Fünf Sterne für dich - Charlotte Lucas - E-Book
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Fünf Sterne für dich E-Book

Charlotte Lucas

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Beschreibung

Für ein gutes Leben gibt es ein simples Rezept: Man muss nur alles Schlechte vermeiden.

Davon ist Konrad fest überzeugt, denn er hat schon genug Schlimmes erlebt. Seinen Lebensunterhalt verdient er, indem er bezahlte Rezensionen nach Kundenwunsch schreibt. Auch privat versieht er alles mit Sternen: die flinke Kassiererin, den lauwarmen Kaffee ... und Pia, die neue Klassenlehrerin seiner Tochter. Zu hübsch, zu unsicher, nicht geeignet für den Lehrberuf. Gerade mal zwei knappe Sterne von fünf.

Als Pia davon Wind bekommt, will sie Konrad eine Lehre erteilen. Dass er zum neuen Elternvertreter gewählt wird, passt ihr da bestens ins Konzept. So kann sie ihn mit lästigen Aufgaben ordentlich ins Schwitzen bringen. Doch als einer ihrer Schüler gemobbt wird, erweist sich ausgerechnet Konrad als Hilfe ...

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Seitenzahl: 676

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatHinweiseProlog1: Donnerstag, 29. August, 17:53 Uhr – KonradWhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«2: Donnerstag, 29. August, 18:22 Uhr – Pia3: Donnerstag, 29. August, 18:37 Uhr – Konrad4: Donnerstag, 29. August, 18:44 Uhr – Pia5: Donnerstag, 29. August, 18:55 Uhr – Konrad6: Donnerstag, 29. August, 20:16 Uhr – Pia7: Donnerstag, 29. August, 20:43 Uhr – Konrad8: Donnerstag, 29. August, 21:19 Uhr9: Donnerstag, 29. August, 21:25 Uhr – Konrad10: Donnerstag, 29. August, 21:53 Uhr – PiaProlog II11: Donnerstag, 29. August, 22:20 Uhr – Konrad12: Donnerstag, 29. August, 22:28 Uhr – Pia13: Freitag, 30. August, 7:16 Uhr – Konrad14: Freitag, 30. August, 07:35 Uhr – Pia15: Freitag, 30. August, 07:43 Uhr – Konrad16: Freitag, 30. August, 07:53 Uhr – PiaWhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«17: Freitag, 30. August, 11:23 Uhr – Konrad18: Freitag, 30. August, 11:53 Uhr – PiaWhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«19: Freitag, 30. August, 13:03 Uhr – Konrad20: Freitag, 30. August, 20:02 Uhr – PiaProlog III21: Samstag, 31. August, 7:15 Uhr – Konrad22: Samstag, 31. August, 10:47 Uhr – Pia23: Samstag, 31. August, 11:47 Uhr – Konrad24: Montag, 2. September, 7:32 Uhr – PiaWhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«25: Montag, 2. September, 17:32 Uhr – Konrad26: Dienstag, 3. September, 13:47 Uhr – Pia27: Dienstag, 3. September, 14:00 Uhr – Konrad28: Dienstag, 3. September, 14:57 Uhr – Pia29: Dienstag, 3. September, 15:37 Uhr – Konrad30: Dienstag, 3. September, 15:41 Uhr – Pia31: Dienstag, 3. September, 17:11 Uhr – Konrad32: Dienstag, 3. September, 18:07 Uhr – Pia33: Dienstag, 3. September, 18:43 Uhr – Konrad34: Mittwoch, 4. September, 10:00 Uhr – Pia35: Samstag, 14. September, 8:32 Uhr – Konrad36: Sonntag, 15. September, 1:18 Uhr – Pia37: Sonntag, 15. September, 2:13 Uhr – Konrad38: Sonntag, 15. September, 3:08 Uhr – PiaProlog IV39: Sonntag, 15. September, 9:15 Uhr – Konrad40: Sonntag, 15. September, 10:39 Uhr – Pia41: Sonntag, 15. September, 11:23 Uhr – Konrad42: Sonntag, 15. September, 14:11 Uhr – Pia43: Sonntag, 15. September, 21:04 Uhr – KonradWhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«44: Montag, 16. September, 08:05 Uhr – Pia45: Montag, 16. September, 13:05 Uhr – Konrad46: Montag, 16. September, 16:55 Uhr – Pia47: Montag, 16. September, 17:27 Uhr – Konrad48: Montag, 16. September, 17:59 Uhr – Pia49: Montag, 16. September, 18:41 Uhr – Konrad50: Dienstag, 17. September, 7:47 Uhr – Pia51: Dienstag, 17. September, 7:53 Uhr – Konrad52: Dienstag, 17. September, 8:05 Uhr – Pia53: Dienstag, 17. September, 13:38 Uhr – Konrad54: Dienstag, 17. September, 15:13 Uhr – Pia55: Dienstag, 17. September, 16:32 Uhr – Konrad56: Dienstag, 17. September, 16:44 Uhr – Pia57: Dienstag, 17. September, 17:43 Uhr – KonradEpilogDank an

Über dieses Buch

Konrad ist Bewertungsprofi. Er schreibt Rezensionen fürs Internet. Auch privat versieht er alles mit Sternen: die flinke Kassiererin, den lauwarmen Kaffee … und Pia, die neue Lehrerin seiner Tochter Mathilda. Zu hübsch, zu unsicher, nicht die hellste Kerze auf der Torte, so sein harsches Urteil. Gerade mal ein halber Stern. Durch Zufall bekommt Pia Wind davon – und schwört Rache. Dass Konrad der neue Elternvertreter wird, passt ihr da bestens ins Konzept. Immer neue Aufgaben denkt sie sich aus, um ihn ins Schwitzen zu bringen. Und stellt mit der Zeit fest, dass ihr das mehr Spaß macht, als es sollte …

Über die Autorin

Charlotte Lucas ist das Pseudonym von Wiebke Lorenz. Geboren und aufgewachsen in Düsseldorf, studierte sie in Trier Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft und lebt heute in Hamburg. Gemeinsam mit ihrer Schwester schreibt sie unter dem Pseudonym Anne Hertz Bestseller mit Millionenauflage. Auch ihre Psychothriller »Allerliebste Schwester«, »Alles muss versteckt sein« und »Bald ruhest du auch« sind bei Kritik und Publikum höchst erfolgreich. Mit »Dein perfektes Jahr« begibt sie sich auf die Suche nach den Antworten auf die großen und kleinen Fragen des Lebens.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Digitale Originalausgabe

Copyright © 2019/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Katharina Rottenbacher, Berlin

Covergestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © Andrekart Photography/shutterstock; © Rachael Arnott/shutterstock; © Greens87/shutterstock; © n ii-graphics/shutterstock; © Laralova/shutterstock; © momo sama/shutterstock; © Bowrann/shutterstock

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7201-4

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für die Schülerinnen und Schüler der Klasse 6a (Schuljahr 2018/2019) des Hamburger Helene-Lange-Gymnasiums:Esther, Veronika, Lilia, Bent, Johann, Henry, Ediz, Lino, Selina, Karlotta, Ida, Luz, Henry, William, Tilman, Paula, Mika, Ella, Ben, Felix, Mio, Giovanna, Luis, Moses, Emily, Paul, Käte, Nicola

Für ihre Klassenlehrerin Verena von Szada Borzyszkowski sowie den Schulleiter Holger Müller

Und für Cäcilia Witt, ebenfalls Schülerin des Helene-Lange-Gymnasiums

Mit großem Dank an euch alle! Ohne eure Unterstützung wäre dieser Roman nicht möglich gewesen!

The only thing we have to fear is fear itself.

Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.

Franklin D. Roosevelt,

32. Präsident der Vereinigten Staaten (1882–1945)

Sämtliche Ereignisse dieser Geschichte sind frei erfunden, das Hamburger Hildegard-von-Bingen-Gymnasium, seine Schüler/-innen und Lehrer/-innen gibt es nicht.

Schloss Ellernhoop auch nicht. Leider.

Die großartige Hilfe, die mir seitens des Helene-Lange-Gymnasiums zuteilwurde, diente lediglich der fachlichen Recherche. Und hat mir gezeigt, wie viel Spaß Schule machen kann!

Die Tür war nur angelehnt, und er wunderte sich, dass das Haus in völliger Dunkelheit lag, obwohl draußen bereits die Straßenlaternen angegangen waren. Sachte auf den Fußballen wippend, einen Arm wie einen zusätzlichen Schutz um das Baby in der Trage vor seinem Bauch geschlungen, schob er sich durch den Eingang, betrat den Flur und lauschte. Nichts. Nur das regelmäßige Ticken der großen Uhr neben dem mannshohen Spiegel an der Wand. Ein Auto, das auf der Straße vorüberfuhr. Und das leise Schnaufen des friedlich schlummernden Mädchens, das warm und feucht gegen seine Brust atmete.

»Hallo?«, fragte er flüsternd, während er in Richtung des dunklen Wohnzimmers ging. Nun legte er noch seinen zweiten Arm um das Mädchen, als würde die Trage allein dem Baby nicht ausreichend Halt geben. Mit der Schulter drückte er auch diese Tür auf, aber das Wohnzimmer war ebenso verlassen wie die dahinter liegende offene Küche. Er drehte den linken Arm nach oben, linste verwundert auf die Uhr an seinem Handgelenk. Genau drei Stunden waren vergangen, seit er zu einem Spaziergang aufgebrochen war. So, wie sie es abgesprochen hatten. »Hallo?«, versuchte er es erneut, aber wieder ganz leise, um das Baby nicht zu wecken. Zu leise vermutlich, um gehört zu werden.

Er ließ die rechte Hand in seine Hosentasche gleiten, zog vorsichtig sein Handy hervor, löste mit einem gezielten Strich des Daumens die Tastensperre und tippte auf die zuletzt gewählte Nummer. Er hatte das Handy kaum am Ohr, als er schon das Tuten vernahm – und zeitgleich ein Klingeln, das aus dem Innern des Hauses kam. Er ließ das Telefon sinken und lauschte erneut, dann ging er zurück in den dunklen Flur, um sich dem Ton zu nähern. Es klingelte irgendwo im ersten Stock.

Die Holzstufen knarrten unter seinem Gewicht, als er sie langsam und Schritt für Schritt erklomm, immer dem rhythmischen Signalton folgend. Als er den letzten Treppenabsatz erreichte, erstarb das Klingeln. Nur eine der drei Türen stand offen. Die zum Schlafzimmer.

Er ging darauf zu, streckte einen Arm aus und stieß gegen das weiß lasierte Holz, das im grauen Dämmerlicht schimmerte. Wie in Zeitlupe und vollkommen lautlos schwang das Türblatt in seinen Angeln, gab den Blick auf das große Doppelbett frei.

Sein Herz begriff eher als sein Kopf, was er sah. Begriff, dass das hier kein Traum war. Dass die Szene, die sich vor ihm erstreckte, nicht seiner Vorstellungskraft entsprang. Sie war echt.

Nicht schreien. Er biss in seine Faust, so fest, dass er Blut auf seiner Zunge schmeckte. Sein Atem ging hektisch, sein Brustkorb hob und senkte sich schnell und unkontrolliert, ein dunkles Flimmern zog sich wie ein Schleier vor seine Augen, ließ den Anblick aber dennoch nicht gnädig verschwinden. Der warme Kinderkörper vor seinem Bauch – die Enge drohte ihn jetzt zu ersticken, er streckte den Rücken durch, um sich ein wenig Luft zu verschaffen. Luft, er brauchte Luft!

Gleichzeitig sackten seine Beine weg, er stolperte ein Stück nach hinten, stieß gegen den Türrahmen und ließ sich daran zu Boden gleiten.

So blieb er sitzen. Blieb einfach nur sitzen, den Blick starr auf das große Doppelbett gerichtet. Er hörte nichts mehr.

Nicht mehr das Ticken der großen Wanduhr unten im Flur.

Nicht mehr das leise Rauschen vorüberfahrender Autos.

Nicht mehr seinen eigenen Atem oder den des Babys.

Da war nur noch Stille.

1

Donnerstag, 29. August, 17:53 Uhr

Konrad

Für ein gutes Leben hatte Konrad Michaelsen ein simples Rezept: Man musste nur konsequent alles Schlechte vermeiden. Denn während niemand mit Gewissheit sagen konnte, was genau zu Glück und Erfolg führte, war das Gegenteil – also der Weg in die Misere – wesentlich leichter zu bestimmen. So lautete Konrads Maxime schlicht: Lass alles weg, was dir nicht guttut.

Und die Liste der Dinge, auf die das zutraf, war lang. Länger noch als die Chinesische Mauer, länger als die Panamericana und der Amazonas zusammen. Da Konrad akribisch Buch führte über die schlechten Erfahrungen, die er gemacht hatte und die es deshalb künftig zu umgehen galt, erweiterte sich sein persönlicher Negativkatalog Tag für Tag. So enthielt die Liste mittlerweile neben Binsenweisheiten wie »Drogen- und Alkoholkonsum«, »ungeklärter Streit« oder »weniger als acht Stunden Schlaf« auch exotischere Einträge wie »Flaschenrückgabe am hakenden Leergutautomaten im REWE City Nord«, »unnötige Impulskäufe« oder »Haare kürzer als drei Zentimeter tragen«.

Nachrichten – vor allem solche aus sensationsgierigen Boulevardmedien – versuchte er, so gut es ging, zu ignorieren, einzig die Tagesschau um acht sah er sich hin und wieder an, um nicht komplett aus der Welt zu fallen. Er hörte keine traurigen Liebeslieder, sah sich keine Kriegsfilme oder Dramen an und legte großen Wert darauf, sich über nichts und niemanden aufzuregen.

Konrad Michaelsen wollte ein wohltemperiertes und ruhiges Leben, und was ihn ärgerte oder nervte oder bekümmerte, notierte er in einem kleinen schwarzen Notizbuch, das er immer bei sich trug. Hier schrieb er es auf, legte es quasi ab – und ließ es so zwischen den Seiten zurück.

Was Konrad als aufnahmewürdig für seine Liste erachtet hatte, blieb von diesem Zeitpunkt an ohne Wenn und Aber in dieser »Todesschublade«. War die Entscheidung erst einmal getroffen, von etwas Abstand zu nehmen, hielt er sich daran. Denn auch das hatte er mit den Jahren gelernt: Entschlüsse durfte man nicht anzweifeln. Stattdessen musste man sie wie ein Gelübde behandeln, sie wie ein unumstößliches Gesetz befolgen. Es machte das Leben so viel leichter, wenn man weder Kraft noch Energie darauf vergeudete, sich wieder und wieder neu entscheiden zu müssen. Prinzipienreiterei als Quelle des inneren Friedens, darin sah er keinerlei Widerspruch.

Konrads Blick wanderte zum rechten oberen Rand seines Computermonitors, wo die digitale Uhr verkündete, dass es nur noch gut fünf Minuten bis zum Feierabend waren. Auch da war er strikt: Gearbeitet wurde von 7:30 bis mindestens 15 Uhr und bis maximal 18 Uhr, mit einer Pause von 12 bis 12:30 Uhr. Nie am Wochenende, niemals. Ganz gleich, was anlag. Zur Not fing er bei Bedarf unter der Woche auch mal um 5 Uhr morgens an oder arbeitete bis weit nach Mitternacht durch, aber sowohl der Samstag als auch der Sonntag waren ihm heilig. Punkt.

Wenn er darüber nachdachte, wie sein Leben vor einigen Jahren gewesen war – es hätte unterschiedlicher nicht sein können. Aber auch an »früher« hatte er schon vor langer Zeit einen Haken gemacht, genau wie an all die Dinge, die seinem Seelenheil nicht zuträglich waren.

»Bling!« Das Eintreffen einer Mail ließ ihn kurz zusammenschrecken, und als er den Namen des Absenders las, durchzuckte es ihn ein weiteres Mal. Franziska. Natürlich Franziska. Sie hatte ihm bereits drei Nachrichten auf seinem Handy hinterlassen, und die Betreffzeile »Wo steckst du?« ließ erahnen, dass sie nun beschlossen hatte, die nächste Eskalationsstufe zu zünden.

Lieber Konrad,

hast du meine Anrufe nicht erhalten oder hab ich dich am Freitag vielleicht verärgert? Ich hätte mich einfach nur gefreut, wenn du über Nacht geblieben wärst, aber natürlich wollte ich dich nicht bedrängen. Also bitte, lieber Konrad, meld dich bei mir, sonst mache ich mir langsam wirklich Sorgen.

Küsse, Franziska

Ein paar Sekunden starrte er ratlos auf die Zeilen seiner jüngsten Internetbekanntschaft, dann klickte er seufzend auf »Antworten«, setzte ein »Automatic Reply« vor den Betreff und tippte den Text ein, den er im Fall eines solchen Falles immer benutzte.

Dies ist eine automatisch generierte Mail. Ich bin derzeit nicht zu erreichen.

Ein halblautes »Wuuusch« teilte ihm mit, dass seine Nachricht den Postausgang verlassen hatte. Er wusste, dass das nicht nett von ihm war, natürlich wusste er das, er war ja kein vollkommen gefühlloser Holzklotz. Aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass an dem Sprichwort »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende« durchaus etwas dran war, weil lange Diskussionen darüber, warum er sich nicht auf mehr als eine flüchtige Affäre einlassen wollte, jedes Mal nur mit Tränen bei der betreffenden Dame geendet hatten. Weil jedes Wort zu viel Hoffnungen weckte, die er weder erfüllen konnte noch wollte, sodass er irgendwann zu dieser Methode der automatischen Abwesenheitsnotiz übergegangen war, wenn ihm eine Frau zu dicht auf den Pelz rückte. Nein, nett war das wirklich nicht. Aber dafür eindeutig. Klar. Und Klarheit war eine gute Sache.

Er schloss das Mailprogramm und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Visco-Matratze aus elastischem Memory-Schaum, um deren »perfekten Liegekomfort« und ihr »garantiert gesundes Schlafklima« in den höchsten Tönen zu loben.

Für seine Arbeit konzentrierte sich Konrad nämlich auf das genaue Gegenteil seiner schwarzen Liste: auf das Gute. Genauer gesagt auf die positiven Aspekte verschiedener Produkte, die er als professioneller Verfasser von Rezensionen hervorheben konnte. Denn das war es, was er tat: Er schrieb Kritiken. Und zwar ausschließlich solche, die seinen Kunden die Tränen in die Augen trieben. Vor Freude. Im Auftrag sogenannter SEO-Agenturen – das Kürzel stand für Search Engine Optimization, Suchmaschinen-Optimierung – ließ er sich gegen Bares über alles aus, was man ihm zur Begutachtung zuteilte.

Dabei war es vollkommen egal, um was es sich handelte. Gartenschläuche, Herrensocken, Marzipanherzen, Edelstahltöpfe, Bücher, Kettensägen, LED-Leuchten, Sonnenbrillen, Dampfreiniger, Spielekonsolen, elektrische Heizdecken oder eben Matratzen aus Memory-Schaum, da war er nicht wählerisch, denn sein Urteil über das betreffende Produkt stand ohnehin schon fest, bevor er auch nur die Überschrift seiner Kritik verfasst hatte: großartig, sensationell, volle fünf Sterne!

Oder 10 Punkte, Schulnote 1, sechs Smileys, abhängig vom Bewertungssystem des jeweiligen Internetportals, bei dem Konrad seine Texte einstellte, auf dass der informierfreudige Verbraucher sich so bei seinem nächsten Kauf in die gewünschte Richtung lenken ließe. Eine Arbeit im Akkord, eine ermüdende und nicht gerade herausfordernde. Aber immerhin eine, die es ihm erlaubte, ein freies Leben in bescheidenem Wohlstand und einer schönen Wohnung mit dreieinhalb Zimmern mitten in Hamburg zu führen. Das halbe Zimmer diente dabei als Lager – Konrad nannte es liebevoll seine »Kammer des Schreckens« – für all die Produkte, die er im Rahmen seiner Tätigkeit »getestet« hatte. Noch in Originalverpackung stapelten sie sich bis unter die Decke und wurden in regelmäßigen Abständen von Konrad über eBay Kleinanzeigen verschenkt oder an bedürftige Einrichtungen gespendet. Sicher hätte er das eine oder andere Teil auch verkaufen können, aber es widersprach sowohl seinem Anstandsgefühl als auch seinen Prinzipien, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen.

Obwohl eine finanzielle Spritze gerade im vergangenen Frühjahr durchaus willkommen gewesen wäre. Nachdem im März die Entscheidung gefallen war, Köln den Rücken zu kehren und während der Sommerferien hoch in den Norden zu ziehen, war es gar nicht leicht gewesen, den Umzug zu stemmen und eine neue Bleibe zu finden, besonders für einen Selbstständigen. Aber dank einiger Rücklagen und aussagekräftiger Steuerbescheide hatte er den Zuschlag für den Altbau im Hamburger Generalsviertel erhalten, und auch das Versprechen an die Maklerin, ihr unter der Hand einen fabrikneuen Thermomix beschaffen zu können, hatte vermutlich nicht geschadet (diesen kleinen Prinzipienschlenker hatte Konrad sich zugestanden).

Und so hatte er vor sechs Wochen sein neues Domizil in Hoheluft beziehen können, zentral gelegen und dennoch mit kleinstädtischer Anmutung, genau so, wie er es mochte. Auch wenn er sich dafür nun noch mehr um Kopf und Kragen tippen musste, als er es ohnehin bereits seit Jahren tat. Aber immerhin hatte er bei seiner Arbeit keinen Vorgesetzten, der ihn tagein, tagaus überwachte, so etwas hätte ihn in den Wahnsinn getrieben. Seine Abnehmer interessierten sich lediglich für die Authentizität seiner Worte, für die Aufrichtigkeit, mit der er seine Begeisterungsbekundungen formulierte, für die Überzeugungs- und Strahlkraft seiner Einschätzungen. Wie und wo er das zustande brachte, war seine Sache.

So erfüllte der Negativkatalog in Konrads schwarzem Notizbüchlein nicht nur den Zweck, ihn vor allem Schlechten zu bewahren. Nein, bei all der Euphorie, in der er sich für seinen Broterwerb ergehen musste, diente er darüber hinaus als Ausgleich, als geistige Hygiene und als Ventil. Als Minus für Plus, als Yang für Ying, als Doof für Dick.

***** Schlafen wie in 1001 Nacht!

Lange habe ich nach einer Matratze gesucht, bei der einfach alles stimmt: Qualität, Komfort und Preis-Leistungs-Verhältnis. Und ich muss sagen, dass ich sie in der »Sleeping Beauty No. Seven« gefunden habe und damit hochzufrieden bin! Wie der Name schon erahnen lässt, verfügt die Sleeping Beauty über sieben orthopädisch fein aufeinander abgestimmte Liegezonen, die …

»Das ist totaler Quatsch, Papa!«

»Mathilda!« Er fuhr auf seinem Schreibtischstuhl herum und warf seiner Tochter, die sich mal wieder unbemerkt von hinten an ihn herangepirscht hatte und nun interessiert den Text auf seinem Monitor studierte, einen verärgerten Blick zu. »Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du ohne anzuklopfen in mein Büro kommst.«

»Ich habe geklopft.« Sie grinste frech, wobei sie ihre Zahnspange aufblitzen ließ. Es sah hinreißend aus. »Aber du warst wohl so in deine Poesie vertieft, dass du mich nicht gehört hast.«

»Mach dich nur lustig über deinen alten Herren.« Er stupste sie mit einem Ellbogen an, froh darüber, dass sie nicht ein paar Sekunden früher erschienen war und ihn bei seiner harschen Abfuhr gegenüber Franziska ertappt hatte. Mathilda hatte keine Ahnung von den gelegentlichen Internetbekanntschaften ihres Vaters – und so sollte es auch bleiben. Himmel, das Mädchen war ja gerade erst zwölf Jahre alt! Zwölfeinhalb, wie Mathilda selbst gern betonte. »Also, mein Liebling«, sagte Konrad und wandte sich wieder seiner Rezension zu. »Dann verrat mir doch bitte, was daran Quatsch ist.«

»Alles«, gab sie ungerührt zurück.

»Gleich alles?«

»Oder zumindest die Überschrift.« Sie legte den Zeigefinger auf die oberste Zeile. »1001 Nacht?« Sie runzelte die Stirn und betrachtete ihn streng. »Korrigiere mich, wenn ich mich falsch erinnere: Aber geht es in dem Märchen nicht darum, dass da jemand eben nicht schläft? Und zwar ganze 1001 Nächte lang nicht?«

»Das ist eine Metapher.«

»Eine ziemlich schiefe Metapher, wenn du mich fragst.«

»Das wiederum ist Haarspalterei.«

Seine Tochter lachte auf und warf den Kopf in den Nacken, wobei ihre dunkelbraunen Locken wild durch die Luft flogen. Diesen dichten Schopf hatte sie von ihrer Mutter geerbt, ebenso wie deren hellblaue Augen. Und bevor Mathilda vor zwei Jahren von einem wohlmeinenden Friseur in die Geheimnisse von Conditioner und spezieller Lockenpflege eingeweiht worden war, hatte sich das Kind stets über seine »unmögliche Pudelfrisur« beschwert. Jetzt, während sie lachend hinter Konrad stand, mit wippender Haarpracht und leicht geröteten Wangen (Rouge? Das war doch wohl bitte kein Rouge!), versetzte es ihm einen kleinen Stich. Sein Mädchen wurde erwachsen. »Von wem ich das wohl habe?«, erwiderte sie kokett, und der Stich wurde noch ein kleines bisschen brennender.

»In Ordnung.« Konrad schloss das Fenster auf dem Bildschirm mit einem Klick. »Ich denke morgen noch einmal darüber nach, für heute ist eh Feierabend.«

Mathilda warf einen erschrockenen Blick auf ihre Armbanduhr. »Richtig!«, rief sie. »Schon eine Minute nach sechs, eine Katastrophe!«

Kopfschüttelnd, aber dennoch grinsend erhob er sich. »Deine Großeltern müssten ja auch jeden Moment hier auftauchen.«

»Echt jetzt? Du hast sie angerufen?«

»Natürlich habe ich das, ich muss doch nachher zum Elternabend.«

»Papa!« Sie folgte ihm hinüber in die Küche, wo er sich daranmachte, die Auflaufform mit der vorbereiteten Gemüsepfanne in den Ofen zu schieben. »Ich kann gut zwei Stunden lang allein auf mich aufpassen.«

»Das weiß ich.« Er schloss die Herdklappe und stellte den Hitzeregler ein. »Aber nicht alles, was man kann, muss man auch tun.« Mit diesen Worten nahm er einen Topf aus dem Schrank, füllte ihn mit heißem Wasser, kippte einen großzügigen Schwung Vollkornnudeln hinein und stellte ihn auf die vorderste Platte, die er ebenfalls einschaltete.

»Finde ich echt albern, dass Oma und Opa quer durch die Stadt fahren müssen, um bei mir den Babysitter zu spielen.«

»Erstens wohnen sie nur zehn Minuten entfernt …«

»Opa verfährt sich immer noch, also eher dreißig!«

»… und zweitens freuen die zwei sich immer, dich zu sehen.«

»Ich mich aber nicht«, murmelte seine Tochter halblaut.

»Mathilda!«

»Ist ja schon gut.« Sie seufzte. »War nicht so gemeint«, fügte sie dann in einem Tonfall hinzu, wie ihn nur Zwölfeinhalbjährige zustande bringen: eine Mischung aus genervt, aber trotzdem auch lieb und ein bisschen schuldbewusst, irgendwo zwischen beginnender Teenagerrevolte und Papas kleinem Mädchen. Es erstaunte Konrad immer wieder, wie sie das machte – aber seit ein paar Wochen machte sie es eben. »Ich geh in mein Zimmer, bis sie da sind.«

»Eine gute Idee! Du kannst ja ein bisschen was malen.«

»Pffff!« Bevor ihre Tür zuklappte, hörte er sie noch ein »Außerdem wollte ich Pizza!« grummeln. Gegen seinen Willen musste er lächeln. Noch breiter wurde sein Lächeln, als nur Sekunden später das vertraute Wummern der Bässe an seine Ohren drang. Tina, Lina, Sina oder wie auch immer sie hieß, ihr Song über einen Egoisten lief bei Mathilda seit Monaten in einer quälenden Endlosschleife, sodass Konrad jede einzelne Zeile mitsingen konnte. Hauptsache du, all eyes on you …

Er drehte die Nudeln auf mittlere Temperatur runter, damit sie nicht überkochten, dann ging er ins Schlafzimmer. Dort tauschte er T-Shirt und Jeans gegen ein kariertes Hemd und eine Stoffhose, zog sich ein Jackett über, im angrenzenden Bad stellte er sich vor den Spiegel und überprüfte seine Rasur. Sie war noch in Ordnung, er hatte sich wie immer erst in seiner kurzen Mittagpause geduscht und frisch gemacht; ein Luxus, den Konrad sich gönnte, seitdem er festgestellt hatte, dass es ihm guttat, ganz gemächlich in den Tag zu kommen.

Mit einer Hand fuhr er sich durch die dunkelblonden, leicht gewellten Haare, drehte den Kopf, um sich im Profil zu betrachten, und stellte dabei erstaunt fest, dass es irgendwie mehr graue Strähnen waren, als er in Erinnerung gehabt hatte. Das musste an der Beleuchtung liegen. Oder daran, dass bei einem zweiundvierzig Jahre alten Vater eines Teenagers der erste Lack nun einmal unwiderruflich ab war. Gegen seinen Willen musste er wieder an Franziska denken, die sich trotz der gut und gern fünfzehn Jahre, die sie jünger war als er, anscheinend ein wenig in ihn verguckt hatte. Er verspürte das leichte Piksen eines schlechten Gewissens, weil er sie so rüde mit einer Abwesenheitsnotiz abgefertigt hatte.

Andererseits war er in seinem Profil auf dem Partnerschaftsportal, über das sie sich vor drei Wochen kennengelernt hatten, ja nun wirklich ganz offen und ehrlich gewesen. »Suche nichts Festes, einfach nur nette Zerstreuung«, hatte er geschrieben. Deutlicher konnte man es kaum formulieren, und es war ihm ein absolutes Rätsel, dass es immer wieder Frauen gab, die Männer nicht beim Wort nahmen, sondern lieber ihrer eigenen Interpretation folgten. Wobei ihm schleierhaft war, was es da überhaupt zu interpretieren gab. Aber er hatte es schon mehr als einmal erlebt, dass eine anfangs unkomplizierte Affäre aus dem Ruder zu laufen drohte, weil die betreffende Dame wie aus dem Nichts Besitzansprüche anmeldete. Frauen. Er zuckte mit den Schultern. So ganz verstehen würde er sie nie. Hoffentlich würde Mathilda nicht eines Tages so werden! Er dachte an ihre Locken, die hellblauen Augen und das bezaubernde Zahnspangenlächeln. Noch mehr hoffte er, dass sie nicht eines Tages an einen wie ihn, Konrad, geraten würde. Irgendwann demnächst musste er wohl mal in Ruhe mit ihr ein Gespräch über das Thema Männer und Frauen führen, auch wenn ihm allein bei der Vorstellung daran graute.

»Du bist unmöglich!« Ihm war, als würde er Julias Stimme so deutlich hören, als stünde sie direkt neben ihm. »Unmöglich mit deinen braunen Schokoaugen, mit denen du alles und jeden um den Finger wickelst. Wirklich unmöglich!«

Konrad schluckte, schaltete das Licht im Badezimmer aus und trat hinaus in den Flur. Keine Zeit für Gedanken an Julia.

WhatsApp-Gruppe »Seven Eleven«

Greta, 18:03 Uhr

Und, leute? Schon schiss vor heute abend?

Raffa, 18:04 Uhr

Wieso schiss?

Greta, 18:05 Uhr

Worüber die da wohl reden?

Lukas, 18:07 Uhr

Worum soll’s da schon gehen?

Till, 18:08 Uhr

Bestimmt um dich du penner!

Lukas, 18:09 Uhr

Hast du’n hirnschaden?

Pauline, 18:09 Uhr

Meine mutter spricht auf jeden fall diese beschissene sitzordnung an

Till, 18:10 Uhr

Echt? Mami heult sich aus?

Pauline, 18:10 Uhr

Nein du spast!

Raffa, 18:12

Buhuhuuuuuu! Pauly heult!

Leo, 18:12 Uhr

Oh, neee! Jetzt fängt die schon wieder damit an!

Pauline, 18:13 Uhr

Haltet einfach die fresse!

Leo, 18:14 Uhr

Und ne petze ist sie auch noch!

Greta, 18:15 Uhr

Wieso? Für sowas ist ein elternabend ja wohl da!

Leo, 18:16 Uhr

Heul doch heul doch!

Pauline, 18:16 Uhr

Sehr witzig! Du musst ja nicht neben finn sitzen

Raffa, 18:17 Uhr

Ja, da haben wir ALLE glück alle bis auf pauly ROFL!

Leo, 18:18 Uhr

Tel aviv gelost ist halt gelost pech!

Pauline, 18:20 Uhr

Der stinkt und nervt mich mit seinem gezappel

Lotta, 18:21 Uhr

Ihr seid echt fies!

Yanik, 18:22 Uhr

Wieso? Der liest doch hier gar nicht mit

Raffa, 18:23 Uhr

Hat ja nicht mal ein handy

Lotta, 18:24 Uhr

Trotzdem gemein

Raffa, 18:24 Uhr

Buhuhuuuu!

Raffa, 18:25 Uhr

Bin sicher das der seinen satch gebraucht gekauft hat der ist nie im leben neu! Oder geklaut?

Yanik, 18:26 Uhr

Altkleidersammlung muhahahahaaaaa! Satch ist eh nur für loser

Greta, 18:26 Uhr

IHR seid hier die loser!

Raffa, 18:26 Uhr

Was willst du denn du opfer?

Lotta, 18:27 Uhr

Hahahaaaaa!

Theo, 18:27 Uhr

Mal was anderes: wie findet ihr die flemming?

Pauline, 18:28 Uhr

Ganz cool bis auf die scheißidee mit der sitzordnung

Greta, 18:29 Uhr

Kam die nicht vom wohlfahrt?

Lotta, 18:29

Neee das war die flemming

Pauline, 18:30 Uhr

Mir egal von wem trotzdem scheiße

Theo:

Ich finde die flemming auch ganz okay

Greta:

Was ist eigentlich mit mathilda? Wollten wir die nicht in den chat einladen? Ich find die echt okay

Lotta:

Hab sie schon montag gefragt die hat auch kein handy!

Raffa:

Echt nicht? Krass! Ist ja total lame!

2

Donnerstag, 29. August, 18:22 Uhr

Pia

Pia Flemming war der festen Überzeugung, dass es die große und einzig wahre Liebe gab. Allerdings war sie auch der Meinung, dass sie selbst diese große und wahre Liebe schon erlebt hatte. Von daher spielte es für sie gar keine Rolle mehr, denn dieser Zug war ja bereits durch den Bahnhof.

Ihr war auch nicht ganz klar, weshalb ihr ausgerechnet jetzt, während sie in der Auffahrt der alten Jugendstilvilla hektisch aus ihrem Polo stieg, dieser Gedanke kam. Vermutlich eine mentale Übersprungshandlung, denn sie war so angespannt, dass es sich anfühlte, als würde sie jeden Moment platzen.

Vor zehn Minuten hatte Pia ihre Freundin Hannah Grief angerufen und panisch wissen wollen, ob sie zu Hause sei und ihr etwas zum Anziehen leihen könne. Eine schicke Hose mit Top oder irgendein Kleid, denn Pia hatte sich beim Aufstellen der Getränkekaraffen fast einen kompletten Liter Orangensaft über ihre weiße Culotte gekippt. Orangensaft! Bis zu ihrer Wohnung in Altona und wieder zurück zur Schule nach Eppendorf hätte sie es nie im Leben in einer halben Stunde geschafft, erst recht nicht im Feierabendverkehr – und so hatte sie beinahe geweint vor lauter Glück, als ihre Freundin beide Fragen mit Ja beantwortet hatte.

Das Gymnasium lag nur eine Viertelstunde vom Innocentiapark entfernt, wo Hannah mit ihrem Mann Jonathan wohnte. Pia hatte die Strecke unter Missachtung sämtlicher Tempolimits und Verkehrsregeln sogar in weniger als sieben Minuten zurückgelegt, und jetzt stand ihre Freundin bereits in der Haustür und hielt ihr zwei hübsche Sommerkleider entgegen.

»Danke!«, keuchte Pia, während sie die drei Stufen zum Eingang hochstolperte. »Du bist echt meine Rettung!«

»Immer gern!« Hannah lachte. »Aber jetzt mach mal lieber langsam, bevor du dir noch beide Beine brichst.«

»Keine Zeit«, sagte Pia. »In einer Stunde geht’s schon los.«

»In einer Stunde erst? Warum machst du dann so eine Panik?«

»Weil ich mit meinen Vorbereitungen noch nicht ganz fertig bin und auf jeden Fall da sein muss, bevor die ersten Eltern kommen!«

»Wieso? Hast du bei denen auch Aufsichtspflicht?« Hannah kicherte.

»Ich lach später, okay?« Pia warf einen eiligen Blick auf beide Kleider, dann riss sie das rote mit den kleinen weißen Blümchen vom Bügel, stolperte damit ins Haus, legte es auf der dunklen Kommode im Windfang ab und machte sich noch im Flur daran, ihre nasse Hose auszuziehen. »Ist Jonathan da?«, wollte sie auf einem Bein hüpfend wissen.

»Nein, der ist noch im Verlag, du kannst dir also ruhig alle Klamotten vom Leib reißen.« Hannah drückte die Haustür zu.

»Super.« Sie ließ ihre Culotte achtlos zu Boden fallen, zog sich die Bluse über den Kopf und griff nach dem Kleid. In der Hektik wollte es ihr nicht gelingen, den Reißverschluss am Rücken zu öffnen, sodass Hannah es ihr schließlich aus der Hand nahm und diese Aufgabe erledigte.

»Danke«, sagte Pia, bevor sie den Kopf durch die Öffnung steckte, die ihre Freundin ihr zum Reinschlüpfen hinhielt.

»Du solltest dich trotzdem ein bisschen beruhigen«, sagte Hannah. »Wenn du gleich mit einem Herzinfarkt umkippst, haben die Eltern auch nichts davon.

»So eine Scheiße!«, schimpfte Pia. »Ich hab alles so perfekt vorbereitet, und dann passiert so was!«

Das Kleid saß in Ordnung, vielleicht ein kleines bisschen zu eng, ihre Freundin war ein wenig knabenhafter gebaut als sie selbst. Aber immerhin besser als eine weiße Hose, die … eben großflächig nicht mehr weiß war.

»Wir müssen noch was mit deinen Haaren machen«, stellte Hannah fest, nachdem sie den Reißverschluss wieder geschlossen hatte.

»Wieso?«, fragte Pia.

Anstelle einer Antwort legte ihr die Freundin beide Hände auf die Schultern und drehte sie ein Stückchen nach links zur Wand, wo ein goldgerahmter Spiegel hing. »Mist!« Die randlose Nickelbrille hing schief auf ihrer Nase, was sich allerdings mit einem einzigen Handgriff korrigieren ließ. Problematischer war ihre Frisur, denn die kunstvolle Banane, zu der sie ihre feinen blonden Haare hochgesteckt hatte, hatte sich aufgelöst, und nun standen ihr dank des Sprays, das sie in rauen Mengen zum Fixieren benutzt hatte, links und rechts ganze Büschel vom Kopf ab. Mit ein bisschen gutem Willen erinnerte sie an ein futuristisch gestyltes Model bei der New Yorker Fashion Week.

»Kein Problem«, beruhigte Hannah sie. »Das haben wir gleich.« Sie verschwand, kehrte eine Minute später mit einer großen Bürste zurück und begann, Pias verklebte Mähne damit zu bearbeiten.

»Autsch!«

»Was hast du da reingesprüht? Autolack?«

»Ich wollte, dass es hält.«

»Das ist dir gelungen, man könnte Muster reinschnitzen.«

»Aua!«

»Tut mir leid, aber anders geht es nicht. Oder wir müssen die Haare noch einmal komplett durchwaschen.«

»Keine Zeit«, sagte Pia und kniff tapfer die Augen zusammen. »Mach einfach!«

»In Ordnung.« Hannah striegelte weiter. »Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du so aufgeregt bist.«

»Na ja«, antwortete Pia und unterdrückte ein Stöhnen, »das ist doch wohl klar. Mein erstes Mal als Klassenlehrerin – da will ich, dass nichts schiefgeht. Die Eltern wissen doch alle, dass ich zum ersten Mal eine Klasse übernommen habe. Dann bin ich auch noch Quereinsteigerin und hab nicht einmal Lehramt studiert – da werden die schon ganz genau hingucken.«

»Du spinnst!«, entgegnete ihre Freundin. »Du wirst sie in null Komma nichts von dir überzeugt haben. Hab ich doch bei der Rasselbande gesehen, wie begeistert die alle von dir waren.« Hannah betrieb mit ihrer Kollegin Lisa im Eppendorfer Weg eine Einrichtung für private Kinderbetreuung, in der Pia bis vor einem Jahr hin und wieder am Wochenende ausgeholfen hatte. Einfach nur aus Spaß und ohne Bezahlung, Geld hatte sie rundheraus abgelehnt, hatte sich nur gelegentlich und unter Protest zum Essen einladen lassen. Ihr war es vor allem darum gegangen, noch mehr Erfahrungen mit Kindern zu sammeln, weil sie Geografie und Geschichte nicht mit Staatsexamen, sondern »nur« mit Master abgeschlossen hatte. Der pädagogische Teil des Studiums fehlte ihr daher komplett, und die paar »Nachhilfestunden«, die man ihr im Landesinstitut für Lehrerbildung in Sachen Erziehungswissenschaften in einer Art Crashkurs verpasst hatte, hatten bei Weitem nicht ausgereicht, um ihre Unsicherheit bezüglich der eigenen Kompetenz zu verscheuchen. Auch wenn Dr. Malte Schramm, Direktor des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums, Pia in den vergangenen drei Jahren mehrfach versichert hatte, dass er mit ihrer Arbeit sehr zufrieden war, hatte sie vor der Aufgabe, eine eigene Klasse zu leiten, gehörigen Respekt. Um es nicht Angst zu nennen.

»Da ging es darum, ein paar Kleinkinder für einige Stunden am Leben zu halten«, gab sie nun zurück. »Das war ja mehr ein Praktikum als richtige Arbeit.«

»Freut mich, dass du das so siehst!« Bei diesen Worten zog Hannah so fest an Pias Schopf, dass sie nun doch noch einmal laut aufjaulte. »Tut mir leid!«

»Nein, sorry, mir tut es leid. Das habe ich so nicht gemeint.«

»Doch, das hast du, aber es ist okay, du bist halt nervös.« Noch einmal rupfte Hannah, allerdings nicht mehr ganz so fest.

»Ja, das bin ich.« Pia seufzte. »Was, wenn die Eltern mich nicht mögen? Oder schlimmer: Wenn sie mich für unfähig halten?«

»Dann schickst du sie zu mir, dann biege ich denen schon bei, was für eine hervorragende Lehrkraft du bist.«

»Gute Idee.« Sie grinste ihre Freundin an.

»Mach dir nicht so viele Sorgen.« Hannah legte ihr von hinten beide Hände auf die Schultern und warf ihr über den Spiegel einen aufmunternden Blick zu. Sie war die größte Optimistin, die Pia kannte. Bevor Hannah etwas aus der Ruhe brachte, musste schon der Weltuntergang bevorstehen. »Es geht hier um den ersten Elternabend in einer siebten Klasse. Die Schule hat erst vor drei Wochen wieder angefangen, was soll es da schon für große Probleme geben?«

»Aber …«

»Entspann dich einfach, und lass das alles auf dich zukommen. Ist ja schließlich keine Kernphysik.«

»Aber …«

»Und außerdem hast du doch noch einen Kollegen, der mit dir die Klasse leitet. Oder habe ich dich da falsch verstanden?«

»Das ist richtig«, bestätigte Pia. »Aber den kenne ich kaum, bisher hatte ich mit dem nicht so viel zu tun. Außerdem hat er mich bei den Vorbereitungen ziemlich hängen lassen.« Bei dem Gedanken an ihren Kollegen Tom Wohlfahrt spürte sie Ärger in sich aufsteigen. Mehrfach hatte sie versucht, mit ihm einen Termin zu vereinbaren, um gemeinsam den Elternabend vorzubereiten, war aber von ihm stets mit einem »Ach, da passt es mir leider gar nicht!« abgespeist worden. Und am Montagmorgen, als sie ihn in ihrer Verzweiflung direkt auf dem Schulparkplatz abgefangen und dazu aufgefordert hatte, nun endlich mit ihr über den Donnerstag zu reden, hatte er sie nur angegrinst und gesagt, sie würden das »einfach aus dem Stegreif« machen und er würde »ein paar gute Flaschen Rotwein« mitbringen.

Stegreif und Rotwein – Pia war zwar »nur« eine Quereinsteigerin, aber das klang für sie persönlich eher nach einem Rezept für eine gesellige Bottleparty mit ungewissem Ausgang als für einen konstruktiven ersten Elternabend, bei dem die Pflöcke für ein erfolgreiches Schuljahr eingeschlagen werden sollten. Überhaupt: Alkohol in der Schule – war das eigentlich erlaubt? Sie war schon versucht gewesen, mit Dr. Schramm über ihn zu sprechen, hatte es aber natürlich gelassen. Sie war ja nicht selbstmordgefährdet, einen Kollegen anzuschwärzen. Zumal Tom Wohlfahrt nicht nur Mathematik, sondern auch Sport unterrichtete. Was man ihm deutlich ansah. Nicht dass sie je befürchtet hätte, er könnte …

»Erde an Pia!«

»Was?«

»Du starrst seit einer Minute mit offenem Mund in den Spiegel.«

»Ehrlich?« Pia schloss die Lippen und lächelte ihr Konterfei unbeholfen an. Ihre Frisur sah nun aus wie immer, dünne hellblonde Haare, die einfach irgendwie bis auf die Schulter herabhingen. »Willst du noch einmal versuchen, sie hochzustecken?«

Hannah hob abwehrend beide Hände. »Bloß nicht, mein Talent als Friseurin endet beim Durchkämmen.«

»Hast du ein Haargummi? Dann könnte ich mir einen Pferdeschwanz machen.«

»Dann siehst du aus wie ein kleines Mädchen.«

»Deshalb habe ich ja meine Brille auf.«

»Verstehe.« Hannah nickte grinsend. »Hab mich schon gewundert, dass du heute keine Kontaktlinsen trägst. Sehr ungewohnt, der Anblick.«

»Aber hoffentlich auch irgendwie intellektuell.«

»Nun ja«, ihre Freundin zögerte, »wenn’s nicht gerade eine Nickelbrille wäre …«

»Eine andere habe ich nicht«, erwiderte Pia und seufzte betrübt. »Damit bewirke ich also wohl eher das Gegenteil, oder?«

»Du siehst süß aus«, beruhigte Hannah sie.

»Süß?«, rief Pia erschrocken aus. »Es soll mehr so in Richtung souverän, welterfahren und tough gehen.«

»Dann müssen wir noch schnell einen Gesichtschirurgen bemühen.«

Pia ließ entmutigt die Schultern hängen. Sie wusste ja, dass ihre Freundin recht hatte. Schon immer hatte sie damit zu kämpfen gehabt, dass sie wesentlich jünger aussah, als sie war. Und auch wenn ihre Mutter Thea nicht müde wurde, ihr zu versichern, dass sie sich später sehr über diesen Umstand freuen würde, nervte es sie, dass sie mit ihrem runden Mädchengesicht und den dunkelbraunen Kulleraugen selbst jetzt, mit Anfang dreißig, nicht selten nach ihrem Ausweis gefragt wurde, wenn sie einen Nachtklub oder eine Bar betreten wollte. Was sie ohnehin so gut wie nie tat, das frühe Aufstehen und die vielen Stunden, die sie zur Nachbereitung ihres Unterrichts benötigte, waren nicht gerade dazu geeignet, aus ihr eine Nachteule zu machen. Zumal sie auch nicht sonderlich großen Wert darauf legte, auf dem Kiez oder in der Schanze einem ihrer Schüler in die Arme zu laufen. Hamburg war zwar groß – aber unterm Strich auch nur ein Dorf. Wenn sie sich daran erinnerte, wie viele Wochen es gedauert hatte, bis das Getuschel über ihre Kollegin Britt Andersen verebbt war, die von ein paar Elftklässlern bei einem heißen Tanz auf dem Tresen im Hans-Albers-Eck gefilmt worden war – nein danke, auf so eine Peinlichkeit legte Pia nun wirklich keinen Wert.

»Also, meine Süße«, wurde sie von Hannah aus ihren Gedanken gerissen. »Ich würde sagen, du entspannst dich jetzt einfach mal. Weder dein Kollege noch die Eltern werden dich beißen. Und wenn du magst, ruf mich später noch mal an, dann gehen wir um die Ecke was trinken und feiern den großen Erfolg, den du heute Abend mit Sicherheit haben wirst.« Mit diesen Worten reichte sie Pia ein Haargummi, das sie neben der Bürste in weiser Voraussicht wohl schon mitgebracht hatte.

»Ich danke dir.« Pia band sich einen hohen Pferdeschwanz, dann griff sie nach Hannahs Händen und drückte sie. »Auch für das Kleid.«

»Aber kipp da bitte nichts drüber!«

3

Donnerstag, 29. August, 18:37 Uhr

Konrad

»Ihr seid viel zu spät!«

»Dir auch einen schönen Abend, mein Junge. Und danke für die herzliche Begrüßung!« Brigitte Michaelsen bedachte ihren Sohn mit einem aufgesetzt strengen Blick, ehe sie sein Gesicht wie immer in beide Hände nahm und direkt neben seinem Mundwinkel einen Kuss platzierte. Etwas unwillig zog er den Kopf zur Seite, ebenfalls wie immer.

»Das war aber auch wieder ein Verkehr!«, brummte sein Vater und schloss hinter sich die Wohnungstür. »In dieser Stadt findet sich kein Mensch zurecht.«

»Im Wesentlichen musst du nur geradeaus fahren und einmal rechts abbiegen.« Konrad klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter.

»Komm du mal in mein Alter!«, erwiderte Peter Michaelsen trocken. »Hätten wir einfach alle zusammen das Haus in Lokstedt genommen, müssten deine Mutter und ich nur eine Treppe runterkommen, wenn du uns brauchst.«

»Hm, ja«, murmelte Konrad und kämpfte gegen den Anflug eines schlechten Gewissens an. Seine Eltern waren nur ihm und Mathilda zuliebe ebenfalls von Köln nach Hamburg gezogen. Sie hatten im Frühjahr keine Sekunde gezögert, als er ihnen gesagt hatte, dass er mit ihrem Enkelkind das Rheinland verlassen würde. Zumal die Gründe für seinen Entschluss mehr als nachvollziehbar gewesen waren. Trotzdem war seinen Eltern der Ortswechsel nicht leichtgefallen, natürlich nicht, an der Redewendung mit den alten Bäumen, die man nicht verpflanzte, war etwas Wahres dran. Deshalb waren Brigitte und Peter extrem begeistert gewesen, als man ihnen ein Haus angeboten hatte, das groß genug für die gesamte Familie gewesen wäre und darüber hinaus für Konrad noch den Vorteil geboten hätte, den gnadenlosen Spießrutenlauf eines wohnungssuchenden Selbstständigen UND Alleinerziehenden zu umgehen. Dennoch hatte er das strikt abgelehnt. Sosehr er seine Eltern auch mochte, ein Leben mit ihnen unter einem Dach konnte und wollte er sich schlicht nicht vorstellen.

Die gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung, die die beiden schließlich anstelle des Hauses genommen hatten, lag nur gut zwei Kilometer entfernt, Konrads Meinung nach also absolut ideal. Nah genug für regelmäßige Besuche und doch in gesunder Distanz. Trotzdem war ihm bewusst, dass sie es sich anders gewünscht hätten. Genau genommen wären sie am liebsten in Köln geblieben, und auch Konrad hatte sich über den Umzug nicht gerade gefreut. Aber es war eben anders nicht möglich gewesen, und so hatte er sich getreu seiner Lebensmaxime bezüglich der Dinge, die man nicht ändern kann, schnell arrangiert.

»Ich musste ganze drei Mal um den Block kurven, um einen Parkplatz zu finden«, setzte Peter Michaelsen seine Beschwerde und gleichzeitig Begründung für ihr verspätetes Erscheinen fort.

»Dann hättest du Mama ja schon mal aussteigen lassen können«, gab Konrad zurück. »Ich muss jetzt nämlich sofort los.« Er griff nach seinem Schlüsselbund, das auf dem Sideboard im Flur lag, und klemmte sich seine kleine Aktentasche unter den Arm.

»Kein Problem«, sagte seine Mutter, »wir kommen schon zurecht.«

»Essen steht fertig in der Küche. Mathilda ist da, wo der Lärm herkommt.«

»Dann gehe ich gleich mal zu ihr«, sagte sein Vater und marschierte Richtung Kinderzimmer. »Ich hab ihr was mitgebracht«, teilte er seinem Sohn noch über die Schulter hinweg mit.

»Bitte keine Süßigkeiten vor dem Abendbrot!«, rief Konrad ihm nach.

»Nein, nein. Keine Sorge!« Er klopfte gegen die Tür am Ende des Flurs und verschwand zwei Sekunden später im Zimmer seiner Enkeltochter.

»Ich muss echt los«, wandte Konrad sich wieder an seine Mutter. »Nach dem Essen darf Mathilda noch eine Folge ›Pfefferkörner‹ gucken. Aber wirklich nur eine.«

»Verstanden«, sagte Brigitte und salutierte mit einer zackigen Geste.

»Danach soll sie sich bettfertig machen und dann etwas lesen. Ihr aktuelles Buch liegt auf ihrem Nachttisch, ich bin spätestens um neun zurück.«

»Lass dir alle Zeit der Welt. Wir sind ja da.«

»Neun Uhr«, wiederholte er. »Ich möchte Mathilda noch selbst ins Bett bringen.«

»Denkst du, das kann ich nicht?«, fragte seine Mutter und lächelte ihn spöttisch an. »Ich hab immerhin auch zwei Kinder großgezogen.« Sie hatte den Satz noch nicht vollendet, als ihr Lächeln erstarb und einem traurigen Gesichtsausdruck wich. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann wanderten ihre Mundwinkel wieder in die Höhe. »Mach einfach, wie du willst. Und falls es sich ergibt, dass du nach der Veranstaltung noch mit ein paar Leuten was trinken gehen willst, kannst du das gern tun, dein Vater und ich haben alle Zeit der Welt.«

Konrad erwiderte nichts, nickte ihr stattdessen nur zu und verließ die Wohnung. Seine Mutter wusste, dass er das nicht tun würde. Das sogenannte »Socializing« mit den Eltern anderer Kinder lag ihm nicht, er legte keinen Wert auf solche Bekanntschaften. Er würde sich anhören, was Mathildas neue Klassenlehrer zu sagen hatten, und gut.

Noch im Treppenhaus hörte er den lauten Freudenschrei, der aus der Wohnung zu ihm drang und den er eindeutig seiner Tochter zuordnete. Offenbar war Opas Mitbringsel bei Mathilda ein voller Erfolg gewesen. Konrad lächelte in sich hinein. Eigentlich mochte er es nicht, wenn Peter und Brigitte das Mädchen zu sehr verwöhnten. Aber da seine Tochter seit dem Umzug nicht mehr ganz so sonnig und fröhlich war wie zuvor, hatte er beschlossen, für die Übergangszeit alle fünfe gerade sein zu lassen.

Für Mathilda war seine Entscheidung im März aus heiterem Himmel gekommen, und er hatte sie ihr gegenüber auch nur mit einem angeblich unwiderstehlichen Angebot für eine Festanstellung begründen können. Dass er – kaum dass sie umgezogen waren – den Job letztlich doch nicht bekommen hatte, hatte er seiner Tochter mit dem Umstand erklärt, dass die Welt manchmal einfach nicht gerecht war.

Konrad schämte sich für seine Lüge, sehr sogar, aber anders hatte er sich nicht zu helfen gewusst. Und nachdem sie im Verlauf des Sommers beinahe jede freie Minute am Meer verbracht hatten, das es in und um Köln herum ja nun einmal nicht gibt, hatte seine Tochter sich immerhin schon ein kleines bisschen mit dem Norden versöhnt. Sogar einen Windsurfing-Kurs hatte sie gemacht. Zwar anfangs nur mit widerstrebendem Einverständnis seinerseits, da er dem Wellengang der Ostsee nicht so recht hatte trauen wollen, aber als sie bereits am Nachmittag des ersten Kurstages laut johlend auf ihrem Brett an ihm vorübergeglitten war, hatte er sich sehr gefreut, wie viel Spaß ihr die Sache machte.

Und sofort hatte er »Windsurfen« gedanklich in seinem Positiv-Katalog abgelegt, als willkommenes Mittel zum Zweck. Sobald Mathilda in der Schule auch noch neue Freunde gefunden hätte, würde ihr hinreißendes Strahlen auch dauerhaft zurückkehren, davon war Konrad überzeugt. So musste es einfach sein.

4

Donnerstag, 29. August, 18:44 Uhr

Pia

»Mein lieber Herr Gesangsverein – was ist denn HIER los?« Tom Wohlfahrt stand mit offenem Mund in der Tür zum Klassenzimmer und ließ den Blick erstaunt durch den Raum wandern. Links und rechts hielt er jeweils eine Flasche Rotwein umklammert, und er wirkte in der Tat so erschüttert, dass Pia auf ihn zueilte und ihm die Getränke abnahm, ehe er sie fallen ließ. »Hab ich irgendwas verpasst?«, wollte er wissen.

»Ja«, gab sie knapp zurück und stellte die Flaschen auf dem Buffet ab, das sie auf drei zusammengestellten Tischen arrangiert hatte. Die große und blütenweiße Decke aus schwerem Damast, unter der das leicht zerkratzte und bemalte Schulmobiliar verschwunden war, hatte sie sich ebenfalls noch von Hannah geliehen. »Ungefähr vier Stunden Vorbereitungszeit, die hast du verpasst.«

»Uff«, gab ihr Kollege von sich und ließ sich auf einen der Stühle plumpsen, die Pia für den Abend in einem großen Kreis angeordnet hatte. Noch immer sichtlich fassungslos schüttelte er den Kopf. »Das wird hier aber nur ein normaler Elternabend, oder? Es sieht nämlich eher nach einem Staatsempfang aus.«

»Ich wollte es einfach richtig nett haben«, antwortete Pia und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Hatte sie es vielleicht doch ein wenig übertrieben? Auf dem Buffet stand ein Weidenkorb mit Laugenstangen, Butterbrezeln und leckeren Bauernbrötchen, auf einer großen Servierplatte daneben hatte sie Käsewürfel, Salamisticks und drei Dutzend Mini-Quiches angerichtet. Außerdem hatte sie zu Hause Rohkost geschnibbelt und die vorbereiteten Paprika- und Karottenstücke in einer hübschen Terracottaschüssel arrangiert, in drei kleinere Schalen hatte sie verschiedene Dips gefüllt. Ein Fässchen Butter und eines mit Margarine standen ebenfalls bereit, schließlich sollten die Leute ihr Brot ja nicht trocken essen müssen. Für diejenigen Eltern, die es lieber süß mochten, hatte sie vorhin bei der kleinen Konditorei an der Ecke noch zwei Kilo Feingebäck gekauft. 34,82 Euro hatte sie dafür hingeblättert, aber dafür, so hatte ihr die Fachverkäuferin versichert, auch echte Spitzenqualität, entstanden in Handarbeit. Sie war sich sicher, dass diese Plätzchen ganz hervorragend zu dem Kaffee passen würden, den sie natürlich auch noch für die Eltern organisiert hatte.

Tom Wohlfahrt konnte offenbar Gedanken lesen, denn jetzt deutete er mit ausgestrecktem Arm auf die Ecke, in der Pia die Kaffeestation aufgebaut hatte.

»Ist das etwa der Getränkeautomat aus dem Lehrerzimmer?« Er schoss von seinem Stuhl hoch und marschierte auf das dunkelbraune Monstrum zu. »Das IST der Automat aus dem Lehrerzimmer!«, rief er.

»Ähm, ja«, gab Pia zu. »Ich dachte, es sei eine gute Idee, wenn sich jeder seinen Latte oder Cappuccino oder was auch immer selbst ziehen kann.«

»Wie hast du den denn hierhin gekriegt?«

»Ich hab einfach den Hausmeister gefragt. Der war so nett und hat ihn mit einer Sackkarre hergebracht.« Sie registrierte, wie Tom Wohlfahrts Blick als Nächstes zu dem Tisch wanderte, auf dem zwei hohe Türme aus weißen Porzellantellern, ein Besteckkorb mit Messern, Gabeln und Löffeln, Servietten sowie etwa dreißig Kaffeebecher und ebenso viele Gläser auf ihren Einsatz warteten. »Er war auch so hilfsbereit und hat aus der Schulkantine Geschirr geholt«, erklärte sie. »Dieser ganze Plastikmüll muss ja nicht sein.«

»Natürlich nicht«, erwiderte ihr Kollege tonlos, beinahe etwas schockiert. »Und was ist mit den vier Milchtüten da?« Er ging zum Buffet, griff sich einen der Tetrapacks und studierte die Aufschrift. »Sojamilch. Aha.« Dann nahm er die nächste Verpackung zur Hand. »Und die hier? Mandelmilch.« Er musterte die beiden letzten Milchtüten. »Dann hätten wir da noch fettarme und Vollmilch.« Verständnislos sah er sie an. »Wozu hast du denn hier vier verschiedene Milchsorten angeschleppt?«

»Na ja, falls jemand vegan lebt oder eine Lactoseintoleranz hat, dachte ich. Dann kann er einfach einen schwarzen Kaffee nehmen und sich eine Milch aussuchen.« Pia merkte, dass das, was als besonders aufmerksam gemeint war, bei Licht betrachtet völlig übertrieben wirken musste.

»Irre.« Ihr Kollege schüttelte noch einmal den Kopf. »Du bist echt komplett irre!« Dann grinste er sie an, und seine grünen Augen schienen dabei aufzublitzen. »Aber das gefällt mir.«

»Äh«, erwiderte Pia, weil sie nicht wusste, wie sie auf dieses Kompliment reagieren sollte. »Wollen wir dann noch kurz die Tagesordnung durchgehen, bevor die Eltern kommen?«, schob sie eilig hinterher, um das Thema zu wechseln.

»Klar«, antwortete er, nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und schlug seine Beine übereinander. Pia fiel auf, dass sie ziemlich lang waren, der ganze Mann war sicher an die eins neunzig groß. Im Gegensatz zu ihr war er leger gekleidet, steckte in Jeans, blauem T-Shirt und abgewetzten schwarzen Sneakern. Seine etwas längeren dunkelbrauen Haare waren zu einer Art Out-of-bed-Style verwuschelt, und er sah insgesamt eher so aus, als sei er auf dem Weg zum Recyclinghof, um dort eine Fuhre Sperrmüll loszuwerden. Für einen kurzen Moment fühlte Pia sich overdressed, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass sie schließlich nicht in Ballrobe erschienen und der erste Elternabend in einer neu zusammengesetzten Klasse schon eher ein offizieller Anlass war. Genau genommen war also nicht sie zu formell, sondern Tom viel zu nachlässig angezogen. Ja, genau so war es! Pia atmete noch einmal tief durch, dann nahm sie den Stapel mit Kopien aus ihrer Tasche, drückte Tom eines der Blätter in die Hand und fing an, die einzelnen Zettel auf den Stühlen zu verteilen.

»Und was soll jetzt das?«, fragte er. Wenn Pia sich nicht täuschte, klang er langsam ein klein wenig genervt.

»Na, ich verteile die Tagesordnung. Damit alle optimal vorbereitet sind.«

»Stopp mal – du hast die Tagesordnung für alle Eltern kopiert? Auf dass sie sich einen schönen Soja Latte holen und sich dann brav mit uns von Punkt zu Punkt vorarbeiten?« Nun klang er nicht mehr genervt, sondern spöttisch, und das neckende Blitzen war aus seinen Augen verschwunden. Pia war irritiert. Was war denn daran so ungewöhnlich, die Tagesordnung zu verteilen?

Tom Wohlfahrt schüttelte den Kopf. »Mann, Pia. Wir sind hier nicht im Unterausschuss Finanzen des Bundestags. Vor uns liegt ein stinknormaler Elternabend. Wirklich nichts Wildes. Und ich garantiere dir, dass sich die Eltern nicht sklavisch an deine Tagesordnung halten werden. Also tu du es besser auch nicht. Tagesordnungen werden allgemein überbewertet. Wir werden schon alle Themen besprechen, die wichtig sind.«

»Aber genau dafür ist so ein Programmablauf doch da! Ich habe mir echt Mühe gegeben, alle Punkte aufzulisten. Oder findest du, da fehlt was?«

Schulterzucken bei Tom. »Keine Ahnung. Ich habe sie mir noch nicht durchgelesen.«

»Aber ich hatte sie dir doch extra gemailt, und du hast gesagt, sie sei okay.« Pia war wütend. Immerhin hatte sie mindestens eine Stunde überlegt, ob sie die richtigen Themen in der richtigen Reihenfolge zu Papier gebracht hatte. Sie hatte die Handreichung des Instituts für Lehrerbildung noch einmal gründlich durchgelesen und überlegt, ob darüber hinaus noch etwas wichtig war. Elternvertreter, die sie nach Wünschen aus der Elternschaft hätte fragen können, gab es ja noch nicht, und so musste sie ein wenig raten, was die Mütter und Väter wohl umtrieb. Sie sah auf ihre Tagesordnung.

Vorstellungsrunde

Informationen zur Jahresplanung (fächerbezogen)

Vorstellung neuer Fachlehrer

Klassenzusammensetzung

Klassenrat in Klasse 7

Leitungsbeurteilung in der Mittelstufe

Klassenfahrt in Klasse 7

Wahl der ElternvertreterInnen

Verschiedenes

Auch Tom Wohlfahrt warf nun einen Blick auf den Zettel in seiner Hand und pfiff durch die Zähne. »Alter, wie lang ist denn diese Tagesordnung? Da sitzen wir ja morgen früh noch hier. Ich habe übrigens um halb zehn ein Date. Wenn das dank dir hier so eine Endlosnummer wird, musst du sie leider alleine zu Ende bringen.«

»Was?!« Pia zuckte zusammen. Bei der Vorstellung, den Eltern auf einmal allein gegenüberzustehen, bekam sie sofort Herzrasen. Wie konnte Tom nur so unkollegial sein und sich heute Abend noch etwas anderes vornehmen? Der grinste sie nur breit an, das Blitzen war in seine grünen Augen zurückgekehrt.

»Pia, entspann dich bitte! Das war nur ein Spaß. Natürlich bleibe ich hier, bis auch die letzte Mutti alle Fragen losgeworden ist.«

»Da bin ich aber erleichtert«, sagte sie. Sie fragte sich, ob er den ironischen Unterton in ihrer Stimme überhaupt bemerkte.

»Aber wenn du schon so akribisch bist«, meinte Tom und tippte auf das Blatt in seiner Hand, »die Wahl der Elternvertreter kommt eigentlich direkt nach der Begrüßung und nicht erst so weit hinten. Jedenfalls nach meinen jahrelangen Erfahrungen als Klassenlehrer.«

»Das weiß ich auch.« Es klang schnippischer, als sie wollte, aber sie war sich fast sicher, dass ihr Kollege das als bewusste Spitze gegen sie meinte. »Ich war nur der Ansicht, die Eltern sollten sich untereinander wenigstens ein bisschen kennenlernen, ehe sie entscheiden, wer von ihnen dieses Amt übernehmen soll.«

»Ähm, die Eltern kennen sich doch alle«, gab ihr Kollege zu bedenken. »Seit der fünften Klasse.«

»Ja, schon«, gab sie ihm unwillig recht. »Allerdings auch nicht alle, nach der Orientierungsstufe sind die Klassen ja ein bisschen untereinander aufgeteilt worden. Außerdem haben wir zwei oder drei vollkommen neue Schüler, deren Eltern sollen schließlich auch die Chance bekommen, sich in die Gruppe einzufinden.«

»In die Gruppe ›einzufinden‹?«, wiederholte Tom und grinste sie schon wieder ziemlich dreist an. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, du hast eine vollkommen falsche Vorstellung von dem, was hier gleich auf dich zukommt. Das ist kein puscheliger Gesprächskreis – das ist eine Ansammlung von genervten und sich selbst und ihre Kinder viel zu wichtig nehmenden Idioten.« Er senkte die Stimme und zwinkerte ihr zu. »Jedenfalls nach meiner eigenen bescheidenen Erfahrung in den vergangenen Jahren.«

»Also wirklich, Tom, ich finde, du bist da …«, wollte Pia ihn zurechtweisen. Doch da legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür.

»Psst! Die ersten Idioten kommen.«

5

Donnerstag, 29. August, 18:55 Uhr

Konrad

Er hätte es sich denken können. Natürlich war er mal wieder der Einzige, der die Uhrzeit auf der Einladung auch wirklich ernst nahm: Als er um fünf vor sieben den Klassenraum seiner Tochter betrat, war außer einer blonden Frau und einem dunkelhaarigen Mann, bei denen es sich vermutlich um Mathildas neue Klassenlehrer handelte, noch niemand zu sehen. Wie er es hasste, ständig auf andere Menschen warten zu müssen! Allerdings war er sich nach einem kurzen Blick in den Raum überhaupt nicht mehr sicher, hier richtig zu sein. Offenbar wurden in diesem Klassenzimmer gerade Vorbereitungen für eine Party getroffen, nicht für einen Elternabend. Ein Buffet mit verschiedenen Speisen war aufgebaut, dazu kalte und warme Getränke – hatte er sich vielleicht im Raum vertan? Unschlüssig blieb er in der Tür stehen.

»Kommen Sie ruhig rein, wir beißen nicht!«, begrüßte ihn der Mann jovial.

»Bin ich hier richtig im Klassenraum der 7d?«

»Ja, natürlich«, antwortete die blonde Frau freundlich und schob dann etwas unsicher hinterher: »Warum? Habe ich etwa vergessen, die Zimmernummer auf die Einladungen zu schreiben?«

»Äh, nein, nein«, sagte er eilig. »Es ist nur, weil es hier so … so nach einer Feier aussieht.« Er machte eine vage Handbewegung in Richtung Buffet. »Das Essen, die Getränke …«

Der dunkelhaarige Mann lachte laut auf, es war schon eher ein Prusten. »Ach so! Meine Kollegin wollte sich heute Abend besonders viel Mühe geben und hat dabei sämtliche Caterer der Stadt übertroffen.« Er senkte die Stimme und schlug einen verschwörerischen Tonfall an. »Kennt den Feind eben noch nicht so gut, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Wieder ein Lachen, das diesmal ein klein wenig boshaft klang.

Konrad schüttelte den Kopf. »Nein, das verstehe ich nicht. Welchen Feind meinen Sie denn?«

Sein Gegenüber stutzte kurz. »Na, der Feind. Die Eltern.«

»Aha.« Konrad betrachtete den Mann. Er schätzte den Kerl auf Mitte dreißig. Typ »berufsjugendlich«, die Haare ein bisschen zu lang, die Kleidung mit ausgebeulter Jeans, verblichenem T-Shirt und längst hinfälligen Turnschuhen ein wenig zu nachlässig für einen Erwachsenen. Das musste demnach Tom Wohlfahrt sein, zuständig für Mathematik und Sport. Sport konnte Konrad sich bei ihm sehr gut vorstellen, er sah genauso aus wie jemand, der ein paar Bälle kickte oder mit dem Mountainbike Kunststücke vorführte. Aber Mathe? Also ein »hartes« Schulfach? Dem hier traute er maximal zu, dass er die Kinder dazu aufstachelte, die Erhöhung ihres Taschengelds zu verhandeln. Ganz offensichtlich ein Vollidiot, dachte Konrad.

Ähnliches schien auch dessen Kollegin zu denken, die demnach Pia Flemming sein musste, Mathildas neue Klassenlehrerin. Jedenfalls blickte sie nach Tom Wohlfahrts bescheuertem Scherz peinlich berührt zu Boden und murmelte etwas, das wie »Meine Güte, Tom!« klang. Dann allerdings lächelte sie und streckte Konrad eine Hand entgegen.

»Jetzt habe ich doch glatt vergessen, mich vorzustellen.« Sie schüttelten sich die Hände. »Pia Flemming«, bestätigte sie seine Vermutung, »die neue Klassenlehrerin der 7d. Ich …«

»Tom Wohlfahrt«, ging ihr Kollege dazwischen und schob sie unsanft beiseite, um Konrad ebenfalls die Hand zu schütteln. Ein wirklich ungehobelter Klotz. »Zweiter Klassenlehrer der 7d, erfahrener und kampferprobter Haudegen.« Erneut lachte er auf, und auch dieses Mal entging Konrad nicht, wie seine Kollegin peinlich berührt den Blick senkte. Das schien ja ein perfektes Team zu sein!

»Konrad Michaelsen«, stellte er sich ebenfalls vor. »Ich bin der Vater von Mathilda.«

»Dann suchen Sie sich doch einen Platz aus und machen sich bereit fürs erste Gefecht«, schlug Tom Wohlfahrt vor.

»Ja, gut«, erwiderte er und beschloss, die unpassenden Bemerkungen des Lehrers nicht weiter zu kommentieren. Er wählte einen Stuhl, von dem aus er die Tür des Klassenzimmers gut im Blick hatte, und setzte sich. Innerlich seufzend. Die anderen würden ja wohl bald eintreffen, und dann würde man die ganze Veranstaltung hoffentlich zügig über die Bühne bringen.

Tatsächlich füllte sich der Raum nach und nach. Die Eltern – überwiegend waren es Mütter – kamen teils schweigend, teils ins Gespräch vertieft herein und ließen sich im Stuhlkreis nieder. Konrad musterte sie: einige in salopper Freizeitkleidung, andere recht elegant – um nicht zu sagen überkandidelt, so viele Perlenketten und Halstücher hatte er schon seit Jahren nicht mehr gesehen –, die beiden einzigen Väter außer ihm trugen Anzug und wirkten wie gerade erst aus dem Büro gekommen. Altersmäßig war die komplette Bandbreite zwischen Anfang dreißig und Ende fünfzig vertreten. Hätte Konrad ihre Berufe raten müssen, er hätte sich auf eine ziemlich hohe Ärzte- und Anwaltsquote festgelegt, ein paar Architekten waren sicher auch dabei.

Ein verstohlener Blick auf die Uhr: 19:05 Uhr. Nun konnte das Lehrerteam doch mal loslegen. Wahrscheinlich waren noch nicht alle Eltern versammelt, aber wenn man hier wartete, bis der Letzte sich bequemte, würde das eine langwierige Angelegenheit werden.