Deine Familie ist nicht dein Schicksal - Vienna Pharaon - E-Book

Deine Familie ist nicht dein Schicksal E-Book

Vienna Pharaon

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Beschreibung

Niemand hatte eine perfekte Kindheit. Wir alle zeigen Verhaltensweisen, die uns nicht gut tun, uns vielleicht sogar schaden. Das muss nicht so sein, sagt die renommierte Paar- und Familientherapeutin Vienna Pharaon. In »Deine Familie ist nicht dein Schicksal« hat Pharaon einen Heilungsprozess entwickelt, der uns hilft, unsere Herkunftsfamilie zu verstehen und herauszufinden, was in diesem System funktioniert hat und was nicht. Ungeheilter Schmerz oder Wunden manifestieren sich in unserem Verhalten als Erwachsene, von beruflichen Herausforderungen bis hin zu zwischenmenschlichen Konflikten. Aber die gute Nachricht ist, dass wir mit dem Wissen um unsere Vergangenheit und den richtigen Werkzeugen unsere Programmierung so verändern können, dass sich unsere Beziehungen und unser Leben deutlich verbessern. Unabhängig davon, ob jemand eine schöne oder eine schreckliche Kindheit hatte, lassen sich Erlebnisse aus der Vergangenheit, die heute der Aufmerksamkeit bedürfen, aufarbeiten. Mit geführter Selbstbeobachtung, Fallgeschichten, persönlichen Erfahrungen, Leitfäden für schwierige Gespräche und ergänzenden Arbeitsblättern in jedem Kapitel leitet dieses Buch dazu an, sich von frühen Prägungen und Familienmustern zu lösen und sein Leben und seine Beziehungen frei zu gestalten.

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Vienna Pharaon

Deine FAMILIEist NICHTdein SCHICKSAL

Befreie dich von frühen Prägungen, um unbeschwert zu leben und zu lieben

Vienna Pharaon

Deine FAMILIEist NICHTdein SCHICKSAL

Befreie dich von frühen Prägungen, um unbeschwert zu leben und zu lieben

1. Auflage 2024

© 2024 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 bei G.P. Putnam’s Sons, einem Imprint von Penguin Random House LLC, unter dem Titel The Origins of You. How Breaking Family Patterns Can Liberate the Way We Live and Love. © 2023 by Vienna Pharaon. Published by Arrangement with MINDFUL MARRIAGE AND FAMILY THERAPY. All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzung: Max Limper

Redaktion: Caroline Kazianka

Umschlaggestaltung: Marija Džafo

Umschlagabbildung: Dedraw Studio / stock.adobe.com

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-304-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-305-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-306-5

Für meine Seelenhelfer Connor, Code und Bronx.Ihr seid das Gute auf dieser Welt.

Inhalt

Vorbemerkung

Einführung: Unsere Herkunftsfamilien

Teil IUnsere Wurzeln

1 – Deine Vergangenheit ist deine Gegenwart

2 – Die Wunde benennen

Teil IIUnsere Wunden und ihr Ursprung

3 – Ich möchte mich würdig fühlen

4 – Ich möchte dazugehören

5 – Ich möchte Aufmerksamkeit

6 – Ich möchte vertrauen

7 – Ich möchte mich sicher fühlen

Teil IIIDas Verhalten in Beziehungen verändern

8 – Konflikte

9 – Kommunikation

10 – Grenzen

Teil IVDeine Selbstbehauptung

11 – Damit es anhält

Schluss

Dank

Anmerkungen

Vorbemerkung

Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, mit so vielen unglaublichen Menschen zusammenzuarbeiten, die den Mut hatten, mir ihre Geschichten zu erzählen. Ich habe alle persönlichen und typischen Merkmale meiner Klienten und Klientinnen sorgfältig verschleiert. In einigen Fällen habe ich Eigenschaften mehrerer Klient:innen kombiniert und sie einer Person zugeschrieben. Doch alle Geschichten entsprechen der Wahrheit, und ich habe sehr darauf geachtet, dass die Änderungen den Kern der Geschichten nicht berühren.

Vorsichtshalber möchte ich darauf hinweisen, dass im 7. Kapitel, »Ich möchte mich sicher fühlen«, Gewalt, Selbsttötung und schwere psychische Probleme behandelt werden. Achte beim Lesen bitte darauf, wie es dir dabei geht.

Eine letzte Anmerkung noch: So sehr ich hoffe, dass du in diesem Buch Informationen findest, die dir helfen – es kann natürlich nicht alles abdecken. Veränderungen bringen für jeden Menschen ganz eigene Schwierigkeiten mit sich, und die Erkenntnisse, mit denen du konfrontiert wirst, können dich verunsichern oder in deiner Familie neue Dynamiken auslösen. Auf der Suche nach gesünderen Beziehungen kann das Gespräch mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin durchaus hilfreich sein. Das gilt vor allem für diejenigen, die ein Trauma verarbeiten, denn da braucht es oft eine tiefergehende Arbeit. Wenn du ein Trauma oder ein komplexes Trauma erlebt hast, kannst du von der Zusammenarbeit mit auf Traumaarbeit spezialisierten Fachleuten auf jeden Fall profitieren.

Einführung:Unsere Herkunftsfamilien

Ich war fünf Jahre alt, als ein Ereignis in meiner Familie eine Wunde in mir riss, die die Entwicklung meiner Beziehungen über Jahre bestimmen sollte. Lange Zeit weigerte ich mich anzuerkennen, wie stark sich meine Vergangenheit auf mein Leben auswirkte. Ohne mein Psychologiestudium, meine beruflichen Erfahrungen mit den Auswirkungen von Traumata und meinen großen Wissensdrang in puncto Beziehungen hätte ich die Bedeutung dieses frühen Erlebnisses vielleicht nie ganz verstanden. Erst nach Jahren harter Arbeit erkannte ich all die Auswirkungen und konnte aktiv und bewusst bestimmen, wie ich in meinen Beziehungen sein wollte. Diese wertvolle Entwicklung möchte ich in diesem Buch mit dir teilen. Aber ich greife vor, lass uns am besten von vorne beginnen.

Lass uns mit meiner Kindheit beginnen.

Es war ein schöner, sonniger Tag im Sommer 1991. Ich bastelte mir gerade aus einem goldfarbenen Armreif einen trendigen Ohrring – ich war zwar erst fünf, aber in Modefragen schon weit voraus! Plötzlich hörte ich durch die geschlossene Zimmertür die laute Stimme meines Vaters. Seine Wut war mir schon immer unheimlich gewesen. Er gehörte zu den Männern, die Situationen gern dominierten, und die Macht, die er ausstrahlte und über andere ausübte, fühlte sich bedrohlich und manipulativ an. Mir verging augenblicklich die Freude an meiner Schmuckbastelei.

»Wenn du gehst, dann komm bloß nicht wieder«, schrie er meine Mutter an.

Die Worte durchbohrten mich. Ich hatte noch nie einen solchen Zorn auf jemanden erlebt, den ich liebte, auf jemanden, den er eigentlich auch lieben müsste: Wenn du gehst, dann komm bloß nicht wieder.

Kurz darauf kam meine Mutter die Treppe hinaufgestürmt und befahl mir, eine Tasche zu packen. Mir blieb nicht viel Zeit, das Geschehene zu verarbeiten. Ich begriff nur, dass wir verreisen würden.

Wir holten meine Großmutter mütterlicherseits ab und fuhren an die Küste von Jersey. Wahrscheinlich habe ich dort in den Wellen gespielt, Sandburgen gebaut und meine Mutter zu überreden versucht, auf dem Heimweg noch ein Eis zu kaufen. Mir war natürlich nicht klar, dass der Heimweg diesmal ein anderer sein würde. Denn wir würden nicht nur meine Großmutter absetzen und dann weiterfahren. Wir würden dort bleiben.

Bei Oma machten wir es uns erst einmal gemütlich und erholten uns von dem Tag an der Sonne. Es dauerte nicht lange, bis das Telefon klingelte. Obwohl es damals noch keine Anruferkennung gab, war klar, wer am anderen Ende der Leitung sein würde. Mein Vater wollte meine Mutter sprechen, aber meine Oma ließ das nicht zu. Stattdessen flüchteten wir sofort ins Nachbarhaus. Keine Zeit zum Verstehen, nur zum Rennen.

Etwa zehn Minuten später fuhren mein Vater und sein Bruder, mein Onkel, in die Einfahrt meiner Oma. Wir beobachteten aus der Ferne, wie sie an die Haustür klopften, um das Haus herumgingen und versuchten, irgendeine Bewegung im Inneren zu erspähen. Da das Auto meiner Mutter vor dem Haus stand, wussten sie, dass wir nicht weit weg sein konnten. Ich kann mich noch erinnern, dass ich vorsichtig über die Fensterbank lugte, um zu sehen, was da vor sich ging. Mein Vater und mein Onkel waren zwar weit entfernt, dennoch konnte ich ihre Wut erkennen.

Einerseits wollte ich meinen Vater rufen, aber andererseits hatte ich auch Angst. Ich versteckte mich mit meiner Mutter und fühlte mich verängstigt und bedroht, gleichzeitig dachte ich: Hier bin ich, Papa.

Kurz darauf fuhr die Polizei bei meiner Großmutter vor. Ich spürte die Furcht in der Stimme meiner Mutter, als sie mich aufforderte, mich mit ihr im Schrank zu verstecken. Das passiert gerade wirklich. Sie befahl mir, keinen Mucks von mir zu geben. Dann klopfte es.

Die Nachbarin öffnete die Tür und stand zwei wütenden Männern und zwei Polizeibeamten gegenüber. Die Polizisten stellten Fragen, mein Vater und mein Onkel schrien nur Anschuldigungen. Sie wussten, dass wir im Haus waren, wurden aber nicht hereingelassen.

Ich hörte, dass die Wut immer größer wurde. Irgendwie muss ich das doch in Ordnung bringen, dachte ich. Was kann ich nur tun, damit das aufhört? Ich möchte doch, dass es beiden gut geht.

Doch es war unmöglich, beide Elternteile zufriedenzustellen. Ich konnte nicht gleichzeitig zu beiden halten. Wenn ich mich auf die Seite eines Elternteils stellte, dann musste ich den anderen kränken oder enttäuschen. Zumindest glaubte ich das damals. Ich konnte den Streit nicht beenden.

Meine Mutter und ich saßen die ganze Zeit Hand in Hand und stocksteif im Kleiderschrank.

Und obwohl mir damals noch der Begriff dafür fehlte, um es beschreiben zu können, ist in diesem Augenblick eine emotionale Wunde in mir entstanden. Ich ahnte noch nicht, wie lange mich dieser Augenblick prägen sollte.

Auch wenn meine Eltern ihr Bestes versuchten, konnten sie mich nicht vor ihrer Wut bewahren oder abschirmen. Körperlich war ich nie in Gefahr, aber das System, das für mich Familie war, war bedroht und lag in Trümmern. Das Chaos wurde zum Status quo. Ich erlebte, wie sich zwei Erwachsene Drohungen an den Kopf warfen, es gab Manipulation, Paranoia, Gefühlsausbrüche, Missbrauch, Machtspiele und Angst. Obwohl sie sich bemühten, es vor mir zu verbergen, sah ich alles, spürte es und durchlebte es mit ihnen. Meine Welt war plötzlich keine behütete mehr. Die beiden Menschen, die mich beschützen sollten, waren so sehr in ihren Kampf verwickelt, dass sie mich eine Zeit lang aus dem Blick verloren.

Mir wurde klar, dass ich selbst dafür sorgen musste, dass sich das Gefühlt von Sicherheit wieder einstellte.

Im Bemühen, die Wogen zu glätten und die Familie zusammenzuhalten, übernahm ich die Rolle der Friedenswächterin. Eine ziemlich schwierige Rolle für eine Fünfjährige. Da ich nicht wusste, dass das nicht meine Aufgabe war, versuchte ich, sie perfekt auszufüllen. Ich wurde eine phänomenale Schauspielerin. Da ich mir sicher war, dass es meine Eltern überfordern würde, wenn es mir nicht gut ging, sagte ich nur: »Mir geht es gut«, um sie nicht noch mehr zu belasten. Weil ich es ihnen immer rechtmachen und ihnen das sagen wollte, was sie meiner Meinung nach hören wollten, teilte ich ihnen nie wirklich meine Wünsche mit, sondern bestätigte nur die ihren. Ich wurde zu einem Kind ohne eigene Bedürfnisse, gut in allem, was ich anpackte, und bemüht, die Last zu mindern und davon abzulenken, was gerade passierte.

Meine emotionale Wunde – mehr dazu auf den folgenden Seiten – blieb unversorgt, wurde immer wieder neu aufgerissen und bestimmte unbewusst mein Leben. Ich war stets auf der Hut, immer bereit zum Feuerlöschen, egal ob Anzündholz und Streichholz von meinen Eltern, meinen Freundinnen oder später dann meinen Partnern kamen. Diese unangemessene Rolle der Friedenswächterin und die ständigen Bemühungen, alles in Ordnung zu bringen, hatten langfristige Auswirkungen, die ich erst nach vielen Jahren überwinden konnte. Ich lernte, mich und meine Erfahrungen zu verbiegen, als unwichtig anzusehen, zu minimieren, zu maximieren und zu verzerren, nur um anderen zu gefallen. Diese Angewohnheit musste ich später mühsam loswerden, um authentische Beziehungen führen zu können.

Ich passte mein Verhalten so geschickt an, damit das, was meinen Eltern passiert war, mir auf keinen Fall passierte, dass ich am Ende genau das erzeugte, wovor ich Angst hatte. Meine Angst, so beherrscht zu werden, wie mein Vater meine Mutter dominiert hatte, hatte nur zur Folge, dass ich mich selbst beherrschte. Meine Sehnsucht nach Anerkennung und mein Bedürfnis, anderen zu gefallen, führten dazu, dass ich unangreifbar war, wenig authentisch und keine echten Beziehungen eingehen konnte. Ich gab mich so, als hätte ich alles im Griff, doch das machte es mir nur unmöglich, meine wahren Gefühle zu zeigen oder um die Erfüllung meiner Bedürfnisse zu bitten. Ich steckte in meinen privaten und beruflichen Beziehungen fest und wiederholte genau die Muster, die ich niemals hatte wiederholen wollen.

Als ich mit einer Therapie begann, war mir das überhaupt nicht bewusst. Meines Erachtens musste ich an der Verbesserung der Kommunikation und der Konfliktlösung in meinen Beziehungen arbeiten. Denn aus irgendeinem Grund hatte ich in allen Lebensbereichen Streit mit anderen – mit Freunden, Kolleg:innen und vor allem mit Partnern. Aber all diese Frustrationen und Konflikte führte ich nie auf den einen Vorfall in meiner Kindheit zurück. Das habe ich überlebt, sagte ich mir. Ich habe den Frieden gewahrt.

Doch tief in meinem Inneren wusste ich es besser. Das wahre Problem – das, worum es bei all den Konflikten wirklich ging – lag in diesem schrecklichen Tag begründet. Meine Familie und meine damals entstandene emotionale Wunde waren der Grund dafür. Und erst als ich anfing, mich selbst im Rahmen meiner Familie zu sehen, konnte ich mich endlich freimachen.

Unter diesem neuen Aspekt betrachtet ergaben mein Dasein und die Art, wie ich war, plötzlich Sinn. Eine Erfahrung, die Jahrzehnte zurücklag, hatte eine dauerhafte Wirkung auf mich ausgeübt. Ich hatte versucht, die Wunde zu ignorieren, die mein Sicherheitsgefühl erschüttert hatte, ich wollte dem daraus entstehenden Schmerz entgehen. So wurde ich zu jemandem, der möglichst unter dem Radar fliegt, um in der Familie und in jeder nachfolgenden Beziehung bloß keinen Stress zu machen.

Spoilerwarnung: Der Versuch, anderen Stress zu ersparen, verursacht nur noch mehr Stress – und Schmerz für einen selbst. Konflikte mit zusammengebissenen Zähnen durchzustehen, ohne ihre Ursache wirklich zu begreifen, hat in meinen Erwachsenenbeziehungen nicht funktioniert. Genauso wenig wie mein anderer Abwehrmechanismus: das Vorgaukeln, über allem zu stehen. Mein Versuch, Schmerz zu vermeiden und mich »sicher« zu fühlen, hatte genau den gegenteiligen Effekt. Weil ich verbarg, wie ich mich wirklich fühlte, meine Bedürfnisse nicht wahrnahm oder nicht aussprach, unterdrückte ich Konflikte, die dann an anderer Stelle wieder aufbrachen. Indem ich meinen Schmerz und meine Verletztheit nicht zuließ – und nicht einmal merkte, dass da etwas war, was Aufmerksamkeit verdiente –, versagte ich mir meine eigene Gesundung.

Dass das nicht so sein muss, ist die gute Nachricht – die ich durch harte Arbeit an mir selbst und mit Hunderten von Klient:innen in 15 Jahren als Ehe- und Familientherapeutin erfahren habe. Nur weil wir Wunden aus unserer Kindheit in uns tragen, heißt das nicht, dass wir dazu verdammt sind, die damit einhergehenden Muster zu wiederholen. Wenn wir innehalten und begreifen, woher (aus unserer Familie und Vergangenheit) diese Wunden kommen, und wenn wir dann mit Bedacht andere Entscheidungen treffen, können wir starke Heilungsprozesse in Gang setzen. Trauen wir uns, wirklich hinzusehen, kann unsere Vergangenheit sogar als Wegweiser für unsere Heilung dienen.

Ich habe im Laufe meiner Karriere mehr als 20 000 Therapiestunden mit Klient:innen abgehalten. Außerdem tausche ich mich auf Instagram regelmäßig mit über 600 000 Menschen aus. In diesem Buch erzähle ich meine eigene Geschichte und die Geschichten anderer, mit denen ich gearbeitet habe. Ihre Namen und viele ihrer speziellen Merkmale sind verändert, um ihre Identität zu schützen. Doch ihre Geschichten sollen dir etwas widerspiegeln, sodass du dich selbst und andere wirklich erkennst. Ich möchte dir helfen, deine Vergangenheit zu erforschen, deine Wunden zu benennen, die Verbindung zwischen diesen Wunden und deinen ungesunden Verhaltensweisen herzustellen und schließlich zu lernen, wie du fortan gesunde Beziehungen in deinem Leben aufbauen und pflegen kannst.

Dieses Buch soll dich dabei unterstützen, das zu definieren, was wir im Therapeutenjargon als Anliegen bezeichnen, also das Problem, weswegen jemand zur Therapie kommt. Dieses Buch will dich ermutigen, den Ursprung deiner Überzeugungen, Verhaltensweisen und Denkmuster zu ergründen und zu erkennen, welche Rolle dabei deine Familie einnimmt. Von all den schädlichen und frustrierenden Mustern, in denen wir feststecken, entstehen die meisten aus Wunden, die wir in der Kindheit erlitten haben. Kannst du die urspüngliche Wunde identifizieren und die hartnäckigen, destruktiven Muster durchschauen, zu denen sie geführt hat, kommst du besser mit den Konflikten und Verhaltensweisen zurecht, die dich in der Gegenwart belasten.

Die Arbeit beginnt mit unserer Herkunftsfamilie. Hier wird der Grundstein dafür gelegt, wie wir mit anderen, mit uns selbst und mit der Welt um uns herum in Beziehung treten. Deine frühen Beziehungen – ihr Vorhandensein, ihr Nichtvorhandensein, die fehlende oder auch übertriebene Fürsorge – beeinflussen, wie du fast alles in deinem heutigen Leben siehst. Deine Herkunftsfamilie war vielleicht durchgehend funktionell, manchmal funktionell oder selten funktionell. Egal wie, sie war nicht perfekt. Du hast dich vielleicht nach Dingen gesehnt, die man dir nicht geben konnte oder wollte, du hast Schutz vor Dingen gebraucht, die man womöglich gar nicht wahrnahm, und du wolltest Dinge fühlen und erleben, die man dir vorenthielt, weil sie die eigene Art zu fühlen und zu erleben bedrohten.

Die meisten Beziehungsprobleme, mit denen Einzelpersonen oder Paare zu mir kommen, sind auf anhaltende und ungelöste Schmerzen und Traumata zurückzuführen, die aus früheren Beziehungen stammen, vor allem aus der Herkunftsfamilie. Deshalb nenne ich das, was ich mit meinen Klient:innen mache, Herkunftsheilungsarbeit.

Herkunftsheilungsarbeit ist eine Kombination aus systemischer Familientherapie und psychodynamischer Theorie. Sie basiert auf der systemisch-integrativen Therapie1, einer Methode, die ich in meiner Ausbildung zur Ehe- und Familientherapeutin an der Northwestern University erlernt habe. Dabei wird untersucht, wie das Familiensystem, in dem jemand aufgewachsen ist, sein gegenwärtiges Verhalten prägt. Die Probleme, mit denen eine Person zu kämpfen hat, werden so im Kontext eines viel größeren Systems um sie herum betrachtet.

Wird diese Arbeit nicht geleistet, bleiben Schmerz und Trauma meist unbewältigt, wie wir in Teil I noch sehen werden. Egal wie sehr man der schmerzhaften Vergangenheit aus dem Weg zu gehen versucht, wie weit man wegzieht (»geografische Therapie« nennt dies die Psychologin Dr. Froma Walsh) und wie konsequent man sich von einem schädlichen Familienmitglied fernhält, wichtig ist, eine innere Ablösung zu erreichen, wenn man gesund werden will. Damit diese innere Ablösung gelingt, muss man die ursprünglichen, immer noch das Dasein bestimmenden Wunden erkennen und begreifen.

Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der nicht irgendeine Art von emotionaler Wunde aus der Vergangenheit mitbringt. In diesem Buch lernen wir fünf davon kennen. Vielleicht erkennst du sogar mehr als eine davon in dir selbst. Vielleicht fiel es dir in deiner Kindheit schwer zu glauben, dass du Liebe verdienst. Oder du hast immer das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören. Womöglich hast du dich gefragt, ob du überhaupt wichtig genug bist, um beachtet zu werden. Vielleicht fiel es dir schwer, den dir am nächsten stehenden Menschen zu vertrauen, oder du hast dich körperlich oder emotional bedroht gefühlt.

Deine Herkunftswunden zu benennen ist der erste Schritt zur Heilung. In jedem Kapitel in Teil II ergründen wir die Ursprünge einer bestimmten Wunde und den erlernten destruktiven Umgang damit. Dann folgen einige Berichte von Heilung. Anschließend führe ich dich durch deine eigene Herkunftsheilungsarbeit. Dabei durchläufst du vier Stufen: die Wunde benennen, verstehen, betrauern (ja, Gefühle können aufkommen) und dann Veränderungen vornehmen, damit sich die Muster nicht mehr wiederholen, die du in deinen Erwachsenenbeziehungen auflösen möchtest. Wenn du die destruktive Dynamik durchbrechen willst, die zwischen dir und den wichtigen Menschen in deinem Leben wirkt, solltest du diesem Heilungsprozess deine ganze Aufmerksamkeit schenken. Und nein, du kannst den Schmerz dabei nicht einfach überspringen. Wie sehr du auch möchtest, du kannst deine Herkunftswunde nicht ignorieren und einen neuen Weg suchen. Der einzige Weg führt mitten hindurch. Und ich bin hier, um dich auf deinem Weg zu begleiten.

Sobald du deine emotionale Wunde besser verstehst, erkennst du auch, wie die aus deinem Familiensystem herrührenden Verletzungen und Verhaltensmuster dein heutiges Beziehungsverhalten beeinflussen. In Teil III untersuchen wir genauer, wie du gelernt hast, zu kommunizieren, Konflikte zu bewältigen und Grenzen zu ziehen (oder nicht zu ziehen). Während du dir die Muster aus deiner Vergangenheit bewusst machst, kannst du mit meiner Unterstützung verändern, wie du kommunizierst, streitest und mit Grenzen umgehst. Du erreichst gesündere Verhaltensweisen und mehr Authentizität.

Du wirst lernen, dir immer dann, wenn du merkst, dass du nur noch reagierst oder in ein destruktives Muster verfällst, bestimmte Fragen zu stellen, damit du mit dem, was gerade passiert, anders umgehen kannst, als du es bisher getan hast. Es reicht nicht, zu wissen, warum du immer wieder dieselben Partner:innen wählst, und es reicht auch nicht, zu wissen, warum du in einer bestimmten Art reagierst. Zur Herkunftsheilungsarbeit gehört, dass du das, was du weißt, im Leben umsetzen kannst, und dass du das, was dir genommen wurde, mit Mitgefühl, Verständnis und Empathie für dich selbst und oft auch für andere zurückforderst. Wir haben vor, deine Vergangenheit zu heilen, aber wir werden auch die Programmierungen und Konditionierungen, die dich in der Gegenwart behindern, mit gezielten Maßnahmen durchbrechen und verändern.

Zwischendurch gibt es viele Anregungen, Übungen und geführte Meditationen, sodass du dich schon beim Lesen des Buches an die Arbeit machen kannst. Du kannst anfangen, dich von unerwünschten Mustern und Verhaltensweisen zu lösen, die deine Beziehungen und deinen Alltag sabotieren. Und du kannst konkrete Schritte unternehmen, um Heilungsprozesse anzustoßen und zu dir selbst zu finden.

Eins möchte ich noch klarstellen. Es geht in diesem Buch nicht darum, Eltern, Erziehungsberechtigte oder andere Erwachsene, die dir als Bezugsperson gedient haben, an den Pranger zu stellen. (Hinweis: In diesem Buch spreche ich meistens von Eltern, Erziehungsberechtigten oder Erwachsenen, aber damit ist immer auch jede andere Person gemeint, die in deiner Kindheit eine wichtige Bezugsperson war.) In der Arbeit mit Klient:innen zeige ich bewusst nicht mit dem Finger auf die Eltern oder gebe ihnen die Schuld. Meine Arbeit sieht immer den Zusammenhang und fordert, wenn es möglich ist, auch Erbarmen und Mitgefühl. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass auch unsere Erziehungsberechtigten einen komplexen Hintergrund aus unperfekten Familiensystemen und Herkunftsgeschichten haben, in denen die Wurzeln ihres Verhaltens liegen.

Doch auch wenn wir bei unserer Arbeit andere nicht verdammen, darf das nicht dazu führen, dass wir schädigendes Verhalten entschuldigen. Wir blicken auf unsere Erfahrungen, um sie anzuerkennen und zu benennen, ohne sie zu verharmlosen oder abzuwerten. Unsere Familie hat wahrscheinlich nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, aber vielleicht trotzdem nicht alles richtig gemacht. Schädliche Erfahrungen wegzuerklären erleichtert die Arbeit nicht, die wir leisten müssen.

Natürlich sind deine Geschichten anders als meine und die von deinen Nächsten. Vielleicht hast du viel mehr traumatische Erlebnisse gehabt als die meisten Menschen in deinem Umfeld. Oder du bist dankbar dafür, dass deine Geschichte nicht so schlimm ist. Wo auch immer du dich in diesem Spektrum siehst, deine Geschichte verdient deine behutsame und gezielte Aufmerksamkeit.

Deine Aufgabe ist es, den Einfluss deiner Herkunftsfamilie zu benennen, anzunehmen, zu spüren und zu erkennen. Das dadurch gewonnene Bewusstsein und Verständnis kannst du als Leitfaden nutzen, um gesunde, dauerhafte Veränderungen in deinem Leben zu erwirken. Damit bist du nicht eines Tages einfach fertig. Du wirst immer mehr über dich, deinen Partner und deine Familie lernen. Du wirst immer wieder auf neue Reaktionen stoßen, egal in welchem Alter. Du wirst Trauer spüren, die deine Aufmerksamkeit erfordert. Und du wirst wahrscheinlich oft deinem verletzten inneren Kind begegnen, das sich nach deiner Anerkennung, deinem Beistand, deiner Trauer und deiner Anwesenheit sehnt.

Herkunftsheilungsarbeit ist nicht nur das, was ich tagtäglich mit meinen Klient:innen mache, sondern auch mein ganz persönlicher Weg vorwärts. Sie ermöglicht Veränderung (dauerhafte, tiefe Veränderung), befreit aus Sackgassen und erlaubt den Zugriff auf Erinnerungen und Wahrheiten, die galten, bevor der Schmerz und die Traumata der Herkunftsfamilie auf dich übertragen wurden.

Ich glaube nicht, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Wahrscheinlich gibt es so viele Wege, wie Menschen auf dieser Erde leben. Aber eines weiß ich: Als ich anfing, meine Vergangenheit im Zusammenhang mit meiner Familie zu erkunden, ergab mein Dasein und die Art, wie ich war, auf einmal Sinn, und ich konnte den Versuch der Heilung annehmen.

Statt immer wieder Partner zu wählen, die die Wunden aus meiner Kindheit aufrissen, entschied ich mich nun für einen Partner, der bereit war, die Ärmel hochzukrempeln und mich bei meiner schweren Arbeit zu unterstützen. Das Bild, das ich bis dahin von Liebesbeziehungen gehabt hatte, begann aufzuweichen.

Statt immer gut drauf zu sein, lernte ich, meine Verletzlichkeit zu zeigen – und zu merken, wer es verdient, mein wahres, verletzliches Ich zu sehen.

Statt die Friedenswärterin zu spielen und zu versuchen, es allen rechtzumachen, begann ich, auf mich selbst zu achten – auch wenn ich andere damit enttäuschte.

Statt andere dazu zu drängen, sich zu ändern, einen anderen Weg einzuschlagen oder das Leid zu erkennen, in dem sie lebten, nahm ich ihr Wesen als gegeben an – und änderte die Art und Weise, wie ich mit ihnen umging.

Und statt immer alles zu bestimmen, lernte ich, darauf zu vertrauen, dass jemand mich führen kann, ohne mich auszunutzen.

Unsere Herkunftsgeschichten sind unglaublich komplex und manchmal furchtbar schmerzhaft. Die Trennung meiner Eltern wurde im November 1991 offiziell, und meine Mutter und ich zogen im Mai 1992 aus. Damit begann ein neunjähriger Scheidungsprozess, damals der längste in der Geschichte von New Jersey. Ich musste viel Angst und Trauer verarbeiten, auch wenn sich die Beziehung zwischen meinen Eltern stark verändert hat und ihr Umgang heute freundschaftlich ist. Ich habe Jahre damit verbracht, die Botschaften, die ich in dieser Zeit erhalten habe, hervorzuholen und wieder loszuwerden. Viele meiner Fähigkeiten als Therapeutin lassen sich direkt auf meine über Jahre ausgeübte Rolle als Beschwichtigerin und Vermittlerin zwischen meinen Eltern zurückführen. Wie meine liebe Freundin und Kollegin Dr. Alexandra Solomon sagt: »Unsere Wunden und unsere Gaben sind direkte Nachbarn.« Was für ein schönes Bild dafür, dass einige unserer größten Gaben gerade aus dem Schmerz hervorgehen, den wir erlitten haben.

Und doch kann alles gut werden. Eine enge Beziehung zur eigenen Herkunftsgeschichten zu haben, hilft nicht nur dabei, sich selbst oder die eigene Familie besser kennenzulernen oder die Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine solche enge Beziehung bietet auch Gelegenheit zur Heilung – für einen selbst, für die Vorfahren und ebenso für die Nachfahren. Die Familientherapeutin und Autorin Terry Real sagt: »Familiäre Dysfunktion überträgt sich von einer Generation zur nächsten, wie ein Waldbrand, der alles auf seinem Weg mitreißt, bis in einer Generation jemand den Mut hat, sich umzudrehen und sich den Flammen zu stellen. Diese Person bringt Frieden für ihre Vorfahren und entlastet ihre Nachfahren.« Stellst du dich den Flammen?

Es spielt keine Rolle, ob du schon seit Jahrzehnten in Therapie bist oder ob Therapie nichts für dich ist. Es ist auch egal, ob du schon einmal systemisch gearbeitet hast oder das erste Mal damit in Berührung kommst. Es ist ebenfalls irrelevant, ob du viele Kindheitserinnerungen hast oder kaum welche. Manchmal verschwindet eine Erinnerung an ein Ereignis, weil der Schmerz so groß war, aber fühlen kannst du es immer noch. Was zählt, ist deine Offenheit, deine Bereitschaft, nachzuforschen, nachzuspüren und hinzusehen, auch wenn etwas schwer zu akzeptieren oder zu erkennen ist. Es ist wichtig, dass du bei der Arbeit mit diesem Buch gut auf dich aufpasst und dich zwischendurch fragst, ob du weitermachen willst oder einen Moment innehalten musst.

Wie du dieses Buch nutzt, bleibt dir überlassen. Es gibt kein richtig oder falsch. Du kannst die Kapitel mit deinem Therapeuten durcharbeiten oder alles selbst lesen und das reflektieren, was dabei hochkommt. Oder du gehst es gemeinsam mit deiner Partnerin, einem Familienmitglied oder einem Freund durch und nutzt den Text als Gesprächsgrundlage.

Welchen Weg du auch einschlägst, du liest dieses Buch, weil du etwas suchst. Weil du etwas in dir trägst, das deine Aufmerksamkeit braucht. Du liest es, weil du erschöpft bist von der Last, die du trägst, von den zermürbenden Mustern, in denen du festhängst, und von dem Frust darüber, dass deine Hoffnung auf Veränderung immer wieder enttäuscht wird. Ich sehe dich, ich höre dich, ich habe das alles auch schon erlebt und ich freue mich darauf, dir bei dieser schweren Arbeit zur Seite zu stehen.

Die Erkundung deiner Herkunftsgeschichten ist ein mutiger und entscheidender Schritt in deinem Heilungsprozess. Lass uns anfangen!

Teil I

Unsere Wurzeln

1

Deine Vergangenheit ist deine Gegenwart

Auf dem Brief, den sie mir geschickt hatte, standen nicht viele Informationen. Nur ihr Name, ihr Alter und ein paar Zeilen darüber, was sie gerne besprechen würde.

Natasha Harris, 38

Ich muss herausfinden, ob mein Partner wirklich der ist, mit dem ich mein Leben verbringen kann. Ich habe schon seit Längerem Bedenken, aber jetzt kann ich die Sache irgendwie nicht mehr ignorieren. Können Sie mir helfen?

Therapie war für Natasha etwas Neues. Freundinnen hatten sie dazu überredet, endlich mit jemandem zu sprechen – mit mir. Auf unsere erste Sitzung blickte sie mit Vorfreude und Angst.

»Ich hab’s echt nötig«, sagte sie. »Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst. Ich schiebe das schon so lange vor mir her und spüre, dass ich das nicht mehr kann. Außerdem haben meine Freundinnen es satt, dass ich mich immer bei ihnen beklage.« Sie lachte nervös.

Ich lächelte.

»Natürlich wird es irgendwann langweilig, wenn man immer wieder dieselbe alte Leier hört. Ich beschwere mich, seit sie mich kennen.«

»Wie lange kennen sie dich schon?«, fragte ich.

»Wir sind seit der Jugendzeit befreundet. Wir kennen uns schon ewig. Sie sind seit über 30 Jahren meine Freundinnen.«

Die Klagen, die ihre Freundinnen nicht mehr hören wollten, betrafen nicht nur ihren jetzigen Partner. Die gleichen Beschwerden hatte sie über fast jeden Partner geäußert, seit sie ernsthafte Beziehungen eingegangen war.

»Kannst du mir sagen, was sie von dir zu hören bekommen?«, fragte ich.

»Na ja, eigentlich, dass es eher so ein Gefühl ist, ein Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Sie finden, dass ich nur darauf warte, dass etwas nicht gut läuft, verstehst du? Als würde ich versuchen, etwas Gutes zu zerstören. Ich weiß nicht. Vielleicht lasse ich tatsächlich Menschen, die gut für mich sind, nicht an mich heran. Das sagen zumindest alle, also stimmt es womöglich.«

Ich merkte, wie es Natasha ging. In ihre Einschätzung von sich selbst waren eindeutig schon all die Äußerungen und Botschaften der anderen eingeflossen. Es war schwer für sie zu erkennen, was sie wirklich fühlte, und anzunehmen, was sie wusste, und sich darüber klar zu werden, was für sie die Wahrheit war.

»Klingt so, als wüssten deine Freundinnen genau, wie du dich in Beziehungen verhältst. Aber ich möchte gerne erfahren, wie du deinen Partner und eure Beziehung einschätzt.«

»Okay, klar. Clyde ist ein toller Mann. Er ist klug, attraktiv, interessant, erfolgreich und so nett und fürsorglich. Wenn man ihn sieht, gibt es nichts auszusetzen. Alle halten ihn für einen Glücksgriff und glauben, dass ich endlich den richtigen Mann gefunden habe.«

Ich unterbrach sie. »Hältst du Clyde denn für einen Glücksgriff?« Ich versuchte, sie wieder auf ihre eigene Einschätzung zurückzubringen.

»Auf jeden Fall. Er ist ein wunderbarer Partner für mich. Er ist ein toller Mann und ich kann mich wirklich nicht beschweren. Ich glaube nur, dass irgendwas nicht gut ist oder nicht gut sein wird. Vielleicht übersehe ich ja was, weißt du? Was ist, wenn irgendwann die Bombe platzt?«

»Ist denn in früheren Beziehungen schon mal eine Bombe geplatzt?«

Meine plötzliche Abkehr von Clyde schien sie zu überraschen.

»Ich glaube nicht, nein«, antwortete sie.

»Ist in deiner Familie mal irgendeine Bombe geplatzt?«, fuhr ich fort.

Sie hielt inne und schaute mich verwirrt an. »Ich glaube wirklich nicht, dass das was mit meiner Familie zu tun hat. Warum kommen Therapeuten immer darauf zu sprechen? Ehrlich gesagt, war meine Kindheit echt toll. Da gibt es nicht viel zu erforschen. Ich möchte lieber herausfinden, was mit Clyde los ist.«

In Momenten wie diesen muss ich innerlich immer – liebevoll! – schmunzeln und denke an Brené Browns TEDx-Talk »The Power of Vulnerability«, in dem sie erzählt, wie sie ihrer Therapeutin in der ersten Sitzung eine Grenze setzte: »Keine Familienangelegenheiten, kein Kindheitsscheiß, ich brauche nur Lösungen.«2

Spoilerwarnung: Dieser Ansatz hat bei Brené nicht funktioniert, und er wird auch bei dir nicht funktionieren. Denn ob du es nun zugeben willst oder nicht, die »Familienangelegenheiten« und der »Kindheitsscheiß« sind eben die Wurzel von allem.

Ich weiß, ich weiß, das ist womöglich nicht das, was du hören wolltest. Du magst sogar beteuern, dass das, was vor so langer Zeit geschehen ist, dich heute überhaupt nicht mehr betrifft. Schließlich bist du gewachsen und hast dich weiterentwickelt. Vielleicht hast du sogar verziehen. Kaum vorstellbar, dass Dinge, die Jahrzehnte zurückliegen, immer noch dein Leben und deinen Alltag bestimmen.

Doch eines ist ganz sicher: Deine Vergangenheit erzeugt Muster, die dein heutiges Leben beeinflussen.

Selbst wenn du dich weiterentwickelt hast, in vielerlei Hinsicht gewachsen oder auch nicht mehr derselbe Mensch bist wie früher, bist du immer noch ein Glied in einer die Generationen verbindenden Kette.3 Und ob du dir dessen bewusst bist oder nicht, das übergeordnete Familiensystem wirkt im Großen wie im Kleinen auf Bereiche deines Lebens. Ziemlich sicher beeinflusst deine Vergangenheit dein Leben, und wenn du dir dessen nicht bewusst bist, leidest du wahrscheinlich darunter.

Glaub mir, die Vergangenheit ist unerbittlich. Je mehr du dich von ihr abwendest, desto mehr verfolgt sie dich und verlangt nach deiner Aufmerksamkeit. Hast du dich schon mal gefragt, warum du immer wieder wegen der gleichen Dinge in Streit gerätst? Warum du jedes Mal ähnliche Partner wählst? Warum du in einer bestimmten Art reagierst, obwohl du es doch anders machen willst? Oder warum dir die kritische Stimme in deinem Kopf ständig dieselben Vorwürfe macht? Das ist deine Vergangenheit, die nach Aufmerksamkeit ruft. Dieser »Kindheitsscheiß« bestimmt dein gegenwärtiges Leben so sehr, dass sich eine nähere Untersuchung wirklich lohnt.

Mit ihrem Wunsch, sich nicht mit ihrer Kindheit zu beschäftigen, hat Natasha tatsächlich einiges über sich verraten. Für mich ist schnell klar geworden, dass es noch ein bisschen dauern würde, bis sie und ich diese Erkundungsreise gemeinsam beginnen konnten. Sie war noch nicht so weit, und das war okay. Aber das Spannende war, dass diese Reise in die Geschichte ihrer Familie unweigerlich wichtige Verbindungen zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart aufdecken würde. Natasha würde einen Zusammenhang zwischen ihrer Herkunftsfamilie und den Fragen feststellen, die sich in ihrem heutigen Leben stellten. Wenn sie dranbliebe, würde sie bald merken, dass das, was sie mit Clyde erlebte, nicht so einfach und klar war, wie sie vielleicht glaubte.

Natasha ist da keine Ausnahme. Wie die meisten meiner Klient:innen wollte sie über das Anliegen sprechen, dessentwegen sie zur Therapie gekommen war: ob sie in ihrer Beziehung bleiben sollte oder nicht. Ein zu tiefer Blick in ihre Vergangenheit – auf ihre Familiendynamik, ihre Programmierung und Konditionierung, ihre Erfahrungen aus früheren Jahrzehnten – erschien ihr weder relevant noch nützlich oder bedeutend. Da eine Verlobung anstand (Clyde suchte bereits Verlobungsringe aus), erschien es ihr als Zeitverschwendung, sich mit irgendetwas anderem als dieser einen Beziehung zu beschäftigen. Bei Clyde bleiben oder ihn verlassen – das war die Entscheidung, die ihr Probleme bereitete.

Aus ihrer Sicht ergab das natürlich Sinn. Die meisten Menschen fragen sich lieber, wo sie hinwollen, als woher sie gekommen sind. Was Natasha da noch nicht wusste, war, dass sie durch die ausschließliche Beschäftigung mit Clyde keinerlei Klarheit finden würde. Im Rahmen unserer gemeinsamen Arbeit in den nächsten Monaten ergründete Natasha nicht nur ihre Kindheit und ihre früheren Beziehungen, sondern erfuhr auch einiges über ihre Eltern und ihre Schwester. Mit der Zeit ergab vieles einen Sinn – sowohl in Bezug auf Clyde als auch in Bezug auf andere Probleme, mit denen sie sich seit Jahren herumgeschlagen hatte.

Es lohnt sich, die eigene Herkunftsfamilie zu untersuchen, aber es ist nicht immer einfach. Auf den folgenden Seiten werden wir dies gemeinsam angehen. Denn wenn wir uns der Muster, nach denen wir handeln, nicht bewusst werden, wiederholen wir sie zwangsläufig auf vorhersehbare und oft destruktive Art und Weise. So wie Natasha.

Wie viele andere glaubte Natasha vor ihrer Therapie, dass ihre Kindheit gut war. Die Ehe ihrer Eltern war intakt, und sie wuchs in einem liebevollen Familiensystem auf. »Es gibt nichts, worüber ich mich beschweren könnte. Ich hatte eine schöne Kindheit und käme mir albern vor, wenn ich hier und da was kritisieren würde, vor allem, weil viele andere es viel schwerer hatten als ich.«

Natasha verfiel hier sowohl der Idealisierung als auch dem, was ich »Wundenvergleich« nenne. Sie gestattete sich nicht, nur auf ihre Geschichte zu schauen, weil »andere es viel schwerer hatten«. Andere in ihrem Umkreis, um genau zu sein. Eine Freundin von ihr war von ihrem Vater misshandelt worden. Eine andere Freundin hatte mit 13 ihre Mutter verloren. Und bei einer weiteren Freundin hatte der Bruder das ganze Vermögen der Familie verspielt.

»Das sind echte Probleme. Das sind echte Dramen, echter Schmerz und echte Traumata«, sagte sie. Ihr Schmerz war nicht vergleichbar mit dem von Bekannten und anderen Menschen. Sie fand nicht, dass sie ein Recht auf ihre Gefühle hatte.

Mir fiel auf, wie oft sie das Wort »echt« benutzte. Was ich zwischen den Zeilen hörte, war: Dass ich Schmerz und Trauma erlebt habe, ist nicht so offensichtlich. Können Außenstehende das trotzdem anerkennen, auch wenn es nicht so deutlich ist? Kann ich selbst das annehmen? Hat mein Schmerz da einen Platz?

Denn Natasha hatte Schmerz in ihrer Vergangenheit erlebt – das hörte ich aus ihrer Stimme heraus und aus Kleinigkeiten in den Geschichten, die sie mir erzählte. Aber solange sie diesen Schmerz nicht für erwähnenswert hielt, konnten wir ihn nicht gemeinsam angehen.

Der Wundenvergleich dient als Ablenkung, egal, ob man ihn minimierend oder maximierend einsetzt. Man lenkt damit die Aufmerksamkeit von sich selbst ab – von der eigenen Geschichte, der eigenen Verletzlichkeit und letztlich vom eigenen Heilungsprozess.

Es kommt auch häufig vor, dass man wie Natasha die eigene Vergangenheit idealisiert. Das ist ein Versuch, sich zu schützen. Solange man die eigene Familie weiterhin durch eine positive Brille sehen kann, muss man sich nicht mit dem negativen Gefühl auseinandersetzen, der Familie gegenüber illoyal zu sein oder die erhaltene Fürsorge und Liebe nicht zu schätzen. Und wenn die Vergangenheit dann doch nicht so behütet war, wie man sich erinnern möchte, kann man einen großen Verlust spüren wegen dem, was war oder eben nicht war, und man hat Angst davor, in welchem Licht sich Gegenwart und Zukunft zeigen.

Das ist ein Paradoxon, mit dem viele zu kämpfen haben: einerseits kritisch über die Herkunftsfamilie nachzudenken und gleichzeitig die Liebe und Anstrengung zu würdigen, die es dort gab. Es ist schwierig, zwei widersprüchliche Ideen gleichzeitig im Kopf zu behalten. Aber wenn man die eigene Herkunftsgeschichte, den Schmerz und das Trauma nicht in den Blick nehmen kann, wenn man merkt, dass man das Erlebte kleiner oder größer macht, als es war, wenn man es weiterhin idealisiert oder durch Erklärungen wegschiebt, dann läuft man Gefahr, im eigenen Leben nur Zuschauer:in zu sein.

Natasha musste erst aufhören zu vergleichen und ihrem Schmerz ohne Ablenkung einen Platz geben. Sie musste sich ihre wahre Geschichte eingestehen. Und sie musste endlich die Rolle erkennen, die sie in ihrer Familie übernommen hatte.

Deine Rolle in der Herkunftsfamilie

Kinder sind unglaublich aufmerksam. Sie beobachten, fühlen und spüren ständig, was um sie herum passiert. Sie achten sehr genau auf den emotionalen Zustand anderer und umarmen oder küssen Eltern oder Geschwister oft, wenn sie glauben, dass sie traurig oder zornig sind. Es ist wirklich bemerkenswert zu sehen, dass Kinder einfach erkennen, was viele Erwachsene übersehen. Ihre Intuition ist noch intakt, und sie werden nicht durch ständige Ablenkungen behindert. Sie sind präsent und auf ihre Umgebung eingestimmt. Sie haben noch nicht gelernt, ihren Schmerz oder den Schmerz anderer mit Ausreden oder Verharmlosungen zu überdecken. Sie scheuen sich auch nicht, den Schmerz, den sie bei anderen wahrnehmen, zu benennen. Und wie die meisten von uns wollen sie oft instinktiv alle Probleme lösen, die sie sehen.

Diese unglaubliche Sensibilität für Schmerz und der Drang, ihn zu lindern, führen oft dazu, dass ein Kind in der Familie eine wichtige Rolle übernimmt, indem es zum Beispiel emotionale Unterstützung leistet oder als Bezugsperson für ein jüngeres Geschwisterkind einspringt. Vielleicht versucht es, die Eltern von belastenden Ereignissen abzulenken, oder möchte den Eltern Last abnehmen. Gibt es beispielsweise ein Geschwisterkind mit Behinderung, bemerkt das Kind den Stress und die Erschöpfung der Eltern und beschließt deshalb, selbst die Rolle des pflegeleichten Kindes zu übernehmen, des Kindes, das sich um sich selbst kümmert und alles tut, um das schwierige Familienleben nicht noch mehr zu belasten. Ein aufmerksames Kind erkennt, was gebraucht wird, und schlüpft dann in eine Rolle, von der es glaubt, dass sie ihm oder seiner Familie Schutz bietet.

Und jetzt kommt das Tückische: Was ist mit der Rolle, die du vor langer Zeit übernommen hast? Sie beeinflusst womöglich auch heute noch dein Agieren und Reagieren. Sie ist eine der Hauptursachen dafür, dass deine Vergangenheit noch immer Einfluss auf dich hat. Womöglich achtest du unbewusst bei der Auswahl deiner Partner, Freunde oder sogar Arbeitsstellen darauf, dass du dich genau in der Rolle wiederfindest, die du nur zu gut kennst. Wenn du in der Familie der Perfektionist warst, behältst du deine perfektionistischen Tendenzen vielleicht auch in deinen Erwachsenenbeziehungen bei. Wenn du dich um einen Elternteil oder um deine Geschwister gekümmert hast, spürst du womöglich immer noch den Drang, dich um die Bedürfnisse aller anderen zu kümmern. Warst du das verlorene Kind, das unsichtbare, das sich klein und still gemacht hat und fällt es dir heute noch schwer, deine Meinung zu vertreten? Warst du der Familienclown und siehst es weiterhin als deine Aufgabe an, andere aufzuheitern? Es gibt aber auch eine subtilere Art und Weise, eine Kindheitsrolle mit ins weitere Leben zu nehmen, nämlich indem man die Rolle ablehnt, in der man als Kind steckte. Wenn man als Vertraute oder emotionale Stütze eines Elternteils gedient hat, hat man später vielleicht Probleme mit emotionaler Zuwendung und Intimität in einer Partnerschaft. Denn jedes Anzeichen für emotionale Bedürfnisse eines Partners oder einer Freundin weckt die Erinnerung daran, wie anstrengend es war, als Kind eine Bezugsperson zu sein. Da verschließt man sich lieber jeglicher Bindung, vermeidet Nähe und Verletzlichkeit.

Die Rolle, die du übernommen hast, war früher womöglich wichtig, um deine Familie am Laufen zu halten. Aber heute wird sie eventuell gar nicht mehr gebraucht. Es könnte sogar sein, dass ausgerechnet diese Rolle, die du übernommen hast, dich von deinem Heilungsprozess abhält. Sie hindert dich daran, eine tiefere Verwundung zu entdecken, zu benennen und zu bewältigen. Und so verhindert sie auch Bindung und Nähe in deiner Partnerschaft.

Das fanden wir heraus, als ich mit Natasha über ihr Zögern nachdachte, sich fester an ihren liebevollen Partner Clyde zu binden.

Über Wochen beharrte Natasha weiterhin darauf, eine glückliche Kindheit verlebt zu haben. In mehreren Sitzungen hatte ich sie nach ihrer Angst davor gefragt, dass sich in ihrer Beziehung plötzlich etwas Negatives erweisen könnte, dass Clyde eines Tages etwas von sich preisgeben könnte, das er bisher verheimlicht hatte. Auf meine Fragen, wann es in ihrer Familie oder in früheren Beziehungen je so eine unangenehme Überraschung gegeben hatte, bekam ich keine Antwort. Aber als ich Natasha fragte, ob sie selbst jemals etwas verheimlicht hatte, öffnete sich eine Tür.

Sie erzählte, dass sie mit 15 Jahren einmal zufällig eine E-Mail auf dem Rechner ihres Vaters entdeckt hatte. Sie hatte Probleme mit ihrem eigenen Computer und musste dringend etwas für die Schule fertigstellen. Daher hatte sie ihren Vater gefragt, ob sie seinen Rechner benutzen durfte, und er hatte zugestimmt.

»Er wusste wohl nicht mehr, dass die Mail noch geöffnet war«, sagte sie, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Da war ein ganzer Mail-Austausch. Er stand direkt vor meinen Augen. Ich habe jede Mail der beiden gelesen. Jede einzelne. Ich konnte einfach nicht wegschauen. Das ergab für mich keinen Sinn. Eine Frau, nicht meine Mutter, schrieb meinem Vater, wie sehr sie ihn liebte, wie toll das Wochenende gewesen war und dass sie es nicht erwarten konnte, mit ihm ihr Leben zu verbringen. Und mein Vater erwiderte genau dasselbe. Das lief schon seit Jahren so. Seit Jahren. Und niemand wusste es. Als mein Vater hereinkam, starrte ich ihn mit Tränen in den Augen an und fing dann an zu weinen. Meine Mutter war in dieser Woche geschäftlich verreist, und meine Schwester war beim Basketballtraining. Er sah mich an und sagte: ›Bitte erzähl deiner Mutter nichts davon. Ich verspreche dir, ich mache Schluss.‹ Wir haben nie wieder darüber gesprochen, und ich habe es meiner Mutter nie erzählt. Er beendete die Affäre tatsächlich – ich schaute regelmäßig in seine Mails und Handynachrichten, um mich davon zu überzeugen. Und er ließ das zu. Ich glaube, wir haben so unausgesprochen dafür gesorgt, dass unsere ›Vereinbarung‹ eingehalten wurde.«

Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Während sie mir das erzählt hatte, hatte sie auf den Boden geschaut. Jetzt hob sie ihren Blick und sah mir in die Augen.

»Was für eine schwere Bürde«, sagte ich. »Und dieses Geheimnis hast du über zwei Jahrzehnte lang für dich behalten. Ich kann mir den Schmerz, die Verwirrung und die Fragen, die du dir gestellt hast, kaum vorstellen.«

Natasha hatte das Geheimnis bewahrt und ihre Rolle großartig gespielt. Sie hatte das Geheimnis so tief verborgen, auch vor sich selbst, dass es fast in Vergessenheit geraten war. Sie hatte es so weit weggeschoben, dass ihre Familie weitermachen konnte wie zuvor: fröhlich, zugewandt, liebevoll – als ob alles in Ordnung wäre.

Kein Wunder, dass sie glaubte, ihre Kindheit sei gut gewesen. Natashas Rolle als Geheimnisträgerin hatte alles überdeckt und alle vor dem dahinter verborgenen Schmerz und der Traurigkeit bewahrt. Aber gerade weil Natasha ihre Rolle so erfolgreich ausgefüllt hatte, hielt die Vergangenheit sie umso fester im Griff und hinderte sie daran, für sich einen guten Weg zu finden.

Authentizität oder Bindung

Als du ein Kind warst, gab es wahrscheinlich viele, viele Momente, in denen du gebeten oder ermutigt wurdest, ein bisschen mehr von diesem und ein bisschen weniger von jenem zu sein, um Liebe, Zuwendung, Wertschätzung, Sicherheit oder Bestätigung von deinen Eltern und Bezugspersonen zu bekommen. Vielleicht hast du von deinen Eltern Botschaften erhalten, die sie für harmlos hielten, die dich aber in Wirklichkeit dazu brachten, weniger von dem zu sein, was du wirklich warst. Und rate mal, was du als Kind getan hast? Wahrscheinlich hast du dich darauf eingelassen. Willst du wissen, warum? Weil du auf Bindung programmiert bist. Weil Bindung für dein Überleben notwendig ist. Und weil dein Bedürfnis, geliebt, geschätzt, ausgewählt, beschützt, bevorzugt und sicher zu sein, alles andere übertrifft.

Aber genauso wichtig wie dein Bedürfnis nach Bindung ist auch dein Bedürfnis nach Authentizität. Authentisch zu sein bedeutet, so sein und fühlen zu dürfen, wie es einem entspricht. Es heißt, sich selbst und denjenigen gegenüber, die einem wichtig sind, vollständig offen zu sein. Authentizität ist der Kern unserer Existenz. Ohne sie findet ein innerer Tod statt. Authentizität und Bindung sind beides starke Bedürfnisse. Doch wie der Trauma- und Suchtexperte Dr. Gabor Maté sagt: »Wenn Authentizität die Bindung bedroht, übertrumpft die Bindung die Authentizität.«4 Schlimm eigentlich, dass viele von uns ein existenzielles Bedürfnis über das andere stellen müssen: Um mit dir verbunden zu bleiben, muss ich mich von mir selbst trennen. Oder: Um mir selbst treu zu bleiben, muss ich mich von dir lossagen. Es ist auch furchtbar, dass so viele Kinder, auch du, immer wieder diese Entscheidung treffen mussten und müssen.

Als Kinder stellen wir Bindung über Authentizität, denn Bindung ist die wichtigere Lebensgrundlage. Perfekte Noten machen Papa glücklich. Wenn du leise bist, ist Mama weniger gereizt. Nimmst du ab, bekommst du Zuwendung. Geht es dir gut, sind deine Eltern weniger gestresst. Benimmst du dich, hört Papa auf, deiner Schwester wehzutun. Stimmst du zu, bleibt der Frieden erhalten. Hilfst du Mama, ist sie weniger traurig. Du hast gelernt, dich anzupassen, damit deine Eltern dich nicht verlassen, ablehnen, hassen, kritisieren, verurteilen oder verleugnen. Und als Erwachsene machen wir leider damit weiter. Aber nur, weil wir darauf konditioniert sind. Weil wir gelernt haben, dass wir lediglich dann wertgeschätzt und beachtet werden, dazugehören, Vertrauen und Sicherheit bekommen, wenn wir uns so verändern, wie es andere erwarten.

Irgendwo in deiner Vergangenheit gibt es im Zusammenhang mit Bindung und Authentizität einen Punkt, an dem du dich erstmals auf einen wiederkehrenden Selbstbetrug eingelassen hast. An dem du bereit warst, dein wahres Ich um der Bindung willen aufzugeben. An dem du dich verändert hast, um zu bekommen, was du zu brauchen geglaubt hast.

Lass das einen Moment lang sacken. Dir wurde beigebracht, dass du das, wonach du dich am meisten sehnst, nur bekommst, wenn du jemand anderes bist als du selbst. Wenn ich so werde, wie du mich brauchst, bekomme ich garantiert Liebe, Zuwendung, Anerkennung, Sicherheit und Bestätigung. Das ist eine Form des Selbstschutzes, und du hast dein Bestes gegeben, um dich anzupassen. Aber ein erfolgreicher Gestaltwandler zu werden, ist nicht wirklich ein Sieg. Es bringt dir nicht das, was du dir wünschst. Selbst wenn du Anerkennung für deine gute Noten, deinen Hattrick oder deine Selbstbeherrschung bekommst, weißt du tief in deinem Inneren, was los ist. Du durchschaust dein Umfeld und misstraust ihm, weil es Verstellung belohnt. Kein Wunder, dass wir so zu unsicheren Erwachsenen werden, die an sich selbst und anderen zweifeln. Und kein Wunder, dass es dann so schwer ist, authentisch zu sein und darauf zu vertrauen, dass man dennoch geliebt, beachtet, respektiert und wertgeschätzt wird.

Natashas Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür. Sie war eine außergewöhnlich gute Gestaltwandlerin. Sie hat den Schmerz über die Untreue ihres Vaters nicht zugelassen, damit ihre Familie weiterbestehen konnte. Doch schlechtere Siege gibt es kaum. Sie trug diese schwere Last so lange mit sich herum, dass sie nicht mehr wusste, wie sie mit ihrem Schmerz, ihrer Traurigkeit und ihrem Verlust umgehen sollte. Sie hat ihr authentisches Selbst gegen die Bindung an ihren Vater eingetauscht, der sein Geheimnis bewahren wollte, und gegen die Bindung an ihre Mutter, die unwissend gehalten wurde. Dieser Tausch kostete sie ihre Freiheit, ihre Resilienz und ihre Fähigkeit, mit den normalen Höhen und Tiefen einer Beziehung zurechtzukommen und mit ihrem Partner einen positiven Weg zu beschreiten. Natasha sah ihrem eigenen Leben zu und ließ es geschehen, dass die ungelösten Probleme der Vergangenheit ihre Lebensgeschichte bestimmten und ein gesundes Beziehungsleben beeinträchtigten.

Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Gegenwart – und zur Zukunft

Ich weiß, es ist verlockend, das Ziel im Blick zu haben, nach vorne zu schauen. Trotzdem muss ich dich bitten, rückwärts zu blicken. Die Vergangenheit, die Familie, all das spielt eine Rolle ... eine wichtige Rolle. Wenn du deine Beziehung zu dir selbst und anderen heilen willst, musst du deine Herkunftsgeschichten verstehen. Deine ungeheilte und unbewältigte Vergangenheit bestimmt dein heutiges Leben, aber das muss nicht so bleiben.

Altlasten, Familiengeheimnisse, Ängste und Unsicherheiten werden in der Generationenkette weitergegeben. Manche Dinge werden offen angeboten und bewusst übernommen, etwa lieb gewonnene Feiertagsrituale, Familienmantras oder das Taco-Essen jeden Dienstagabend. Aber andere Dinge, die weitergegeben werden, sind ungesund und gefährlich. Etwa wenn eine Frau das Gewicht ihrer Tochter kritisiert, so wie ihre Mutter es ihr gegenüber getan hat. Oder wenn ein Vater wenig Verständnis dafür zeigt, dass seine Kinder seine unrealistischen Erwartungen nicht erfüllen, obwohl er seinen eigenen Vater für dessen Unverständnis und starre Regeln gehasst hat. Wenn aus Angst vor dem Urteil des sozialen Umfelds nicht über eine Affäre gesprochen werden darf oder wenn der Tod eines kleinen Kindes nie ganz akzeptiert und betrauert wird.