, ja, genau.«

Wieder ein Kopfschütteln, diesmal ein sichtlich amüsiertes. »Tut mir leid. Ich habe nichts an Ihrem Fahrrad vergessen.« Nun wandelte sich sein Lächeln zu einem breiten Grinsen.

Schlagartig musste Jonathan an Harry Potter denken. Die Nickelbrille und die braunen, etwas zerzausten Haare in Kombination mit dem jugendlichen Gesicht des Mannes drängten diesen Vergleich nahezu auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte vor Jonathans innerem Auge das Bild seines Vaters Wolfgang auf, der bis zu dem Zeitpunkt, als die Demenz ihn in die Knie und in eine Seniorenresidenz gezwungen hatte, immer wieder von der größten Schmach seines Lebens gesprochen hatte: als er damals, Ende der 90er-Jahre, empört die Veröffentlichung des deutschen Manuskripts über den kleinen Zauberschüler abgelehnt hatte, obwohl das gesamte Lektorat sich für den Titel ausgesprochen hatte. Als ein »Zeichen für den kulturellen Niedergang des Abendlandes!« hatte Wolfgang Grief den Millionenerfolg Harry Potters bezeichnet, als einen »Schandfleck der westlichen Literatur«.

Selbst heute, in seinen wenigen lichten Momenten, sprach er manchmal noch darüber, wenn sein Sohn ihn alle zwei Wochen in dem luxuriösen Pflegeheim an der Elbe besuchte. Insgeheim fand Jonathan es etwas befremdlich, dass sein Vater selbst in seinem Zustand nichts Besseres zu tun hatte, als sich über ein harmloses Kinderbuch aufzuregen. Er hoffte, ihm selbst ginge das im Fall der Fälle anders. Sowohl was die Demenz als auch das Nachtrauern verpasster Chancen betraf.

Jonathan beruhigte seinen Vater in den Augenblicken der schmerzhaften Erinnerung dann jedes Mal mit der Behauptung, dass die Jugendbücher von Griefson auch ohne Harry Potter ganz hervorragend liefen – eine glatte Lüge, hatte Jonathan den Bereich »Kinder & Jugend« auf Anraten seines Geschäftsführers Markus Bode bereits vor drei Jahren komplett einstellen lassen. Zu sehr verwässerte dieser Bereich ihre Marke, ließ ihr Alleinstellungsmerkmal verschwimmen, hatte Bode ihm erklärt. Lieber setzten sie auf ihr Kerngeschäft der anspruchsvollen Literatur und hochwertigen Sachbücher, die Buchhändler und finanzkräftige Zielgruppen so zu schätzen wussten.

Bode betonte immer wieder, wie sehr sich die Konzentration auf die »wirklich bedeutenden Dinge« ausgezahlt hatte, und Jonathan konnte ihm da nur zustimmen. Der Rubel rollte, die Rendite stimmte. Und Feuilleton-Liebling waren sie damit erst recht.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Die Stimme des jungen Mannes holte Jonathan zurück in die Wirklichkeit. In eine recht kalte Wirklichkeit, jetzt, da er hier bewegungslos am zugigen Alsterufer stand.

»Ja, ja«, beeilte er sich zu versichern. »Ich, äh, also, ich finde es nur seltsam, dass jemand mir diese Tasche ans Fahrrad gehängt hat.«

Der Mann lächelte noch immer und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Vielleicht ein Neujahrsgeschenk?«

»Ja«, erwiderte Jonathan ohne große Überzeugung. »Vielleicht. Also, dann …« Er blieb noch einen Augenblick unschlüssig stehen, bevor er dem jungen Mann verbindlich zunickte. »Also, nichts für ungut. Und Ihnen natürlich ein frohes neues Jahr.«

»Das wünsche ich Ihnen auch!« Er hatte den Satz noch nicht vollendet, da hatte der Mann sich bereits wieder der Alster zugewendet und tat das, was er zuvor auch getan hatte – er blickte stumm über die spiegelglatte Wasserfläche.

Langsam machte Jonathan sich daran, zurück zu seinem Fahrrad zu gehen.

»Schade.«

Es erklang so leise, dass Jonathan nicht sicher war, ob er sich verhört hatte. Er blieb stehen und drehte sich um. Der Mann vom Ufer sah ihn nun wieder an.

»Wie bitte?«, fragte Jonathan.

»Es ist schade, nicht wahr?«, fragte der Harry-Potter-Verschnitt.

»Was ist schade?« Jonathan ging erneut ein paar Schritte auf den Fremden zu.

Der Mann deutete mit dem Kopf Richtung Alster. »Dass die Schwäne weg sind.«

»Die Schwäne?«

»Sie sind jetzt alle im Winterquartier am Mühlenteich und werden erst im Frühjahr wieder hierhergebracht.« Er seufzte. »Ein Jammer.«

»Hm.« Mehr wusste Jonathan dazu nicht zu sagen. Aber weil der junge Mann ihn irgendwie so erwartungsvoll ansah, schob er ein pflichtbewusstes »wirklich schade« hinterher.

»Ich sehe den Schwänen gern zu, wissen Sie?«

»Ja.« Jonathan nickte, wenn auch verständnislos. »Schöne Tiere sind das.«

»Seelentiere«, sagte Harry Potter so leise, dass Jonathan es wieder kaum verstand. »Sie symbolisieren das Licht, die Reinheit und die Vollendung, sie stehen für Transzendenz.«

»Hm«, gab Jonathan erneut von sich, »faszinierend.« Er wollte gerade nachfragen, woher der junge Mann das wusste, da begriff er, weshalb der am Neujahrsmorgen nur so leicht bekleidet hier in der Kälte herumstand.

Drogen!

Offenbar hatte er eine besonders heitere Silvestersause hinter sich und lebte gerade noch in seiner ganz eigenen Welt. Kurz überlegte Jonathan, ob es seine bürgerliche Pflicht war, einen Krankenwagen oder die Polizei zu rufen, damit sich jemand dieses Kerls annahm, bevor er sich noch ernsthafte Erfrierungen zuziehen konnte oder irgendwelche Dummheiten anstellte. Aber er verwarf den Gedanken, eigentlich wirkte der Mann ganz klar. Auch wenn er seltsames Zeug redete und ein bisschen blass aussah, schien er nicht komplett hinüber.

»Sie könnten doch zum Mühlenteich fahren«, schlug Jonathan stattdessen vor. »Also, wenn Sie so gern die Schwäne sehen wollen. Ist ja nicht weit von hier.«

Der Mann nickte. Und lächelte noch immer. »Ja. Ja, das ist eine wirklich gute Idee.« Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und stapfte davon, ob Richtung Mühlenteich oder nicht, verriet er Jonathan nicht.

Einen Moment lang blieb Jonathan noch stehen und sah dem eigenartigen Kauz hinterher. Was auch immer Harry Potter zu sich genommen hatte – es schien eine erstaunliche Wirkung zu haben.

Nachdenklich spazierte Jonathan zurück zu seinem Fahrrad. Schwäne. Seelentiere. Transzendenz. Verrückt!

Erst als er sein Mountainbike erreicht hatte, fiel ihm auf, dass er noch immer die Tasche und das Filofax in der Hand hielt. Was sollte er damit nun machen?

Ein weiteres Mal sah er sich suchend um, aber außer dem jungen Mann, der gerade in einiger Entfernung die Böschung zur Straße hochkraxelte, war noch immer niemand zu sehen.

Jonathan ging zu einer der Bänke neben dem Trimm-dich-Parcours und nahm Platz. Dann strich er mit beiden Händen über den weichen Ledereinband des Kalenders. Zögerte einen Moment. Öffnete schließlich die Schnalle mit Druckknopf und schlug das Büchlein auf.

Dein perfektes Jahr

Genau das stand in geschwungenen Lettern, offenbar per Hand und mit Füller geschrieben, auf der ersten ringgebundenen Seite. Sonst nichts. Kein Name und auch keine Adresse wie bei solchen Kalendern oft üblich.

Jonathan blätterte weiter und gelangte zum 1. Januar des gerade erst begonnenen und noch jungfräulich vor ihm liegenden Jahres. Die Aufteilung des Kalenders war großzügig, für jeden Tag gab es eine ganze Seite, die aber dennoch komplett vollgeschrieben war. Mit derselben schönen Handschrift wie der Titeleintrag:

1. Januar

Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben – aber den Tagen mehr Leben.

Chinesische Weisheit.

Jonathan schüttelte sich innerlich. Was für ein platter Kalenderspruch! Schlimmer war nur »Carpe Diem!«. Oder die oft zitierte und dadurch totgerittene Aussage von Charlie Chaplin, nach der jeder Tag, an dem man nicht gelacht hat, ein verlorener Tag ist. Grauenhafteste Geschenktassen-Lyrik! Dennoch – die Sache interessierte ihn, und so las er den restlichen Eintrag für den heutigen Tag:

Ausschlafen bis 12 Uhr. Frühstück im Bett mit H. Danach: Spaziergang an der Alster inklusive Glühwein an der Alsterperle.

Nachmittags: DVD-Marathon-Session. Mögliche Filme:

»P.S.: Ich liebe Dich«

»Das Beste kommt zum Schluss«

»Wie ein einziger Tag«

»Das Schweigen der Lämmer«

Alternative: alle Folgen von »Fackeln im Sturm«

Abends: Tagliatelle mit Kirschtomaten und gehobeltem Parmesan, dazu eine gute Flasche Rioja

Nachts: Kuscheln, Sternegucken, Wunschgedanken-Flüstern

Nun musste Jonathan lachen. Was für eine Filmauswahl! Wie das »Wunschgedanken-Flüstern« wohl nach dem »Schweigen der Lämmer« ausfallen würde? Und ob es nach sämtlichen Folgen von »Fackeln im Sturm« überhaupt noch zum Essen oder Kuscheln oder sonst was kommen würde, war wohl mehr als fraglich, denn seines Wissens nach lief die Serie unendliche Stunden lang.

Tina hatte ihn vor Jahren mal dazu gezwungen, sich Woche für Woche zusammen mit ihr die schnulzige Liebesgeschichte um Orry und Madeline anzusehen – und wenn er sich recht erinnerte, hatte ihn das ungefähr so sehr gequält wie zehn Kettensägenmassaker-Filme am Stück!

Neugierig blätterte er weiter. Zwar war ihm klar, dass man so etwas eigentlich nicht machte, denn das war ja fast wie das Stöbern in fremden Tagebüchern – aber wo kein Richter, da kein Henker. Während er Seite um Seite überflog, fühlte er ein unleugbares Gefühl der Bewunderung in sich aufsteigen. Denn hier hatte sich jemand die Mühe gemacht, für jeden einzelnen Tag bis zum Ende des Jahres etwas einzutragen. Bis zum 31. Dezember waren sämtliche Seiten ausgefüllt. Trotz der zahlreichen Poesiealbum-Plattitüden, mit der jeder der Einträge begann (»Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar« Antoine de Saint-Exupéry), rang ihm das einigen Respekt ab.

Mal waren die Pläne aufwendiger, wie am 25. August:

Campingbus mieten und nach St. Peter-Ording fahren, Muscheln suchen, grillen und im Freien schlafen. Musik nicht vergessen!

Oder es waren auch kleinere Unternehmungen wie am 16. März:

Mein Geburtstag!

Nachmittags ins »Lütt Café« in der Haynstraße – Kuchen essen, bis uns schlecht wird.

Am 21. Juni hieß es:

Sommeranfang! Um 4:40 Uhr Sonnenaufgang am Elbstrand gucken!

Während er weiterblätterte und las und las, spürte Jonathan ein seltsames Gefühl von Traurigkeit in sich aufsteigen.

Denn zum einen war dieser Kalender ganz eindeutig nicht für ihn gedacht. Er kannte ja nicht einmal eine oder einen »H«! Wenn er mal von seiner Nachbarin zur Linken, Hertha Fahrenkrog, absah. Aber selbst wenn die Gute am 16. März Geburtstag haben sollte, war sie mit Sicherheit über neunzig Jahre alt und lebte einzig und allein für ihre Königspudeldame Daphne. Dass sie sich über mehrere Wochen täglich hingesetzt hatte, um in zittrigem Sütterlin (was es nicht war, aber zu Hertha Fahrenkrog passen würde) Seite um Seite eines Kalenders für Jonathan zu füllen, hielt er für ausgeschlossen.

Doch genau die Handschrift war der zweite Grund für dieses seltsame Gefühl von Melancholie, ja, Jonathan fühlte sich sogar eigenartig ergriffen davon.

Er brauchte eine ganze Weile, ehe er wusste, was es war: Die geschwungenen Buchstaben erinnerten ihn an seine Mutter Sofia, die sich von seinem Vater getrennt hatte, als Jonathan zehn Jahre alt gewesen war.

Genau so hatte sie geschrieben, mit diesen vielen langen Unterschwüngen. Schon ewig hatte Jonathan nicht mehr an sie gedacht, aber während er nun die Einträge überflog, erinnerte er sich mit schmerzhafter Deutlichkeit an all die Briefe und Zettel, die sie ihm früher überall im Haus hinterlassen hatte.

»Guten Morgen, mein Schatz, hab einen schönen Tag!« – auf dem Frühstückstisch neben seinem Teller mit Rührei und Schinken. Und später, wenn er in der Pause sein Schulbrot auspackte, hatte sie jedes Mal ein »Guten Appetit!« auf das Butterbrotpapier geschrieben und mit rotem Filzstift ein Herz dazu gemalt. »Gräm dich nicht, die nächste Arbeit wird besser!« – ins Schulheft neben einen versiebten Mathetest geklemmt. »Ich wünsche dir wunderbare Träume!« – an wirklich jedem einzelnen Abend hatte sie ihm diesen Wunsch unter sein Kopfkissen geschoben.

Aber das alles waren letztlich nur Zettel gewesen, die auch nichts daran geändert hatten, dass Jonathans Mutter nicht nur ihren Mann, sondern damit auch ihr einziges Kind verlassen hatte. Dass sie zurück in ihre Heimat in der Nähe von Florenz gegangen war, die sie nur widerwillig verlassen hatte, nachdem sie Jonathans Vater bei seinem Studienaufenthalt Ende der 60er-Jahre in Italien kennengelernt hatte.

Und so war sie also vor über dreißig Jahren zurück in ihre schöne, warme Heimat geflüchtet – während Jonathan im kühlen Norden bei seinem ebenso kühlen Vater blieb.

Es war Jonathans gut gehütetes Geheimnis, dass das »N« in seinem Namen für »Nicolò« stand. Fast schien es ihm, als höre er seine Mutter flüstern. »Nicolino, mein Herz.« Ganz dicht an seinem Ohr. »Ti amo molto. Molto, molto, molto!«

Nun ja, molto hin, molto her, sie war gegangen. Und nach drei Jahren mit gelegentlichen Briefen, Anrufen und wechselseitigen Besuchen, auf der Höhe seiner Pubertät, hatte Jonathan seiner Mutter per Postkarte mitgeteilt, dass sie von ihm aus in Zukunft bleiben konnte, wo die Zitronen wuchsen.

Verwundert hatte er danach zur Kenntnis genommen, dass sie sich tatsächlich daran hielt – er hatte nie wieder etwas von ihr gehört, bis zum heutigen Tag nicht.

Und trotzdem starrte er nun auf diese Schrift, die ihn auf unheimliche Art und Weise an sie erinnerte.

Als ein Regentropfen auf die Seite fiel und die Tinte dadurch leicht verwischte, fuhr Jonathan verwundert mit seinem rechten Daumen darüber. Noch verwunderter war er, als er bemerkte, dass es gar nicht regnete. Wie lächerlich!

Eilig klappte er den Kalender zu, stopfte ihn zurück in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. Am besten, er würde das Buch hier auf der Bank zurücklassen, dann würde der Besitzer es sicher finden, wenn er danach suchte. Vermutlich hatte der Beutel zuvor einfach irgendwo auf dem Weg gelegen, und ein aufmerksamer Passant hatte ihn an seinen Fahrradlenker gehängt, in der Annahme, er gehöre dorthin oder wäre so leichter zu entdecken.

Jonathans Hände zitterten, als er sich daranmachte, die Zahlenkombination seines Fahrradschlosses einzustellen. Kein Wunder, er war komplett ausgepowert und hatte noch nichts gegessen. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren und dort ein reichhaltiges Frühstück einzunehmen! Er sprang auf sein Bike und radelte los, seine Pulsuhr zeigte nach wenigen Metern eine Frequenz von 175.

Drei Minuten später stieg er energisch in die Pedale und legte eine Vollbremsung hin, die ihn fast aus dem Sattel schleuderte. Nein. Das war falsch. Die Tasche auf der Bank liegen zu lassen, damit irgendwer sie mitnahm – das war ja nahezu eine Einladung an jeden beliebigen Spaziergänger!

Also kehrte er um. Er würde die Tasche mit dem Filofax mit nach Hause nehmen und dort in aller Ruhe versuchen, den rechtmäßigen Besitzer ausfindig zu machen. Ja. Das würde er tun. Das schien ihm das einzig Richtige zu sein.

4Hannah

2 Monate zuvor, 29. Oktober, Sonntag, 12:47 Uhr

»Wenn du nicht sofort ans Telefon gehst, rufe ich die Polizei! Oder bekomme einen Herzinfarkt! Vielleicht auch beides!« Hannah schrie so laut in den Hörer, dass Simon es eigentlich sogar ohne fernmündliche Leitung in seiner Wohnung drüben in Hohenfelde hören musste.

»Sag ihm, wir schicken ihm die Russenmafia auf den Hals!«, krakeelte Lisa aus dem Hintergrund. »Und die Albaner gleich dazu!«

»Hörst du das?«, brüllte Hannah. »Das war Lisa, und die ist gerade alles andere als amüsiert!« Schweigend wartete sie einen Moment, aber bis auf das atmosphärische Rauschen des Anrufbeantworters blieb es still in der Leitung. Niemand hob ab, nicht bei Simons Festnetztelefon, und auch ihre Versuche, ihn auf seinem Handy zu erwischen, waren ins Leere gelaufen. Nichts, nada, niente, Hannahs Freund war nirgends zu erwischen.

Dabei stünden in einer guten Stunde die ersten Gäste für die Eröffnungsfeier der Rasselbande vor der Tür, alles war fix und fertig vorbereitet; der Puppenspieler war pünktlich erschienen und vertrat sich draußen die Beine, die zwei Mädels, die Lisa und Hannah zum Kinderschminken angeheuert hatten, bauten ihre Utensilien auf einem Tisch in der Ecke auf, die kleine Hüpfburg stand auf dem Parkplatz direkt neben dem Eingang, aus den Lautsprechern schallten die Hits von Rolf Zuckowski & Co., das Büfett bog sich nicht nur unter den Berlinern und Amerikanern vom Bäcker, sondern auch unter diversen Kuchen und anderen Naschereien, die Freunde und die Eltern von Hannah und Lisa vorbeigebracht hatten – nur die fünfhundert Luftballons mit aufgedrucktem Logo lagen noch schlaff in einer Tüte, und an der Getränkefront sah es bis auf das Wasser aus der Leitung der kleinen Küchennische und eine handwarme halbe Flasche Cola Light von Lisa bisher ziemlich mau aus. Was ohne das angekündigte Einweggeschirr mit Plastikbechern aber im Grunde egal war.

»Keine Sorge, spätestens um elf Uhr bin ich da und puste dann Ballons auf, als gäb’s kein Morgen mehr!«, hatte Simon Hannah noch am Abend zuvor versprochen, als sie sich bei ihm darüber beschwert hatte, dass er die Nacht vor ihrem »großen Tag« nicht bei ihr, sondern wie so oft in letzter Zeit lieber bei sich zu Hause verbringen wollte. »Ich hab das Gefühl, ich habe mir eine leichte Erkältung eingefangen, also geh ich lieber mit einer Wärmflasche früh ins Bett, damit ich morgen voll einsatzfähig bin.«

Voll einsatzfähig! Das sah Hannah ja nun. Simon war wie vom Erdboden verschluckt. Das an sich war schon nicht schön, aber dass er dabei noch die Flasche mit dem Heliumgas für die Ballons, das Geschirr und sämtliche Getränke für die Eröffnung mitgenommen hatte, kam einer Katastrophe gleich!

Sie verstand es nicht! Normalerweise war Simon doch so wahnsinnig zuverlässig. Und sie hatte sich richtig gefreut, als er angeboten hatte, die Sachen in der Metro einzukaufen, wozu er dank seines Presseausweises berechtigt war. »Da sind die Sachen viel billiger«, hatte er gesagt, »und ihr müsst euch außerdem nicht abschleppen, darum kümmere ich mich. Die Kosten übernehme ich auch, das ist mein Eröffnungsgeschenk für euch.«

»Was machen wir denn jetzt?«, wollte Lisa von Hannah wissen. Dabei raufte sie sich mit beiden Händen die kurzen schwarzen Haare, was ihre ohnehin meist auf »Sturm« stehende Frisur umgehend in einen »Out-of-bed«-Look verwandelte.

Hannah zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«

»Denkst du, Simon nimmt mir das mit der Russenmafia und den Albanern übel? Das ist mir eben einfach so rausgerutscht.«

Hannah verdrehte die Augen. »Du machst dir jetzt nicht ernsthaft Sorgen darüber, ob er sich über deinen flapsigen Spruch ärgert, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Lisa schnell. Hannah wusste, dass sie es dennoch tat. So war sie einfach.

»Gut«, sagte Hannah trotzdem. »Statt uns Gedanken um Simons Befindlichkeit zu machen, sollten wir nämlich lieber unser Getränke-Problem lösen.«

»Ich könnte noch mal drüben bei Werncke nach Saft und Wasser gucken«, schlug ihre Freundin vor. »Vielleicht haben die ja sogar Plastikbecher und -teller.«

»Weißt du, was das kostet? Da zahlen wir doch zwei Euro für jede blöde Capri-Sonne!«

»Hast du eine bessere Idee?«

Hannah überlegte einen Moment lang. »Ja«, entgegnete sie dann, eilte rüber zur Teeküche und schnappte sich dort ihren Mantel vom Garderobenhaken. »Ich fahre zu Simon und sehe höchstpersönlich nach, wo er steckt«, sagte sie, als sie an Lisa vorbei Richtung Ausgang hechtete.

»Und was mache ich so lange?«, rief ihre Freundin ihr hinterher. »Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«

»Fang schon mal an, Ballons aufzupusten. Wenn du dich beeilst, schaffst du bestimmt fünfzig Stück!«

 

Eine Viertelstunde später brachte Hannah ihren alten Twingo mit quietschenden Reifen vor Simons Wohnung in der Papenhuder Straße zum Stehen. Hektisch riss sie die Fahrertür auf und wollte hinausspringen, verhedderte sich aber mit ihrem langen Schal im Lenkrad und hätte sich beinahe selbst erwürgt.

»Ganz ruhig, Hannah«, flüsterte sie sich zu, während sie versuchte, das störrische Teil vom Blinker zu lösen. Zehn Sekunden später hatte sie es geschafft, stieg – diesmal um Ruhe bemüht – aus, warf die Autotür zu und lief auf den Rotklinkerbau zu, in dem Simon wohnte.

Sie legte einen Finger auf das Schild mit der Aufschrift »Klamm« und klingelte. Klingelte noch einmal. Ein drittes Mal, diesmal energisch und lange. Nichts tat sich, auch nicht, als sie ein viertes, ein fünftes und ein sechstes Mal den Klingelknopf betätigte. War Simon nicht einmal zu Hause? Wo steckte er denn nur? Er hatte ihr doch gesagt, dass er sich nicht so gut fühlen und sich deshalb mit einer Wärmflasche ins Bett packen würde!

Oder – der Gedanke fuhr ihr mit unerwartetem Schrecken durch die Glieder – hatte Simon sich gar keine »Erkältung« eingefangen, sondern etwas anderes?

Lag er vielleicht gerade tatsächlich mit etwas Wärmendem in den Federn, nur dass es sich dabei um keinen mit heißem Wasser gefüllten Gummibeutel handelte?

Nein, Hannah schüttelte über sich selbst den Kopf, das war ausgeschlossen. Dafür war Simon nicht der Typ. Für einen Spontanaufriss war er überhaupt nicht, nun ja, spontan genug! Bei ihr hatte er schließlich auch Wochen gebraucht, um sie nach einer Verabredung zu fragen, ein Kerl von der schnellen Truppe war er definitiv nicht.

Und wenn es gar kein »Spontanaufriss« ist, sondern jemand, den er schon länger kennt?, schaltete sich eine kleine, bösartige Stimme in Hannahs Kopf ein. Aber das war ja Unsinn, zwischen ihr und Simon war bis auf seinen Jobverlust alles in Ordnung, und außerdem würde er ihr so etwas garantiert nicht antun, während sie gerade dabei war, mit ihrer neuen Karriere durchzustarten. Simon hatte Stil und Anstand, so etwas passte nicht zu ihm.

»Du hörst die Flöhe husten!«, würde ihre Mutter Sybille in dieser Situation sagen. Von ihr hatte Hannah ihre meist positive Lebenseinstellung geerbt, während ihr Vater Bernhard – ähnlich wie Simon – dazu neigte, »hinter jedem Busch einen Räuber« zu vermuten. Auch so eine Formulierung ihrer Mutter, die gern darüber lachte, wenn ihr Mann mal wieder damit beschäftigt war, sich in Verschwörungstheorien über ihr Umfeld draußen im beschaulichen Rahlstedt zu ergehen.