AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt - E-Book

AUF LEBEN UND TOD E-Book

Martin S. Burkhardt

4,6

Beschreibung

In einem der spektakulärsten Entführungsfälle der USA hielt Phillip Garrido ein Mädchen 18 Jahre lang gefangen. Während dieser Zeit missbrauchte der Entführer Jaycee Lee Dugard und zeugte mit ihr zwei Kinder. Natascha Kampusch war das Opfer der längsten Freiheitsentziehungen der neueren Geschichte Österreichs. Die damals zehnjährige Österreicherin wurde 1998 vom Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil in Wien entführt und länger als acht Jahre in seinem Haus gefangen gehalten. Wenn man eine Person ohne Probleme über viele Jahre gefangen halten kann, muss das auch für mehrere Personen gelten, vorausgesetzt man hat entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung und ist besessen von diesem Gedanken. Henry, ein gewalttätiger, kaputter Mann, besitzt geeignete Räume. Er fängt Frauen und Männer ein und zwingt sie in seinen unterirdischen Katakomben zum Sex. Eine neue Generation wächst heran, die das Tageslicht niemals gesehen hat. Bereits von klein auf müssen die Kinder lernen, sich zu behaupten. Henry ist ein Fan von brutalen Ultimate-Kämpfen und möchte diese Kämpfe zum Mittelpunkt seines unterirdischen Reiches machen. Aus den Kindern werden im Laufe der Jahre Jugendliche. "Einfache" Kämpfe reichen Henry nicht mehr aus. Von nun an geht es AUF LEBEN UND TOD.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 328

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (30 Bewertungen)
23
3
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhalte

Auf Leben und Tod

Impressum

Runde Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Runde Zwei

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Runde Drei

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Der Autor

Das könnte Sie auch interessieren

Leseprobe

Der LUZIFER Verlag

AUF LEBEN UND TOD

Martin S. Burkhardt

Impressum

Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2015 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Mark Freier
Lektorat: Heike Müller

ISBN E-Book: 978-3-95835-115-8

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf

FacebookTwitterPinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

RUNDE EINS

Delia wirkte machtvoller. Sie war zwar nur unwesentlich größer als ihre Kontrahentin, besaß aber mehr Muskelmasse. Da kam sie ganz nach ihrer Mutter, eine ebenfalls stämmige und dennoch geschmeidige Frau. Außerdem war Delias fester Klammergriff überall gefürchtet. Geriet man in ihren Schwitzkasten, gab es kaum ein Entkommen. Henry brummte leise, während sich die beiden Kämpferinnen auf dem Boden wälzten.  Er selbst hatte eine ähnliche Erfahrung gemacht, als er Delia vor einigen Wochen in seine Privatkammer eingeladen hatte.   Obwohl sie beim Sex vorsichtig gewesen war und es gewiss niemals gewagt hätte, ihn auf irgendeine Weise zu verletzen, spürte er die beinahe unbändige Kraft ihres Körpers und ihrer durchtrainierten Arme, die ihn fest umschlungen hielten.  Henry war damals so schnell gekommen, wie schon lange nicht mehr. Er mochte starke, junge Frauen, und Delia war sicherlich die kräftigste Frau inFreie Erde.  Ein Schmerzensschrei durchschnitt die angespannte Ruhe und lenkte Henrys Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen. Bis eben war ausschließlich die angestrengte Atmung der beiden Gegnerinnen zu hören gewesen. Hoch konzentriert umkreisten sie sich, und als sie schließlich aufeinander losgingen, kamen nur leise Keuchgeräusche über ihre Lippen.   Das war nicht in jedem Kampf so. Manchmal überhäuften sich die Mädels mit wilden Beschimpfungen, während sie sich gegenseitig windelweich prügelten. Aber dafür war dieses Duell zu ernst. Es ging hier nicht um das Privileg eines größeren Raumes oder um eine besondere Ration Essen. Es ging schlicht und einfach um das Leben einer der Kämpferinnen. Wenn diese Auseinandersetzung beendet war, würde eine der Frauen nie wieder aufstehen, noch sonst irgendetwas machen können.

Irritiert bemerkte Henry, dass es Delia gewesen war, die den Schrei ausgestoßen hatte. Aldiana hatte ihr die Faust mit ganzer Wucht ins Gesicht geschlagen, während sich die beiden auf dem Boden wälzten. Henry trank einen Schluck Eistee. Aldiana war so ein völlig anderer Typ als Delia. Ihre großen, dunkelblauen Augen schauten immer eine Spur zu keck und ihre langen, blonden Haare schienen nie einmal außer Form zu geraten. Jetzt trug sie einen Pferdeschwanz, der ihr ein noch jugendhafteres Aussehen verlieh. Auch Aldiana hatte in all den Jahren Unmengen an Muskeln aufgebaut. Dafür hatte Henry mit seinem rigorosen Trainingsplan selbst gesorgt. Dennoch wirkte ihr Körper um einiges schmaler als der von Delia. Hätte sich nicht ihr Bizeps deutlich abgezeichnet, hätte man ihre Arme fast schon als dünn bezeichnen können. Henry mochte keine mageren Frauen. Aber mit Aldiana war es ja sowieso etwas anderes. Er würde sie wahrscheinlich nie in sein Bett einladen.  Ein breites Grinsen umspielte Henrys Gesicht. Andererseits könnte es irgendwann vielleicht doch einmal ganz reizvoll sein, mit dem eigenen Fleisch und Blut zu schmusen.

Der nächste Schrei holte ihn aus seinen Überlegungen. Delia hatte zum Gegenschlag ausgeholt. Ihre braunen Augen funkelten gefährlich und die schwarzen, schulterlangen Haare wirbelten um ihren Kopf herum, als sie nun ihrerseits die Faust auf Aldianas Nase schlug. Blut spritzte aus Aldianas linkem Nasenloch und mit einer energischen Bewegung schubste die Blonde die Gegnerin von sich herunter.  Henry überlegte, ob eines der Mädchen den Sieg mehr verdient hätte. Delia war sehr geschickt mit ihrer Zunge. Und im Bett machte sie stets das, was er von ihr verlangte, selbst die unmöglichsten und wildesten Dinge. Es wäre schade, wenn eine solche treue Gefährtin in diesem Ring den Tod finden würde und man ihre leblose Hülle in einem der verbliebenen Felder vergraben müsste. Andererseits waren die anderen Frauen auch nicht zu verachten. Celia war fast ebenso experimentierfreudig wie Delia. Zumindest in dieser Hinsicht würde es ihm in Zukunft höchstwahrscheinlich an nichts fehlen. Und Celias braun gelockte Haare hatte er schon damals geliebt, als er die Kleine das erste Mal vor dem Kindergarten hatte stehen sehen. Nur Delias schokoladenbraune Haut, die immer ein wenig nach Zimt schmeckte, würde er wirklich schmerzlich vermissen. Es sah einfach fantastisch aus, wenn ihr dunkler Körper sich an seinen hellen Körper schmiegte und sie zu einer Einheit von Kaffee mit Sahne wurden.   Henry zog ob dieses Vergleiches amüsiert die Augenbrauen nach oben. Er grinste in die Runde, aber seine Untertanen hatten momentan keine Augen für ihren König. Stattdessen beobachteten sie aufmerksam den intensiver werdenden Kampf.   Aldiana hatte sich pfeilschnell aufgerichtet und zu einem gewaltigen Tritt ausgeholt. Ehe Delia auch nur reagieren konnte, traf Aldianas nackter Fuß ihren Unterleib. Mit einem kläglichen Keuchen knallte die Haselnussbraune auf den sandigen Boden. Aldiana zögerte keine Sekunde und warf sich mit dem ganzen Gewicht auf die Gegnerin. Delia hob blitzartig die Arme und umklammerte den herabfallenden Körper. Ihre Hände gruben sich in den elastischen Stoff von Aldianas Trikot. Aber es nützte nichts. Der Oberkörper der Blonden landete mit einem dumpfen Aufprall auf Delias Gesicht. Delia stöhnte, ließ das Gewebe über ihr los und ballte die Hände zu Fäusten. Mit energischen Trommelbewegungen schlug sie auf den Rücken ihrer Rivalin ein. Doch Aldiana war nicht zu beirren. Sie rutschte ein wenig von der Kontrahentin herunter und presste Delia nun den Oberarm ins Gesicht, gleichzeitig griff sie mit der freien Hand grob in ihre Haare. Delia stieß ein ersticktes Keuchen aus. Aldianas Arm lag direkt auf Delias Mund und Nase und ließ kaum noch Spielraum zum Atmen. Immer, wenn sich Delia mit Kraft aufstemmte, um den Körper über ihr abzuschütteln, zog Aldiana an ihrem Schopf und riss Delais Kopf mit der Bewegung mit.

Henry seufzte leise. Diese Wette wäre verloren gegangen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass Aldiana Delia in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte. Delia war die absolute, unangefochtene Alphafrau in diesem, seinem Universum. Und nun wurde sie von der vergleichsweise zarten Aldiana gemächlich erstickt. Henry versuchte, der Blonden ins Gesicht zu schauen. Es sah nicht so aus, als ob Aldiana ihren Triumph genießen würde. Sie blickte mit beinahe zusammengekniffenen Augen starr gegen die Wand. Das war unüblich. Da hatte es in diesem ehrwürdigen Käfig schon ganz andere Schlachten gegeben. Er selbst hatte den Mädchen gelehrt, sich daran zu weiden, wenn sie im Kampf töteten. Sie sollten ihre Gegnerinnen genüsslich quälen und dominieren und den Augenblick des Todes auskosten, indem sie tief in die Augen der Sterbenden schauten. Es gab nichts Spannenderes, als einem Menschen in die Augen zu blicken, während man ihn umbrachte, ja sogar zu lächeln, kurz bevor er seinen letzten Atemzug machte.

Kapitel 1

Juni 1980

Die Milch kam in länglichen Edelstahlkannen. Sein Vater füllte die Kannen lediglich halb voll, aber auch so konnte Henry sie kaum heben. Das kurze Stück vom Stall bis zum gepflasterten Weg, auf dem der Trecker wartete, wurde mit jeder Fuhre ein wenig länger. Henry hievte die schweren Behälter die kleine Rampe hinauf und schob sie hintereinander auf den Anhänger. Als er zum fünften Mal in den Stall zurück hastete, keuchte er bereits wie nach einem anstrengenden Dauerlauf. Sein Vater stand mit verschränkten Armen neben den Kühen und blickte ihn finster an.  »Was dauert das so?«, brummte er, als Henry sich den nächsten Kanister griff. »Wenn du so trödelst, wird die Milch schon auf dem Weg schlecht.« Die Faust seines Vaters knallte gegen einen der hölzernen Balken der Scheune.   Henry versuchte, noch einen Zahn zuzulegen. Sein Alter hatte wieder dieses Glänzen in den Augen. Das war nicht gut. Immer wenn seine Augen schimmerten, als würde jeden Moment ein nicht enden wollender Tränenfluss daraus explodieren, bestand Gefahr. Dann fing sein Vater nämlich gerade an, sich über irgendetwas furchtbar aufzuregen. Und wenn sein Alter miese Laune hatte, war meist Henry der Leidtragende.   Als die nächste Milchkanne auf der Ladefläche stand, lief Henry zurück in den Stall, als wäre der vor Jahren ausgewilderte Hund des weit entfernten Nachbarhofes hinter ihm her. Mit seiner Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und bückte sich nach einer weiteren Kanne. Genau in diesem Augenblick setzte sein Vater sich in Bewegung und stürmte auf ihn zu.   »Du kleiner Scheißer bist zu lahm«, schrie der Alte mit überschnappender Stimme. »Ich kann dem Milchhof keine H-Milch verkaufen.«   Nur Sekunden später spürte Henry einen dumpfen Schmerz. Sein Vater hatte ihm mit Wucht in den Hintern getreten. Das machte er gerne und beinahe täglich. Schnell umklammerte Henry eine der sechs verbliebenen Kannen und begab sich auf den Weg zum Trecker. Wenn sein Vater sich ärgerte, verhielt man sich lieber vollkommen unauffällig und tat so, als wäre überhaupt nichts gewesen.   Fast hätte er den Anhänger ohne weitere Zwischenfälle erreicht. Doch kurz bevor Henry seine schwere Last abstellen konnte, bekam er den nächsten Tritt verpasst. Sein Vater knurrte wie ein tollwütiger Hund, und Henry verlor das Gleichgewicht. Die Milchkanne schepperte auf die Ladefläche und riss zwei danebenstehende Kannen um. Die weiße und noch warme Flüssigkeit verteilte sich auf dem halben Pritschenwagen und Henrys Hose wurde klamm. Ein ärgerliches Heulen hinter ihm ließ ihn automatisch die Arme um das Gesicht schlingen. Henry hatte inzwischen gelernt, sich zu schützen. Eine wütende Formation ungenauer aber harter Schläge prasselte auf ihn ein. Hätte er mit den Armen nicht so eine schützende Barriere gebildet, hätten die Fausthiebe seines Vaters mit Sicherheit mehr Schaden angerichtet. So aber ließ der Alte nach einigen Minuten von ihm ab und stapfte wutentbrannt in den Stall.   Henry zögerte nicht lange, sprang auf die Beine und rannte hinüber zum Wohnhaus. Wenn sein Vater ihn noch einmal zu Gesicht bekäme, würden die Schläge heftiger werden. Da half es auch nichts, sich unverzüglich wieder an die Arbeit zu machen. Sinnvoller war es, den Alten in den nächsten Stunden zu meiden. Und das ging am einfachsten im Haus, in dem seine Mutter das Regiment führte. Vielleicht würde sie ihn in Ruhe lassen und er konnte unbehelligt mit seinen Schulaufgaben anfangen.

Nachdem Henry einen schnellen Blick in die Küche geworfen hatte, schlich er die Treppe hoch. Seine Mutter war nirgendwo zu entdecken. Ein finsterer, schlauchartiger Flur führte durch das Obergeschoss. Es gab auf dem Weg lediglich eine winzige Dachluke, durch die höchstens eine ausgemergelte Katze gepasst hätte. Das milchig weiße Glas war seit Jahrzehnten nicht mehr gereinigt worden und ließ selbst im strahlendsten Sommer keinerlei Helligkeit hindurch. Henry bewegte sich dennoch geschwind und sicher über den Korridor. Wären nicht sämtliche Zimmertüren geschlossen gewesen, hätte das Licht, das durch die Fenster der Räume hineinfiel, für etwas Auflockerung gesorgt, aber aus irgendeinem Grunde hasste seine Mutter offenstehende Türen. Es gab keine Tür im Haus, die grundlos geöffnet sein durfte. Als Henry noch jünger gewesen war, hatte er mitunter bitter für seine Unachtsamkeiten bezahlen müssen. Es kam vor, dass es ihn auf die Wiese zum Spielen zog, und er einfach vergaß, seine Zimmertür beim Verlassen des Raumes zu schließen. Seine Mutter wartete stets an der Haustür und begrüßte ihn mit Ohrfeigen, wenn so etwas geschah.  Sein Zimmer war das kleinste im Obergeschoss. Unmittelbar im Anschluss an die beiden Gästezimmer, die eigentlich immer leer standen, schloss sich seine Kammer an. Neben dem schmalen Bett befand sich nur ein Nachtschränkchen in dem komplett fensterlosen Raum. Gern hätte Henry auch einen Schrank besessen, aber dafür war der Platz nicht ausreichend. Seine wenigen Kleidungsstücke hingen in einem windschiefen Schrank im Gästezimmer, in dem seine Mutter sonst nur alte, ausgediente Jacken verstaute. Dennoch durfte er den Schrank dort nicht ohne Aufsicht öffnen. Überhaupt durfte Henry nicht mal ohne Erlaubnis das Zimmer betreten. Seine Mutter war der Meinung, dass Kinder ständig Schmutz mit ins Haus brächten und deshalb möglichst nirgendwohin gehen sollten. Seine Kammer war der einzige Raum, zu dem er ungehindert Zutritt hatte, das Badezimmer einmal ausgenommen.   Henry schaltete das Licht ein, ließ sich aufs Bett fallen und angelte nach seinem Schulranzen, der sich darunter befand. Schulaufgaben machte er stets im Bett. Seine Eltern hielten nichts davon, Kindern bereits einen Schreibtisch zur Verfügung zu stellen. Vater vertrat die Ansicht, dass jemand, der an einem Schreibtisch saß, auch für seinen Lebensunterhalt aufkommen konnte.

Während Henry das Matheheft aufschlug, betrachtete er seine Hose. Die Milch war inzwischen angetrocknet und bildete eine schmierige Kruste auf dem Stoff. Vielleicht war es vernünftiger, sie auszuziehen. Er sprang auf und öffnete den Gürtel. Gerade, als die Hose an seinen Beinen hinunterrutschte, wurde die Zimmertür geöffnet und seine Mutter stand an der Schwelle.  »Die Tür war nur angelehnt«, sagte sie drohend und blinzelte, wahrscheinlich, um sich an das grelle Licht der nackten Glühbirne zu gewöhnen. Dann fiel ihr Blick auf Henry und schlagartig weiteten sich ihre Augen.   »Was machst du da?«, fragte sie erstaunt. »Spielst du etwa an dir herum?«   Henry, der mit dieser Bemerkung nichts anfangen konnte, bückte sich und hob die Hose auf.   »Da sind Flecken drauf«, stellte er fest und fuhr mit den Fingern über den Stoff. Seine Mutter schnappte überrascht nach Luft.   »Du bist erst acht«, sagte sie aufgebracht. »Mit acht habe ich meinen Körper noch zufriedengelassen.«  Wieder wusste Henry nicht, was ihm dieser Kommentar sagen sollte. Doch ihm war klar, dass seine Mutter allmählich wütend wurde. Ängstlich blickte er auf ihre Armmuskeln, die sich immer wieder an- und abspannten. Ihr Tattoo, das mit verschnörkelten Buchstaben die WörterEwige Liebebildete, wirkte, als hätte es ein Eigenleben bekommen.  »Ich werde dich lehren, was es heißt, den eigenen Körper zu beschmutzen«, sagte sie und schloss gewissenhaft die Tür, bevor sie sich ihm näherte. Henry ging instinktiv einen Schritt zurück, überlegte, ob sein Vater schon gepetzt hatte, und fragte sich, warum er noch einmal für die verschüttete Milch bestraft wurde.   Seine Mutter hatte ihn an den Haaren gegriffen und ihn aufs Bett geschubst. Sie war groß und breit und manchmal hatte Henry den Eindruck, dass seine Mutter sogar stärker als sein Vater war. Henry spürte einen brennenden Schmerz auf der Wange und innerlich wappnete er sich für die nächste Schelle, aber stattdessen griff ihre Hand fest in seinen Schritt.   »Sieh an, die Unterhose ist nicht klebrig. Haste rechtzeitig runtergezogen, was?«   »Nein«, brachte Henry hervor und überlegte fieberhaft, wie er seiner Mutter hätte gerecht werden sollen. Ihm war doch vorher nicht klar gewesen, dass die Milch auskippen würde. Wie sollte er da die Unterhose in Sicherheit bringen? Außerdem war der Stofffetzen gar nicht schmutzig. Das gab alles überhaupt keinen Sinn.   Seine Mutter riss die Unterhose ganz von seinen Beinen und grapschte erneut in seine Mitte. Ihre Finger schlossen sich um seine empfindlichen Stellen und Henry stöhnte kläglich.   »Das gefällt dir doch, oder?«, fragte sie und starrte ihm in die Augen. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepresst. Henry wollte zu einer Antwort ansetzen, aber der Griff ihrer Hand wurde sogar noch stärker. Ein kalter Schmerz durchzuckte seine Lenden. Zuletzt war ihm etwas Ähnliches widerfahren, als sie in der Schule Fußball gespielt hatten und der Ball mit ganzer Wucht gegen ihn geprallt war.   »Nein«, schrie Henry und die ersten Tränen sammelten sich in den Augen. Wie konnte seine Mutter nur annehmen, dass ihm diese Qual gefallen würde?   Plötzlich lockerte sich ihr Klammergriff. Sie hob die Hand zur Nase und roch daran.   »Du scheinst ja wirklich noch unschuldig zu sein«, stellte sie flüsternd fest.  Henry kam es so vor, als wäre ihr diese Feststellung kein bisschen angenehm. Ihm war vollkommen unbegreiflich, was seine Mutter eigentlich von ihm wollte, aber er nickte energisch.Unschuldighörte sich gut an. Wer unschuldig war, musste nicht verprügelt werden.

Seine Mutter starrte ihn einen weiteren Moment an und begann dann zu lächeln. Henry kannte dieses Lächeln. So schaute sie immer, wenn ihr etwas nicht passte, sich aber gerade keine Gelegenheit bot, dagegen anzugehen. Insbesondere bei den Auseinandersetzungen mit seinem Vater zeigte sie oftmals diesen Gesichtsausdruck, der Henry stets an eine verrückt gewordene Henne erinnerte. Ohne ein Wort zu sagen, sprang sie auf und öffnete die Zimmertür. Doch anstatt hinauszugehen, wartete sie an der Türschwelle und horchte auf den stillen Flur hinaus. Als seine Mutter sich umdrehte und die Tür wieder ins Schloss fallen ließ, lag ein Ausdruck in ihren Augen, den er vorher noch nie gesehen hatte.  »Ich werde jetzt austesten, wie schmutzig du tatsächlich schon bist.«   Instinktiv wollte Henry aufstehen und nach der Unterhose greifen, doch wenn es darauf ankam, war seine Mutter sehr athletisch. Sie hatte jahrelang Kampfsport gemacht und man durfte sich von ihrer leicht pummeligen Gestalt nicht täuschen lassen. Mit einer geschmeidigen Bewegung war sie bei ihm, bevor er sich überhaupt halb aufgerichtet hatte, und vergrub ihre Hand ein weiteres Mal in seinen Haaren.   Sie riss ihn grob zurück auf die Matratze.   »Wenn du dich wehrst, haue ich dich windelweich.«   Ihre Hand wanderte erneut in seinen Schritt. Einen Augenblick befürchtete Henry, wieder diesen allumfassenden Schmerz zu spüren, doch die kräftigen Finger legten sich diesmal nicht um all seine empfindlichsten Teile. Stattdessen begannen sie, an seinem Pillermann zu spielen. Ihre Hand knetete ihn zuerst ganz zart, als bestünde er aus zerbrechlichem Porzellan. Doch schon kurze Zeit später wurden die Bewegungen fordernder. Ihre Hand fuhr immer schneller auf und ab und ihre Atmung wurde synchron dazu merklich hektischer. Als Henry fragte, was das zu bedeuten hätte, schlug ihm seine Mutter mit der freien Hand auf die Wange.   »Halt den Mund und stör mich nicht, sonst schlag ich dir die Zähne aus.«

Kapitel 2

April 2003

Aldiana saß auf der Matratze und blickte sich um. Viel zu entdecken gab es in ihrem kleinen, quadratischen Zimmer nicht. Neben der Matratze, die als Schlaf- und Sitzgelegenheit gleichermaßen fungierte, gab es ein mannshohes, hölzernes Regal, in dem ihre Kleider und ihre persönlichen Sachen lagen. Eine dimmbare Stehlampe gab angenehmes, gedämpftes Licht. Der neue, beigefarbene Anstrich der Wände gefiel ihr, auch wenn sich der Ton ein wenig mit den terracottafarbenen Fußbodenfliesen biss. Durch die Schlitze in der Tür wehte ein lauer Luftzug. Wahrscheinlich war der gewaltige Ventilator eingeschaltet worden, der sich im Flur vor den Privaträumen befand. Früher hatte Aldiana vor diesem monströsen Ding tatsächlich Angst gehabt. Jedes Mal, wenn sie darunter stand, kam ihr der Gedanke, wie ihr Körper von den mehr als zwei Meter großen Flügeln hinaufgezogen und zerfetzt wurde. Leider hatte sich diese Furcht in den vergangenen Jahren auch nicht gegeben. Selbst heute noch trat Aldiana mit einem unguten Gefühl in den Flur, wenn der Ventilator lief. Und das, obwohl vor einer Woche schon ihr zwölfter Geburtstag gefeiert wurde. Wie gut, dass niemand von dieser Beklommenheit wusste. Glücklicherweise schaltete der König das Ding nur ein paar Stunden am Tag an.

Ihr Blick fiel auf die Handschuhe, die lediglich die Handflächen und -ballen verdeckten, den Fingern aber keinen Schutz boten. Christina hatte mal den BegriffFahrradhandschuhbenutzt. Aldiana dachte an das Bild eines Fahrrads, das sie in einer Illustrierten gesehen hatte. Warum brauchte man Handschuhe dafür? Früher durften bei jedem Kampf richtig gepolsterte Handschuhe verwendet werden,Boxhandschuhenannte sie der König. Aber seit einem Jahr war es vorbei mit dem Luxus. Die Boxhandschuhe wurden von ihm persönlich eingesammelt und durch diese neuen Dinger ersetzt. Aldiana hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Das Zuschlagen fühlte sich so vollkommen anders an, wenn man mit ungeschützten Fingerkuppen auf den Gegner eindrosch. Irgendwie war man viel näher dran am Geschehen. Außerdem wurde einem klar, dass ein Gesicht aus einer Menge Knochen bestand. Man musste die Schläge sauber setzen. Selbst wenn man dem Rivalen blutende Wunden zufügte, konnten die eigenen Finger ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden, sollte man frontal auf einen der unzähligen Gesichtsknochen treffen.  Wie gut, dass täglich geübt wurde. Obwohl sie auf das heutige Match überhaupt keine Lust hatte. Alona war ihr Kontrahent. Er war zweifellos einer der nettesten Jungs hier unten. Aldiana kam prima mit ihm aus. Oft saßen sie gemeinsam im Ruheraum und erzählten sich gruselige Geschichten oder trainierten zusammen an den Geräten, wenn die anderen schon längst ins Bett gegangen waren.

Ihre Zimmertür öffnete sich und Aldiana hörte das laute Brummen des Staubsaugers, noch ehe sie das hellblaue Ungetüm sah. Andrea machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen. Wenn Andrea Reinigungsdienst hatte, schneite sie einfach in die Zimmer, als würde es keine Privatsphäre geben. Auch jetzt nickte die Alte ihr nur einmal flüchtig zu, bevor sie in den Raum gestürmt kam. Aldiana schaute den Staubsauger skeptisch an. Ihr war das Monstrum nicht geheuer. Der König hatte ihn erst letztes Jahr aufgetrieben. Er hatte zwar hoch und heilig versprochen, dass das Gerät nicht verstrahlt sei, aber Aldiana hatte Zweifel. Woher sollte der König plötzlich eine unverseuchte Maschine haben? Bestimmt war das Teil auf irgendeine Weise doch kontaminiert und mit Sicherheit war es gefährlich, sich auf Dauer in seiner Nähe zu befinden. An Andreas zerknirschtem Gesichtsausdruck meinte Aldiana zu erkennen, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Nur gut, dass ausschließlich die Alten für die Reinigungsarbeiten zuständig waren.

Aldiana hob die Beine an, als das Teleskoprohr des Saugers um ihre Füße huschte. Andrea war nicht allzu gründlich, was das Reinigen der individuellen Räume anging. Wesentlich mehr Augenmerk legte sie auf die Pflege der öffentlichen Bereiche, was letztendlich auch kein Wunder war, denn diese Orte fielen dem König zuerst ins Auge. Obwohl es natürlich nicht so war, dass der König nie ungefragt in Privaträume ging. Gerade in den Abendstunden und nachts hörte Aldiana ihn oft durch die Gänge schleichen und Türen öffnen.  Nachdem Andrea wieder abgezogen war, fiel ihr Blick auf die Digitaluhr mit den grünen Leuchtbuchstaben. Jedes Privatzimmer war mit so einer Uhr ausgestattet und der König hatte noch weitere auf Lager, falls Geräte ausfielen. Aldiana hatte sich schon oft gefragt, warum jemand mehrere Dutzend Digitaluhren besitzt und diese sogar vor dem Atomkrieg schützt. Höchstwahrscheinlich hatte der König einfach vorausgedacht. Ihm war es gelungen, eine Menge nützliche und wichtige Teile vor der Kontamination zu retten. Der König war weitsichtig und weise. Zumindest sagten das alle.   Ihr blieben noch zehn Minuten. Höchste Eisenbahn, mit dem Aufwärmen zu beginnen. Natürlich stand ihnen vor dem Kampf ausreichend Zeit zur Verfügung, sich zu dehnen und in Form zu kommen, doch Aldiana hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Aufwärmprogramm bereits in ihrem Zimmer zu starten.

Als Aldiana aus der Tür trat und nach links schwenkte, hatte sie die verstümmelten Handschuhe schon übergezogen. Ansonsten gab es nichts, was zum Kampf mitgebracht werden musste. Sie zogen sich für die Auseinandersetzungen nicht extra um. Warum auch? Die engen Trikots in Verbindung mit den kurzen Shorts, die auf Geheiß des Königs ständig zu tragen waren, eigneten sich ideal dafür. Nur zum Schlafengehen durften sie ihre Nachtkleidung anlegen.  Aldiana schritt den Flur ab. Ihr Zimmer war das hinterste von sechs Räumen. Auf der entgegengesetzten Seite lagen ebenfalls sechs Zimmer, von denen drei Türen in diesem Flur mündeten. Die Türen der übrigen Räume führten auf einen zweiten Flur, der parallel verlief. An dessen gegenüberliegender Seite schloss sich die dritte Reihe Zimmer an, gleichfalls sechs.   Die Gänge waren sehr schmal. Wäre Aldiana ein Mädchen oder ein Junge entgegengekommen, hätten sie sich beide seitwärtsdrehen und mit dem Rücken an die Wand pressen müssen, um aneinander vorbeizukommen.   Aldiana verzog den Mund. Je größer sie wurde, umso beengter kam ihr dieser Flur vor. Früher hatten ihr die Korridore keine Angst gemacht, doch mittlerweile fiel ihr jedes Mal ein Stein vom Herzen, wenn die Tür zum Vorraum in greifbare Nähe kam. Wie gut, dass niemand der anderen Bewohner von diesen Ängsten wusste.  Aldiana öffnete die milchige Kunststofftür und verließ den Wohntrakt. Sie hob den Kopf und schaute auf den sich langsam drehenden Ventilator. Am gegenüberliegenden Ende des weitläufigen, rechteckigen Raumes befand sich dieVerschlossene Tür. Die Tür bestand aus dunkelrotem Edelstahl und war mit einem dicken Schloss gesichert. Die Schlüssel dazu gab der König nie aus der Hand. Man munkelte sogar, dass er den Bund selbst beim Sex nicht aus den Fingern legte. Aldiana konnte das kaum glauben. Welcher Mann würde Liebe machen mit einem Schlüsselbund in den Pfoten? Ihr war es bisher erspart geblieben, in die Gemächer des Königs gerufen zu werden. Aber Fenja war schon unzählige Male dort gewesen und sie hatte erzählt, dass es sich ganz genauso verhielt.

Ein sechs Meter langer, röhrenartiger Gang knickte nach links ab. Aldiana schaute konzentriert auf den Boden. Man musste höllisch aufpassen, jeden Schritt mit Bedacht setzen. Die Röhren waren am unteren Ende nicht abgeflacht und man konnte sich schnell die Füße verstauchen, wenn man schief aufkam.  Wenigstens war es ihr noch möglich, die Gänge aufrecht zu durchqueren. Einige der Erwachsenen konnten nur halb gebückt hindurchschleichen.   Der Weg führte direkt in die mittlere der drei Hauptebenen des Bunkers. Zu ihrer Rechten befand sich der Tisch, an dem alle Bewohner ihr Abendessen einnahmen, wenn der König zugegen war. Links schloss sich der Aufenthaltsbereich an. Eine breite Regalwand säumte eine der Seitenwände und war vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften. Mehrere Sofas, vier Sessel und kleine Beistelltische standen ungeordnet im Raum herum. Die Erwachsenen vertrieben sich hier am Abend gern die Zeit.   Jetzt war die Ecke verwaist. Wer nicht auf seinem Zimmer war, befand sich höchstwahrscheinlich schon im Trainingsraum. Zwar gingen die Kämpfe erst mit ihrem Duell gegen Alona los, aber auch die anderen Mädchen und Jungen kamen heute zum Einsatz. Und die meisten ihrer Mitstreiter schauten sich sämtliche Kämpfe an, selbst wenn sie ihre Aufgabe längst erledigt hatten oder viel später an der Reihe waren.   Aldiana konnte das nie so richtig nachvollziehen. Es bereitete ihr kein Vergnügen, den übrigen bei den Balgereien zuzusehen. Da ging sie lieber zurück ins Zimmer und las ein Buch. Selbst Alonas Einwand, man müsse die Kampftechnik der Gegner kennen und sich einprägen, zählte in ihren Augen nicht als Argument. Wer hart trainierte, würde auch gewinnen. Unabhängig davon, ob man den Stil des Widersachers kannte oder nicht. Qualität setzte sich immer durch. So einfach war das.

Direkt gegenüber führte der nächste Röhrengang in die dritte und wichtigste Ebene des Komplexes. Hier befanden sich nicht nur die Badezimmer und Toiletten, sondern auch der Trainingsraum.  Dort würden die heutigen Auseinandersetzungen stattfinden.   In dem Flur, der Trainingsraum und Nassbereich voneinander trennte, traf Aldiana auf Bela und Belos. Die Geschwister hielten sich an den Händen und gaben sich gegenseitig Mut, indem sie leise aufeinander einredeten. Aldiana grüßte die beiden und stieß die milchig weiße Kunststofftür auf.   Der Raum war gut besucht. Die Trainingsgeräte, die sonst über den vorne standen, waren an die Wände gerückt worden. Dahinter leuchtete die blaue, kreisrunde Matte einladend zu ihr herüber. Nachdem Aldiana einen kurzen Blick auf die Zuschauer geworfen hatte, entdeckte sie Alona, der im Schneidersitz ganz am Ende der Matte saß. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen zusammengepresst. Er konzentrierte sich. Als Aldiana auf ihn zuging und ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte, blickte Alona zu ihr auf und begann augenblicklich zu lächeln. Dann wurde sein Ausdruck unsicher und es schien, als fürchtete er sich. Blitzschnell beugte Aldiana sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.   »Ich mag dich«, stellte sie dabei hauchend fest.   Alona lächelte noch eine Spur breiter und erhob sich schwerfällig. Obwohl er nur ein halbes Jahr älter war, war er bestimmt fünf Zentimeter größer. Aldiana nahm sich vor, diese Tatsache während des Kampfes nicht zu vergessen.

Christina stand auf und breitete die Hände aus. Aldiana schaute sich verstohlen um. Wenn ihre Mutter die heutigen Kämpfe eröffnete, dann war der König nicht da. Irgendwie gab ihr das ein befreiendes Gefühl. Aldiana mochte es nicht, wenn der König bei den Auseinandersetzungen zugegen war. Seinem Blick haftete stets etwas Schmieriges an. Man fühlte sich befleckt, wenn die gierigen Augen des Herrschers auf einem lasteten. Zumindest empfand es Aldiana so. Ob auch einzelne der anderen Mädchen oder Jungen ähnlich dachten, wusste sie nicht. Nie würde Aldiana ihre Empfindung öffentlich aussprechen. Es war ungehörig, schlecht über den König zu denken. Immerhin hatte er die Erwachsenen vor dem sicheren Tod gerettet.  Nachdem das Gefecht eröffnet worden war, ging Aldiana sofort zum Angriff über. Alona war ihr schon immer so nah wie ein Bruder gewesen, aber heute durften diese Gefühle keine Rolle spielen. Alona war ein schneller Kämpfer, sicherlich einer der Besten von allen. Dennoch schien er nicht ganz bei der Sache zu sein. Ihre Fausthiebe wehrte Alona nur halbherzig ab, von Gegenschlägen sah er fast völlig ab. Als Alona nach hinten auswich, stellte Aldiana ihm ein Bein und der Junge fiel rücklings auf die Matte. Flink war Aldiana auf ihm, beugte sich vor und ballte die Hand zur Faust. Alona verzichte auf jegliche Verteidigung, sie hätte ihm mit Leichtigkeit die Visage blutig schlagen können. Doch im letzten Moment bremste Aldiana die Bewegung ab. Dieses schöne, ebenmäßige Gesicht konnte man nicht so ohne Weiteres kaputthauen. Alona bemerkte ihre Zweifel und seine Augen blickten streng.   »Du musst«, zischelte er leise.   »Niemals«, flüsterte Aldiana zurück.   »Du bekommst sonst eine Strafe.«   »Mir egal.«   »Du wanderst in die Zelle.«   »Dann muss es so sein.«

Kapitel 3

September 1980

Es war nicht zu glauben, wie schnell Unkraut wachsen konnte. Henry hatte doch gerade erst vor zwei Wochen etliche Kübel von diesen biestigen Pflanzen aus der Erde gezogen. Und nun war der halbe Kräutergarten seiner Mutter erneut überwuchert. Er riskierte einen Seitenblick zu seinem Vater, der eben vier leere Eimer vom Trecker schmiss.  »Die wirst du brauchen«, rief er vom Führerhaus herab und grinste breit. »Ich komme in 'ner Stunde wieder und kontrolliere das Feld. Dann will ich kein Unkraut mehr sehen.«   Henry sammelte die Eimer auf und sah sich um. Er musste sich verdammt sputen. Eine einzige Stunde war knapp bemessen. Andererseits, wenn es ihm gelang bis dahin fertig zu werden, konnte er früher zurück in sein Zimmer und hatte länger Freizeit.

Henry arbeitete so schnell wie möglich. Bereits nach zehn Minuten war der erste Behälter bis oben hin gefüllt mit klein- und großblättrigen Unkrautpflanzen, die eines gemeinsam hatten: dicke, weiße Wurzeln, die sich wie Klebstoff im Boden festkrallten. Nach einer Dreiviertelstunde waren sämtliche Eimer randvoll und Henry musste die übrigen Pflanzen auf einen Stapel am Anfang des Weges aufschichten. Als der dröhnende Treckermotor langsam lauter wurde, schaute Henry schweißgebadet auf die Armbanduhr. Es waren knapp 53 Minuten vergangen, der Alte kam absichtlich zu früh. Doch das war heute ausnahmsweise egal. Henry richtete sich auf und sein Blick wanderte über den Kräutergarten. Das, was jetzt noch grün in der Erde stand, waren die Kräuter. Er hatte es tatsächlich rechtzeitig geschafft.  Sein Vater sprang vom Trecker und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.   »Ich bin fertig geworden«, verkündete Henry stolz und machte eine ausholende Handbewegung.   »Wäre das erste Mal, dass du was hinkriegst«, antwortete der Alte gereizt und zeigte hinüber zu dem Weg. »Was soll der Unkrauthaufen da? Es gibt Gewächse, die treiben sofort wieder aus, selbst wenn man sie aus der Erde gezogen hat.«   »Ich hatte keine Behälter mehr.«   »Im Kuhstall stehen noch jede Menge.«   Henry brummte. Der Kuhstall befand sich am anderen Ende des Hofes. Sogar wenn er gerannt wäre, hätte es ihn zehn Minuten gekostet, mit den Eimern zurückzukommen. So viel Zeit hatte ihm sein Vater nicht zur Verfügung gestellt. Natürlich fiel ihm nicht in Traum ein, seinen Alten darauf hinzuweisen. So etwas konnte ungeahnte Folgen haben, und meistens waren sie schmerzhaft.   »Stimmt«, sagte Henry stattdessen kleinlaut und nickte zweimal.   »Du bist einfach zu blöd für 'n Bauern«, bemerkte sein Vater und setzte seine Schritte in das Kräuterfeld. »Wollen mal sehen, ob du wenigstens anständig arbeiten kannst.«   Henry beobachtete, wie er mit angespanntem Gesicht durch die Erde stakste, sich alle Augenblicke bückte und den Boden um die Kräuterpflanzen kontrollierte. Früher hatte Henry stets vergessen, in unmittelbarer Nähe der Kräuter zu jäten, doch mittlerweile war ihm klar, wie und wo der Alte prüfte.

Die Laune seines Vaters wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer. Wahrscheinlich war der Alte fest davon ausgegangen, ihm irgendein Unkraut vor die Nase halten zu können, welches er übersehen hatte. Doch Henry hatte anständig gearbeitet. Der Kräutergarten war sauber.  Dann sah Henry, wie sein Vater auf eines der angrenzenden, großen Felder sprang, auf denen Getreide angepflanzt war. In einer Böschung fand er eine gelb blühende Stängelpflanze und riss sie heraus. Der Alte begutachtete die Pflanze wie ein seltenes Insekt und kam geradewegs auf Henry zu.   »Was glaubst du wohl, was das für 'n Gewächs ist?«   Henry schüttelte den Kopf. »Irgendein Unkraut wahrscheinlich. Warum?«   »Ganz recht. Und weshalb steht das Zeug hier noch rum? Solltest du nicht alles rausreißen?«   Henry schluckte und schaute sich Hilfe suchend nach seiner Mutter um. Aber es war niemand in der Nähe. Auch seinem Vater musste klar sein, dass er gesehen hatte, wo das Unkraut herkam. Was erwartete der Alte jetzt von ihm? Dass er kleinlaut hinnahm, übertölpelt zu werden? Oder sollte er sich wehren, deutlich machen, dass sein Vater ihn reinzulegen versuchte?   »Ähm«, sagte Henry, während er die beiden Möglichkeiten gegeneinander abwog.   »Du bist ein unordentlicher und schlampiger Junge«, schimpfte der Alte. »Man kann dir nicht die kleinste Verantwortung übertragen. Da kommt nur Mist raus.«   Gerade als Henry darauf hinweisen wollte, dass die Pflanze überhaupt nicht aus dem Kräuterfeld kam, gab es einen Knall und seine Wange begann zu schmerzen. Ein rostiger Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Seine Lippe wurde dick. Geschwind drehte Henry sich um und lief Richtung Haus.   »Bleib stehen, du dreckiger Scheißer«, brüllte sein Vater hinter ihm her. »Ich geb dir auch noch die andere Seite!«   Henry dachte nicht daran, anzuhalten. Er war gut in Form. Der Alte konnte mit seinem fetten Bierbauch kaum schneller gehen als eine müde Kuh, geschweige denn rennen. Im Dauerlauf umrundete Henry die Ställe und den Geräteschuppen. Die Tür des Hauses war nur angelehnt und Henry stieß sie auf. Erst jetzt gestattete er sich, einen Blick zurückzuwerfen. Natürlich war von dem Alten nichts zu sehen. Sein Vater hatte nicht mal Anstalten gemacht, ihn zu verfolgen.   Aus der Küche drangen klappernde Geräusche herüber. Henry ging den Flur entlang und fuhr sich mit der Zunge über die Lippe. Er spürte den Riss, die brennende Wunde. Und erneut lief ihm Blut in den Mund.   An der Küchentür kullerten ihm plötzlich Tränen aus den Augen, schossen von ganz alleine hervor, obwohl Henry sie zu unterdrücken versuchte. Es waren nicht nur die Schmerzen in seinem Gesicht, die ihn plagten. Fast noch schlimmer war die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Warum machte sein Vater so etwas? Wieso konnte sein Vater nicht einfach mal zufrieden mit ihm und seiner Arbeit sein? Dabei hatte er sich solche Mühe gegeben.

  »Meine Güte, was ist denn passiert?« Seine Mutter legte den Kochlöffel beiseite und kam auf ihn zu. Ihre großen Hände fuhren ganz sanft über seine Wangen. Henry begann, noch ausgelassener zu schluchzen.  »Papi«, fing er an zu erklären, wurde jedoch von ihrem Zischeln unterbrochen.   »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte sie und nahm ihn fest in die Arme.   Henry spürte ihre Haut, roch die Feuchtigkeitscreme, die seine Mutter schon immer verwendete. Einen Moment lang war er enttäuscht, weil sie sich - wie meistens - nicht dafür interessierte, was ihm widerfahren war. Dennoch tat ihre Wärme gut. Als seine Tränen getrocknet waren, wollte Henry sich sanft aus der Umarmung befreien, doch seine Mutter ließ ihn nicht los.   »Gefällt es dir bei mir nicht?«   »Es war schön, mir geht es besser. Darf ich in mein Zimmer?«   Seine Mutter drückte ihm die Arme noch eine Spur fester ins Gesicht.   »Ich habe etwas geschwitzt, meine Haut ist feucht. Spürst du das?«, flüsterte sie verschwörerisch.   Henry nickte, so gut es ging. Tatsächlich spürte er nur seine pochende Lippe und die getrockneten Tränen an seiner Wange.   »Die Männer waren früher immer ganz verrückt, mir den Schweiß abzuschlecken. Hast du auch Lust dazu? Magst du meine Tattoos ablecken?«   Henry wusste nicht, was seine Mutter von ihm wollte. Machte sie einen Scherz? Allein der Gedanke, die cremebeschmierten Arme küssen zu müssen, verursachte ihm Magenkrämpfe.   »Ich möchte gern in mein Zimmer gehen«, brachte er heiser hervor, da der Schraubstock ihrer Umarmung eher noch an Kraft zugenommen hatte.   Unvermittelt wurde er losgelassen.   »Ist sich der Herr Sohn zu fein dafür?«, fragte seine Mutter gekränkt. Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck hart. »Glaubst du, ich bin schon zu alt, oder was?«   Ohne Warnung schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, beinahe an genau dieselbe Stelle, wie sein Vater kurz zuvor. Der Riss an der Lippe platzte stärker auf, zumindest kam es Henry so vor. Sein ganzer Mund schmeckte nach Blut. Erschrocken und verängstigt zugleich schrie er laut auf.   »Willst du wohl ruhig sein?«, knurrte seine Mutter und kurz darauf hagelte es weitere Treffer. Wie eine Besessene fuhren ihre Hände auf ihn nieder, trafen ihn an den Wangen, an der Stirn und in den Haaren. Glücklicherweise waren die Schläge nicht sehr platziert. Vielleicht lag es auch daran, dass Henry sofort die Arme um den Kopf schlängelte und daher kaum Angriffsfläche bot.