DEJA VU - SIE SIND ÜBERALL - Martin S. Burkhardt - E-Book

DEJA VU - SIE SIND ÜBERALL E-Book

Martin S. Burkhardt

4,0

Beschreibung

Der Student Paul zweifelt zunehmend an seinem Verstand: nachdem er im Bus von einem gehässigen Kerl angepöbelt wurde, scheint seine Welt aus den Fugen zu geraten. Denn wenig später begegnet er erneut demselben unangenehmen Mann in einem Geschäft, doch der scheint sich an die Begegnung nicht zu erinnern. Als einen Tag später der Heizungsableser klingelt, ist es wieder dieser Mann, und auch am Abend in einer Kneipe trifft Paul wieder auf diesen Kerl. Für seine Freundin Laura sind diese Menschen aber grundverschiedene Personen. Kann Paul seinen Augen noch trauen oder ist er einem finsteren Geheimnis auf der Spur? Denn diese unheimlichen Männer sind überall …

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DEJA VU

Sie sind überall

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Lektorat: Simona Turini

ISBN E-Book: 978-3-95835-818-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

Inhaltsverzeichnis

DEJA VU
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Über den Autor

Prolog

Obwohl ihm alles unheimlich realistisch vorkam, wusste er sofort, dass er träumte. Er hatte seine dünne grüne Strickjacke an, die furchtbar an den Armen kratzte, wenn er den Fehler machte, etwas Kurzärmeliges darunter zu tragen. Offensichtlich hatte er diesen Fehler auch heute gemacht. Es juckte überall und er hätte sich das Teil am liebsten vom Körper gerissen, aber dafür war es zu kalt. Die Blätter der Bäume waren bereits braun geworden und der ungemütliche Wind bot einen Vorgeschmack auf das, was ihnen in den nächsten Wochen blühte.

Eine junge Frau rempelte ihn von der Seite an, und als er sie anschaute, verzog sie ihr Gesicht zu einer gehässigen Grimasse, ohne sich für ihre Unbeherrschtheit zu entschuldigen. Sie hatte anscheinend denselben Weg wie er, denn sie ging nun stramm vor ihm. Jetzt fiel ihm auf, dass noch andere Menschen um sie herum waren. Alle hetzten die Straße entlang, genau wie er und die Frau.

Er wollte anhalten, denn es war ihm suspekt, Teil einer sich immer schneller bewegenden Gruppe zu sein, die es offenbar furchtbar eilig hatte, aber seine Beine gehorchten ihm nicht.

So eine typische Traumsache eben: Man will etwas, und doch stellt sich der gewünschte Effekt nicht ein.

Aus den Seitenstraßen kamen unablässig weitere Personen gelaufen, die meisten trugen dicke Mäntel und er ärgerte sich, nicht auch etwas Wärmeres angezogen zu haben. Dabei fror er gar nicht. Es war eher so, dass er mit der dünnen Strickjacke auffiel. Und Auffallen schien in diesem Traum keine gute Idee zu sein.

Am Ende der Straße wurde die Meute plötzlich langsamer. Tausende Menschen versperrten den Weg und schauten angsterfüllt zu einem schwarzen Gebäude hinauf, das auf einem großen, asphaltierten Platz stand. Dieses Gebäude schien das Ziel der mysteriösen Gruppenwanderung zu sein, denn seine Beine hielten von ganz alleine an. Von hinten strömten nach wie vor Leute auf sie zu, und ehe er es sich versah, befand er sich nicht mehr am Ende der Ansammlung, sondern mittendrin.

Die Stimmung wurde von Sekunde zu Sekunde bedrückter. Er versuchte, die Mimik der neben ihm stehenden Leute einzuordnen, aber entweder hatten sie die Mützen und Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, oder sie blickten starr auf den Boden, mit geduckten Köpfen und gebeugter Haltung, als fürchteten sie, jemand würde ihnen einen Schlag verpassen, wenn sie sich aufrecht hinstellten.

Einen Moment überlegte er, seine Haltung ebenfalls zu verändern. Doch wozu? Mit der leuchtend grünen Strickjacke würde er in jedem Fall auffallen, egal was er tat.

Plötzlich kam Bewegung in die Meute. Die Menschen wurden unruhiger, eine allumfassende Spannung lag in der Luft. Die Leute, die bisher den grauen Straßenbelag angestarrt hatten, hoben die Köpfe. Und dann sah er es auch. In dem schwarzen Gebäude, das so seelenlos und langweilig wie ein moderner Bürokomplex aussah, wurden helle Lichter eingeschaltet. Kurz darauf öffnete sich ein riesiges Fenster, und fünf Männer in olivgrünen Overalls erschienen. Er konnte kaum ihre Gesichter erkennen, dennoch spürte er sofort, dass mit den Kerlen nicht zu spaßen war. Als hätte einer der Typen nur auf dieses Gedankenstichwort gewartet, trat er vor und nahm ein Mikrofon in die Hand.

„Heute werden hundert von euch ausgewählt“, hallte seine dunkle Stimme über den Platz, obwohl nirgends Lautsprecher auszumachen waren. „Fünfzig werden wir foltern, die anderen sterben einen schnellen Tod.“

Noch während er versuchte, diesen Worten irgendeinen Sinn zu geben, tauchten weitere Overallträger auf. Es schien, als hätten sie in den Seiteneingängen auf ein geheimes Kommando gewartet. Sie schlossen die Menschengruppe auf dem Platz und der Straße ein und bildeten ein unpassierbares Bollwerk. Er sah, wie einige Leute am Rand dennoch versuchten, durchzubrechen, doch sie wurden von den Männern grob niedergeschlagen und weggeschleift.

Die Menschen um ihn herum senkten die Köpfe erneut, als hätte der Boden gerade zu leuchten angefangen. Und dann verstand er endlich. Sie alle hatten Angst, ausgewählt zu werden. Einer der schmierigen Typen schlenderte an der Seite entlang und zeigte auf Leute, die dann aus der Versammlung geholt und weggebracht wurden.

Plötzlich fühlte er sich ganz ruhig und ihn überkam die Gewissheit, ebenfalls ausgesucht zu werden. Mit der Strickjacke wirkte er wie ein bunter Hund in der einheitsgrauen Masse. Aber das war egal, es musste sogar sein. Irgendwie fühlte es sich nun sogar richtig an, auserkoren zu werden. Als der Kerl, der die fünfzig Leute auswählte, fast bei ihm war, erhob er sich auf die Zehenspitzen. Dabei schaute er dem Overallträger direkt in die dunklen, harten Augen.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Mann stoppte auf seiner Höhe und blickte finster zurück. Einen winzigen Moment schien seine Miene unsicher zu werden, vielleicht hatte er lange nicht mehr gesehen, dass jemand etwas anderes tat, als eingeschüchtert auf den Boden zu starren. Dann jedoch umspielte ein breites Grinsen seine Visage. Er machte eine winkende Handbewegung und zwei Kerle bahnten sich einen Weg zu ihm und führten ihn aus der Menge.

„Dieser vorwitzige Scheißer wird extra lange gefoltert“, hörte er den Mann sagen, als er durch einen der Hauseingänge geschoben wurde.

Ihm war nach wie vor bewusst, dass er träumte. Insofern wunderte es ihn auch nicht, als er sich plötzlich in einer schmutzigen Halle wiederfand. Er lag auf einer Art Zahnarztstuhl und man hatte ihm Arme und Beine festgebunden. Den Kopf konnte er jedoch bewegen. Als er um sich schaute, sah er mindestens noch drei Dutzend weitere Stühle. Auf allen lagen Menschen, einige starrten apathisch in die Luft, andere kreischten sich die Seele aus dem Leib. Vor jedem Stuhl standen zwei Männer in olivgrünen Overalls und hantierten an den Gefesselten herum. Auch über ihn beugten sich in diesem Moment zwei Typen und grinsten böse zu ihm herab. Einer von ihnen fuchtelte mit einem schmalen, langen Gegenstand über seinem Gesicht.

„Lasst ihn uns erst mal ins Auge nageln“, schlug der Kerl vor. Als der andere begeistert nickte, bekam er es unvermittelt mit der Angst zu tun. Bisher hatte er seine Gefühle immer in den Griff bekommen, indem er feststellte, dass er träumte, aber jetzt kroch langsam Panik in seinen Körper und ergriff Besitz von seinem Verstand. In dem Moment, in dem er einen unerträglichen Schmerz spürte, tauchte hinter dem Kerl plötzlich wie aus dem Nichts eine Frau auf. Sie besaß unglaublich zarte Gesichtszüge und ihr Lächeln wirkte warm und vertrauensvoll.

Ein Engel, war sein erster Gedanke. Aber die roten, langen Haare passten nicht recht zu einem Engel. Die Frau legte ihm die Hand auf die Schulter und einen Moment glaubte er, die Männer würden sie einfach zur Seite stoßen, doch überraschenderweise nahmen sie überhaupt keine Notiz von ihr.

„Du kannst helfen, diese Kerle zu bekämpfen“, sagte die Frau mit einer lieblichen, aber dennoch energischen Stimme. „Willst du das?“

„Wer sind diese Menschen?“, hörte er sich selbst fragen.

„Niederträchtige Kreaturen. Sie haben Spaß an Chaos und Schmerz.“

„Wo bin ich hier?“

„In einer möglichen Zukunft. Aber sie muss nicht eintreten, wenn du mir hilfst.“

Sie reichte ihm die Hand und überrascht stellte er fest, dass er nicht mehr gefesselt war.

„Ich helfe dir“, sagte er voller Überzeugung und griff nach ihrer Hand.

Kapitel 1

Wie war es schön, gestern. Laura war ganz spontan zu Besuch gekommen. Eigentlich hatte er sich auf einen langweiligen Abend eingestellt, vielleicht ein wenig aufgepeppt mit dem herrlichen spanischen Roséwein aus dem letzten Urlaub, aber ansonsten vollkommen ereignislos. Und dann hatte seine neue Freundin an der Tür geklingelt.

Ursprünglich wollte sie sich mit ihren Mädels in irgend so einem In-Lokal treffen, aber daraus war nichts geworden. Stattdessen war sie zu ihm gekommen.

Paul lächelte versonnen, als der Bus vor ihm hielt und die Türen sich schnaufend öffneten. Er nahm den Platz gleich links hinter dem Fahrer und tauchte wieder in die Erinnerungen ein.

Laura hatte ihn noch nicht einmal angelächelt, als sie sich an ihm vorbei in die Wohnung gedrückt hatte. Sie war geradewegs auf das Schlafzimmer zugegangen, hatte sich aufs Bett gesetzt und dort Schuhe und Jacke ausgezogen.

„Den Rest musst du selbst auspacken“, sagte sie verführerisch, als er wie angewurzelt an der Tür stand und sie beobachtete.

Ein unangenehmer Knall holte ihn aus seinen Erinnerungen. Etwas war gegen den Bus geflogen. Ein roter Blutfleck erschien am Rand der Scheibe, direkt über der unteren Gummieinfassung. Paul beugte sich vor und sah einen kleinen Vogel auf dem Asphalt liegen.

„Das war eine Meise. Das arme Ding“, sagte eine Stimme hinter ihm. Paul drehte sich um und schaute in das zerknitterte Gesicht einer alten Frau. „Da hat der arme Vogel wohl nicht aufgepasst.“

„Ja, bedauerlich“, antwortete Paul und machte eine betroffene Miene, ehe er sich wieder umdrehte. Nur beiläufig nahm er den Mann wahr, der auf der anderen Seite schräg neben ihm saß. Er trug eine runde Brille, ein Khakihemd und einen ordentlich gestutzten Oberlippenbart. Und er grinste boshaft und schien sich über die alte Frau lustig zu machen. Idioten gab es doch überall.

Paul streckte die Beine aus und beobachtete eine Weile den Verkehr vor ihm. Er merkte, wie entspannt er war. Seit Laura vor zwei Monaten in sein Leben getreten war, schien für ihn buchstäblich nur noch die Sonne. Laura war keck, verwegen, experimentierfreudig und eine gute Zuhörerin. Damit entsprach sie so ziemlich seinem Idealbild einer Frau. Nur ihr strenger Seitenscheitel und die etwas zu kurzen Haare störten ihn ein wenig, aber vielleicht konnte er sie im Laufe der nächsten Monate, oder sogar Jahre, allmählich davon überzeugen, eine andere Frisur auszutesten. Er war da im Prinzip ganz zuversichtlich.

Ein energisches Klopfen gegen seine Schulter holte ihn erneut aus seinen Überlegungen.

„Haben Sie nicht gehört?“, fragte eine strenge Stimme. Paul schaute hoch in das magere Gesicht einer Frau, die ihre besten Jahre auch schon im Fotoalbum nachschlagen konnte.

„Entschuldigung, nein. Ich war in Gedanken.“

„Ihre Fahrkarte bitte.“

Mechanisch griff Paul in die Innentasche seiner leichten Jacke. Das erwartete Gefühl, gleich ein lederbeschlagenes Etui in die Finger zu bekommen, blieb jedoch aus. Paul suchte in der Hosentasche, aber auch dort fand sich nur der Fünfzigeuroschein, den er vorhin extra eingesteckt hatte, sonst nichts. Wahrscheinlich hatte er die Geldbörse zu Hause auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen.

„Ich fürchte, ich habe mein Portemonnaie vergessen.“

Hinter ihm begann jemand, gehässig zu lachen. Der Mann im Khakihemd zeigte mit dem Finger auf ihn.

„Was für eine bescheuerte Ausrede, du Arsch.“

Paul glaubte, sich verhört zu haben. Hatte diese Brillenschlange ihn wirklich Arsch genannt?

„Ich habe eine Jahreskarte, das werden Sie bestimmt abgleichen können“, sagte er an die Kontrolleurin gewandt.

„Ja, selbstverständlich“, gab die Frau freundlich zurück. „Trotzdem muss ich Ihre Daten aufnehmen.“

„Glauben Sie ihm kein Wort“, schaltete sich erneut der unangenehme Mann ein. „Der blufft nur und wird garantiert eine falsche Adresse angeben.“ Freudig klopfte er auf die Schenkel. „Holt lieber gleich die Polizei.“

Paul spürte, wie er allmählich wütend wurde. Mit dieser vorlauten, etwas dicklichen Person würde er es ohne Probleme aufnehmen können. Die Kontrolleurin jedoch schüttelte nur kurz den Kopf und reichte ihm ein Formular.

„Achten Sie nicht auf den Schelm. Ich glaube Ihnen. Tragen Sie hier einfach Ihre Adresse ein.“

Paul nahm den Formularblock und einen Stift entgegen und bedankte sich. Als er ihr den ausgefüllten Bogen zurückgab, schnaufte es hinter ihm erneut.

„Jetzt kommt der Arsch mit seinem Trick durch“, sagte der Mann grollend.

Paul reichte es. Er drehte sich um und hob den Zeigefinger.

„Sie sollten besser Ihre Ausdrucksweise überdenken“, knurrte er.

Den Mann schien das wenig zu beeindrucken, er öffnete die Manschettenknöpfe seines Hemdes und krempelte die Ärmel umständlich zweimal um.

„Wenn du willst, kann ich dich auch zum Invaliden knüppeln“, gab er zurück. „Dein scheißrotes Blut gibt bestimmt einen prächtigen Kontrast auf meinem Hemd.“

Ehe Paul etwas erwidern konnte, mischte sich die Kontrolleurin ein. „Jetzt ist aber mal gut. Spielen Sie sich hier nicht so auf. Haben Sie überhaupt eine Fahrkarte?“

Der Mann hielt ihr grummelnd ein Stückchen Papier hin. Paul wandte sich ab und blickte durch die Frontscheibe des Busses. Obwohl er durchtrainiert und auf jede Art der körperlichen Auseinandersetzung gut vorbereitet war, machte ihm die Aggressivität dieses Typen angst. Wer wusste schon, was für kranke Fantasien in so einem Menschen schlummerten. Wie praktisch, dass er an der nächsten Haltestelle raus musste.

Beim Aussteigen vermied er vorsichtshalber jeglichen Blickkontakt. Trotzdem hörte er, wie der Mann ihm etwas hinterherrief.

„Du scheiß Sozialschmarotzer!“

Paul atmete erleichtert aus, als er auf den Gehweg trat und die Türen des Busses sich wieder schlossen.

***

Wie schnell einem die gute Laune verhagelt werden konnte. Musste er ausgerechnet heute auf diesen übellaunigen Typen treffen? Paul versuchte, sich durch das Erlebnis nicht herunterziehen zu lassen. Immerhin plante er etwas ganz Wundervolles: Ein Abendessen mit den erlesensten Zutaten. Laura würde Augen machen und diesmal bestimmt nicht zuerst ins Schlafzimmer stürmen, sondern sich an den Tisch setzen. Angezogen oder nicht.

Der Delikatessenladen, auf den Paul es abgesehen hatte, lag nur noch ein paar Minuten entfernt. Es war ein Tipp seiner Nachbarn gewesen, die eine Leidenschaft für gutes Essen hegten, was man ihnen auch ansah. Während Miriam trotz ihrer beachtlichen Fülle auf gewisse Weise trotzdem sehr erotisch wirkte, überwog bei Gerd eindeutig das Fett. Nichtsdestotrotz waren die beiden supernett, Nachbarn, wie man sie sich nur wünschen konnte. Und das, was sie kochten, schmeckte wie der sprichwörtliche Himmel auf Erden.

Immer, wenn etwas übrig blieb, klingelten sie bei Paul und fragten, ob er die Reste wollte. Anfangs hatte er sich gehässigen Gedanken hingegeben, er konnte einfach nicht verstehen, wie so dicke Menschen freiwillig Essen hergaben, aber durch die charmante Art der beiden war er schnell von ihnen eingenommen gewesen.

Seit sich Laura immer öfter bei ihm aufhielt, bekam er nicht mehr so viele exquisite Speisen durch die Tür gereicht. Wahrscheinlich wollten Miriam und Gerd nicht zu aufdringlich wirken. Es mutete vielleicht auch etwas merkwürdig an. Wer nahm schon Essen von den Nachbarn an, nur weil er zu faul zum Kochen war?

Doch als er sie letzte Woche nach einer Idee für ein Überraschungsmenü gefragt hatte, waren sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatten für ihn ein exzellentes Mahl zusammengestellt, das auch jemand, der den Herd nur ab und zu einschaltete, zubereiten konnte.

Paul suchte in der Gesäßtasche nach dem Zutatenzettel, den Miriam für ihn geschrieben hatte. Einen Moment war er überzeugt, dass er ihn ebenso wie das Portemonnaie vergessen hatte. Dann wäre die ganze Fahrt umsonst gewesen. Doch schließlich bekam er den gefalteten Zettel zu fassen und zog ihn heraus, gerade als er die Tür des Delikatessenladens durchschritt.

Es roch angenehm nach Kräutern und Gewürzen. Gerd hätte bestimmt in Sekundenschnelle sagen können, was genau da so duftete, aber für Paul reichte die Beschreibung exotisch vollkommen aus. Sein erster Blick fiel auf das riesige Weinregal, das die gesamte hintere Wand des Geschäftes einnahm. Wie froh er war, dass Miriam ihm auch den passenden Wein aufgeschrieben hatte. Diese unglaubliche Auswahl wirkte auf ihn eher abschreckend als einladend.

Eine junge Frau kam lächelnd auf ihn zu. „Kann ich Ihnen helfen?“

„O ja, ich habe hier eine Liste ...“ Paul reichte ihr den Einkaufszettel und die Frau studierte ihn einen Moment.

„Das wird aber ein prachtvolles Essen“, sagte sie dann anerkennend.

„Das hoffe ich.“

Sie ging zu einem Tresen und legte die Liste in einen Korb. „Ich werde Ihnen die Sachen zusammenstellen. Haben Sie bitte noch einen Augenblick Geduld, da ist noch ein Kunde vor Ihnen.“

Paul nickte und schaute sich um. Er hatte niemanden gesehen, als er reingekommen war. Die Verkäuferin trat zu einem Regal mit erlesenen Dosensuppen und sprach jemanden an, der sich direkt dahinter befinden musste. Eine Hand reichte ihr zwei cremefarbene Suppen, die sie zur Kasse trug. Als der andere Kunde hinter dem Regal hervortrat, traute Paul seinen Augen nicht.

Vor ihm stand der Typ aus dem Bus!

Sein Khakihemd hing an einer Stelle aus der Hose, aber die aufgekrempelten Ärmel hatte er zwischenzeitlich wieder heruntergelassen und die dunkelblauen Manschettenknöpfe glitzerten im hellen Licht des Geschäftes. Seelenruhig schlenderte der Typ auf ihn zu und nickte ihm freundlich zu, bevor er sich zur Kasse wandte.

Pauls Gedanken rasten. Wie konnte dieser Widerling so schnell im Geschäft sein? Er war definitiv nicht mit ihm ausgestiegen, sondern im Bus sitzen geblieben. Und von der nächsten Station aus hätte er es nie eher in den Laden geschafft. Selbst dann nicht, wenn er gerannt wäre.

Paul musterte den Rücken des Mannes, der eben eine Bemerkung über die gekaufte Suppe fallen ließ und damit die Verkäuferin zum Lachen brachte. Das Hemd hing locker an ihm herunter, der Typ machte absolut keinen verschwitzten Eindruck.

Konnte es sein, dass er aus dem Bus gesprintet war, nachdem sich die Türen schon wieder geschlossen hatten? Vielleicht hatte er den Busfahrer gebeten, ihn herauszulassen? Doch auch dann hätte er unmöglich vor ihm in dem Geschäft sein können. Paul war schnell gegangen. Er ging immer schnell. Das war eine der wenigen Charaktereigenschaften, die Laura an ihm bemängelte. Sie sagte, sie sei ständig außer Atmen, wenn sie mit ihm spazieren ging.

Die Verkäuferin packte die Dosen in einen dunkelblauen Beutel mit dem Logo des Geschäftes und reichte ihn über die Theke. Dann wandte sie sich Miriams Zettel zu und verschwand in einem Hinterraum.

Fröhlich pfeifend drehte der Typ sich um.

„Lauchcremesuppe“, verkündete er und hielt den Beutel hoch. „Es gibt nichts Leckereres.“

Paul musterte ihn. Etwas an seinem Gesicht störte ihn, und schnell wurde ihm klar, was es war. Dieses Lächeln. Es saß dort wie eine Zecke, die sich tief in die Blutbahn gebohrt hatte. Gar nicht mehr rauszubekommen.

„Schön, dass Sie wieder bessere Laune haben“, entgegnete er knapp.

Der Mann blieb stehen und hob fragend die Augenbrauen.

„Eben im Bus konnten Sie nur mit Schimpfwörtern um sich schmeißen“, konkretisierte Paul.

Plötzlich erschien ein leichtes Flackern in den Augen des Mannes. Unsicher blickte er sich um und auch sein Grinsen wurde eine Spur dünner.

„Sie ... Sie müssen mich verwechseln“, stotterte er knapp.

„Dann haben Sie einen Zwillingsbruder.“

Mit großen Augen starrte der Typ ihn an und hatte es auf einmal sehr eilig. Er drehte sich abrupt um und hastete aus dem Laden. Vor dem Geschäft blieb er stehen und schaute zurück. Ihre Blicke trafen sich und Paul hatte das Gefühl, echte Panik in seinen Augen zu sehen. Der Mann begann, die Straße entlang zu rennen, der Beutel mit den Dosen schlackerte dabei unkontrolliert umher. Schon nach kurzer Zeit verlor Paul ihn aus den Augen.

„Ich habe alles“, holte ihn die freundliche Stimme der Verkäuferin zurück. „Das Lammfilet ist ganz frisch.“

Geistesabwesend nickte Paul. Der Typ schien ihn tatsächlich nicht wiedererkannt zu haben. Konnte man innerhalb von wenigen Minuten einen Menschen vergessen? Vielleicht war die Annahme, dass es sich um einen Zwillingsbruder handelte, gar nicht so abwegig? Womöglich mochten sich die Brüder nicht und es herrschte Funkstille zwischen ihnen? Eventuell wusste der Mann mit den Dosen gar nicht, dass sein Bruder so nah bei ihm wohnte?

Paul schüttelte den Kopf. Was für komische Mutmaßungen.

Die Verkäuferin reichte ihm den Kassenzettel. 75 Euro. Qualität hatte eben ihren Preis. Und nun? Er hatte nur den Fünfziger bei sich und angenommen, damit würde er locker auskommen. Umständlich begann er, seine Lage zu erklären und erwartete schon eine ungnädige Bemerkung der Verkäuferin, doch die lächelte nur.

„Frau Miriam Held hat mir Ihren Besuch schon angekündigt. Sie war heute Morgen hier.“

„Ja, sie hat mir die Zutaten zusammengestellt. Wir sind Nachbarn.“

„Mir kam die Schrift auf dem Einkaufszettel gleich so bekannt vor.“

Die Verkäuferin holte einen Block unter dem Tresen hervor und reichte ihn Paul. „Lassen Sie mir einfach Ihre Adresse da. Sie können den Rest anschreiben und bezahlen später.“

„Das ist aber nett von Ihnen.“

Kapitel 2

Ralf hob den Pappbecher und prostete seinem Kollegen zu. Wieder einmal stellte er fest, dass ihm der Streifendienst fehlte. Klar, Mordkommission hörte sich toll an und seine Eltern platzten vor Stolz, aber auf der Straße spielte sich nun mal das Leben ab. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Das Problem war gar nicht, dass er nur gerufen wurde, wenn jemand bereits tot war, das Problem war die viele Schreibtischarbeit. Und das ewige Kombinieren. Es war fast so, wie man es in TV-Krimis immer sah: Zwei Wände in seinem Büro waren mit Magnettafeln ausgestattet, an denen Fotos oder Beweisstücke der aktuellen Mordfälle hingen, und seine Kollegin schrieb mit einem speziellen Stift Querverweise und Notizen dazu. Den halben Tag verbrachten sie damit, auf diese verdammten Wände zu starren, irgendwelche Fotos mit irgendwelchen Pfeilen zu verbinden und daraus Rückschlüsse zu ziehen.

Natürlich war das wichtig und gemeinsames Brainstorming führte erstaunlich oft zu Ansätzen, auf die sie alleine nie gekommen wären, aber dennoch fehlte ihm die frische Luft. Er wollte unterwegs sein, nicht den halben Tag im Büro verbringen und die andere Hälfte in den meist grausam zugerichteten Wohnungen von möglichen Mordopfern.

„Was bedrückt dich?“, fragte Jens.

„Ich habe mich noch nicht wirklich an die neue Situation gewöhnt.“

„Du hast es doch gut getroffen. Kein Streifendienst mehr und auch die ewigen Sonderschichten zu Fußballspielen oder Demos sind für dich vorbei.“

Ralf nickte und schlürfte seinen Kaffee. Die Einsätze hatten ihn eigentlich nie sonderlich gestört. Klar, sie waren meist am Wochenende, aber wenn keine Frau auf einen wartete, zogen sich diese Tage sowieso hin.

„Es ist jedenfalls schön, dass du noch mal mit mir durchs Gebiet ziehst.“

Ralf nickte. Die Idee war ihm ganz spontan gekommen. Er hatte gestern lange gearbeitet und sein Chef hatte gemeint, er könne den Vormittag ruhig angehen lassen. Doch wenn man alleine aufwachte, hatte der Vormittag nichts Gemütliches an sich. Also hatte er Jens angerufen und gefragt, ob er ihn bei seiner Ziviltour begleiten durfte.

Sie tranken ihren Kaffee aus und verließen die kleine Bäckerei in dem grauen, viereckigen und etwas heruntergekommenen Einkaufszentrum im Osten der Stadt. Auf den Straßen war nicht viel los. Selbst hier schien es Leute zu geben, die arbeiteten oder um diese Zeit zumindest noch nicht auf den Bürgersteigen abhingen.

Ralfs Gedanken wanderten gerade wieder zurück zur Magnetwand seines Büros, als Jens ihn anstupste und über die Straße sah. Dort hatte sich eine Gruppe von vier Jugendlichen gebildet. Eigentlich nichts Besonderes. Jens sagte immer, je kleiner die Gehirne, umso größer das Rudel. Und in diesem Stadtteil gab es fast nur große Rudel.

Wären da nicht die Springmesser gewesen, die zwei der Kerle einem anderen an den Hals drückten.

Ralf und Jens fackelten nicht lange. Sie rannten über die Straße und nährten sich den Spinnern von zwei Seiten.

„Messer fallenlassen“, rief Jens laut und deutlich. Das Wort Polizei vermieden sie, wo es ging. Oftmals reichte dieser Hinweis schon aus, und unbeteiligte Passanten drehten sich plötzlich um und versperrten ihnen den Weg.

Ralf konnte die Antwort der Schläger nicht recht einordnen, aber er fragte sich sowieso schon seit Langem, wie sie mit solchen rudimentären Sprachkenntnissen überhaupt in einer Großstadt überleben konnten. Dabei waren die meisten in dieser Stadt geboren.

Auch Jens realisierte sehr schnell, dass sie mit Worten nicht weiterkommen würden. Er überlegte nicht lange, als er einen der Jugendlichen die Hand auf die Schulter legte und ihm gleichzeitig mit Wucht in die Kniebeugen trat.

Ralf hatte keine so gute Ausgangsposition für einen Angriff. Der erste Typ verdeckte seinen Kumpel fast vollständig und so blieb Ralf nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Typ mit eingeknickten Beinen auf dem Boden landete. Ralfs Faust traf den zweiten Kerl direkt ins Gesicht. Früher hatte er Skrupel bei solchen Schlägen gehabt, seitdem er aber verinnerlicht hatte, dass jeder von den Kerlen ihn ohne zu zögern töten würde, bekam er kaum mehr Gewissensbisse.

Der Angriff zeigte die gewünschte Wirkung. Vollkommen überrumpelt trollten sich die Messertypen und verschwanden hinter der nächsten Straßenecke.

Was jetzt kam, kannte Ralf schon zur Genüge.

Anfangs hatte er tatsächlich noch Dank von den Leuten erwartet, die er beschützt hatte, doch meistens trat genau das Gegenteil ein.

Auch jetzt.

Die bedrohten Jugendlichen, die gerade noch so kleinlaut wie Mäuse in einer Katzenpension gewesen waren, spielten sich plötzlich wie die größten Macker auf. Sie schimpften und schmissen mit übelsten Worten nur so um sich. Jens hielt beschwichtigend die Hände vor den Körper, doch es nützte nichts. Er wurde angespuckt, bevor sie fluchend in der entgegengesetzten Richtung verschwanden.

Ralf schaute seinen alten Kollegen an und zum ersten Mal fand er die Vorstellung, die nächsten Jahre ausschließlich mit Mordfällen in Kontakt zu kommen, ganz reizvoll.

„Scheiße“, kommentierte Jens finster und wischte sich mit dem Taschentuch den Rotz von der Wange.

„Das ist deren Art Danke zu sagen“, antwortete Ralf schulterzuckend. „Kennst du doch.“

„Das meine ich nicht“, sagte Jens und nickte in Richtung Straßenecke. Noch bevor Ralf den Kopf drehte, wusste er, was ihn erwartete. In solchen Gegenden durfte man sich nicht lange an einem Ort aufhalten. Nach einer Aktion musste man Land gewinnen, sonst gab es ernste Schwierigkeiten.

So auch diesmal.

Die beiden Messerkids waren mit Verstärkung zurückgekehrt. Ralf zählte neun Kerle, die alle so aussahen, als hätten sie den Großteil ihrer verkorksten Existenzen in Jugendknästen verbracht.

Jens reagierte blitzschnell.

„Hol die Kollegen“, rief er und ging auf die Gruppe zu, um Ralf die nötige Zeit für den Anruf zu geben.

Dann passierte alles fast gleichzeitig. Ralf hörte die Stimme der Kollegen durchs Handy, als Jens bereits die ersten Tritte in den Bauch bekam. Als er ihren Standort durchgegeben hatte, lag Jens auf dem Boden. Wie eine Horde wildgewordener Neandertaler traten die Typen auf ihn ein, die letzten Tritte trafen fast ausschließlich seinen Kopf. Ralf steckte das Handy ein und zog die Pistole. Ihm war klar, dass er keine Warnung herausschreien musste, es würde sich niemand dafür interessieren. Er entsicherte die Waffe und zielte auf den Fuß eines der Angreifer.

Der Knall war ohrenbetäubend laut und wurde von den tristen Fassaden der Häuser zurückgeworfen. Aber der Schuss traf. Der Kerl sackte mit einem gellenden Schrei in die Knie und seine Kumpels verharrten in ihren Bewegungen, als hätte man ihnen die Batterien entfernt. Einer der Messermänner verpasste Jens einen letzten Tritt und drohte, ihn umzubringen, wenn er ihn je wieder sehen würde. Anschließend zogen sie sich so schnell zurück, wie sie aufgetaucht waren.

Ralf sah Teile der Horde in alle vier Himmelsrichtungen davoneilen. Selbst der Kerl, dem höchstwahrscheinlich eine Kugel im Fuß steckte, schaffte es, sich zu entfernen. Aber das war egal. Ralf musste sich um Jens kümmern.

Der war kaum mehr ansprechbar. Sein Gesicht sah aus, als hätte man eine Ketchupflasche über ihm entleert. Ralf nahm seinen Freund und Kollegen in die Arme und stieß erleichtert die Luft aus der Lunge, als er wenige Minuten später die näherkommenden Polizeisirenen hörte.

Kapitel 3

Der Abend konnte als voller Erfolg bezeichnet werden. Laura war nicht gleich ins Schlafzimmer gegangen. Ihre Augen leuchteten vor Überraschung, als er sie an den gedeckten Esstisch führte.

Sie lobte sogar das Essen, auch wenn Paul der Meinung war, dass es nun doch nicht ganz so leicht ging mit der Zubereitung, wie ihm Gerd und Miriam versprochen hatten. Das Fleisch war etwas hart geworden und das Gemüse ein wenig zerfallen, trotzdem schien es Laura zu schmecken. Als er die Dessertschüsseln abräumte, lehnte sich seine Freundin zufrieden zurück.

„Ich würde den Wein liebend gern mit dir im Schlafzimmer trinken, aber wir müssen wohl noch warten.“

Paul kräuselte die Stirn. „Worauf?“

„Der Heizungsableser. Hast du vergessen, der kommt heute Abend. Eigentlich ist er schon überfällig.“

Paul hatte den Termin tatsächlich nicht mehr auf der Rechnung gehabt. Er brummte ärgerlich, als er das Geschirr in die Küche stellte.

„Wieso muss der auch so spät kommen“, rief er ins Wohnzimmer und öffnete die Geschirrspülmaschine.

„Weil abends die meisten Mieter da sind“, rief Laura zurück. „Außerdem machen die das oft auf Minijob-Basis. Die können auch erst am Abend.“

Paul schenkte sich Wein nach, kam ins Wohnzimmer und prostete ihr zu. Gerade als sie ihr Glas ebenfalls in seine Richtung ausstreckte, klingelte es an der Tür.

„Setz dich, du fleißiger Koch. Ich gehe“, sagte Laura und sprang auf.

Paul fiel auf die Couch und betrachtete zufrieden den beinahe leer geräumten Esstisch. Der Aufwand hatte sich gelohnt. Und es hatte ihm sogar Spaß gemacht, für Laura zu kochen. Jetzt musste nur noch der Mensch vom Ablesedienst zügig in die Puschen kommen. Im Flur hörte er Laura jemandem einen Guten Abend wünschen. Kurz darauf schloss sich die Wohnungstür.

„Ich geh erst mal ins Wohnzimmer“, sagte eine Männerstimme, die Paul eigenartig vertraut vorkam. Kurz darauf erschien der Ableser an der Tür und für einen Moment setzte Pauls Herzschlag aus.

Er war der Typ aus der Bahn! Oder der aus dem Delikatessengeschäft. Wer wusste das schon.

Er grinste breit, als er Paul entdeckte.

„Hallo du Sozialschwuchtel“, zischelte er, laut genug, dass Paul es deutlich verstehen konnte.

Erschrocken sprang Paul auf und stierte den Mann an. Der Typ trug nach wie vor sein khakifarbenes Hemd und auch an die rote Jeans konnte Paul sich erinnern. Noch ehe ihm eine halbwegs gescheite Antwort einfiel, kam Laura durch die Tür und blickte ihn amüsiert an.

„Was ist denn mit dir passiert? Ist dir der Wein nicht bekommen?“

„Wahrscheinlich hat er einen Geist gesehen“, antwortete der Typ an seiner Stelle und kniete sich vor die Heizung. Laura ging auf Paul zu und legte ihm einen Arm auf die Schulter.

„Gleich ist der grässliche Kerl weg“, flüsterte sie. „Dann werde ich dich mir so richtig vornehmen.“

„Als Nächstes muss ich ins Bad, dann ins Schlafzimmer. Kann ich da ran?“, fragte der Typ mit seiner durchdringenden Stimme.

„Im Bad steht ein Schränkchen vor der Heizung. Ich schiebe es schnell zur Seite.“

Laura beugte sich vor und gab Paul einen schnellen Kuss, bevor sie das Zimmer verließ. Sofort wanderte Pauls Blick wieder zu dem Typen. Er schien gewissenhaft etwas in eine kleine Tabelle einzutragen. Dann stand er auf und kam direkt auf Paul zu. Instinktiv tastete Paul nach dem handlichen Briefbeschwerer, der auf dem Beistelltisch lag.

„Du hast Dinge gesehen, die du nicht sehen durftest“, zischelte der Bärtige. „Häng das ja nicht an die große Glocke, sonst musst du die Konsequenzen tragen.“

Noch bevor Paul überhaupt reagieren konnte, drehte der Typ sich um und rannte beinahe aus dem Wohnzimmer. Er verschwand im Bad, wo Laura irgendeine Bemerkung machte und er irgendetwas antwortete.

Paul ließ sich aufs Sofa fallen. Das konnte nicht sein. Was hatte das zu bedeuten? Warum traf er diesen Kerl heute schon zum dritten Mal? Es fiel ihm schwer, an einen Zufall zu glauben. Andererseits, was sollte es denn sonst sein?

Ja, was?, fragte eine kreischende Stimme in seinem Kopf. Man trifft nicht alle Tage einen miesepetrigen Schwachmaten im Bus, der im Delikatessengeschäft plötzlich nett ist und dabei irgendwie verhuscht wirkt, und der am Abend als Ableser arbeitet und erneut aggressiv rüberkommt.

Ein Geräusch am Fenster erregte kurzzeitig seine Aufmerksamkeit. Auf dem Fenstersims spielten mehrere Meisen miteinander. Ein ungewöhnliches Bild. Eigentlich recht niedlich, doch er hatte jetzt nicht den Kopf für so etwas.

Paul stand auf und trat in den Flur. Die Karawane bestehend aus seiner Freundin und dem sympathischen Mann von der Ablesefirma war inzwischen ins Schlafzimmer gezogen. Es behagte Paul ganz und gar nicht, dass dieser Clown den allerheiligsten Raum zu sehen bekam.

Er trat ebenfalls ins Zimmer und schaute direkt in die Augen seiner Freundin, die ihm aufreizend zuzwinkerte und mit der Hand beiläufig über das Bett strich. Es kostete ihn Überwindung, das Lächeln zu erwidern. Khakihemd war gerade dabei, weitere Zahlen auf seinen Bogen zu schreiben, ehe er vergnügt aufstand.

„Jetzt haben wir es fast“, sagte er verschwörerisch an Laura gewandt. Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer und stieß Paul an der Schulter an. „Zur Seite, du Ratte.“

Paul ballte die Fäuste. Was bildete sich dieser Mistkerl bloß ein? Er wollte gerade einen Schritt auf ihn zu machen und ihn grob herumreißen, als sich Laura ebenfalls an ihm vorbeischlängelte.

„Was ist?“, fragte sie mit großen Augen. „Du bist angespannt.“

„Das kann mal wohl sagen.“

„Er ist ja gleich weg.“

„Ich kenne ihn!“

Laura schaute ihn stirnrunzelnd an, ehe sie dem Typen hinterherging. Fast bedauerte er es, dass sie ihm unwissentlich in die Parade gefahren war. Paul fand, dass es höchste Zeit wurde, diesem Sack mal die Meinung zu sagen. Gern auch in Form von einigen ordentlich platzierten Fausthieben. Angst hatte er vor dieser Brillenschlange jedenfalls nicht mehr, dafür war die Wut zu groß.

Leider gab es keine Gelegenheit mehr für eine Abreibung. Die letzten zwei Heizkörper musste er im Eiltempo kontrolliert haben, denn als Paul in den Flur trat, sah er nur noch die Rückseite des Hemdes, das sich gerade auf den Weg ins Treppenhaus machte.

Seufzend schloss Laura die Tür.

„Jetzt sind wir allein“, stellte sie fest und öffnete die oberen drei Knöpfe ihrer Bluse, während sie langsam auf ihn zukam. Dann stockte sie in der Bewegung.„Was ist? Du machst schon wieder so ein Gesicht.“

„Ich kannte den Typ.“

Er erzählte ihr von der Begegnung im Bus und im Geschäft. Laura hörte zwar aufmerksam zu, doch schien sie der Sache nicht allzu viel Beachtung beizumessen.

„So etwas kommt vor“, sagte sie bloß.

„Er konnte nicht schneller im Geschäft sein“, beharrte Paul. „Und dann heute Abend ...“