Deine Mutter braucht mehr Punsch! - Dietmar Bittrich - E-Book

Deine Mutter braucht mehr Punsch! E-Book

Dietmar Bittrich

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Beschreibung

Es wird immer besser mit der buckligen Verwandtschaft. Pünktlich schalten Freunde und Familienmitglieder in den Katastrophenmodus. Schwiegermutter reißt die Erziehung der Enkel an sich. Vati versucht, sich ins Ausland abzusetzen. Und dass der Kleinste den Weihnachtspudding stilvoll unterm Lichterbaum hervorwürgt, gehört zu den festen Programmpunkten. Mutter erduldet das alles mit Fassung. Und mit Punsch. Weitere Abhilfe schaffen wieder einmal die von Dietmar Bittrich zusammengestellten Geschichten.

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Seitenzahl: 280

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Dietmar Bittrich

Deine Mutter braucht mehr Punsch!

Immer wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

 

 

 

Über dieses Buch

Es wird immer besser mit der buckligen Verwandtschaft. Pünktlich schalten Freunde und Familienmitglieder in den Katastrophenmodus. Schwiegermutter reißt die Erziehung der Enkel an sich. Vati versucht, sich ins Ausland abzusetzen. Und dass der Kleinste den Weihnachtspudding stilvoll unterm Lichterbaum hervorwürgt, gehört zu den festen Programmpunkten. Mutter erduldet das alles mit Fassung. Und mit Punsch. Weitere Abhilfe schaffen wieder einmal die von Dietmar Bittrich zusammengestellten Geschichten.

Vita

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirepreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u.a. der Bestseller «Alle Orte, die man knicken kann». Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Patrick Wirbeleit

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01805-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Marie Stadler • Der Streik der Frauen

Daniel Bielenstein • Das Schweige-Retreat

Stefanie von Wietersheim • Tante Walburga

Tobias Keller • Klasse 5a

Myrto Athanassiou • Zoom-Konferenz

Tilman Birr • Ein Fest mit Elvis

Käthe Lachmann • Schrottwichteln

Edgar Wilkening • Der Spirit von St. Pauli

Lea Streisand • Die Krippe

Manfred Maurenbrecher • Holzfällerweihnacht

Julia Hackober • Unter der Sonne der Toskana

Norbert Schnöde • Da ist jemand für dich

Larissa Hoppe • Der Vater meiner Kinder

Matthias Heine • Die letzte Karte

Ubin Eoh • Holy Shit

Rolf Schumann • Kiefernwälder

Melanie Hofmann • Ein Projekt in Kathmandu

Sören Sieg • Ohne Stimme auf Tournee

Claudia Brendler • Driving away for Christmas

Dietmar Bittrich • Deine Mutter braucht mehr Punsch

Die Autorinnen und Autoren

Marie StadlerDer Streik der Frauen

Schnappatmung klingt – wenn man genau hinhört und in Weihnachtsstimmung ist – ein bisschen wie der Anfang von Jingle Bells. Wie die gegeneinanderschlagenden Glocken an einem Pferdeschlitten, in dem sich grenzdebil grinsende Menschen den Allerwertesten abfrieren und darauf warten, dass gesungen wird.

Auch ich gerate ins Frösteln beim Anblick der halb nackten Dame, die mich von dem riesigen Plakat am Ortseingang von Heiligenstadt anstarrt. Von diesem Plakat aus hat uns alle seit ungefähr zwei Jahrzehnten Jürgen angestarrt. Uns alle, die wir hier in Heiligenstadt wohnen. Jürgen besitzt hier einen Elektrofachhandel, in dem es nicht mehr Auswahl gibt als in jedem x-beliebigen Keller, aber immerhin, Jürgen betreibt das einzige Geschäft in diesem Kaff, das sich insgeheim für seinen urbanen Namen schämt. Und deshalb war es auch vollkommen okay, jahrzehntelang angestarrt zu werden und veraltete Technik zu überhöhten Preisen zu kaufen.

Jetzt ist Jürgens von Regenwasser und Wind lädierte Visage weg. Ersetzt durch ein weihnachtlich lächelndes Callgirl, das an einer Banane lutscht. Daneben Santa – oder zumindest eine dreißigjährige, brusthaarfreie Brad-Pitt-von-früher-Santa-Version mit Sonnenbrille, Bad-Boy-Charme und sonnengebräuntem Teint. Sonnengebräunt, und das an jedem Zentimeter seines Körpers, so als läge der Nordpol am Strand der Karibik.

Und da steht also diese Dame im Schnee, in rot-weiß-plüschiger Unterwäsche, mit dellenfreien Oberschenkeln und High Heels, nuckelt an einer Banane, während sie den ebenfalls spärlich bekleideten Santa anschmachtet, und hält mit der anderen Hand einen Kochlöffel in der Hand. Darunter steht in leuchtend roten Buchstaben: «Auch Mutti wünscht sich an Weihnachten nicht nur Arbeit! Tolle Geschenke für SIE bei Klopfhaus Küchenatelier in Weindorf.»

Während ich darüber grübele, ob es tatsächlich irgendeine Marketingabteilung geben könnte, die ein solches Ungetüm abgesegnet, bleibt hinter mir ein weiteres Auto stehen. Ich höre eine zuknallende Autotür, dann Martas Stimme.

«Oh. Mein… Was ist das?!»

Sie legt den Kopf schief, als würde das irgendetwas an dem Bild ändern, das sich uns hier auf dieser drei mal vier Meter großen Leinwand bietet.

«Ähm, Werbung für Küchenatelier Klopfhaus in Weindorf», murmle ich, auch wenn ich weiß, dass ihre Frage keine Antwort verlangte.

Kurz herrscht Stille, dann fasst sich Marta wieder.

«Glaubst du, der Major weiß davon?»

Der Major ist der Bürgermeister unserer genau 357 Menschen umfassenden Gemeinde mitten im Nirgendwo nahe Weindorf. Ich glaube, er heißt mit Vornamen Thomas, aber jeder hier nennt ihn nur «der Major». Mit Artikel. Und das mindestens schon ebenso lange, wie Jürgen diese Werbefläche gemietet hat. Hatte. Denn jetzt scheint es aus zu sein mit Jürgen, zumindest werbetechnisch.

Ein paar Minuten später sind wir schon fünf Frauen vor dem Plakat, und meine Zehen drohen schwarzblau gefroren abzufallen wie ein halb geschmolzenes Eis vom Stiel. Ich kann mich trotzdem nicht von dem Anblick lösen.

«Was findet ihr am schlimmsten?», frage ich die anderen. «Santas sexy Banane, die dellenfreie Alte oder den Gedanken, wir könnten uns an Weihnachten ernsthaft über Küchengeräte freuen?»

«Und zwar, weil wir alle Arbeit ALLEINE machen?», ergänzt Brigitte, die 1968 noch nicht alt genug war, um Krawall zu machen und Joints zu rauchen, aber wenigstens schon gelebt hat. Ihr verbitterter Unterton verrät, dass sie zu Hause tatsächlich alles alleine macht. Die anderen stehen weiter wie angewurzelt da und pusten mit tief in den Jackentaschen versenkten Händen wütende Atemwolken in die Luft.

Tanja, die Erzieherin, bricht das Schweigen. «Santa scheint ein Riesenarschloch zu sein. Der kann mich mal kreuzweise, dieser sexistische Perversling!»

Dabei verzieht sie ihre Miene und gräbt ihren Stiefel tief in den harten Wintermatsch unter uns.

«Vielleicht ist auch nur der Marketingmensch vom Küchenatelier ein Perversling?», wagt Silke einen friedfertigen Vorstoß.

«Möglich!» Tanja kaut auf ihrer Unterlippe. «Jedenfalls muss Jürgen wieder her. Dieses Drecksplakat bleibt keinen Tag länger. Lasst uns direkt zum Major fahren. Die sind doch verrückt geworden!»

Wir stapfen zu unseren Autos und fahren in Kolonne zum Rathaus. Na gut, es ist kein echtes Rathaus. Wir nennen das Zuhause des Majors Rathaus, aber es ist eine Dreizimmerwohnung, in dem nur der Major und vorne im Flur eine Sekretärin arbeiten.

«Na, Else?», fragt Brigitte, als wir das Rathaus betreten. «Alles klärchen?»

Else sieht von ihrem Bildschirm auf und schaut mit offenem Mund zu, wie wir – mittlerweile zu siebt – ins Innere strömen.

«Ach herrje! Wer heiratet denn?», fragt sie und blättert hektisch in ihrem Notizbuch.

«Keine Hochzeit!», poltert Tanja und stellt sich wie Jeanne d’Arc persönlich vor Elses Schreibtisch auf. «Es geht um Santas Banane.»

Hinter Tanja fängt Mila an zu kichern und kassiert einen Blick des Todes von uns anderen.

«Santas Banane?», stammelt Else. «Ich dachte, Santa bringt eher Nüsse?» Im selben Moment kommt der Major aus seinem Zimmer und bleibt beim Anblick unserer Gruppe erstaunt stehen.

«Heiratet heute irgend…»

Tanja, die Erzieherin, lässt ihn nicht aussprechen. «Nein, hier gibt’s keine scheiß Hochzeit!»

Und ich beginne zu verstehen, warum unsere Kinder immer so üble Wörter aus der Kita mitbrachten. Die anderen Kinder waren nicht das Problem.

Es dauert, bis der Major unser Anliegen versteht, oder sagen wir: zur Kenntnis nimmt. Die geballte Ladung Östrogen in Kombination mit Tanjas losem Mundwerk lässt ihm auch wenig Wahl. Sein Gesichtsausdruck bleibt ratlos, aber davon lassen wir uns nicht beirren in unseren Wutreden über Sexismus in der Werbung, die Ungleichverteilung von häuslicher und unbezahlter Arbeit zu Weihnachten und überhaupt … darüber, dass das Patriarchat allein schuld daran ist, dass Jürgen seinen Job als Aushängeschild von Heiligenstadt verloren hat.

«Echt mal, Major – Jürgen!», quietscht Brigitte, als würde sie vom Messias persönlich sprechen, der ausgerechnet zu Weihnachten von einem Flittchen entthront wurde.

«Jürgen wollte die Preiserhöhung nicht mitgehen», erklärt der Major leicht zerknirscht. «Wir bekommen jetzt das Fünffache, weil wir die Werbefläche über einen externen Vermarkter vermieten, und wir müssen den Strom für die Weihnachtsbeleuchtung zahlen können.»

Dabei wischt er mit der einen Hand über die andere, als ob er Geldscheine aus dem Fenster schmeißen würde.

«Du bekommst gleich das Fünffache an Stress, Mister!», nuschelt Marta, die mit dem Bruder des Majors verheiratet ist, während Tanja sich unsanft in die erste Reihe vorarbeitet, offenbar fest entschlossen, Martas Drohungen gleich in die Tat umzusetzen.

«Also, jedenfalls, wenn dieses Ding da jetzt nicht wegkommt, dann sind wir raus an Weihnachten. Ohne Jürgen gibt’s bei uns keinen Braten, keinen Adventskalender für die Kleinen, keinen Kranz, keinen Basar, keine Weihnachtsfeier in der Kita und schon gar keinen Familiengottesdienst!» Sie bebt. «Ernsthaft, Major, ich scheiß auf das Küchenatelier! Ich scheiß auf Santas Banane, und auf seine Nüsse scheiß ich auch!» Dabei sieht sie Else strafend an, die erschrocken zu Boden blickt. «Wir streiken. Alle. Alle Frauen von Heiligenstadt. Dann könnt ihr Kerle ja mal sehen, wie es ist, wenn Mutti sich mit Bananen vergnügt, anstatt die Arbeit an Weihnachten zu machen!»

Ich sehe mich um. Rundherum nur erschrockene Gesichter. Hat Tanja gerade ernsthaft mit einem Streik aller Frauen gedroht, ohne die Belegschaft, beziehungsweise in diesem Fall die Frauen, einmal gefragt zu haben? Und hat sie damit wirklich gemeint, dass hier, im idyllischsten Fachwerkörtchen der Umgebung, das Weihnachtsfest einfach ausfallen soll? Die schönste Zeit des Jahres, in der es bei uns glitzert, leuchtet, singt und vor Vorfreude nur so vibriert? Kann sie das machen? Einfach so? Und wollen wir das? Santas Banane hin oder her …

Trotz lodert auf in den Augen des Majors, und die Stimmung kippt. «Aha!», presst er mit fast geschlossenen Lippen hervor und winkt Else unwirsch zu sich.

«Else!», befiehlt er mehr, als zu bitten. «Else, berufen Sie den Rat ein. Wir müssen reden!»

Und dann gibt er uns zu verstehen, dass wir das Rathaus verlassen sollen. Und zwar schleunigst. Er habe zu tun.

Als wir draußen stehen, fortgejagt aus dem Zentrum der Macht, fängt Mila schon wieder zu kichern an.

«Dem hast du es aber gezeigt!», gluckst sie und stupst Tanja mit dem Ellenbogen in die Rippen. «Das ziehen die nie durch mit dem Plakat!» Sie hebt die Faust, wie sie es für notwendig hält bei einem Kampf für Geschlechtergerechtigkeit.

Und dann herrscht betretenes Schweigen.

«Bin ich zu weit gegangen?», fragt Tanja zerknirscht, und alle außer Mila nicken heftig.

«Ihr müsst mich doch aufhalten, Mädels!», fügt Tanja kleinlaut hinzu und sieht echt klein und gar nicht mehr laut aus, wie sie da steht und über sich selbst nachdenkt.

«Ach was, Kopf hoch, Tanja!», tröste ich halbherzig. «Die Drohung war gut! Die werden das Plakat abhängen, Jürgen wieder zu Ehren kommen lassen, und dann haben wir denen gezeigt, wo der Hammer hängt. Das war … gut. Wirklich. Ich glaube, das war gut!»

Die anderen nicken.

 

Eine Woche später stehen wir wieder vor dem Rathaus. Nicht zu fünft, nicht zu sechst, sondern alle Frauen des Ortes. Santas Banane glänzt weiter neben dem Ortsschild, und auch wenn keine von uns wirklich hinter Tanjas Streikidee stand, sind wir uns einig über den Ehrenkodex in Heiligenstadt: «Wenn’s unheilig wird, halten wir zusammen!»

Das ist gar nicht so schwer, wenn man, wie die meisten von uns, von Geburt an in diesem Ort wohnt. Schwer ist nur das Aushalten. Die Ratssitzung ist zu einer Comedyveranstaltung geworden, in der die Männer sich von Herzen über den «Mädelsaufstand» amüsiert haben. Die wenigen Frauen im Rat haben schnell ihre Sitze verlassen und sind ins Publikum gewechselt, das aus aufgebrachten Dorfbewohnerinnen bestand. Vielleicht wäre an diesem Punkt noch ein Kompromiss möglich gewesen. Zumindest, wenn nicht Piet, Martas Mann, mitten in der Sitzung einen Lachkrampf bekommen und behauptet hätte, dass wir es eh nicht schaffen würden, alle Frauen zu einem Streik zu bewegen und das Ganze auch noch durchzuhalten.

Und so stehen wir also heute, einen Tag vor Nikolaus, auf der Straße. Tanja und Birgit schenken Glühwein aus an alle, die einigermaßen nach mindestens sechzehn und weiblich aussehen, und aus einem riesigen Blaster tönt Weihnachtsmusik.

«Ich fange an, es zu genießen», lacht Silke, und man sieht ihren Wangen an, dass der Glühwein in ihren Händen nicht der erste ist.

«Was machst du normalerweise am Abend vor Nikolaus?», fragt sie mich, holt aus ihrem Rucksack sechzig kleine Stoffsäckchen und legt sie vor uns, während ich daran denke, wie ich normalerweise am 5. Dezember die kleinen Stiefel fülle.

«Bedien dich!», raunt Silke. «Bis zur Sechs hab ich schon alles gegessen, aber du darfst auch die anderen nehmen.»

«Und deine Kinder?», frage ich mit einem Anflug eines schlechten Gewissens. Erstens, weil ich den armen Kindern ihren Adventskalender nicht wegfuttern will, und zweitens, weil ich die Kalender für unsere Kinder mit den Worten «Ich darf das eigentlich nicht!» noch schnell heimlich an meinen Mann Mirco weitergegeben habe, damit er behaupten kann, er habe ihn selbst gefüllt. Im Stillen huldige ich ehrfürchtig Silke, die es offensichtlich eiskalt durchgezogen hat, und nehme den roten Sack mit der 16, weil er sich verdächtig nach diesem Bueno-Nilpferd anfühlt, das so gut nach Haselnuss schmeckt.

«Bingo!», freue ich mich und stopfe mir das Nilpferd komplett in den Mund, der schon samtig ist vom Glühwein.

«Ist schon toll, so ohne Extraaufgaben im Dezember», befinde ich und schaue Piet und Mirco kauend dabei zu, wie sie in Schubkarren Tannengrün aus dem Wald zur Schule schieben.

«Wenn ihr glaubt, dass wir ohne euch keine Weihnachtsfeier hinkriegen, habt ihr euch geschnitten!», ruft Piet rüber. Wir prosten ihm fröhlich zu.

«Wir kommen gerne!», ruft Tanja und lacht laut.

Harald Juhnke hatte recht, als er sagte, Glück sei, keine Termine und leicht einen sitzen zu haben.

«Die Jungs sind so zickig und angespannt dieses Jahr!», seufzt die Lehrerin meiner Kinder und prostet mir zu.

Und da merke ich, dass ich mich dieses Jahr so richtig auf Heiligabend freue. Freuen im Sinne von Freuen ohne To-do-Liste. Und ich frage mich, wann ich diesen Zustand je hatte nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Die letzten Weihnachtsfeste bin ich zickig und angespannt gewesen. Das merke ich erst jetzt so richtig.

 

An Heiligabend wache ich erst um zehn Uhr auf und lausche ins ruhige Haus. Es herrscht eine gespenstische Stille, ein ziemlich lautes Nichts. So ein Nichts, das dir stumm zuruft, dass du kein einziges Geschenk besorgt, kein Geschenkpapier im Haus und keine Ahnung vom Weihnachtsmenü hast. Ein Nichts, das sich wie ein Mantel aus Blei auf dein Herz legt und die Panik in dir hochkriechen lässt.

Ob Männer diese Stille je bemerkt haben, wenn sie jedes Jahr an Heiligabend im gleichen Zustand der Ahnungslosigkeit aufgewacht sind? Ob sie auch diesen Kloß im Hals hatten und sich wie Menschen fühlten, die ihre Kinder im Stich lassen?

In der Küche werfe ich einen Blick in den Kühlschrank. Da liegt … äh, ja, nicht viel. Ich spüre, wie diese kleine Panik wieder hochkommt, die sich seit dem Tag unseres Streikbeginns immer wieder mit der Euphorie um den größten Platz in meiner Gefühlswelt streitet.

Es ist gut, dass wir Frauen uns mit den Kindern am Waldrand verabredet haben. Ein Ausflug auf den verschneiten Hügel, «damit die Männer in Ruhe alles vorbereiten können».

Aber wo sind die Kinder? Ich höre einen glücklichen Schrei aus dem Garten und laufe ans Fenster. Mirco rennt mit dem Schlitten im Schlepptau über den Schnee. Auf dem Schlitten sitzen drei fröhlich kreischende Kinder. Zumindest kurz, bis sie mit dem riesigen Schneemann zusammenstoßen und Gesicht voran ins weiße Glück purzeln.

Du meine Güte, wie lange sind die da schon draußen? Und wer um alles in der Welt soll sich um die Weihnachtsgans kümmern, den Baum schmücken, die Päckchen … apropos Baum, wo ist der Baum? Ich krieg ’ne Krise! Alle Fragen, alle Zweifel schlucke ich runter, als ich mir wenig später die durchnässten, frierenden Kinder samt Schlitten schnappe und loslaufe zum Hügel des Protests.

«Kommt ihr um 17 Uhr an die Kirche?», ruft Mirco mir nach, und ich frage mich, ob ich einen solchen Satz jemals aus seinem Mund gehört habe.

«Klar, bis später!», rufe ich zurück und fühle mich wie ein Kapitän, der vorzeitig sein sinkendes Schiff verlässt.

Punkt 17 Uhr stehe ich mit Tanja, Marta, Else, Silke und all den anderen Frauen, sehr vielen matschschneeverdreckten Kindern und einem Schlitten vor der kleinen Kirche. Der riesige Baum steht auf dem Vorhof und leuchtet prächtig. Darunter stehen alle Männer der Stadt, als Chor formiert in anzüglichen Santa-Kostümen. Aus der ersten Reihe schälen sich Elton John und Ed Sheeran, stimmen ein Weihnachtslied an und kommen mit sexy Augenaufschlag auf mich zu. Im gleichen Moment schreit jemand nach mir und rüttelt an meinen Schultern.

«Mama! Mama! Es war ein Kinder Bueno im Adventskalender! Und heute Abend ist Weihnachten!»

Ich öffne schlaftrunken die Augen und schaue in drei strahlende Gesichter mit schokoverschmierten Mündern, bemerke, dass meine Haare schweißnass über meiner Stirn kleben und dass ich mein Kissen fest umklammere, als wollte ich mit dem Kissen meinen Traum festhalten.

«Nicht wahr, oder?», stöhne ich und will einfach wieder zurück zu Elton und Ed. Aber da rennt meine Brut schon schreiend vor Glück die Treppe runter, und ich fühle neben mir den warmen Atem meines Mannes.

«Schatz?», frage ich mit einem Anflug von Hysterie.

Er brummt.

«Hast du Geschenke besorgt?»

Sein vollkommen irritiertes Gesicht sagt alles.

«Hängt Jürgen etwa noch an der Plakatwand?», frage ich und erinnere mich im selben Moment daran, dass ich sein riesiges Gesicht gestern noch gesehen habe, als ich von den letzten Weihnachtseinkäufen zurückkam. Weihnachtseinkäufe, die natürlich ich erledigt habe. Verdammt!

«Was ist los mit dir?», fragt Mirco, schmiegt sich an mich und streicht mir meine Haare liebevoll aus der Stirn.

«Ach, gar nichts», sage ich und versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. «Ich hatte nur einen sehr schönen Traum.»

«Von mir?», fragt er und hebt die Augenbrauen.

«Allerdings!», sage ich. «Und du warst fast so sexy wie der Weihnachtsmann, Elton und Ed!»

Ich ignoriere Mircos «Hä?», schäle mich mühselig aus dem Bett und lausche in unser Haus. Das Nichts ist weg. Verbannt durch noch immer nicht ganz abgearbeitete To-do-Listen, die mich auf höchster, nur für Frauen hörbarer Frequenz anschreien. Ich stöhne leise.

«Alles gut, ich nehm dir heute die Kinder ab, damit du in Ruhe alles erledigen kannst!», beruhigt Mirco mich gönnerhaft. Kurz steigt Wut in mir auf, aber dann wird sie abgelöst durch einen Lachanfall.

«DU nimmst MIR die Kinder ab? Auf gar keinen Fall!», gluckse ich und danke Santa, Ed und Elton in Gedanken für die Offenbarung. «ICH nehme die Kinder dieses Jahr. Die To-do-Liste für heute hängt unten am Kühlschrank. Viel Spaß damit.»

Und ich weiß auch, ohne mich umzublicken, wie Mirco aus der Wäsche guckt.

«Ich bin dann um 17 Uhr an der Kirche! Und vergiss nicht, die Gans rechtzeitig in den Ofen zu packen!», rufe ich schnell und renne beschwingt wie noch nie am Heiligen Morgen die Treppe runter, um das nicht diskutieren zu müssen.

«Kinder! Wo seid ihr? Wollt ihr raus in den Schnee?»

Ich wirbele die Kleinen in der Luft herum und freue mich wie eine Königin auf den tollen Tag.

«Musst du gar nichts vorbereiten?», fragt meine Tochter besorgt.

«Das macht Papa in diesem Jahr. Mama frühstückt nur noch kurz eine leckere Banane, und dann geht’s loooooos!»

Daniel BielensteinDas Schweige-Retreat

«Daniel», sagt meine Frau am Glühweinstand. «Ich habe eine geniale Idee, wie wir Weihnachten endlich mal friedlich verbringen können!»

Ich sehe sie an. Sie hat sehr rote Wangen. Glühwein mit Schuss hat es in sich. Manchmal ist Whisky drin, mal Rum, mal Armagnac, neuerdings auch Gin und manchmal alles zusammen.

«Das friedlichste Weihnachten überhaupt!», glüht sie.

Das ist unmöglich. Der große Weihnachtsstreit gehört so unvermeidlich zum Fest wie der Baum, der Braten und die bunten Teller. Ulrike und ich haben ihn seit Jahren zu umgehen versucht. Wir sind über die Festtage in Urlaub gefahren – hat nichts genützt. Wir haben auf Geschenke verzichtet – hat nichts genützt. Wir haben statt eines guten Weines Baldriantee getrunken – hat nichts genützt. Wir haben Freunde eingeladen und mit ihnen gemeinsam gefeiert – egal, was wir tun, spätestens an Heiligabend fliegen die Fetzen.

«Daniel!» Sie neigt sich über den Tisch und flüstert: «Es ist ganz einfach: Wir werden schweigen!»

Oder war der Schuss im Glühwein diesmal Cannabis-Öl?

«Schweigen?», frage ich. «Wie in Schweigen der Lämmer?»

«So ähnlich. Wir legen für die Weihnachtstage ein Schweigegelübde ab. Wenigstens für Heiligabend und den ersten Weihnachtstag. Wie in einem Kloster.»

«Wir haben Kinder, die nicht mal fünf Minuten die Klappe halten können. Wie soll es da für zwei Tage funktionieren?»

«Wir könnten es ihnen wenigstens vorschlagen, oder?»

Man muss wissen, dass Ulrike einmal im Jahr zu einem sogenannten Retreat fährt. Das ist Englisch und heißt Rückzug, ist also im Prinzip dasselbe, was ich mit meinen alten Studienfreunden mache, wenn wir uns zu unserer alljährlichen Weinwanderung treffen. Wir ziehen uns aus der Welt zurück und konzentrieren uns ganz auf eine Sache. In unserem Falle Rotwein. Dazu reden wir jede Menge Unsinn, aber anschließend sind wir gelöst und ganz in unserer Mitte.

Bei Ulrike ist es eine Spur aufwendiger. Sie fährt in ein Seminarhaus auf dem Land, wo sie unter Anleitung einer Lehrerin oder eines Meisters Yoga, Tai-Chi oder Zen-Meditation macht. Sie genießt es, und wenn sie zurückkommt, ist sie für einen halben Tag sehr entspannt, was mich natürlich freut.

Dieses Jahr ist sie zum ersten Mal auf einem Vipassana-Schweige-Retreat gewesen. Vipassana ist indisch und heißt so viel wie Achtsamkeit. Man richtet seine Aufmerksamkeit auf seinen Körper und seinen Geist, und natürlich geht das besser, wenn man dabei nicht redet. Darum wird während des Retreats eisern geschwiegen.

Ihr Vorschlag läuft also darauf hinaus, dass wir eine Art Vipassana-Weihnachten feiern.

Und warum eigentlich nicht? Die Vorstellung, die Weihnachtstage über einfach einmal auf mich selbst achten zu können, ist verlockend. Vielleicht hat sie recht, und wir sollten es wirklich versuchen!

Als wir vollgepackt mit Tüten, Taschen und Kartons auf dem Nachhauseweg sind, erkläre ich ihr, dass ich einverstanden bin. Ja, wir werden schweigende Weihnachten verbringen. Und wir werden die Kinder davon überzeugen, dass es einen Versuch wert ist.

Überraschenderweise reagieren die Kids anders, als ich es erwartet habe.

Besonders Kathi, unsere fünfzehnjährige Tochter.

Ich war davon überzeugt, dass sie eine zweitägige Wort-Diät rundheraus ablehnen würde. Kathi macht nämlich den ganzen Tag nichts anderes, als zu reden. Dabei spielt es keine Rolle, ob jemand in ihrer Nähe ist oder nicht, denn wenn niemand da ist, hat sie Knöpfe im Ohr und redet ebenfalls. Sie redet beim Fahrradfahren, beim Joggen, beim Fernsehen, beim Schularbeitenmachen, sogar beim Zähneputzen, beim Schwimmen und im Zweifel sogar beim Tauchen.

Diesen Redefluss zu unterbrechen, scheint mir ein Vorhaben zu sein, gegen das der Drei-Schluchten-Staudamm in China, der ja immerhin die Wassermassen des Jangtsekiang aufhält, eine Kleinigkeit ist.

Weit gefehlt. Als wir ihr von unserem Schweige-Plan erzählen, zuckt Kathi nur mit den Schultern: «Bin dabei. Reden erzeugt sowieso nur CO2. Schweigen wir also.»

Bei Joshua, unserem Sohn, halte ich die Sache zunächst für unkomplizierter. Er hat ohnehin seit Längerem aufgehört zu sprechen – jedenfalls mit uns, seinen Eltern. Das ist nur zu verständlich, weil für einen Sechzehnjährigen die eigenen Eltern die peinlichsten Lebewesen der Welt sind. Man sollte sie keinesfalls durch Zugewandtheit oder gar ein Gespräch aufwerten. Joshua ist daher schon seit einiger Zeit dazu übergegangen, mit mir und Ulrike, wenn überhaupt, dann nur noch mittels Ein-Wort-Sätzen zu sprechen. Auf die Fragen, wann er nach Hause kommt, ob er seine Hausaufgaben erledigt hat oder ob er nicht doch lieber etwas mehr frühstücken wolle, sagt er meistens:

«Spät.»

«Nixauf.»

«Kotz.»

Von da zum totalen Schweigen ist nur ein kurzer Weg. Sollte für ihn also eine Kleinigkeit sein. Als ich und Ulrike ihm den Plan erklären, sagt er aber zu unserer Überraschung: «Nicht reden? An Weihnachten? Was ist denn das schon wieder für ein Schwachsinn? Vergesst es! Ich rede, so viel ich will.»

Das waren die längsten, zusammenhängenden Sätze, die wir seit Langem von ihm gehört haben. Eigentlich ein Grund zur Freude. Nur nicht in diesem Fall.

Ulrike versucht es mit Argumenten. «Aber sieh doch mal, Joshi! Wir zanken uns jedes Jahr. Wenn wir einfach mal die Tage in Stille verbringen, wird es bestimmt ein wunderschönes Fest.»

«Kotz.»

«Du machst also nicht mit?»

«Hunpro.» (Das ist die Ein-Wort-Variante von hundert Prozent).

Mir fällt zum Glück ein, dass man Sechzehnjährige mittels Bestechung von so gut wie allem überzeugen kann. Meinen Vorschlag unterbreite ich ihm ebenfalls mit einem Einwort-Satz: «Playstation?»

«Zu Weihnachten?»

«Hunpro.»

«Deal!»

Ich sehe Ulrike triumphierend an. Na also, läuft doch. Die Playstation hatten wir sowieso schon besorgt.

Damit ist es beschlossen. Wir werden vom Mittag des Heiligen Abends bis zum Morgen des zweiten Weihnachtstages – wir wollen es ja nicht übertreiben – ein familiäres Schweige-Retreat abhalten.

Unser Plan entfaltet schon an den Tagen davor eine überraschende Wirkung. Auch bei mir. Zum ersten Mal seit Langem bin ich wegen des Weihnachtsfestes so aufgeregt wie zu meinen Kindertagen. Die Vorstellung, dass in unsern vier Wänden bald eine himmlische Ruhe einkehrt, ist einfach überwältigend. Ich freue mich darauf!

Bei Kathi und Ulrike hingegen ist es offenbar so, dass sie in Vorbereitung auf das Schweigen eine Art verbale Entschlackungskur durchführen – sprich, sie reden mehr oder weniger ununterbrochen, vermutlich um all die Wörter vorab auszuscheiden, die sie an Weihnachten nicht mehr loswerden können. Ich nehme es gelassen hin. Ich weiß ja, dass spätestens am 24. Dezember eine Zeit der vollkommenen Ruhe beginnen wird.

Dann ist es so weit. Wir erwachen am Morgen des Heiligen Abends. Bis zum Nachmittag verläuft alles normal. Wir erledigen letzte Einkäufe und treffen Vorbereitungen: Geschenke einpacken, Kochen, Aufräumen, Dekorieren. Kathi und Joshua ermahnen wir noch einmal und erklären ihnen, dass wir es mit dem Schweige-Plan wirklich ernst meinen. Ab fünfzehn Uhr wird in unserer Wohnung kein Wort mehr fallen, egal ob freundlich oder giftig. Es wird mucksmäuschenstill sein.

«Check», sagt daraufhin Joshua.

Und Kathi: «Ihr müsst mir das nicht sagen, schließlich finde ich die Vorstellung großartig zu schweigen, weil auf der Welt sowieso viel zu viel geredet wird, und dann ja meistens auch noch so belangloses Zeug, das echt keiner hören will, aber es hält die Leute nicht davon ab, dennoch viel zu viel zu reden, aber so sind die Menschen, jedenfalls habe ich Anna-Lena und Merle, ihr wisst schon, die aus meiner Klasse, davon erzählt, und sie finden die Idee krass genial und wollen auch an Weihnachten schweigen, und das meinen sie auch superernst, darum haben wir uns versprochen, heute Abend zu telefonieren, aber natürlich sagen wir am Telefon nichts, weil wir es ja geschworen haben, und ich frage mich, ob Telefonate, bei denen man nichts sagt, eigentlich kostenlos sind, aber andererseits ist mir das auch egal, weil ich ja eine Flatrate habe.»

«Okay, Schatz. Es wird nicht einfach. Aber wir werden es schaffen», sage ich.

Pünktlich um fünfzehn Uhr läute ich in einer feierlichen Handlung unsere Weihnachtsglocke, und es beginnt die Zeit der großen Stille. Um den Schwur noch einmal zu bekräftigen, machen wir alle dieselbe Geste: Wir ziehen uns pantomimisch Daumen und Zeigefinger über die Lippen, als würden wir unsichtbare Reißverschlüsse schließen.

Die ersten ein oder zwei Stunden verlaufen problemlos. Dem einen oder anderen schlüpft zwar ein Wort über die Lippen, aber die strengen Blicke der anderen sorgen für sofortige Ruhe. Außerdem gehen wir uns ohnehin weitgehend aus dem Weg. Ulrike liest ein Buch, ich bin in der Küche mit Kochen beschäftigt, die Kids hängen in ihren Zimmern herum.

Als wir plötzlich Joshis Stimme aus seinem Zimmer hören, rennen wir drei anderen herbei und reißen seine Tür auf. Es stellt sich heraus, dass er ein Video von sich selbst auf dem Handy abspielt – um uns auf die Probe zu stellen.

Wir sehen uns an und müssen alle lachen – und da Lachen kein Reden ist, ist es natürlich erlaubt.

Kritisch wird es, als es ans Tischdecken geht. Normalerweise ist das der Zeitpunkt, zu dem der große Familienstreit in die erste Runde geht. Schließlich ist Tischdecken eine Tätigkeit, die aus der Sicht von Teenagern eine Form der Zwangsarbeit ist und gegen ihre Menschenwürde verstößt. Dass man sich vielleicht einmal Mühe geben sollte, wenn man hinterher etwas geschenkt haben möchte, kommt in derselben Logik nicht vor.

So ist es sonst.

Heute ist alles anders. Stumme Blicke zum Geschirrschrank, ein schweigendes Hoch- und Runterwippen von tiefen und flachen Tellern, Nicken, Kopfschütteln und zur Not ein wenig Zeichensprache – ich glaube, in einem tibetanischen Schweigekloster geht es geschwätziger zu!

Dass bei all den stillen Gesten auch mal ein kleiner Stinkefinger oder ein angedeutetes Tippen an die Schläfe dabei ist, jedenfalls bei Kathi und Joshua, trübt die Stimmung in keiner Weise.

Anschließend schreiten wir zur Bescherung, und auch die entpuppt sich als Moment des Friedens und der Harmonie. Jeder packt stumm seine Geschenke aus – und wie üblich gibt es Jubelschreie oder auch Ankündigungen, bei nächster Gelegenheit alles umzutauschen. Aber sie erfolgen als stumme Pantomime – ungefähr so, als würden wir Charade spielen. Ein großer Spaß.

Noch besser wird es, als in den Wohnungen rundherum der festliche Streit ausbricht. Von überallher hören wir Geschrei und Tränen, Schimpfworte und Scheidungsanträge.

Gemeinsam lauschen wir dem Theater und brechen in ein verschwörerisches Lachen aus. So viel Familienharmonie haben wir seit Langem nicht erlebt.

Der Höhepunkt erfolgt am frühen Abend. Wir versammeln uns am Esstisch und zelebrieren unser weihnachtliches Raclette-Ritual. Immer noch fällt kein einziges Wort.

Das Irritierende daran ist, dass es in allen zurückliegenden Jahren genauso still war. Nur hat es bisher immer daran gelegen, dass wir uns zuvor so heftig gestritten hatten, dass wir nie wieder miteinander sprechen wollten.

Auch diesmal sagen wir nichts. Nur sind wir dabei prächtig gelaunt. Ulrikes Plan ist wirklich genial!

Zum ersten Mal verstehe ich den Sinn des alten Liedes Stille Nacht, heilige Nacht. Ich habe immer gedacht, es sei eine Aufzählung – still und heilig. Aber so ist es nicht. Es ist ein Wenn-dann-Satz! Wenn-still-dann-auch-heilig. Offenbar sind wir einer Art Weihnachts-Geheimnis auf die Spur gekommen.

Ein wenig kritisch wird es, als Kathi am Esstisch ihr Handy hervorkramt und zu tippen beginnt. Das geht natürlich gar nicht. Nur weil wir schwiegen, heißt das ja nicht, dass die sonstigen Regeln aufgehoben sind, und zu denen gehört, dass am Esstisch Handys strikt verboten sind.

Aber was soll ich tun? Ich kann Kathi ja schlecht ausschimpfen. Geht nicht. Weil Schimpfen nun einmal auch eine Form des Redens ist. Meine stummen Gesten ignoriert sie.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als mein eigenes Handy zu holen und ihr per WhatsApp mitzuteilen, dass sie doch bitte schön ihr Handy weglegen soll.

In dem Augenblick trifft bei mir die WhatsApp ein, wegen der sie ihr Handy geholt hat. In der bittet sie darum, noch einen Kartoffelkloß und Soße haben zu können.

Ich lache auf, und kurz darauf haben wir alle unsere Handys in der Hand und schicken uns gegenseitig Textnachrichten.

Das ist nicht wirklich im Sinne eines Vipassana-Retreats, aber das stört uns nicht. So einträchtig wie an diesem Abend sind wir lange nicht gewesen, ob nun Weihnachten ist oder nicht.

Als ich um Mitternacht mit Ulrike im Bett liege, reden wir ebenfalls nicht. Auch das ist nichts Ungewöhnliches, schließlich ist Weihnachten anstrengend, und wir sind total erledigt. Ich bedeute ihr mit stummen Gesten, dass ich ihre Schweige-Idee einfach großartig finde, worauf sie mir mit ebenso stummen Gesten zu verstehen gibt, dass ich die Klappe halten soll. Ihr sei nach etwas anderem zumute, bei dem man sowieso nicht redet.

Unsere neue Familieneintracht setzt sich am nächsten Morgen beim späten Frühstück fort. Kein Gemoser, wer den Tisch deckt, kein Zank um das letzte Brötchen.

Ist das das Geheimnis des Glücks? Einfach nichts zu sagen?

Ich versuche, meiner Familie gerade vorzuschlagen, ob wir das Schweige-Retreat nicht einfach bis Silvester ausdehnen wollen, als es überraschend an der Tür klingelt.

Ulrike und ich sehen uns fragend an. Wer könnte das sein? Beide zucken wir ratlos mit den Schultern. Wir sehen die Kinder an, die ebenso ratlos die Stirn runzeln.

Es klingelt erneut, und zwar mit Nachdruck, und in diesem Moment wird es mir klar. Es sind Hannelore und Helmut, meine Schwiegereltern!

Wir haben durch unsere Schweige-Planung glatt vergessen, dass sie am Mittag des ersten Weihnachtstags zu Besuch kommen. Immer. Alle Jahre wieder.

Ich sehe in Ulrikes Richtung und verwandele mich pantomimisch erst in Godzilla, dann in Frankensteins Monster, woraufhin ihr ebenfalls klar wird, wer vor der Tür steht.

Was sollen wir tun? Das Schweigegelübde aufheben und doch wieder sprechen? Und damit alle Hoffnungen auf ein friedliches Weihnachtsfest beerdigen?

Ich schüttele stumm, aber vehement den Kopf. Ulrike sieht mich fragend an. Ich gebe ihr zu verstehen, dass sie mich einfach einmal machen lassen soll.

Ich öffne die Wohnungstür und blicke in die angesäuerten Gesichter von Helmut und Hannelore. Ich bin mir nicht sicher, ob sie verärgert sind, weil sie so lange vor der Tür stehen mussten oder weil ich vor rund zwanzig Jahren ihre Tochter geheiratet habe.

«Was ist hier denn los? Ich dachte schon, ihr wollt uns nicht reinlassen», poltert Hannelore los.

Ich breite in einer stummen Geste die Arme aus und heiße sie wortlos willkommen.

Helmut mustert mich kopfschüttelnd. «Was denn, Daniel? Hat es dir die Sprache verschlagen?»

Ich schüttele wortlos den Kopf und bitte sie mit einem Wink, in die Wohnung einzutreten.

Die beiden rühren sich keinen Millimeter von der Stelle. «Willst du denn gar nichts sagen?», fragt Hannelore.

Ich schüttele stumm den Kopf.

«Bist du krank?»

Kopfschütteln.

«Habt ihr euch gestritten?»

Kopfschütteln.

«Sind Terroristen in der Wohnung, die euch bedrohen?»

Jetzt hätte ich beinahe gesagt: «Bisher nicht. Aber wenn ihr drin seid …» Im letzten Moment reiße ich mich zusammen, schüttele wiederum nur still den Kopf.

«Was in Herrschaftszeiten ist denn nur los? Warum sagst du nichts?»

Ich überlege gerade, wie ich den beiden unser Gelübde begreiflich machen könnte, als Ulrike im Flur auftaucht. Sie hält einen großen, eilig mit Edding beschrifteten Zettel in der Hand. Hallo Mama! Hallo Papa! Fröhliche Weihnachten! Wir schweigen dieses Jahr an Weihnachten. Ihr könnt gerne hereinkommen, aber dann dürft ihr auch nichts sagen!

Helmut verzieht das Gesicht. «Wie? Wir sollen nichts sagen?»